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Die Gartenlaube (1883)/Heft 12

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[185]

No. 12.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ostern.

Eiszeitstürme rissen sich los
Von Gletscherhöh’n, schwarz die Nacht,
Schwarz die Erde, Stromgetos,
Hagelschauer und Wolkenschlacht. –

5
Das ist der Frühling, eh’ er erwacht.


Finster noch ist sein Antlitz, seine Brauen
Seh’n drohend umschattet, Kampf ist sein Loos.
Es trotzten ihm Frost und Nebelgrauen,
Es trotzt verschlossen der Erde Schoos.

10
Grabhügel wirft er und mordet Blüthen,

Wie ein Erob’rer nur im Zerstören groß.

Aber bald regt es sich milder, es thauen
Frühere Morgen, Herzen erglühten,
Herzen erglühen, und Veilchen schauen

15
Lächelnd empor, der Schnee zerrann –

Jetzt führt er, ein Sieger, sein dampfend Gespann
Jauchzend über Bergesspitzen –
Unter Blumen dann, weil er die Schlacht gewann,
Schlummert er ein, gekrönt von Blitzen.

20
Ueber den Wipfeln lichter immer

      Ahnungsvoll nah,
Leuchtet schon wärmerer Schimmer,
      Ostern ist da!

Ostern! Lieblicher Name, gestickt

25
In’s Festgewand der verjüngten Natur,

Schon aus duftenden Kelchen blickt
Sonnengold wieder und Himmelsazur!
Ostern! Ihr jubelnd Frohlocken
Schmettert die Lerche dem Aether zu,

30
Ostern – es mahnen die ernsten Glocken:

Menschenherz, frohlock’ auch du!

Ueberall breiten im Frühlingssegen
Deiner Sehnsucht, liebenden Armen gleich,
Sich die Wunder der vom Todtenreich

35
Auferstandenen Schöpfung entgegen.

      Ostern ist da!

 Hermann Lingg.




Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Der junge Mann stand noch immer wie aus den Wolken gefallen, aber er sah, daß es dem Onkel Ernst war mit seinem Entschlusse und daß jede Frage und jedes Erstaunen darüber ihn peinlich berührte. Er verabschiedete sich also und ging, um seinen Arnold in Schrecken zu jagen mit der Nachricht, daß der Koffer schleunigst gepackt werden müsse.

Als Werdenfels allein war, öffnete er die Glasthür, welche nach dem Altan führte, und trat hinaus. Die Mauern des Thurms waren hier dicht an den Rand des Felsens gebaut, und der kleine Altan hing unmittelbar über der schwindelnden Tiefe. Der scharfe Bergwind wühlte in den lang niederhängenden Epheuranken, welche das Gitter umflochten, und umwehte die bleiche Stirn des Mannes, der dort stand und so unverwandt hinunterblickte in den Abgrund, der sich drohend und winkend zugleich zu seinen Füßen aufthat. Er kannte längst die Versuchung dieses Abgrundes, und er kannte auch das Brausen des Stromes da unten, es hatte ihn oft genug gelockt und ihm gewinkt mit dämonischer Gewalt. Aber seit jener Stunde auf der Bergwiese klang etwas Anderes in diesem Rauschen. Es hatte jene ernste zürnende Mahnung aufgefangen und trug sie immer und immer wieder empor zu dem einsamen Träumer, und sie mußte wohl gesiegt haben. Raimund richtete sich plötzlich auf, finster, aber entschlossen, und als antworte er der mahnenden Stimme da unten, sagte er halblaut:

„Die letzte Zuflucht der Schwäche! – Ich will kein Feigling sein in ihren Augen!“ –

Im Schlosse gab es eine förmliche Revolte, als bald darauf die Dienerschaft von dem Haushofmeister erfuhr, der Herr wolle nach Werdenfels. Die Sache war so unerhört, so unglaublich, daß sie anfangs in der That nicht geglaubt wurde, und dabei kam der Entschluß des Freiherrn so plötzlich und blitzähnlich; selbst der Haushofmeister hatte ihn erst heute Morgen erfahren, denn die Weisung an den Castellan war brieflich abgegangen. Indessen die Thatsache stand fest, und es wurden in aller Eile die nöthigen Anstalten getroffen. Ein Theil der Dienerschaft ging mit den Wagen und den Reitpferden voraus nach Werdenfels, der Haushofmeister mit dem Kammerdiener und Arnold wollte später nachfolgen. Das Ganze sah nicht aus wie ein Ausflug von wenigen Tagen, sondern wie eine wirkliche Uebersiedlung.

Es war in später Nachmittagsstunde, als der Wagen, in welchem sich Raimund und Paul von Werdenfels befanden, das [186] Thal erreichte. Der Wind, der den ganzen Tag über geweht hatte, war nun in der That zum Sturme geworden, er brach jetzt mit voller Heftigkeit los und scheuchte Alles, was sich noch im Freien befand, unter irgend ein schützendes Obdach. Auch der Kutscher trieb die Pferde zu schnellerem Laufe an, um sobald wie möglich das Schloß zu erreichen, und nahm den nächsten Weg, der durch das Dorf führte.

„Ich werde dem Kutscher zurufen, über den Schloßberg zu fahren,“ sagte Paul, der sich der Warnung des Freiherrn erinnerte, sich nicht im Dorfe zu zeigen, aber Raimund legte verbietend die Hand auf seinen Arm.

„Laß ihn! Ich habe ihm befohlen, durch das Dorf zu fahren.“

Der junge Mann wußte nicht, was er denken sollte, der Onkel war ihm heute ganz und gar unbegreiflich.

„So laß wenigstens das Verdeck schließen,“ bat er. „Der Sturm reißt uns ja fast Hut und Mantel fort, und Du vollends erträgst eine solche Witterung nicht im Freien.“

Raimund schien in der That unter der Witterung zu leiden, an die er so gar nicht gewöhnt war; denn er hüllte sich fröstelnd in seinen Pelzmantel, aber seine Stimme klang in voller Bestimmtheit, als er antwortete:

„Nein, das Verdeck bleibt offen! Wir sind ja bald im Schlosse.“

Er lehnte sich in den Sitz zurück, war aber in der offenen Halbchaise Jedermann sichtbar. Er sah aber weder rechts noch links, sondern gerade vor sich hin, und seine Lippen waren zusammen gepreßt, als sei diese Fahrt eine Tortur für ihn.

Der Wagen rollte in das Dorf, wie gejagt vom Sturme, der Schnee stäubte unter den Hufen der Rosse, und das Ganze flog wie eine Vision vorüber. An den Fenstern der Häuser erschien hier und da ein neugieriges Gesicht, das erschrocken zurückfuhr, und dann drängten sich drei, vier andere hervor, die dem Wagen nachstarrten, obwohl er längst verschwunden war. Dann öffneten sich die Thüren und man lief trotz des Sturmes zu dem Nachbar, um zu fragen und zu hören, ob es denn keine Täuschung gewesen sei, ob es denn wirklich der Herr von Schloß Werdenfels war, der da mitten durch das Dorf fuhr.

Bei den letzten Häusern überholte der Wagen einen alten Mann, der gleichfalls irgend einem Obdache zustrebte, aber nur langsam vorwärts kam, weil er lahm war. Paul erkannte sofort jenen Bauer wieder, den er damals auf dem Wege nach der Försterei getroffen hatte. Der Alte war im Begriffe, dem Gefährte auszuweichen, als er auf einmal mitten im Wege stehen blieb; seine Augen richteten sich auf den Freiherrn, starr und schreckensvoll, als sehe er ein Gespenst vor sich. Dabei stand er wie an den Boden gewachsen und wich und wankte nicht, obgleich die Pferde immer näher kamen. Der Kutscher mußte sie zur Seite reißen, um ein Unglück zu verhüten.

Raimund, durch diese Bewegung aufmerksam gemacht, blickte gleichfalls dorthin. Seine Augen und die des Bauern begegneten sich nur einen Moment lang, dann lag schon wieder eine Entfernung zwischen ihnen, aber die erste Begegnung in der Welt, die er so lange geflohen, mußte wohl eine unheilvolle für den Freiherrn gewesen sein, Paul sah es, wie er zusammenzuckte und mit einer krampfhaften Bewegung den Mantel zusammenzog. Er sprach kein Wort, aber er athmete erleichtert auf, als der Wagen jetzt das Dorf hinter sich ließ und in die Allee des Schloßberges einbog.

Im Pfarrhause hatte man nichts von der Ankunft des Gutsherrn bemerkt; denn das Studirzimmer Vilmut’s lag nach dem Garten hinaus. Es war ein großes niedriges Gemach, dessen Ausstattung die höchste Einfachheit zeigte. An den weiß getünchten Wänden standen Bücherschränke mit ziemlich reichem Inhalte, aber sie enthielten nur Bücher geistlicher Art, und den alten dunklen Möbeln sah man es an, daß sie schon lange Jahre ihren Dienst gethan hatten. Ueber dem alterthümlichen Schreibtische hing ein großes, kostbar in Elfenbein geschnitztes Crucifix, ein wirkliches Kunstwerk von hohem Werthe. Es war ein Geschenk des Präsidenten Hertenstein an den Verwandten seiner Frau, als dieser die Ehe eingesegnet hatte. Das war aber auch der einzige Schmuck der Wände wie des Zimmers überhaupt. Alles, was den Anschein von Annehmlichkeit oder auch nur Bequemlichkeit erwecken konnte, war streng vermieden. Die puritanische Strenge und Einfachheit des Bewohners spiegelte sich in dieser Umgebung wieder, das ganze Pfarrhaus war in dieser Art eingerichtet.

In dem Lehnstuhle am Fenster saß Anna von Hertenstein. Sie war in der Stadt gewesen und hatte, da sie auf der Rückfahrt Werdenfels passiren mußte, im Pfarrhause angehalten. Gegenwärtig aber war sie eine schweigende Zuhörerin bei dem Gespräche, das im Studirzimmer stattfand.

Vilmut saß an seinem Schreibtische und vor ihm standen zwei Bauern, denen er augenscheinlich eine Strafrede gehalten hatte; denn der Eine sah ganz zerknirscht aus, während der Andere noch etwas finster und trotzig zu Boden blickte, Beide aber schwiegen und hörten respectvoll zu.

„Und nun vertragt Euch!“ sagte Vilmut jetzt mit Nachdruck. „Ihr processirt Euch sonst noch um Hab und Gut, und Ruhe und Frieden geht dabei in Eurem Hause zu Grunde. Wenn Ihr kein Einsehen habt, so muß ich dazwischen treten, und ich sage es Euch jetzt ernstlich, vergleicht Euch mit einander.“

Die Bauern, welche in dieser Art abgekanzelt wurden, gehörten zu den wohlhabendsten des Dorfes und hätten Niemand, selbst dem Landrichter nicht erlaubt, sich in so dictatorischer Weise in ihre Angelegenheiten zu mischen, von ihrem Pfarrer aber nahmen sie das ganz ruhig hin, und der Eine erwiderte zögernd:

„Wenn Sie meinen, Hochwürden – aber es ist ein hartes Ding, Ja zu sagen, denn ich bin im Recht.“

„Das sagt Jeder,“ unterbrach ihn Vilmut. „Ihr seid Beide im Rechte und im Unrechte zugleich, also müßt Ihr Beide nachgeben. Nun, und Ihr, Rainer?“

Der Genannte kämpfte noch mit seinem Trotze.

„Ich will’s mir überlegen, Hochwürden,“ murrte er.

„Um schließlich Nein zu sagen! Ihr sollt Euch hier und auf der Stelle entscheiden. Der Gemeindevorsteher bietet Euch die Hand, soll die Sache an Eurer Hartnäckigkeit scheitern? Reicht Euch die Hände!“

Es lag keine Aufforderung, sondern ein ganz bestimmter Befehl in den letzten Worten, aber der Herr Pfarrer hatte seine Bauern trefflich in Zucht. Der Gemeindevorsteher streckte die Hand aus, und Rainer legte die seinige hinein. Der Händedruck, den sie wechselten, war nicht besonders freundschaftlich, aber er bewies doch, daß es ihnen mit der Versöhnung Ernst war.

„Das ist recht!“ sagte Vilmut. „Und nun meldet dem Justizrath Freising unverzüglich, daß Ihr den vorgeschlagenen Vergleich annehmt. Aber noch Eins, Rainer! Weshalb wollt Ihr den alten Eckfried nicht mehr im Tagelohn behalten? Seid Ihr unzufrieden mit ihm?“

In dem Gesichte des Bauers zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei der Frage, und er erwiderte achselzuckend:

„Der Alte schafft ja nichts mehr! Er kann nicht mehr fort mit der Arbeit, und ich brauche tüchtige Arme.“

„Der Eckfried ist aber lahm und ohne sein Verschulden in’s Elend gekommen,“ warf der Pfarrer ein. „Was soll aus ihm werden, wenn ihm das Brod genommen wird, das er sich sauer genug verdient?“

„Nun, dann muß ihn eben die Gemeinde verpflegen,“ meinte der Vorsteher. „Wir sind ja, Gott sei’s geklagt, nicht reich, aber verhungern lassen wir unsere Armen nicht.“

„Aber Ihr macht sie zu einer Last für die Gemeinde, wo etwas guter Wille noch helfen könnte. Ich kenne den Eckfried! Der erträgt es nicht, wie ein Bettler von Almosen zu leben, so lange er noch einen Arm rühren kann. Wenn Ihr ihn wirklich nicht mehr brauchen könnt, so soll er zu mir in das Pfarrhaus, und da muß sich irgend eine Arbeit für ihn finden.“

Rainer sah betroffen den Pfarrer an, und der Gemeindevorsteher rief eifrig:

„Nein, Hochwürden, das geht nimmermehr! Sie nehmen ja eine Last nach der anderen auf sich und thun schon genug an den Armen und Kranken im Dorf. Wir müßten uns ja schämen!“

„Ihr seht doch, Rainer schämt sich nicht,“ sagte Vilmut scharf. „Er hat auf seinem großen Hofe keinen Platz für den alten Mann, er überläßt mir die Sorge.“

„Nein, Hochwürden, das thu’ ich nicht!“ erklärte Rainer mit einem plötzlichen Entschluß. „Ich behalte den Eckfried, und ich werde sorgen, daß er es aushält mit der Arbeit.“

Vilmut reichte ihm die Hand, aber nicht mit dem Ausdruck [187] des Dankes, sondern in der Art, wie man einem Menschen verzeiht, der seine Pflicht verletzt und sich nun wieder darauf besonnen hat. Der Bauer schien das auch ganz in der Ordnung zu finden; denn er küßte demüthig die Hand des geistlichen Herrn und ging dann mit seinem Gefährten. Vorher grüßten sie Beide noch die Dame am Fenster, aber die Ehrfurcht dieses Grußes galt nicht der gnädigen Frau von Hertenstein, sondern der Verwandten des Herrn Pfarrers, die in dessen Hause erzogen und dadurch eine unbedingte Respectsperson für das ganze Dorf war und blieb.

„Man muß den Bauern ernstlich in das Gewissen reden, sonst trägt ihre Geldliebe über jede Menschlichkeitsrücksicht den Sieg davon,“ bemerkte Vilmut. „Sie unterbrachen uns vorhin in unserem Gespräch, Anna, und Du bist mir noch die Antwort auf meine Frage schuldig, warum Du heute in der Stadt nicht bei dem Justizrath gewesen bist. Er ist doch Dein Vertreter und kann Dir am besten die geschäftliche Auskunft geben, die Du von mir verlangst.“

Anna schien nicht sogleich die Antwort zu finden, sie schwieg einige Secunden, und Vilmut bemerke sofort ihr Zögern.

„Ist etwas vorgefallen?“ fragte er. „Und willst Du etwa ein Geheimniß daraus machen?“

„Nein, Gregor; denn Du würdest es doch erfahren,“ entgegnete die junge Frau ruhig. „Ich habe gestern eine ebenso unerwartete wie peinliche Auseinandersetzung mit Freising gehabt. Wir sind zwar ohne jede Bitterkeit geschieden, und ich hoffe, daß er mir die alte Freundschaft bewahren wird, aber ich kann ihn vorläufig nicht aufsuchen und muß abwarten, ob er aus freien Stücken sich mir wieder nähert.“

„Das heißt also, er hat Dir einen Antrag gemacht, und Du hast ihn zurückgewiesen?“

„Ja.“

„Ich habe mir längst so etwas gedacht,“ sagte Vilmut verächtlich. „Der alte Thor! Meint er etwa, Du würdest in Deiner gegenwärtigen Lage die ‚gute Versorgung‘ annehmen, oder bildet er sich im Ernste ein, Du hegtest irgend eine Zuneigung für ihn?“

„Ich weiß es nicht, jedenfalls täuschte er sich in beiden Voraussetzungen. Du begreifst aber doch, daß ich mich heute nicht an ihn wenden konnte.“

„Nein, ich werde an Deiner Statt schreiben und mir die nöthige Auskunft erbitten. Also Freising ist gestern in Rosenberg gewesen? Du hattest noch einen zweiten Besuch – Paul von Werdenfels.“

„Das weißt Du?“ fragte Anna überrascht.

„Durch Zufall! Doch gleichviel, Du hast Dich jedenfalls verleugnen lassen.“

„Nein, ich habe den jungen Baron gesprochen.“

Vilmut trat mit einer beinahe drohenden Bewegung dicht vor seine Cousine hin.

„Was soll das heißen? Du hast diesen Besuch empfangen? Hast Du vergessen, daß er aus Felseneck kommt?“

„Beruhige Dich!“ entgegnete die junge Frau kühl. „Es ist das erste Mal, daß er nach Rosenberg kam, und es wird auch das letzte Mal sein. Ich mußte ihn sprechen, um gewisse Illusionen zu zerstören, in denen er sich wiegte, aber die Sache war bereits weiter gediehen, als ich glaubte – er bot mir seine Hand.“

Vilmut lachte kurz und spöttisch auf.

„Also auch der! Es wird Dir schwer gemacht, Deine Wittwenschaft zu behaupten. Das Trauerjahr ist kaum zu Ende, und schon stürmen zwei Bewerber auf Dich ein, und Beide machst Du mit Deinem Nein unglücklich.“

„Ist das meine Schuld?“ fragte Anna vorwurfsvoll.

„Nein, aber Dein Schicksal! Und es ist kein beneidenswerthes Schicksal, wenn man dazu bestimmt ist, nur Bitterkeit in die Seele der Männer zu werfen.“

Die Worte klangen selbst in eigenthümlicher Bitterkeit, und der Blick, der dabei auf die junge Frau fiel, hatte etwas Feindseliges. Anna schwieg, sie beugte sich auch jetzt noch der Autorität des ehemaligen Lehrers, der so lange Vaterstelle bei ihr vertreten hatte und der es nicht lassen konnte, ihr immer wieder zu Gemüth zu führen, daß ihre Schönheit eine unheilvolle Gabe sei.

Der Sturm draußen war während des Gespräches immer heftiger geworden. Er fuhr sausend über das Pfarrhaus hin und fegte die Schneelasten vom Dache. Im Garten ächzten und brachen die dürren Zweige der Obstbäume, und die beiden Flügel des Hofthores, die man vergessen hatte zu schließen, fielen krachend zusammen.

„Das wird ja ein förmliches Unwetter!“ sagte Vilmut. „Du kannst jetzt unmöglich fahren; warte noch eine Stunde, vielleicht zieht der Sturm vorüber.“

„Ich fürchte, er wird anhalten,“ erwiderte Anna bedenklich. „Die Anzeichen deuten auf eine Sturmnacht.“

Die Dämmerung hatte inzwischen überhand genommen, und jetzt trat die Haushälterin des Pfarrers ein, eine alte, aber noch rüstige Frau, mit weißen Haaren und freundlichen Zügen. Sie trug eine brennende Lampe in der Hand, die sie auf den Tisch niedersetzte, aber ihr Gesicht verkündete, daß sie etwas ganz Außerordentliches zu melden habe.

„Hochwürden, es ist etwas Seltsames passirt!“ hob sie an. „Das ganze Dorf ist voll davon. Ich wollte es anfangs gar nicht glauben, aber er ist wirklich vorbeigefahren, es haben ihn so Viele gesehen.“

„Gesehen – wen?“ fragte Vilmut.

„Den Felsenecker, den Herrn von Werdenfels! Er saß im offenen Wagen und sein Neffe, der junge Baron, neben ihm. Sie fuhren nach dem Schlosse.“

Anna wandte sich mit einer jähen Bewegung um, ihr Gesicht verrieth eine athemlose Spannung. Der Pfarrer dagegen sah die Frau an, als glaube er, sie sei nicht recht bei Sinnen.

„Was fällt denn den Leuten ein? Sehen sie Gespenster am hellen Tage?“

„Es ist wirklich wahr, Hochwürden,“ betheuerte die Haushälterin. „Sehen Sie nur, droben im Schlosse sind die Herrschaftszimmer erleuchtet, zum ersten Male wieder seit dem Tode des alten Herrn, und heute Mittag sind ja auch die Diener mit den Pferden von Felseneck gekommen. Jetzt weiß man, was das Alles bedeutet – der Freiherr ist da.“

Es war gut, daß Anna tief im Schatten saß; denn bei den letzten Worten überfluthete eine glühende Röthe ihr Antlitz, und während sich ein tiefer Athemzug aus ihrer Brust emporrang, flüsterte sie kaum hörbar:

„Also doch!“

Vilmut achtete augenblicklich nicht auf sie, die Nachricht schien ihn gleichfalls auf’s Höchste zu überraschen, aber er zweifelte offenbar noch daran. Er trat rasch an das zweite Fenster, von wo der Schloßberg und die Hauptfront des Schlosses sichtbar waren. Trotz der Entfernung schimmerten die Lichter deutlich herüber, es waren die Fenster jener Zimmer, die Raimund von Werdenfels bei Lebzeiten seines Vaters bewohnt hatte.

Die Haushälterin war im Begriffe, sich sehr ausführlich über ihre und des ganzen Dorfes Verwunderung zu verbreiten, aber der Pfarrer schnitt ihr kurz das Wort ab:

„Es wird sich ja zeigen, ob die Sache sich bestätigt, jedenfalls erfahren wir es morgen. – Sagen Sie dem Kutscher der gnädigen Frau, er soll einstweilen noch nicht anspannen, der Sturm ist zu heftig.“

Die Frau entfernte sich, und im Zimmer herrschte einige Minuten lang noch Schweigen. Anna’s Augen hingen an jenen Lichtern, die vom Schloßberge herflimmerten. Vilmut ging einige Male im Zimmer auf und ab, ohne zu sprechen, endlich blieb er stehen und fragte:

„Hältst Du es für möglich, daß Werdenfels wirklich gekommen ist? Nach sechs Jahren, nachdem er vollständig mit der Welt und den Menschen gebrochen hat – was kann er hier noch suchen?“

„Vielleicht gerade die Menschen, die er so lange geflohen hat,“ sagte Anna leise.

„Nun, ähnlich sähe ihm das schon. Er war von jeher ein haltloser Träumer, der immer nur den Eingebungen seiner Laune folgte. Vielleicht ist er der Einsamkeit und Menschenfeindlichkeit müde geworden und will zur Abwechselung einmal wieder den Herren auf seinen Gütern spielen.“

„Gregor, sei nicht ungerecht!“ die Stimme der jungen Frau bebte, trotz ihres Versuches, sie zu beherrschen. „Du weißt, daß es keine Laune gewesen ist, die ihn in die Einsamkeit getrieben hat, sondern der allgemeine Haß, welchen Du entfesselt und genährt hast.“

„Oder vielmehr, es war Deine Vermählung mit Hertenstein, der er nicht Stand hielt. Das trieb ihn fort!“

[188] Ein Klopfen an der Thür unterbrach das Gespräch, und auf das „Herein!“ des Pfarrers trat der alte Eckfried ein. Seine grauen Haare waren zerwühlt vom Sturme, und er schien erschöpft und athemlos, sodaß er kaum den Gruß hervorbringen konnte.

„Ihr seid es, Eckfried?“ sagte Vilmut mit einem Blick auf den Alpenstock, den der Bauer in den Händen trug. „Kommt Ihr denn aus den Bergen?“

„Ja, Hochwürden, und ich nicht allein!“ antwortete der Alte, während es feindselig in seinem Auge aufblitzte. „Es ist noch Einer aus den Bergen gekommen. Wissen Sie es schon – der Werdenfels ist da!“

Vilmut’s Stirn zog sich finster zusammen.

„Also ist die Nachricht doch wahr? Ich zweifelte noch immer daran!“

„Er war’s!“ bestätigte Eckfried. „Ich kenne ihn, meinem Auge dürfen Sie trauen! Er fuhr an mir vorbei wie der leibhaftige Böse, mitten in dem Sturm und Unwetter, das er uns von der Geisterspitze mit herunterbringt. Geben Sie Acht, Hochwürden, der Sturm wird Unglück anrichten irgendwo in Werdenfels.“

„Setzt Euch!“ sagte Vilmut, auf einen Stuhl deutend. „Ihr seid ja ganz außer Athem, und dann sagt mir, was Euch zu mir führt.“

Der Alte ließ sich nieder; er rang in der That nach Athem und schien mit einem Anfall von Schwindel zu kämpfen. Anna trat rasch zu ihm.

„Was ist Euch, Eckfried? Erholt Euch! Kann ich Euch irgend etwas helfen?“

Er schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, gnädige Frau, es ist nur der weite Weg – und die Angst – ich komme vom Mattenhof!“

„Von Eurer Tochter? Aber Ihr könnt ja gar nicht so oft den beschwerlichen Weg machen, mit Eurem kranken Fuße!“

„Ich werd’ ihn nicht mehr oft machen,“ sagte Eckfried dumpf. „Vielleicht noch einmal zum Begräbniß – denn die Stasi ist jetzt im Sterben!“

„Das habe ich gefürchtet, seit ich mit meinem Vetter dort war,“ sagte Anna mitleidig. „Wir sahen es schon damals, daß die arme Frau nur noch Tage zu leben hatte. Aber unser Arzt versprach ja auf meine Bitte, ihr noch einen Besuch zu machen; hat er nicht Wort gehalten?“

„Doch, er war heute Morgen da, und er meinte – sie würde die Nacht nicht überleben.“

Die Stimme des Alten bebte in bitterem Schmerze, die junge Frau war im Begriff, einige tröstende Worte zu sprechen, als Vilmut sie unterbrach:

„Diese Nacht noch? Hat die Kranke die heiligen Sacramente empfangen?“

„Nein, Hochwürden, deswegen komme ich ja eben zu Ihnen,“ sagte Eckfried. „Der Herr Pfarrer von Hochdorf ist krank und kann nicht kommen, und die Stasi ist ja auch Ihr Beichtkind gewesen, bis zu ihrer Heirath. Sie verlangt nur nach Ihnen und hat mich von ihrem Sterbebette fortgeschickt, um Sie zu holen. Ich weiß ja auch, Sie wären gekommen, trotz des weiten Weges, aber da fing der Sturm an, und jetzt können Sie ja nicht hinaus!“

Wie zur Bestätigung dieser Worte schwoll das Brausen und Heulen draußen so furchtbar an, daß das Dach des Hauses erbebte. Vilmut erwiderte nichts, er trat wieder an das Fenster; es war jetzt vollständig dunkel geworden, aber wenn man auch nichts mehr sah, man hörte nur um so mehr das Toben in den Lüften. Gregor kannte die Stürme dieser Winternächte, die oft genug selbst im Thale verhängnißvoll wurden und oben in den Bergen Jedem Gefahr brachten, der sich hinauswagte, aber er schwieg nur einige Secunden lang, dann sprach er ruhig:

„Ich werde kommen, Eckfried!“

„Gregor, um Gotteswillen! Du willst nach dem Mattenhofe in diesem Sturme?“ rief Anna erschrocken. „Das ist unmöglich, Du wagst Dein Leben dabei! Warte bis morgen früh!“

„Dann ist es zu spät, Du hörst es ja! Wie ist der Weg, Eckfried? Werde ich bis zur Försterei mit dem Schlitten gelangen?“

„Ja, Hochwürden, bis dahin kommen Sie, aber von da müssen Sie zu Fuß weiter. Der Weg ist zu gehen, ich habe ihn ja erst gemacht, aber das war bei Tage. In der Nacht und in dem Sturme – die gnädige Frau hat Recht – Sie riskiren das Leben.“

„Und Dein Leben gehört nicht Dir allein,“ fiel Anna ein. „Denke an Dein Amt, an Deine Gemeinde, der Du so nothwendig bist! Keine Pflicht kann Dich zwingen, Dich selbst zu opfern für ein schon verlorenes Leben.“

Gregor richtete sich hoch und fest auf.

„Wenn man den Priester ruft, so wird er kommen! Das ist seine erste, höchste Pflicht, alles Andere muß davor zurückstehen! Ich bin in der Hand des Herrn, und die Sterbende soll nicht umsonst nach seinem Troste verlangen.“

Er öffnete die Thür und rief die Haushälterin herbei.

„Lassen Sie sofort den Schlitten anspannen und legen Sie das geistliche Gewand bereit. Der Ambros soll die Laterne und den Bergstock mitnehmen!“

Die Frau schlug entsetzt die Hände zusammen.

„Um aller Heiligen willen, Hochwürden, Sie wollen doch nicht bei diesem Unwetter in die Berge?“

„Zu einer Sterbenden!“ ergänzte Vilmut, in einem Tone, welcher jede Einwendung niederschlug. „Schnell! Es thut Eile noth!“

Er wandte sich dann zu der jungen Frau und bot ihr die Hand.

„Leb wohl, Anna – für alle Fälle!“

Anna sah zu ihm auf, mit einem Gemisch von Angst und unwillkürlicher Bewunderung.

„Mußt Du gehen, Gregor?“

„Ja, ich muß! Faßt Muth, Eckfried, ich komme zu Eurer Tochter!“

Eckfried war aufgestanden und hob die gefalteten Hände empor, während er gebrochen sagte:

„Hochwürden, das vergeß ich Ihnen mein Lebtag nicht! – Und unser ganzes Dorf wird es Ihnen nicht vergessen. – Der Herrgott im Himmel wird doch ein Einsehen haben und uns unsern Pfarrer nicht nehmen, denn einen zweiten wie Sie bekommen wir nicht wieder!“

Eine Viertelstunde später fuhr der Schlitten fort, und das kleine, aber kraftvolle Bergpferd, an rauhe Witterung gewöhnt, trabte muthig vorwärts. Bis zur Försterei war der Weg noch verhältnißmäßig erträglich, aber dort begann die eigentliche Gefahr. Von dort galt es, sich Schritt für Schritt durch den Sturm zu kämpfen, mitten durch den Wald mit seinen brechenden Aesten und über schneebedeckte Halden, wo es keinen Schutz gab gegen dies furchtbare Wehen.

Es war eine Nacht, wo selbst jedes Thier sich angstvoll verkroch in seine Höhle.

Aber der Priester war gerufen und der Priester kam! Das eigene Leben nicht achtend folgte er ohne Zögern dem Rufe der Pflicht. Dem kühnen und unerschrockenen Streiter im Sturme der Natur, wie in dem des Menschenherzens, fehlte nur eins zum echten Diener des Herrn – die Liebe und das Erbarmen!

(Fortsetzung folgt.)




Das Osterfest in St. Petersburg.

Man erzählt, daß einst ein russischer Feldherr seinen Soldaten die sonderbare Verheißung gab: „Wer heute fällt, erwacht auf ewig frei vom Militärdienst in seiner Hütte wieder“ – und daß er mit diesen Worten bei seinen Leuten Glauben fand. Das dürfte man heute nicht einmal dem russischen Bauer, geschweige denn dem gebildeten Russen bieten, denn auch für das Reich des weißen Czaren ist die Aera angebrochen, in welcher der kindlich-naive Glaube anderen Anschauungen den Platz räumen muß. Aber wie blasirt auch der Jungrusse unserer Tage sich geberden mag, das Kreuzchen, das ihm bei der Taufe umgehängt wird, trägt er bis zu seinem Tode auf der Brust und erfüllt bei wichtigen Anlässen alle die Pflichten, welche ihm die Lehre seiner Kirche auferlegt. Nirgends in der christlichen Welt ist auch das Volksleben so eng mit den religiösen Satzungen verbunden, wie in [189] Rußland, und eine kurze Schilderung der russischen Osterbräuche dürfte den besten Beweis für die Wahrheit unserer Behauptung liefern.

Osterfest auf den Marsfelde zu St. Petersburg.
Originalzeichnung von G. Broling.

Gehen doch diesem größten Feste der Christenheit die sieben Wochen der großen Fasten voraus, eine lange, ernste Vorbereitungszeit; doch halt: es sind sieben Wochen weniger einen Tag, denn der letzte Sonntag ist noch kein Fasttag; er heißt der „Vergebungssonntag“ und trägt mit Recht diesen Namen, da jeder griechische Christ sich an diesem Tage mit seinen Feinden auszusöhnen sucht; dabei kann natürlich nicht gefastet werden, und geschieht dies auch nicht; der edle Zweck des Tages wird vielmehr durch die letzten [190] Genüsse der Zeit des Fleisches verschönt. Daß ein solcher Tag bei der tiefen Religiosität der Russen wirklich rührende und erhebende Scenen hervorruft, läßt sich leicht denken, denn über die leibliche Wirkung der Fasten im nordischen Klima macht sich auch der frömmste Russe keine Illusionen, namentlich in Petersburg, welches den Frühling als die mörderischeste Jahreszeit von jeher kennt. Freilich kommt da dem gebrechlichen Greise der Gedanke: erlebst du noch das Osterfest? Aber auch das blühende junge Mädchen denkt mit Schrecken daran, welche Einbuße ihre Schönheit durch die sieben Wochen der Fasten vielleicht erleiden wird, Kurz, die allgemeine elegische Stimmung ist recht begreiflich. So geht denn der letzte wehmüthige Freudentag hin, und von Montag an giebt’s kein Theater, keinen Ball etc. mehr. Dafür aber ist die Fastenzeit die Concertsaison, und da Petersburg noch immer als Künstler-Eldorado weit und breit bekannt ist, so strömen die Koryphäen der Kunst gerade zur Fastenzeit nach dem eisigen Newastrande.

Trotz alledem hält aber der Echtrusse die Fasten mit ihren verschiedenen Abstufungen gewissenhaft ein. Nur in höheren Gesellschaftskreisen erscheinen die Hausärzte als Retter in der Fastennoth und gestatten ihren „Patienten“ aus höheren gesundheitlichen Rücksichten den Genuß des für sieben Wochen verpönten Fleisches. Die Herrenwelt dagegen flüchtet oft, um zu Hause kein Aergerniß zu geben, in die Restaurants, wo bei verschlossener Thür in Privatcabineten tapfer den fleischlichen Gerichten zugesprochen wird. Doch dies sind gesellschaftliche Geheimnisse, über die allzuviel zu plaudern nicht erlaubt ist.

Wie fastet aber der Russe? Während der sieben Wochen ist ihm der Genuß von Fleisch, Butter und allen animalischen Nahrungsmitteln, ausgenommen Fische, verboten. In Anbetracht dieser Umstände muß man die Kunst der russischen Köche bewundern, denn mancher Westeuropäer nimmt hier eine Fastenmahlzeit ein, ohne zu ahnen, daß weder in der Bouillon, noch in den Cotelettes Fleisch, respective Butter vorhanden war. Das ist namentlich in den aristokratischen Häusern der Fall. Allerdings kann ich nicht verschweigen, daß sich auch oft das Ganze auf den Kopf stellt, d. h. daß der rechtgläubige Hausherr es nicht ahnt, daß der brave Koch ganz ruhig Fleisch zu den Speisen verwendet; der Herr merkt es nicht, oder er will es oft nicht merken.

Die Hauptfasttage sind Mittwoch und Freitag, die strengsten Fasten werden aber in der Mitte der „Kreuzeswoche“ und während der „Marterwoche“ eingehalten. Die „Kreuzeswoche“ hat ihre Benennung daher, daß während derselben in den Kirchen stets das blumengeschmückte Kreuz ausliegt und sich unzählige fromme Beterschaaren zum Küssen desselben von früh bis spät versammeln; als Talisman wird eine Blume vom Kreuze mitgenommen.

Der Gläubige kämpft sich durch die ersten sechs Wochen mit Mühe durch, um in der siebenten schier zu erliegen. Auch Fisch ist jetzt nicht mehr gestattet: Pilze, Gurken, Kwas (schlimmer als Dünnbier) bilden von nun ab die vorgeschriebene Nahrung, und dazu kommt fast unaufhörlicher Gottesdienst. Der Russe muß sich also wirklich zur Osterfreude durchkämpfen, und es ist kein Wunder, wenn er sich derselben dann auch voll hingiebt: kindlich-naiv, wie sein Glaube ist, sind auch die Aeußerungen seiner Freude.

Am Charfreitag wird überhaupt bis zur Grablegung nichts genossen. Ich glaube indeß hier bemerken zu müssen, daß die griechische Kirche nicht, wie die katholische, eine Figur ausstellt, wohl aber einen Katafalk mit einem Sarge, auf dem der gekreuzigte Heiland (das Crucifix) sich befindet. Am Sonnabend vor zwölf Uhr Nachts wird derselbe in das Allerheiligste zurückgetragen; unterdessen sind rund um die Kirche herum Holzsteige gebaut, und Alles bereitet sich nun zum hohen Feste vor. Zu Hause werden Eier gefärbt, Kulebjaki (süßes Weißbrod in Cylinderform) gebacken, Pascha (Twarog, d. h. gekäste Milch mit Rosinen) eingekauft; Schinken, kalter Braten, Geflügel geben außerdem nebst Caviar, Sardinen etc. den nöthigen Schmuck des Ostertisches ab, dessen Hintergrund eine, je tiefer nach Rußland hinein, desto stattlichere Flaschenreihe bildet. Vom Ballcostüm bis zum einfachen „besten“ Kleide, vom Frack, Parade-Uniform bis zum „neuesten“ bunten Hemde liegen die Feierkleider bereit; die Hausknechte haben die Lampions vorbereitet, die Festungsartillerie hundertein Kanonen blind geladen, der Feuerwerker seine Raketen aufgestellt; auf den Plätzen der Stadt aber stehen schon die mächtigen Balagane (bretterne Meßbuden) bereit; nur in den Priesterwohnungen herrscht Schweigen der Ermattung, Schweigen der Erbauung.

Es wird Abend; die arme Bevölkerung wie die Bedienung der Reichen sammeln sich, mit Kulitsch, Pascha und gefärbten Eiern beladen, schon um neun Uhr vor den Kirchen; denn die mitgebrachten Gegenstände müssen vom Priester geweiht werden. Jeden Kulitsch schmückt eine mehr oder minder schöne Papierblume, und ein Wachslicht ist der dürre Nachbar derselben. An den vier Ecken der herrlichen Isaaks-Kathedrale stehen pfannentragende Engelgruppen; heute Abend sind diese Pfannen mit Brennwerk gefüllt, um in der ersten Stunde hoch aufzulodern. Verrauscht ist das Gewirr des Tages und lautlose Stille hüllt die Stadt ein. Da öffnen sich um zehn Uhr die Pforten der Tempel; eine geschmückte Menge drängt sich schnell in das Schiff der Kirchen, aber auch heute wahrt die Rangclasse ihre Rechte. So lange noch die Auferstehung nicht verkündet ist, werden in der Kirche, wie es bei griechischen Todtenfeiern Brauch, Evangelien gelesen. Heute darf Jeder an das kleine Betpult herantreten, auf welchem die Bibel liegt; und eifrig sucht einer den andern abzulösen, um zum Andenken an den gekreuzigten Christ ein Paar Bibelverse zu lesen.

Alle die Andächtigen stehen da, ein Wachslicht in der Hand; dieses brennt noch nicht, denn noch ist Christ nicht erstanden; seine Grabesstätte ist leer; das Christenauge sucht vergeblich seinen Heiland, aber das Herz hofft auf Trost, und leise, leise erhebt sich ein Gesang; fremd sind uns die Worte, die Melodie aber ist trostverheißend; mächtiger und mächtiger schwillt er an, und endlich zieht der Oberpriester, von der ganzen Geistlichkeit mit Kreuz und Kirchenfahnen begleitet, den Heiland suchend, aus. Jedes Beters Licht flackert auf, und ein tausendfaches Lichtmeer ist dieser Zug, der auf den vorbereiteten Bretterstiegen Christus suchend fünfmal die Kirche umzieht, um wieder in den Tempel zurückzukehren, zum Altar, wo allein der Heiland zu finden.

Voller und mächtiger schwellt der Gesang in dem Hymnus gipfelnd:

„Der Auferstehung Tag! Die Feier soll uns heil’gen.
Umarmen laßt als Brüder uns!
Verziehen sei jetzt denen, die uns hassen,
Zur Auferstehung laßt uns freudig singen;
Christ, unser Heilaud, ist ersntanden.
Durch seinen Tod besiegte er den Tod
Und schenket Auferstehen allen Sündern.“

Das ist der Triumphgesang des griechischen Osterfestes, und wer ihn je gehört, der vergißt ihn gewiß nie. In demselben Augenblick werden 101 Kanonenschuß von der Festung gelöst, aus der Isaaks-Kirche leuchten die Fackeln, auf allen Straßen glitzern die Lampions, von allen Kirchen tönen alle Glocken – der Priester tritt auf seinen Diacon zu, ihm den Osterkuß reichend, und Jung und Alt, Vornehm und Niedrig grüßt sich im Tempel mit dem brüderlichen Osterkuß.

Doch nur einen kleinen Theil duldet es noch in den heiligen Räumen; die Meisten eilen nach Hause zum Ostertisch, wo noch so mancher heimliche Freund des Osterkusses wartet, und er wird ihm zu Theil; denn heute darf Niemand dem Andern den Kuß verwehren; küßt doch auch der Kaiser den letzten seiner Unterthanen, wenn derselbe sich zu ihm herandrängen kann.

Die Geistlichkeit segnet noch in und außerhalb der Kirche Eier, Kulitsch und Pascha, für jede Weihe drei Kopeken und ein Ei als Opfergabe empfangend; in den großen Städten sammelt sich, wie gesagt, dann Alles um den heimathlichen Herd, in der Provinz aber zieht die Geistlichkeit sofort nach beendetem Gottesdienst zu den Machthabern, um den Wirth mit der Familie und dem ganzen Hause zu segnen; in der Provinz beginnen schon in der Nacht die Ostervisiten, und überall reicht man dem Gaste freudig Speise und Trank dar; der Arzt muß also Arbeit bekommen; denn die Osterzeit ist schlimmer als jede Epidemie.

So die Osternacht – der Ostermorgen aber will gleichfalls sein Recht haben.

Der berühmte Petersburger Paradeplatz, „Das Marsfeld“ oder, wie das Volk ihn nennt, „Die Kaiserwiese“, auf welcher zwar seit Jahrhunderten kein Grashalm wuchs, aber 50,000 Soldaten bequem manövriren können, prangt mit seinen zehn Volkstheatern, Menagerien, Caroussels, Bier- und Theebuden so verlockend, daß man der Osterfreude nur eben durch einen Besuch derselben Ausdruck geben kann. Leider ist die Osterzeit auch die Blüthezeit der Wuchergeschäfte; denn auch der Aermste giebt sein vorletztes Kleid hin, nur um alle die Herrlichkeiten, die sich ihm [191] hier zu geringerem Preise als sonst bieten, genießen zu können. Erheben sich doch stets dort die Eisberge, das echtrussische Nationalvergnügen, und ist es nicht zu herrlich, mit einer slavischen Grunja, Faina, Chawronja eng umschlungen auf schmalem Schlitten für billigen Preis durch die Lüfte, so eiskalt sie auch sind, im Sturm dahin zu fliegen? Und wieder ein anderes Bild! Dort die Theater: Berg, Ssemenow, Fedorow etc. Hier die Schlacht bei Plewna, dort der Balkanübergang, dort rettet der biedere Kosak eine türkische Jungfrau, dort slavische Tänze und Gesänge, hier wieder ein so gemüthliches Local, in dem man sich wärmen und stärken kann, und dazu die Eisverkäufer, die Tabuletkrämer, die Zuckerbäcker, die Sbitenschini (Siropwasserverkäufer) – wer könnte all den Lockungen widerstehen, und namentlich kann dies das „weite“ russische Herz? Darf es Einen daher wundern, wenn man hört, daß jedes hölzerne, für zwei Wochen hergerichtete Theater an Baukosten allein gegen 8000 Rubel verschlingt, Decorationen, Schauspieler, Costüme, Requisiten ungerechnet? Jedes Theater faßt 1000 bis 2000 Zuschauer, und jede Vorstellung wird mindestens stündlich wiederholt.

Das erinnert allerdings an das chinesische Theater in Maimatschin, wo zu Neujahr (im Februar bei dreißig Grad Kälte) die zehn bis dreißig Tage währenden Gratisvorstellungen auf offener Bühne in „freiem Frost“ inscenirt werden.

Auf dem Marsfelde bei Petersburg sind zum Besten der Volksmassen alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen. Zehn bis zwanzig Ein- und Ausgänge hat jedes Theater, am Canal steht eine fortwährend heizende Dampfspritze, nebenan hält stets eine Abtheilung Feuerwehr Wache, und auch die Polizei ist stark vertreten, doch nicht, um das Volk in Ordnung zu halten; denn das ist zu Ostern nicht nöthig; die Polizei muß nur den Wagen- oder vielmehr Schlittenverkehr regeln; denn auch die vornehmsten Herrschaften besuchen aus Patriotismus die Balagane, und der einfache Mann bringt dort Jedem nur offene Arme mit der Freude- und Friedensbotschaft: „Christ ist erstanden“ und mit brüderlichem Kusse entgegen, und der Angeredete erwidert freudig: „Wahrhaftig, er ist’s!“

Auch für den Humor ist Sorge getragen auf der „Czarenwiese“. Ueberall erblickt man den „Wanka Durak“, den spaßhaften Greis, der Jedem in Knüttelversen etwas zu sagen weiß. Natürlich schleichen sich auf diesem Vergnügungsplatze auch Uebelstände ein, die die Polizei zum Einschreiten zwingen. So kündigte vor einigen Jahren ein kleiner Budenbesitzer für die Osterzeit ein „Panorama Petersburgs, Entrée 5 Kopeken“ an, er machte indeß nur am ersten Tage gute Geschäfte; massenhaft anströmendes Publicum wurde durch einen schmalen Gang, an dessen Tourniquet die 5 Kopeken erhoben wurden, einzeln zu einem kleinen, einen halben Schuh im Quadrat messenden Guckloch zugelassen, das ohne Glas nur eben die nächste Umgebung als natürliches Panorama zeigte. Obschon Niemand klagte, kam die Polizei doch am nächsten Tage in Gestalt eines nach dem Guckloch verlangenden Gorodowois (Stadtsergeanten) und forderte den speculativen Impressario auf, die „gemüthliche Bude“ zu schließen. Dies geschah denn auch, obgleich ein nicht kleiner Theil des später anlangenden Publicums es laut und lebhaft bedauerte, das schöne Panorama der herrlichen „nordischen Palmyra“ nicht mehr genießen zu können!

Der Sonntag nach Ostern ist in Rußland dem Andenken der Eltern geweiht und heißt: „der Eltern-Sonntag“. Die Pietät des russischen Glaubens erfordert es, daß an diesem Tage die jungen oder alten Kinder hinausziehen, um auf dem Grabe der Eltern ein buntes Osterei zu verkrümeln; der Brauch mag vielleicht noch aus uraltheidnischen Zeiten herstammen, aber einem Russen ist er heilig, und mit Recht hält er an ihm fest; denn in die eigene Freude der Gegenwart muß sich ein Ausdruck der Ehrfurcht und des Andenkens an das dahingeschiedene Geschlecht mischen. Das ist wahrlich ein würdiger Abschluß des russischen Osterfestes. H. K.     




Dem Verherrlicher der Madonna zu seinem Jubelfest.

Wem wäre wohl sein Name nicht bekannt? Wer beugte nicht sein Haupt schon bei dem bloßen Klange desselben, um dem unsterblichen Meister der Farben den verdienten Tribut der Verehrung und Bewunderung zu zollen? In die weiten Kirchenhallen, in die hellen Museen, welche seine Werke eifersüchtig bewahren, wallfahren seit Jahrhunderten unzählige Schaaren Aller, die durch Betrachtung idealer Kunstwerke ihr Herz und ihren Geist zu veredeln bestrebt sind. Sinnend bleiben wir noch heute vor seinen Bildsäulen stehen, welche die Meisterhand der Künstler an vielen Orten der civilisirten Welt ihm zu Ehren errichtet. An ihm ist wahrlich das oft täuschende Wort von der Unsterblichkeit des Ruhmes zur Wahrheit geworden, denn seit Jahrhunderten lebt sein Geist unter den Sterblichen dieser Erde; dahingegangenen Geschlechtern hat er Anerkennung abgerungen, und sicher wird er noch viele kommende in die Fesseln seines Zaubers schlagen. Sollten wir nun, da der vierhundertjährige Gedenktag der Geburt dieses Gewaltigen unter den Auserkorenen der Kunst überall glänzend gefeiert wird, stillschweigend an seinen Werken vorübergehen? Nein, wie der Todten, die wir lieben und verehren, müssen wir auch seiner gedenken, denn er ist unser, wiewohl im fernen Welschlande seine Wiege stand; die Kunst verlieh ihm das Weltbürgerrecht, und weit hinauswirkend über die engeren nationalen Grenzen, ist er der Stolz der gesammten Menschheit. –

Am 28. März 1483 erblickte Raphael Santi das Licht der Welt in der romantisch gelegenen Stadt Urbino. Sein Vater Giovanni war selbst ein nicht unbedeutender Maler und weihte frühzeitig den talentvollen Knaben in die Geheimnisse seiner Kunst ein. Der Sagenkreis, der sein Leben umrankt, beginnt schon mit wunderbaren Erzählungen über die Leistungen seiner Kinderjahre, denn sobald die Menschen von ungewöhnlich großen Männern zu berichten haben, glauben sie auch, ungewöhnliche Erscheinungen in dem Leben derselben finden zu müssen.

Das äußere Leben Raphael’s verlief indessen, wie die streng prüfende Geschichte erzählt, einfach, ohne Wunderzeichen, ohne blendende Erscheinungen. Trüb könnte man sogar seine Kindheit nennen; denn der milde und friedenspendende Glanz des Mutterauges erlosch frühzeitig für ihn, der in fernen späteren Lebensjahren das Mutterglück und die Mutterliebe so innig wahr darzustellen wußte. Sein Vater verheirathete sich bald darauf zum zweiten Male, und als auch er im Jahre 1494 gestorben war, da mußte der verwaiste Knabe schon frühzeitig den bitteren Ernst des Lebens kosten. Wie er nun in seinem zwölften Lebensjahre zu dem Meister Pietro Perugino in die Lehre kam und hier seine Mitschüler bald überflügelt hatte, brauchen wir nicht ausführlich zu berichten.

Rasch verbreitete sich sein Ruf über ganz Italien, während er Kirchenfahnen malte, für Herzöge und Fürsten arbeitete und seinen Wohnsitz bald in Perugia, bald in Florenz aufschlug. Von letzterer Stadt aus wurde er auf Veranlassung des berühmten Baumeisters Bramante nach Rom berufen, um an der Verschönerung des vaticanischen Palastes und dem Neubau der Peterskrche Theil zu nehmen.

In der „ewigen Stadt“, wo bald die berühmtesten Männer mit ihm in vertraute Verbindung traten und die Päpste Julius der Zweite und Leo der Zehnte ihn mit Auszeichnung behandelten, eröffnete sich ihm ein großartiger Wirkungskreis. Eine Schaar begeisterter Schüler umgab den jungen Meister, und selbst ältere Künstler strömten von fern her nach Rom, um Raphael zu bewundern und von seinen Werken zu lernen. Wie ein Fürst lebte er in Rom. Wenn der Meister zu Hof ging, war er gewöhnlich von seinen Schülern begleitet, sodaß er wie im feierlichen Zuge auf dem Vatican ankam, während sein großer Nebenbuhler Michel Angelo meist einsam umherwandelte, Einmal begegneten sich die beiden Künstler in den Straßen Roms und Michel Angelo soll ausgerufen haben: „Ihr geht ja im großen Gefolge, wie ein Anführer der Sbirren!“ worauf Raphael erwiderte: „Und Ihr geht allein, gleich einem Scharfrichter!“ Trotzalledem wußte die Liebenswürdigkeit Raphael’s jedes feindselige Verhältniß zwischen Beiden zu verhindern.

Raphael war nie verheirathet. Seine Braut Maria da Bibiena, die Nichte des Cardinals Bibiena, starb frühzeitig, und wie man behauptet, hatte Raphael diese Braut nicht aus vollem Herzen geliebt. [192] Einer Anderen schenkte er seine glühende Zuneigung, der schönen Fornarina, deren Bildniß in manchem seiner Madonnenköpfe wieder zu erkennen war. Ueber sein Verhältniß zu dieser Töpferstochter aus Urbino darf man schwerlich nach den heutigen Begriffen urtheilen. Das damalige Rom war nicht der Hort der Sittlichkeit.

Wie die meisten Künstler jener Zeit, widmete sich Raphael auch der Baukunst und hat auf diesem Gebiete Großes geleistet. Von Bramante wurde er zum Architekten der Peters-Kirche in Rom empfohlen und reichte in Folge dessen der Bauverwaltung einen Plan und ein Modell ein, die so allgemeine Bewunderung erregten, daß Raphael im Jahre 1514 zum Ober-Intendanten des gewaltigen und kunstreichen Baues ernannt wurde.

Mitten in der vollsten Blüthe seiner rastlosen Thätigkeit raffte der Tod den berühmten Künstler hinweg. Am Charfreitag des Jahres 1520 schloß er seine Augen, vor welchen die göttliche Begabung die geheimnißvolle Welt der wahren und unvergänglichen Schönheit enthüllt hatte. Zeitgenossen behaupten, daß ein unrichtig angewandter Aderlaß den Tod des erst siebenunddreißigjährigen Mannes beschleunigt oder gar verschuldet habe. – Hinter dem schwarzumflorten Katafalk, an dessen Stufen das ganze Rom trauerte, stand das letzte unvollendete Gemälde des Meisters: „Die Verklärung Christi“. Im Pantheon zu Rom ruhen seine Gebeine, und das fromme Volk glaubt bis an den heutigen Tag, daß die marmorne Madonna, welche den Altar über dem Grabgewölbe schmückt, Wunder verrichte.

Raphael Santi.0 Bildsäule von Professor E. Hähnel.
Photographie im Verlage von F. u. C. Brockmann’s Nachfolger in Dresden.

Sorgfältige Forscher haben die Anzahl der Raphael’schen Werke genau feststellen wollen, und ihre Kataloge weisen die stattliche Zahl von über 1200 Nummern auf. Viele von diesen Gemälden haben im Laufe der Zeit wunderbare Schicksale erlebt. So erzählt man z. B., daß Raphael um das Jahr 1510 von den Mönchen des Olivetanerklosters S. Maria della Spasimo zu Palermo den Auftrag angenommen hatte, eine Tafel für ihren Hauptaltar zu malen. Als Gegenstand des Gemäldes wählte er die „Kreuztragung Christi“. Die ergreifende Composition wurde bald nach ihrer Vollendung nach Sicilien geschickt. Unterwegs aber ward das Schiff mit Allem, was es an Menschen und Gütern an Bord hatte von dem Meere verschlungen. Nur Raphael’s „Kreuztragung“ wurde durch einen Zufall, der einem Wunder gleichkommt, gerettet. Die aufgeregten Wogen trugen die Kiste mit dem Bilde in den Hafen von Genua, wo es die freudigste Aufnahme fand. Die biederen Genueser machten aber ihr Strandrecht geltend und verweigerten standhaft die Auslieferung des ihnen vom Glück zugetragenen Schatzes. Erst durch die beredte Vermittelung Raphael’s und das energische Einschreiten des Papstes ließen sie sich bestimmen, den Olivetanern ihr Eigenthum zurückzugeben.

Von allen Raphael’schen Gemälden ist in Deutschland die „Sixtinische Madonna“ am bekanntesten. Sie ist die letzte der Madonnen, welche der Meister gemalt hatte, und überhaupt sein vollendetstes Madonnenbild. Das 63 Quadratfuß große auf Leinwand gemalte Bild war für den Hauptaltar der „schwarzen Brüder von S. Sisto“ bestimmt, und über diesem Altare blieb es bis zum Jahre 1753, in welchem es durch Vermittelung des Malers Carlo Cesare Giovannini in Bologna für den Preis von 20,000 Ducaten für den Kurfürst Friedrich August den Zweiten von Sachsen (König von Polen) erworben wurde. Seit jener Zeit bildet es den größten Schatz der überaus reichen Gemäldesammlung in Dresden. Der fürstliche Erwerber äußerte seine Freude über die glücklich gelungene Erstehung des Meisterwerkes auf eigenthümliche Weise. Als das Bild zum ersten Male in seinem Thronsaal aufgestellt werden sollte, schob der Kurfürst eigenhändig den Thronsessel bei Seite mit den Worten: „Platz für den großen Raphael!“

Im Jahre 1826 wurde das Gemälde durch den berühmten Italiener Palmaroli restaurirt, was jedoch nach dem Urtheil einiger Sachverständigen die ursprüngliche Wirkung der Meisterschöpfung beeinträchtigt haben soll. Vortheilhafter für das Bild hat sich, wie Ernst Förster in seinem beachtenswerthen Werke „Raphael“ erzählt, eine später vorgenommene Restauration erwiesen, die den taub gewordenen Farben neues Leben gab. Nach vorsichtig angestellten Versuchen überzog man das Gemälde an der Rückseite mit neuer Leinwand und tränkte diese mit Kopaiva-Balsam, der, von rückwärts in die Farben eindringend, diesen die ursprügliche Kraft und Frische wieder verlieh.

[193] Leider gestattet uns der engbemessene Raum nicht, Näheres über die anderen berühmten Werke des unsterblichen Meisters zu berichten. Rom darf sich des Besitzes der meisten von ihnen rühmen. In Deutschland findet man außer in Dresden noch in Berlin, München und Wien werthvolle Gemälde Raphael’s.

Die edlen durchgeistigten Züge des großen Künstlers hat einer der idealsten Meister der modernen Bildhauerkunst, Professor Ernst Hähnel, in seiner vollendeten Statue wiederzugeben gewußt. Die Bildsäule, welche unser heutiger Holzschnitt auf S. 192 wiedergiebt, schmückt die herrliche Façade des Dresdener Museums. Denselben Entwurf hat Hähnel zu wiederholten Malen geschaffen, und am vollendetsten ist ihm die Ausführung desselben in der Marmorstatue gelungen, welche das Leipziger Museum ziert.V-s.     




Dorffeste zur Osterzeit.

1. ’s Fensterln im oberbaierischen Gebirge.

Scheltet nicht, ihr strengen Alten, daß die Jugend schlicht
Will an euren Sitten halten! Alte, scheltet nicht!
Hieltet ihr einst Osterfeier still und siegsbewußt:
Heut’ sind’s noch dieselben Eier, ist’s dieselbe Lust.
Klettertet wie Nachtgespenster ihr nach keckem Brauch:
Heut’ ist’s noch dasselbe Fenster und die Liebe auch.
Ist der Treue Bund gelungen euch für lebenslang,
Ei, so gönnt’s auch euren Jung’n auf demselben Gang!
Fragt nur in den eignen Herzen die Erinnerung,
Und ihr wünscht zu Ernst und Scherzen auch die Jugend jung.
Auferstehung ist’s! Frohlocken schall’ empor zum Himmelszelt,
Und beim Klang der Osterglocken freue sich die ganze Welt!

Nicht überall steht dem bekannten Unruhestifter Amor ein leicht zugängliches Terrain zu Gebote, auf welchem er mit aller Gemächlichkeit seine Intriguen in Scene zu setzen vermag. In den Städten hat er den Ballsaal, wo er die Herzen förmlich zusammencommandirt, die Gesellschaften, in denen er die jungen Leute spielend an einander kettet, die Promenaden, wo er sie als hinterlistiger Führer stets in einen Engpaß zur Begegnung hineinlockt, die auf die Straßen herabgehenden Fenster, von denen er einen eigenthümlichen Fernsprechapparat construirt, und zuletzt gar noch das Eis, auf welchem er die für einander Bestimmten sich gegenseitig förmlich in die Arme wirft. In den Dörfern treibt er sein Wesen nicht minder, allein sein Geschäft wird ihm durchweg etwas saurer gemacht. Nicht als ob er an Erfolgen ärmer wäre, aber man behandelt ihn weniger gentil, und er muß oft eigene Wege gehen, um nicht die Zielscheibe des allgemeinen Spottes zu werden. Gewöhnlich lauert er vor der Kirchenthür [194] seinen erkorenen Opfern auf und schleicht dann auf vielverschlungenen Pfaden denselben nach. Ein Herr Papa vom Lande macht eben nicht viel Umstände und regalirt einen ihm nicht passenden Verehrer vielleicht gar mit ungebrannter Asche oder setzt den vorwitzigen Eindringling höchst unsanft vor die Thür, wo sich bekanntlich der einzige hartgepflasterte Fleck beim Hause befindet.

Buben und Mädel im Altbaierischen haben sich, wahrscheinlich in Berücksichtigung der vorerwähnten Fährlichkeiten, ganz eigenthümliche Gebräuche für die Werbezeit geschaffen, welche, wenn auch keineswegs zu den lobenswerthesten, doch zu den originellsten Erscheinungen im Volksleben zählen. Was für den städtischen Verehrer der Moment ist, in dem er auf die Kniee stürzt und eine Liebeserklärung declamirt, das ist für den Burschen in Oberbaiern der Augenblick, in dem er vor dem Kammerfenster seiner Erwählten steht.

Zu dieser Station des Herzenslebens führt aber ein beschwerlicher und gefährlicher Weg. Ist in seinem eigenen Hause Alles zu Bett gegangen, dann wartet er den ersten Schlaf seiner Angehörigen ab, um sich ungesehen und ungehört davonschleichen zu können. Durch den Stall und die Scheune kommt er in’s Freie; dort sucht er aber nicht die breite Straße oder benützte Wege auf, sondern verfolgt seinen Pfad über Zäune und durch Hecken, um keinem Verräther zu begegnen, denn daß ein Bauernbursche zu der Zeit, wenn Alles ruht, noch spazieren geht, glaubt nicht einmal der dümmste. Je näher dem Ziel, desto mehr Vorsicht ist nöthig, denn die Faust und das Messer eines etwaigen Nebenbuhlers mahnen, daran zu denken; möglicher Weise ist der Haushund los – ja einen argwöhnischen Hausvater alarmirt sogar die plötzliche Unruhe des Viehes im Stalle.

Endlich hat er den Gaden überstiegen und arbeitet sich klopfenden Herzens im Obstgarten hinter dem Hause von Baum zu Baum, bis er, bei der Scheune angelangt, das berühmte Kammerfenster in Sicht bekommt. Dort also, ein paar Mannshöhen über der Erde, schläft sein Glück! Vor ihrem Fenster steht der „Veigerl“-(Nelken-)Stock, dessen dickdoldige Blüthenköpfe ihm, von der Nachtluft bewegt, ermuthigend zuzuwinken scheinen. Ein südländischer Don Juan würde nun die Guitarre oder Mandoline hervorziehen und darmzupfend seine Klagen in wehmüthigen Accorden der Nacht und dem Liebchen anvertrauen. Das würde aber unserm Jungen höchstens eine Tracht Prügel und der Angebeteten eine Serie von „Watschen“ eintragen. Der baierische Bua ist daher behutsamer, er wirft vielleicht ein kleines Steinchen an das Fensterchen, um die Geliebte herbeizulocken.

Sie bekommt bei dieser plötzlichen Unterbrechung der Nachtruhe keine Nervenzufälle, sondern weiß genau, was dieses Telegramm zu bedeuten hat. Ist sie dem nächtlichen Ruhestörer gewogen, dann zeigt sie sich am Fenster, und er hat Aussicht zur Audienz gelassen zu werden. Im ungünstigen Falle hört sie absolut nichts oder sie richtet eine energische Aufforderung nach unten, worauf sich der Getäuschte schleunigst unsichtbar zu machen pflegt. Hat der vagabondirende Amor sein Ziel getroffen, dann öffnet sich langsam das Fensterchen – er weiß schnell eine Leiter oder ein Surrogat derselben zu finden und erklimmt auf diese Weise die Stufen zur Liebsten, bis er tête-à-tête bei ihr angelangt ist. Nun geht’s an ein Plaudern, über dem wohl einige Stunden der Nacht vergehen mögen, dann nimmt man Abschied, und der fahrende Ritter sucht wieder so unbemerkt, wie er gekommen, sein eigenes Heim zu erreichen.

Derartige Zusammenkünfte werden im Allgemeinen kaum für anstößig gehalten und schaden dem Rufe des Mädchens nicht, da sie als Einleitung zur Heirath gelten. Zu gewissen Zeiten drückt man sogar ein paar Augen zu, um den jungen Leuten den „alten Brauch“ nicht zu verkümmern. So holt sich um Ostern jeder Bub, der’s zu einem Schatz gebracht hat, sein Ostergeschenk, eine Anzahl gefärbter Eier, auf die Blumen und Herzen gemalt und zierliche Reimlein geschrieben sind, welch letztere natürlich Bezug auf die intimen Verhältnisse haben und entweder zärtlichen Inhalts oder mit Spott und Neckerei gewürzt sind. Wer dieses Geschenk nicht empfängt, darf sich keiner großen Gunst rühmen, wie überhaupt das Kammerfenster ein Forum für die Vergehen des Begünstigten bilden; ist sie „harb“, dann wird wochenlang nicht aufgemacht und die Geduld des Burschen auf eine harte Probe gestellt.

„Deandl, bist stolz oda kennst mi nöt, oda sän dös deine Fenster nöt?“ singt der jugendliche Liebhaber in einem der ältesten und bekanntesten Gebirgsdramas, um seine Ungeduld und seinen Unwillen zum Ausdrucke zu bringen. Gar zu hartherzig werden aber auch die ländlichen Schönen nicht sein, deshalb ist nicht zu fürchten, daß sich ein „gedratzter“ Bua ein Leid anthun möchte. Von der Kanzel und aus der Gerichtsstube erging – offenbar mit allem Recht schon manches Verdict gegen das Fensterln, dessen moralische Schattenseiten so unverkennbar sind, daß darauf gar nicht hingewiesen zu werden braucht – allein alle Autorität wurde umsonst daran gesetzt, diesen tiefgewurzelten Gebrauch auszurotten. Wenn auch alljährlich das Fensterln oder „Gasselgehen“ seine Opfer fordert und die Rauflust dadurch nur neue Nahrung gewinnt – ein Bua, der kein Kammerfenster weiß, an dem er ein paar Stunden plaudern kann, ist ein armer Tropf. Und wenn er oben auf seiner Himmelsleiter steht und in seine zwoa Sterndle guckt, sodaß der Mond dazu lachen muß – wenn sie Beide leise und eindringlich mit einander flüstern, während der Brunnen recht laut rauscht, daß Niemand das Pärlein hören möge – wenn die duftigen Nelken ihren Blumensegen dazu sprechen und Bua wie Deandle die ganze Welt vergessen, wie vermöchten sie da noch an den Pfarrer und an den Landrichter zu denken?


2. Siebenbürgische Ostergebräuche.

Unsere Sachsen in Siebenbürgen halten mit ihrem Deutschthum in echt bäuerlich beharrlicher Weise auch die alten Sitten und Gebräuche fest aufrecht, die ihren Ursprung auf dem Boden des alten Vaterlandes nicht verleugnen können. Zu ihren Osterlustbarkeiten gehören unter Anderem das Begießen und Eierspenden, das Hahnenschießen und Hahnenschlagen und das Eierschlagen und Eierstoßen.

Der Tag vor dem Feste ist ausschließlich der Vorbereitung für dasselbe gewidmet, denn nicht nur die Vorräthe für Küche und Keller, sondern auch die sorgfältigste Reinlichkeit in den Höfen und Ställen, in allen Stuben und Kammern, kurz die Schmuckheit der gesammten Haus- und Feldwirthschaft, der höchste Stolz des Bauern, nehmen den Eifer aller Erwachsenen in Anspruch. In naturgemäßer Folge davon ist der erste Feiertag nur der Kirche und der Ruhe geweiht, die auch die jungen Leute möglichst beachten, und nur den Kindern ist ihre laute Fröhlichkeit in ihren Spielen gestattet.

Der zweite Feiertag gehört, natürlich nach dem Gottesdienste, ebenso ausschließlich der öffentlichen Lust, wie der erste der ernsten Feier. Sogar in der Kirche predigt an diesem Tage nicht der Herr Pfarrer selbst, sondern „der Schulmeister“ hält vom Epistelstuhl aus eine predigtähnliche Ansprache an die Gemeinde.

Heute ist die Straße von Alt und Jung belebt. Ehe der Fest- oder der Tanzplatz die jungen Leute vereinigt, stehen und wandeln Mädchen und Bursche in getrennten Gruppen zusammen. Aber da ist’s auch die gelegene Zeit für die erste Festsitte. Mit einer Kanne voll frischen reinen Wassers sucht der Bursche sich an sein auserkorenes Mädchen hinanzuschleichen, und ist ihm das gelungen, so gießt er ihr das Wasser über den Kopf, jedenfalls die abkühlendste Liebeserklärung von der Welt. Das Mädchen schreit natürlich hell auf und läuft davon. Aber es ist nur der Schrecken, nicht der Zorn, der sie forttreibt, denn sehr bald kommt sie, daheim abgetrocknet, wieder und bringt ihrem Begießer ein buntes Ei, ja noch häufiger ladet sie ihn in ihr Elternhaus ein, wo ihm mit einem Gläschen Likör und Backwerk aufgewartet wird.

Dieses Begießen versetzt nicht blos die gesammte Jugend des Dorfs in Aufregung, sondern ordnet für diese schon am Morgen die Tanzpaare für den Abend.

Am Nachmittag strömt Alt und Jung auf die Festwiese zum Hahnenschießen. Wir müssen gleich im voraus bemerken, daß diese Art Volksvergnügen, die aus dem Capitel der Thierquälerei durch keinerlei Beschönigung herauszuretten ist, niemals unsern Beifall gewinnen wird und daß wir der Sitte des Vogelschießens, d. h. mit einem Schießziel, dem es einerlei sein kann, ob ihm eine Kralle, ein Flügel oder der Kopf weggeschossen wird, weil es von Holz geschnitzt ist, stets den Vorzug geben müssen vor dieser Schießerei nach einem lebendigen Hahn, der, an einen Pfahl mittelst einer Leine befestigt, in der Todesangst im Kreise herumflattert, aber seinen ungeschickten Peinigern sich durch die Flucht nicht entziehen kann.

[195] Zu besagter Festlichkeit muß alljährlich vor Allem ein Schützenhauptmann gewählt, Schußtaxe (in der Regel der Schuß zu 5 bis 10 Kreuzer) festgesetzt und ein alter Hahn beigeschafft werden, denn um einen jungen wäre es – nicht vom Humanitäts-, sondern vom ökonomischen Standpunkte aus – schade. Zum Schießen nach dem in möglichster Entfernung vom Schießstande aufgestellten Hahn tritt nun Mann um Mann heran, und es gehört zu den Freuden des Tags, wenn manches Gewehr so schwach geladen oder so wenig weittragend ist, daß die Kugel weit vor dem Ziel in den Boden fährt. Wenn es nun lange genug vergeblich geknallt hat, die Rohre heiß, die Pulvervorräthe dem Ende nahe sind, commandirt der Hauptmann zum letzten Reiheschießen, und wer nun schließlich dem armen Hahn das Lebenslicht ausbläst, wird als Schützenkönig in festlichem Zug heimgeleitet und giebt den treuen Genossen einen Eimer Wein zum Besten.

An anderen Orten, oder auch wohl gleichzeitig mit dem Hahnenschießen, erlustigt man sich am Hahnenschlagen, das übrigens auch bei uns so viel verbreitet ist, daß wir einer Schilderung desselben wohl entrathen können. An manchem Ort zieht man das ähnliche Topfschlagen vor; der Unterschied besteht nur darin, daß der oder die Schlagende mit verbundenen Augen mit einem langen Stocke nach dem innerhalb eines Kreises aufgestellten Topf, anstatt nach einem angebundenen Hahn, zu schlagen hat und daß im Glücksfall, statt daß ein armes Thier zum Krüppel oder todt geschlagen wird, nur die klirrenden Scherben herumfliegen.

Junge Mädchen und Frauen ziehen das lustige Eierschlagen vor. Im großen Kreise werden mehrere bunte Ostereier in’s Gras gelegt. Die Theilnehmerinnen am Spiel verpflichten sich, mit verbundenen Augen und mittelst einer Ruthe nur eine bestimmte Anzahl von Schlägen auf die Stelle zu richten, wo sie ein Ei vermuthen. Oft läßt man sie auch so lange zuschlagen, bis sie die Geduld verlieren und die Ruthe wegwerfen. Das getroffene Ei gehört der glücklichen Siegerin. Eben deshalb nehmen die schelmischen Mädchen gewöhnlich die wirklich mit Aussicht auf Erfolg bedrohten Eier geschwind weg und lassen die blinde Gefährtin auf’s leere Gras schlagen. Das gehört zu den berechtigten Eigenthümlichkeiten dieses Spiels.

Die Kinder, besonders die Buben, üben als ihr Osterspiel das Eierstoßen aus, indem ihrer zwei ihre Eier mit der Schmalseite an einander stoßen; wessen Ei bricht, der hat es an den Andern verloren – gerade wie bei uns.

Den Schluß und für die Jugend die Krone des Festes sucht man im Tanzhause, ebenfalls wie bei uns. Nur in Einem findet dort ein ländlich-sittlicher Unterschied statt. Wenn nämlich der Herr Schulmeister sich, zum Behufe von Kirchenmusik-Aufführungen, nicht eine Chor-Adstanten- (hier Adjuvanten-) Capelle eingeschult hat, die auch zum Tanze aufspielen kann, so greift man zur einheimischen Zigeunermusik, die zum Tanze zu spielen versteht, wie keine andere Capelle. Freilich müssen die Tanzbursche mit den Zigeunern tüchtig feilschen und fest unterhandeln, wenn sie nicht schließlich von den Schlaumeiern über’s Ohr gehauen werden wollen.

Das sind Osterfreuden unserer tapferen Sachsen, die ihnen bei ihrem schweren Kampfe gegen die magyarische Deutschenfresserei der Gegenwart noch recht lange und glücklich mögen erhalten bleiben.




Die höchste Brücke der Welt.

Der in Nr. 40 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ enthaltene interessante Artikel über „die höchsten Bauwerke und Denkmäler der Welt“ veranlaßt mich, die Aufmerksamkeit ihrer Leser heute auf ein erst vor wenigen Monaten vollendetes Bauwerk der „Neuen Welt“ zu lenken, welches nicht nur in Ingenieurkreisen, sondern auch im größeren Publicum nicht geringes Aufsehen erregt. Es ist dies die höchste Brücke der Welt, der schnell berühmt gewordene „Kinzua-Viaduct“ bei Alton in McKean-County im Nordwesten Pennsylvaniens.

Die eben vollendete Eisenbahnlinie der New-York, Lake Erie u. Western Coal und Railroad Co. nämlich, eine Zweigbahn der Erie Railroad, einer der großen Verkehrsadern zwischen New-York und dem Westen, verbindet die Stammlinie mit den bedeutenden Kohlenlagern von Elk-County in Pennsylvanien und erschließt ihr dadurch einen unermeßlichen Vorrath des kostbaren Materials, dessen Mangel sich bei der Eriebahn bisher in drückender Weise fühlbar gemacht hat. Auf dem Wege dahin, etwa 26 englische Meilen südlich von Bradford, dem Emporium der Petroleumproduction von McKean County, überschreitet diese Bahn das großartige Kinzuathal, das, bei einer Tiefe von über 90 Meter und einer Breite von mehr als 600 Meter, sich circa 30 Meilen lang hinzieht. Unabsehbare Tannenwaldung, in der bis zum Beginn der Vorarbeiten für den Brückenbau noch nie ein Axtschlag gehört worden war, bedeckt, einem Urwalde gleich, die in einem Winkel von etwa 20 Grad abfallenden Thalwände. Prachtstämme, 30 bis 40 Meter hoch, strecken ihr stolzes Haupt empor; aber weit über sie hinaus ragt der großartige Viaduct bis zu der enormen Höhe von 92 Meter und legt beredtes Zeugniß ab von dem Genie und Unternehmungsgeiste, dem es gelungen, den kolossalen Abgrund zu überbrücken.[1]

Der ganze Bau, mit Ausnahme der gußeisernen Säulenköpfe und Füße sowie der Mauerplatten, ist aus Walz- und Schmiede-Eisen ausgeführt und ruht, fest verankert, auf massiven Steinpfeilern, die direct auf den Felsboden des Thales fundirt sind. Die Tragfähigkeit der Brücke dürfte den strengsten Anforderungen der amerikanischen sowie europäischen Praxis genügen. Ebenso ist dem Winddrucke gehörig Rechnung getragen, sodaß die Brücke dem heftigsten Sturmwinde Widerstand leisten kann. Um ein Entgleisen des Zuges auf der Brücke, wenn nicht unmöglich, so doch gänzlich gefahrlos zu machen, ist ein System von stählernen Doppelschienen sowie hölzernen Langschwellen außerhalb derselben vorhanden, wodurch es dem Zuge unmöglich ist, die Fahrbahn zu verlassen, da die Räder im Falle des Entgleisens sich zwischen diesen Sicherheitsschienen auf den in sehr engen Zwischenräumen gelegten Querschwellen fortbewegen müssen. Auch sind zum Passiren der Brücke durch Fußgänger zu beiden Seiten der Fahrbahn geräumige Fußwege, mit starkem Geländer geschützt, angebracht.

Betreten wir nun einmal in Begleitung eines Reisegefährten, der sich uns beim Verlassen des Zuges auf der nächsten Station angeschlossen hat, die Brücke, um bis zu ihrer Mitte hinauszuschreiten. Hier bleiben wir stehen, gefesselt von dem großartigen Panorama, das sich unserem Auge bietet. Hoch über den Gipfeln der Bäume stehend, sehen wir, so weit das Auge reicht, nichts als undurchdringliche Waldung, welche durch ihre sanften Wellenlinien die Contour des Thales verräth, das erst in weiter Ferne durch einen davorliegenden Höhenzug seinen Abschluß findet. Es ist der Blick über die unabsehbare Wildniß unter uns, mit ihrer geheimnißvollen Ruhe, der einen so überwältigenden Eindruck verursacht. Fast überkommt uns ein Gefühl des Schwindels, wenn wir hinabblicken in die Tiefe, wo sich, einem zarten Silberfaden gleich, das Kinzua-Flüßchen dahinschlängelt. Tiefe Stille herrscht überall, nicht das geringste Lebenszeichen gewahren wir im Thale. Doch was ist das? Was bewegt sich dort unten ameisengleich am Ufer des Flüßchens entlang? Sind wir im Lande der Liliputer? Oder was sind das sonst für Gestalten, die durch ihre winzigen Größenverhältnisse unser Erstaunen verursachen? Ja so! wir hatten vergessen, daß wir 92 Meter hoch über der Thalsohle stehen, und indem wir durch den Feldstecher in den vermeintlichen Pygmäen ganz gemüthliche Touristen erkennen, die in das Thal hinabgeklettert sind, um das eiserne Wunder von unten zu betrachten, [196] fangen wir nun erst an, die ungeheure Höhe unseres Standpunktes recht zu würdigen.

Da ertönt aus der Ferne dumpfes Rollen und Brausen; ein mächtig durch den Wald schallender Pfiff klärt uns über die Ursache desselben auf, und gleich darauf erscheint am Ausgange des Waldes eine Locomotive, die, schnell der Brücke sich nähernd, unter heftigem Keuchen und Schnauben einen langen Kohlenzug heranschleppt. Jetzt ist der Zug auf der Brücke. Das Geräusch des Rollens nimmt, immer stärker werdend, eine tiefere Resonanz an. Vorüber schnaubt das Ungethüm, während der Boden unter uns dröhnt und doch kaum merklich zittert. In wenigen Minuten ist der lange Zug an uns vorüber gebraust und drüben auf der entgegengesetzten Hügelseite im Walde wieder verschwunden. Unser Gefährte, der mit Eisenconstructionen weniger vertraut ist, als wir, und dem als unfreiwilligem Zeugen bei dieser improvisirten Festigkeitsprobe nicht ganz wohl zu Muthe geworden, erholt sich jetzt von seinem Schreck, und mit einem bedeutsamen Lächeln nickt er uns zu, womit er sein nunmehr unbegrenztes Vertrauen in die Tragfähigkeit an den Tag legen will.

Der Bau des Kinzua-Viaducts bei Alton in Pennsylvanien.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

Folgen wir nun dem Beispiele der Pseudo-Pygmäen, indem wir dem Thale einen Besuch abstatten. Es ist dies kein allzuleichtes Unternehmen, denn die Thalseiten fallen ziemlich steil ab, und das Princip der gleichförmig beschleunigten Bewegung sucht sich beim Hinabsteigen geltend zu machen. Die Eisenbahngesellschaft beabsichtigt binnen Kurzem zur Bequemlichkeit der Touristen einen zickzackförmigen Pfad anzulegen, sowie auch im Thale selbst ein Hôtel zu bauen, denn schon jetzt besuchen wöchentlich Tausende den „Jumbo-Viaduct“ (so hat der Volksmund nach dem durch Barnum dem Londoner zoologischen Garten entführten Riesenelephanten die höchste Brücke der Welt getauft), und Extrazüge von den nahen Großstädten, sogar von Buffalo und New-York, sind schon längst zur Regel geworden.

Endlich sind wir wohlbehalten unten angekommen. Am Rande des Flüßchens stehend, blicken wir empor. Fürwahr, es verlohnte sich der Mühe, den steilen Hügel herabzuklettern, denn der Eindruck ist unbeschreiblich großartig.

Schier in den Himmel hinauf, so dünkt es uns, ragen die schlanken, eisernen Säulen. Wie Stangen sehen sie aus, diese Säulen, wie Spinnengewebe die starken Diagonalstangen der Verstrebung, wie Filigranarbeit die Linien der schweren Gitterträger, deren Gewicht nach vielen Tonnen gerechnet wird. Erst wenn wir näher herantreten und uns von den Vertrauen einflößenden Proportionen der unteren Constructionstheile überzeugen, verschwinden die Zweifel hinsichtlich der Tragfähigkeit, die momentan in uns aufgestiegen waren.

Während wir uns auf einem Baumstumpf niederlassen, um uns von den Strapazen unseres Abstieges ein wenig auszuruhen, und während unsere Blicke unwillkürlich immer wieder nach der Himmelsbrücke hinaufwandern, erzählen wir unserem Gefährten auf dessen Wunsch, wie auch dem Leser, Folgendes über den Mann, dem die Ehre gebührt, der Schöpfer dieses Wunderbaues genannt zu werden.

Ein Deutscher ist’s, Adolf Bonzano, der schon vor mehr als dreißig Jahren als junger Bursche aus Württemberg nach den Vereinigten Staaten auswanderte, wo er sich erst dem Maschinenfache, später aber dem Brückenbau widmete, in welchem er sich den hohen Ruf erworben, den er jetzt genießt als Ober-Ingenieur und Theilhaber des berühmten Brückenbau-Etablissements von Clarke, Reeves und Comp. zu Phönixville bei Philadelphia. Viele der großartigen amerikanischen Brücken, sowie der größere Theil der New-Yorker Hochbahnen, sind nach seinen Entwürfen aus diesem Etablissement hervorgegangen. So war es auch sein Entwurf, der von den mit Prüfung der eingesandten Pläne für den Kinzua-Viaduct betrauten Ingenieuren der Eriebahn für den besten und praktischsten erklärt wurde, worauf die Direction der Gesellschaft seinem Hause die Ausführung des Baues übertrug.

Am 15. December 1881 wurde die Ausführung der Detailarbeiten, Berechnungen und Zeichnungen von den Ingenieuren des Etablissements in Angriff genommen, wenige Tage darauf schon die erste Partie Eisen dafür gewalzt, und am 20. April 1882 ging die erste Sendung des fertigen Materials von Phönixville nach der Baustelle ab. Am 10. Mai wurde die Aufstellung des Eisenwerkes auf den mittlerweile vollendeten Steinpfeilern begonnen und am 1. September war der Viaduct fertig für den Eisenbahnbetrieb, also in kaum mehr als 3½ Monaten seit Beginn der Aufsteilung und in 8½ Monaten seit Beginn der Bureau-Arbeiten.

Bemerkenswerth ist noch, daß zur Aufstellung durchaus kein Gerüste, nicht einmal eine Leiter benutzt worden ist, denn da die Thürme etagenweise aufgestellt wurden, so dienten die unteren Etagen als Gerüste für die darauf liegenden Etagen. Die Constructionstheile wurden durch einfache Hebe-Apparate, aus Masten bestehend, die an die Säulen der bereits vollendeten Etagen angeschraubt

[197]

Die höchste Brücke der Welt, der Kinzua-Viaduct bei Alton in Pennsylvanien.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

[198] wurden und an ihren Spitzen Flaschenzüge trugen, aufgezogen und von den Monteurs eingesetzt und festgeschraubt. Als Motoren zum Betriebe dieser Hebe-Apparate dienten vier Dampfmaschinen, die an verschiedenen Stellen des Thales aufgestellt waren und mit dem Vorrücken der Arbeit ihren Standpunkt veränderten. Zum Montiren der schweren Gitterträger auf den Thürmen diente ein Riesenkrahn, der oben auf der Fahrbahn befestigt war und mit der Arbeit von Thurm zu Thurm vorwärts geschoben wurde.

Die Arbeiter kletterten theils an den Säulen, wobei ihnen die Nietenköpfe der Flanschen zum Aufsetzen des Fußes trefflich zu statten kamen, theils an den stets paarweise angeordneten Diagonalstangen der Verstrebungen auf und ab, worin sie bald eine staunenswerthe, beinahe „affenähnliche“ Geschicklichkeit an den Tag legten.

Einen urkomischen Anblick gewährte die Scene, die sich stets Mittags und Abends beim Arbeitsschlusse abspielte. Sobald das Signal der Dampfpfeife ertönte, sah man die Arbeiter, deren Zahl beiläufig zuweilen ein Hundert überstieg, massenweise an den Diagonalstangen der im Bau begriffenen Thürme immer im Zickzack von Etage zu Etage herabgleiten, wobei sie die neunzig Meter in weniger als einer Minute zurücklegten. Hinauf ging es freilich nicht so schnell, doch genügten in der Regel nur vier bis fünf Minuten dazu.

Um schließlich noch einen interessanten Vergleich zwischen Stein- und Eisenconstruction anzustellen, verweisen wir auf den, im obenerwähntem Artikel in Nr. 40 der „Gartenlaube“, in Wort und Bild angeführten Göltzschthal-Viaduct auf der Sächsisch-Bayerischen Staatsbahn, der gewiß Vielen unserer Leser bekannt ist. Derselbe ist 579 Meter lang und 87 Meter hoch über der Thalsohle; der Kinzua-Viaduct ist 40 Meter länger und 5 Meter höher. Der Bau des ersteren, der aus Granit und Ziegel ausgeführt ist, hat circa 6 Jahre, der des letzteren einschließlich aller Bureau-Arbeiten nur 8½ Monate in Anspruch genommen. Die Kosten des ersteren betragen 7 Millionen Mark, die des letzteren kaum ein Sechstel dieser Summe, nämlich 275000 Dollars.

Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß der Göltzschthal-Viaduct zweigleisig, der Kinzua-Viaduct hingegen nur eingleisig gebaut ist; doch würde ein zweites Gleis die Kosten des letzteren kaum um die Hälfte erhöht haben, was immer nur erst ein Viertel der erstgenannten Summe ausmachen würde. Fern sei es jedoch von uns, durch diesen Vergleich den Charakter des großartigen sächsischen Bauwerks schmälern zu wollen, das stets zu den bedeutendsten Leistungen des Ingenieurwesens gehören wird. Es lag uns nur daran, die Vortheile des Eisens zu betonen und darzuthun, was sich durch seine Anwendung zu solchen Zwecken erreichen läßt. Zum Bau eines steinernen Viaductes hätte sich die Eriebahn nie entschließen können, einmal wegen der enormen Kosten, noch mehr aber des Zeit raubenden Baues wegen. Die Anwendung des Eisens als Constructionsmaterial löste die Frage in jeder Beziehung in der günstigsten Weise.

Fürwahr, dies ist das Zeitalter des Eisens, und Steinbauten werden vielleicht bald nur noch zu den Dingen der Vergangenheit gehören, zumal in dem Lande, das dem kühnen Unternehmungsgeiste ein so weites Feld bietet, in der mit Riesenschritten fortschreitenden „Neuen Welt“.

Moritz G. Lippert.




„Mein Haus meine Burg“.

Ein Streifzug auf das Gebiet der Gesundheitslehre.

„Mein Haus meine Burg!“ Das ist ein stolzes Siegeswort, welches von den frohlockenden Lippen befreiter Bürger erklang, als die Uebermacht der bevorzugten Stände gebrochen war und alle Glieder des Staates von dem Vornehmsten bis zum Geringsten gleiches Recht beschützte. Ein stolzes und gottlob ein wahres Wort ist es, denn der einfachste Tagelöhner wohnt heute in seiner Hütte sicherer, als irgend ein Ritter früherer Zeiten hinter den Gräben und Wällen seiner Felsenburg.

Leider hinkt dieser schöne Vergleich, wie alle Vergleiche der Welt, und ist nur in sehr beschränktem Maße wahr, denn sobald wir das Gebiet der Politik verlassen und ihn auf andere Erscheinungen des menschlichen Lebens anwenden wollen, so weicht alle Freude aus unseren Gemüthern, um einer tiefbetrübenden Enttäuschung Platz zu räumen. Fragen wir nur: Sind unsere Häuser so beschaffen, daß wir in ihnen, wie in festen Burgen, ruhig dem Anstürmen des vernichtenden Heeres verschiedenartigster Krankheiten trotzen können? Selbst der Laie wird diese Frage verneinen müssen, denn er weiß, daß unsere modernen Wohnstätten in dieser Beziehung nur allzu reich an Mängeln aller Art sind, und der Sachverständige kann uns bestimmt versichern, daß wir in tausend Fällen gegen Krankheiten besser auf offenem Felde geschützt wären, als wir es tatsächlich in unseren Häusern sind. Ja, wir müßten viele Spalten und Nummern dieses Blattes füllen, wenn wir auf alle diese Uebelstände genauer eingehen wollten; wir müßten eine weite, schier ermüdende Wanderung durch das Gebiet der Hygiene mit unseren Lesern antreten, um nur anzudeuten, was hier an den Fenstern und Thüren, den Wänden und Balken zu ändern und zu verbessern wäre. Darum greifen wir für heute aus der Fülle dieses Materials nur einen Fall heraus. Prüfen wir das Verhältniß des Wohnhauses zu dem Boden, auf welchen es erbaut ist; verweilen wir nur bei den Grundvesten unserer Wohnstätten, um zu erfahren, ob sie so gelegt sind, wie es die Regeln der Gesundheitslehre erfordern.

Bevor wir dies tun können, müssen wir jedoch zunächst eine irrige Anschauung berichtigen, welche lange Zeit hindurch selbst bei den Fachgelehrten für wahr galt und auf welche noch heute die große Masse des Volkes treuherzig zu schwören pflegt.

Von altersher weiß man, daß es gesunde und ungesunde Gegenden giebt, und von altersher hat man geglaubt, den Grund für diese Erscheinung in der Beschaffenheit der Luft an solchen Orten suchen zu müssen. Die „ungesunde Luft“ und das „ungesunde Klima“ sind bei uns ganz geläufige Redensarten, welche wir jedoch früher oder später, wie so viele andere Redensarten, über Bord werfen werden. Seitdem wir nämlich wissen, daß der große Luftocean, welcher die Erde umhüllt, in steter Bewegung begriffen ist, daß selbst die Luft, die wir als total windstill bezeichnen, sich mit einer Geschwindigkeit von ½ Meter in der Secunde vorwärts bewegt und daß also von einem Stillstand in der Luft nirgends (selbst nicht in den engsten Gassen) die Rede sein kann, müssen wir auch zu der Ueberzeugung gelangen, daß jene räthselhaften Ursachen, die unsere Erkrankungen bewirken, in der Luft ihren ursprünglichen Sitz nicht haben können.

Der Leser, welcher von dem Verhältniß des Grundwassers zu den Epidemien etwas gehört hat, wird nun lächelnd einwenden:

„Schon gut! Wir wissen es; das Wasser ist der Träger und der Herd aller Krankheiten.“

Aber er irrt auch.

Das Wasser fällt unschuldig rein vom Wolkenhimmel auf die Erde nieder, und selbst wenn es hier verunreinigt wird, so weiß es sich schnell zu läutern. Es steht ja fest, daß sogar Brunnen, die auf Begräbnißplätzen errichtet sind, sehr oft ein vorzügliches Trinkwasser geben. Liefert doch ferner die Elbe bei Hamburg und Altona durchaus reines Trinkwasser, wiewohl der Fluß in seinem meilenweiten Laufe den Schmutz großer und kleiner Städte in sich aufnehmen muß. Und unweit der Brücke von Asnières ergießt sich der Sammelcanal der Pariser Cloaken in breitem schwarzem Strome in die Seine, welche hierdurch so verunreinigt wird, daß an dieser Stelle in dem Flusse weder Fische noch Pflanzen leben können, aber schon in einer Entfernung von wenigen Meilen treibt die Seine vollständig reines Wasser.

Wenn aber weder die Luft, die wir athmen, noch das Wasser, das wir trinken, als der eigentliche Herd der Krankheitsstoffe erkannt werden dürfen, was ist es dann, das die gesunde oder ungesunde Beschaffenheit so vieler Orte bedingt? Die Antwort ist einfach. Es ist der Grund und Boden, der alle Verunreinigungen in sich aufnimmt, der weder wie die Lust fortstürmen, noch wie das Wasser fortfließen kann, sondern an Ort und Stelle verbleibt. Seine Ausdünstungen verpesten die Luft, die über ihm hinwegstreicht, die in ihm vorhandenen gesundheitsschädlichen Stoffe vergiften das Wasser, welches durch seine Poren rinnt.

[199] Und auf diesem Grund und Boden bauen wir unsere Häuser. Fürwahr, da liegt es wohl im Interesse aller, daß seine Beziehungen zu den Krankheiten, namentlich aber zu den Epidemien gründlich erforscht werden, damit wir Mittel finden, uns vor seinen verderblichen Einflüssen zu schützen.

Doch der Wissensbegierde der Menschen sind in dieser Beziehung noch vielfache Schranken gesetzt. Die Ursachen der epidemischen Krankheiten sind noch in Dunkel gehüllt, nur aus ihren Wirkungen kennen wir die dämonischen geheimnißvollen Mächte, welche, von Zeit zu Zeit über die Menschheit hereinbrechend, Tausende und Millionen in der Blüthe ihrer Kraft dahinraffen. Aber zum Theil beginnt sich dieses Dunkel zu lichten, und wir wissen heute, daß einige Krankheiten durch mikroskopische Organismen, winzige Pilze, die in unsern Körper eindringen, hervorgerufen werden. So ist es festgestellt, daß der Milzbrand, die Malaria (das Wechselfieber) und vielleicht auch die Tuberculose Folgen einer solchen Vergiftung sind.

Mit Recht beantwortet daher Professor Max von Pettenkofer[2] die Frage: „Was mag das sein im Boden, was eine so mächtige Wirkung auf unsere Gesundheit im guten und bösen Sinne ausüben kann?“ mit folgenden Worten:

Aller Wahrscheinlichkeit nach sind es kleinste Organismen oder Erzeugnisse derselben, Organismen, wovon viele Millionen von Individuen zusammengenommen erst den Umfang des kleinsten Stecknadelkopfes oder ein Milligramm Gewicht haben, welche den porösen Boden von seiner Oberfläche bis in große Tiefen hinab bewohnen, welche uns schädlich und unschädlich und selbst nützlich sein können, gleich wie wir größere schädliche und unschädliche und nützliche Thiere und Pflanzen schon längst kennen.“

Bisher waren sie uns unsichtbar, und erst in jüngster Zeit hat sie die Wissenschaft durch das Mikroskop und verbesserte Untersuchungsmethoden unserem Auge wahrnehmbar gemacht.

Von diesem Standpunkte aus betrachtet, erscheint uns der „todte“ Boden, auf dem wir wandeln, in neuem Lichte. Eine gewaltige Summe verschiedenartigster Lebenskräfte arbeitet in seinen Tiefen, die unzähligen Milliarden kleinster Geschöpfe, und er selbst enthüllt sich vor unseren erstaunten Blicken als ein riesengroßes, lebendes Wesen. Doch sinnreiche Vergleiche genügen nicht dem Forscher, er steigt, bewaffnet mit dem Rüstzeuge der Wissenschaft, in die Tiefen des Bodens hinab, er prüft die Zusammensetzung der in ihm enthaltenen Luft, und er findet die Bestätigung seiner Vermuthung. Die „Bodenluft“ ist reicher an Kohlensäure als die atmosphärische Luft, und dies kann nur daher kommen, daß die im Boden lebenden Wesen den Sauerstoff der Luft verzehrt und Kohlensäure ausgeschieden haben. Der Forscher prüft die Luft, welche das Erdreich ausdünstet, er findet sie geschwängert mit Kohlensäure, durchaus ähnlich der von den Menschen ausgeathmeten Luft, und nun kann er sicher behaupten: das ganze weite Land, die Aecker und die Wiesen, die Thäler und die Berge, athmen wie ein großes riesengewaltiges Wesen. Was die Dichter sangen, wird zur Wahrheit: in großen Zügen athmet die Erde. Am Tage saugt sie Luft ein, und wenn die kühle Nacht hereinbricht, haucht sie ihre wärmere Luft gegen den kalten Himmel aus. Das ist der langsame Rhythmus ihrer Athmung.

Wie gesundheitsschädlich für uns die ausgeathmete Luft ist, das ist zur Genüge bekannt, und wenn die ausgehauchte Luft des Bodens, die man allgemein „Grundluft“ nennt, der von uns ausgeathmeten Luft ähnlich ist, so liegt schon darin für uns eine zwingende Veranlassung, uns von dieser Grundluft freizuhalten.

Aber hierzu kommt noch ein anderer erschwerender Umstand. Es ist festgestellt worden, daß mit der Grundluft kleine Staubtheilchen in die Höhe steigen und daß unter diesen auch die Keime der in dem Grund und Boden lebenden Pilze vorhanden sind. Und wenn es wahr ist, daß solche Keime Epidemien und Krankheiten verursachen, ist dann nicht ein doppelter Grund vorhanden, die Berührung mit der Grundluft zu vermeiden? In der freien Natur ist dieser ausgehauchte Dunst ohne Belang für das thierische Leben, denn dort wehen Winde und toben Stürme, die das Gift in der Weise verdünnen, daß es unschädlich wird.

Anders verhält es sich aber mit der Luft in unseren geschlossenen Räumen. Kann in dieselben die Grundluft eindringen?

Sie kann es unbedingt, und zwar ohne besondere Schwierigkeiten. Es sind ja Fälle bekannt, daß große Mengen von Leuchtgas aus unterirdischen defect gewordenen Straßenleitungen in benachbarte Häuser eindrangen und zu Erkrankungen, ja selbst zu Todesfällen führten. Sorgfältig angestellte Versuche ergaben auch, daß ein Wechsel zwischen der Haus- und Grundluft fortwährend stattfindet und daß den größten Theil des Jahres hindurch der Zug vom Boden in’s Haus hereingeht. Außerdem wurde nachgewiesen, daß die in’s Haus ziehende Grundluft selbst bei langsamem Tempo, in dem sie sich bewegt, entwickelungsfähige Pilzkeime mit sich bringt. „In der kälteren Jahreszeit,“ bemerkt hierzu Pettenkofer, „so lange geheizt wird, und auch im Sommer während jeder Nacht, wo die Luft in unseren Häusern wärmer ist, als die sie umgebende äußere Luft, wirken die Häuser wie Zugkamine und saugen Luft aus dem Boden, wie aufgesetzte Schröpfköpfe.“

Durch die Ermittelung dieser Thatsachen hat die Wissenschaft in unseren Bauverhältnissen einen Culturdefect entdeckt, den zu beseitigen eine lohnenswerthe Aufgabe der Herren Architekten sein müßte. Namentlich auf siechhaftem Boden dürften unsere Häuser nicht so „barfuß“ dastehen. In dieser Hinsicht muß man ohne Weiteres der Aussage der Oberstabsarztes Dr. Port beipflichten:

„Wir haben vom hygienischen Standpunkte durchaus keine Ursache, auf die Landpfahlbauten mancher fremder Völkerschaften und auf die Lehmhütten, die sich noch bei unsern Bauern hier und da vorfinden, mit Geringschätzung herabzublicken; beide haben, wenn auch auf ganz verschiedenem Wege, ein hygienisches Princip berücksichtigt, das unsern Bautechnikern entgangen ist, sie haben ihre Wohnräume vom Boden unabhängig gemacht, dort durch Unterlegung eines die Luftcirculation ermöglichenden Pfahlrostes, hier durch Absperrung der Hütten mittelst eines Lehm-Estrichs.“

Es würde uns zu weit führen, hier an einzelnen Beispielen zu beweisen, wie bei Epidemien solche verachtete Lehmhütten ihren Bewohnern tausendmal besseren Schutz boten, als die luftigen, mit allem Comfort ausgestatteten modernen Wohnhäuser eines und desselben Ortes. Wir müssen uns in Anbetracht dieser Thatsachen rückhaltslos der Meinung des zuletzt genannten Fachmannes anschließen, daß als die erste hygienische Rücksicht, als die oberste verhütende Maßregel gegen gewisse ansteckende Krankheiten eine geeignete Behandlung des Bodens zu betrachten sei, wodurch wir Häuser, Baracken, Zelte etc. zu seuchenfreien Wohnsitzen machen können. Aus solchen Wohnsitzen brauchen wir bei dem Auftreten der Epidemien nicht zu fliehen; wir können darin einer Seuchenbelagerung Trotz bieten. Von solchen Wohnsitzen können wir in Wahrheit sagen: Mein Haus meine Burg!

Vor Kurzem sind Pläne und Entwürfe derartiger durch Cementunterlage etc. geschützter „Gesundheitshäuser“ aufgetaucht, die anscheinend den von der Wissenschaft gestellten Bedingungen genügend Rechnung tragen. Da jedoch die Erfinder derselben auf der bevorstehenden Hygiene-Ausstellung in Berlin um die Siegespalme zu concurriren gedenken, so verzichten wir vorläufig aus die Veröffentlichung dieser Pläne, um alsdann darüber Bericht zu erstatten, was die berufenen Fachmänner für erstrebenswerth und brauchbar erklärt haben.

Bis dahin mögen sich unsere Leser mit der Thatsache trösten, daß glücklicher Weise nicht überall ein siechhafter Boden vorhanden ist, und daß wir, wie unsere Vorfahren, auch die Absicht haben, in unseren „barfüßigen“ Häusern alt an Jahren zu werden.

J.




Blätter und Blüthen.

Das Judas-Verbrennen in Portugal. Was man auch immer gegen die Portugiesen sagen möge, heiter und liebenswürdig, frisch und kindlich ist das Volk.

Die letztere Eigenschaft spiegelt sich in vielen Sitten und Gebräuchen wieder, die auf ein protestantisch-nordisches Gemüth einen schon mehr kindischen Eindruck machen. Obenan steht unter diesen das Judas-Verbrennen am Osterabend, das besonders in Oporto, der Stadt der Camelien und des Feuerweines, mit Leidenschaft betrieben wird.

Tiefe Trauer hat während der Charwoche über der ganzen Bevölkerung gelegen. Die Hunderte von Glockenthürmen haben ihre eherne [200] Zunge stillhalten müssen, die Militärmusik und alle das Piano folternden Hände (empfehlenswerth für Berlin und Leipzig!) sind in den Bann gethan. In schwarze Mantillas gehüllt, schleichen die dunkellockigen Schönen von einer Kirche zur andern – und am Charfreitag scheint die ganze Stadt in einen einzigen langen Sühnegottesdienst versunken. In Sack und Asche legt man sich möglichst früh zu Bett, um am anderen Tage bei Zeiten an die Arbeit oder auf die Wanderschaft gehen zu können. Mit Sonnenaufgang wird es draußen rege, ein geheimnißvolles Schaffen beginnt auf Straßen und Plätzen, und der portugiesische Gamin opfert seine letzten zehn Reis, um zu den allgemeinen Vergnügungen beizusteuern. „Judas!“ heißt die Parole des Tages, und in tausend und aber tausend Variationen sieht man den Verräther erscheinen. Da ist kaum ein Haus, vor dem nicht auf einem Scheiterhaufen eine grotesk ausgeputzte Figur in Lebensgröße mit scheußlichem Gesicht und langem Barte ausgestellt ist. Und nicht allein an Häusern und Gärten finden wir sie, sogar hoch in der Luft an quer über die Straßen gezogenen Stricken hängen die phantastischesten Nachbildungen und Carricaturen des Verlorenen. Hier und da hat eine mitleidige Seele ihm sogar ein Weib zugesellt, damit er nicht allein sei in der Schreckensstunde, die ihm bevorsteht.

Die Menge drängt sich in den Straßen; Hoch und Niedrig, Alt und Jung ist auf den Beinen, Niemand will das Fest versäumen. Ungeduldig harrt Alles dem großen Moment entgegen. Da endlich kündet die Glocke der Sé, der schönen, stolzen Kathedrale, des Osterfestes Nahen, und nun entsteht ein beispielloser Lärm, ein Jauchzen, Jubeln, Lachen und eine Kanonade, die der von Metz und Sedan spottet. Die Bäuche der unglücklichen Opfer sind mit Pulver und Stroh gefüllt, sie explodiren mit furchtbarem Getöse, und gleich darauf wird der ganze Judas von den Flammen verzehrt.

In wenigen Minuten ist natürlich die ganze Stadt in den dicksten Qualm gehüllt, und die Geruchsnervenbesitzenden fliehen schleunigst nach Hause oder womöglich bis hinaus an’s blaue Meer, um wieder reine, schöne Luft zu athmen. Ist der Spaß vorbei, dann sieht es scheußlich aus auf den Straßen, und es ist ein gar schwierig Werk, während der wenigen Nachmittagsstunden der Stadt wieder einen festlichen Anstrich zu geben.

Das ist ein Ostersonnabend in Oporto. So Wunderliches er uns aber auch erleben läßt, wir finden doch wieder Schiller’s Wort bestätigt: „Hoher Sinn liegt oft im kind’schen Spiel.“ Franz Bach.     




Unsere Vermißtenlisten des vorigen Jahrganges der „Gartenlaube“ in den Nrn. 8, 20, 28, 30, 34 und 42 haben folgende Nachrichten erzielt:

1) G. H. Geißler aus Bautzen arbeitet seit December 1881 als Gehülfe in einer Schreinerei zu Köln, deren Principal dies mittheilte.

2) Eine Postkarte aus Meynmühle bei Wallsbüll im Kreise Flensburg bringt auch den Eltern Hartwigsen auf Meynfeld den seit drei Jahren verlorenen Sohn wieder; er hat währenddeß in der Nähe von Uetensen in Holstein als Knecht gedient.

3) Leopold Kirsch hat vom 14. September bis 2. October 1882 zu Wabeck im Braunschweigischen in Arbeit gestanden und ist dann weiter gewandert. Sein armer alter Vater wartet noch immer vergebens auf ihn.

4) Von Richard Liebich kam nach vier Jahren wieder ein Lebenszeichen an die Seinen.

5) Die alte Mutter des Müllers K. F. Mehnert aus Cunewalde empfing endlich von dem wiedergefundenen Sohne einen reuigen Brief.

6) Ueber Karl Meyer aus Eppinghafen bei Mülheim an der Ruhr ertheilte ein Landsmann, Herr Otto Koerbin in Hobarttown, die Nachricht, daß derselbe, nach mancherlei Diensten als Kellner, Eisenbahnarbeiter etc., jetzt Besitzer eines Wirthshauses und mehrerer anderer Häuser ist und als wohlbestellter Familienvater in jener Hauptstadt der australischen Insel und Kolonie Tasmania lebt. Da Herr Koerbin die Adresse desselben angab, so konnte der Vermißte außer durch die „Gartenlaube“ auch direct an seine Pflicht gegen seine alten Eltern erinnert werden, und auch er mußte nun bekennen, daß es „die reine Nachlässigkeit“ gewesen, wie bei so vielen Ausgewanderten, daß er die Seinen so lange ohne Nachricht von sich gelassen.

7) Der Schieferdecker Otto Müller ist in Folge unseres Ausrufs gefunden, wie seine Mutter, die Wittwe Müller in Schellenberg, uns freud- und dankvoll meldet.

8) Ebenso ist der Müller Gustav Neumann nach elf Jahren durch die „Gartenlaube“ veranlaßt worden, den Seinen wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben, wie seine Schwester Emma uns mittheilt.

9) Ueber Constantin Sauter, den einzigen Sohn und die letzte Hoffnung einer armen Lehrerwittwe in Nieder-Dollendorf, die mit 250 Mark Jahrespension vier Kinder ernähren soll, erhielten wir die Nachricht, daß er als Mechaniker in Witten an der Ruhr in Arbeit stehe; leider kam unsere Postkarte an ihn als unbestellbar von dort zurück.

10) Der seit drei Jahren für seine Eltern[WS 1] verschollene Tischlergeselle Moritz Reinhold Schmidt aus Wilsdruff bei Dresden lebt wohlbehalten als Tischlermeister zu Thierbach bei Lobenstein im Fürstenthum Reuß j. L.

11) Der Schlossergeselle Schneider soll mit einem Schlosser Paul Rohkohl auf die Wanderschaft gegangen sein und der Aufenthaltsort Beider durch des Letzteren Eltern zu erfahren sein.

12) Aus Buenos Ayres benachrichtigt uns Herr W. Altgelt, daß der Maschinenbauer Rudolf Schultz aus Berlin 1880 die „Mina Marta“ verlassen, Seemann geworden und auf den Robbenfang in den dortigen Gewässern ausgefahren sei. Er versprach, weiter zu forschen, ob Schultz noch in Punta Arenas lebe.

13) Durch die Güte des Herrn Kaufmann Georg Wenzel in Schmalkalden haben wir die Adresse des Geschäftes erhalten, bei welchem Karl Schwartz in Australien zuerst in Arbeit getreten ist.

14) Der Schlossergeselle Georg Werner, welcher seinen letzten Brief 1878 aus Oldesloe nach Hause sandte, arbeitete darnach bei Schlossermeister Bernhard Müller in Sonneberg bei Coburg, wie dieser uns schreibt, diente hierauf drei Jahre als Soldat im 85. Regiment in Gotha und ging Ende September 1888 von Neuem auf die Wanderschaft.

15) Herr Lehrer F. A. Hager in Landwüst erfreut uns mit der Mittheilung, daß die Spur des vermißten Wilh. Wunderlich durch das deutsche Consulat in Odessa gefunden worden sei und nach Tiflis hinweise, wo nun weitere Nachfragen erfolgen. Wunderliche’s Mutter ist indeß im Gram der Sehnsucht nach dem Sohn gestorben; der alte Vater steht jetzt ganz allein.

18) Aus Wilhelmshaven erhalten wir über Hans Zinserling die Nachricht, daß derselbe allerdings als Bootsmannsmaat (Unterofficier) auf S. Maj. Schiff „Vineta“ gedient, in Port-Elizabeth beurlaubt an Land ging und nicht wiederkam. Unser Gewährsmann fügt aber hinzu, daß damals allen jungen Leuten die Köpfe voll waren von den Berichten über die Diamond fields und daß auch Zinserling ohne Zweifel dorthin geeilt sei und am sichersten in der Hauptstadt der Goldfelder, Kimberley, zu erfragen sein werde.

17) Nach dem zu Rondebosch (Cap der guten Hoffimng) gestorbenen Deutschen, dessen Name unbekannt geblieben, sind zwei Nachfragen, die eine aus Windsheim, die andere aus Hohenlimburg, erfolgt. Das Resultat ihrer Nachforschungen hoffen wir mittheilen zu können.

18) Zum Schluß kommt noch eine recht erfreuliche Nachricht, die wir, wenn auch außerhalb der alphabetischen Reihe, hier noch anführen müssen. Der Tapezierer Ernst Otto Müller, der Sohn der Wittwe Müller in Gotha, ist gefunden und hat, auf Anregung der „Gartenlaube“ von zwei Seiten zugleich dazu veranlaßt, seiner Mutter nach acht Jahren zum ersten Male wieder geschrieben. Er entschuldigt sein Schweigen damit, daß er auf keinen seiner Briefe von seinen Geschwistern eine Antwort erhalten habe. Allerdings waren diese Briefe, wohl wegen mangelhafter Adresse, stets als unbestellbar zurückgekommen. Er lebt im russischen Gouvernement Saratow, im Kreise Wolsk, als Sattler. Zwei deutsche Landsleute, die Herren A. Freyer und A. Knappe, sind ihm mit der „Gartenlaube“ in der Hand in’s Haus gerückt. Ueber den Erfolg schreibt uns Herr Ed. Schau in Gotha:

„Trotzdem ich schon manchem freudigen Ereignisse beigewohnt habe, so habe ich so etwas noch nicht gesehen, und kann ich Ihnen auch nicht beschreiben, welche Freude die Ankunft des Briefes vom Sohne aus dem fernen Rußland bei der Mutter hervorrief. Die alte Frau weinte und lachte, alles durch einander, und wußte gar nicht, auf welche Weise sie ihren Gefühlen Ausdruck geben sollte. Sie hat mir ganz besonders aufgetragen, Ihnen zu schreiben, daß sie ewig Ihre Schuldnerin bleibe und nicht wisse, auf welche Weise sie Ihnen gegenüber ihre Dankbarkeit beweisen solle.“

Dieser Beweis ist ja geschehen: kann uns ein reicherer Lohn zu Theil werden, als diese Freude eines Mutterherzens? Wahrlich, wenn es uns ein Mal in jedem Jahre gelingt, mit unserer Vermißtenliste eine solche Freude möglich zu machen, so sind wir für die wenigen Spalten, die wir ihr opfern, glänzend belohnt, und unsere Leser werden uns dieselben nicht als eine Raumvergeudung verargen. Und so wollen wir denn die Erfüllung unserer freiwilligen Verpflichtung, die vermißten Deutschen in aller Welt Enden zu suchen, auch in diesem Jahre von Neuem aufnehmen. Sind wir doch schon durch den Umstand dazu verpflichtet, daß die „Gartenlaube“ eben wegen ihrer Verbreitung über die ganze cultivirte Erde allein dazu befähigt ist.




Kleiner Briefkasten.

Mehrere Abonnenten in Weißenbach. Als Maß zur Bestimmung der Arbeitsleistung einer Maschine hat man die „Pferdekraft“ gewählt. Man versteht unter ihr eine Kraft, welche nöthig ist, um in einer Secunde eine gewisse Anzahl von Pfunden einen Fuß hoch oder eine Anzahl von Kilogrammen einen Meter hoch zu heben. So beträgt z. B. die englische Pferdekraft 500 Fußpfund pro Secunde, die österreichische 430 Fußpfund etc. Im metrischen System ausgedrückt, stellen sich die Werthe der Pferdekraft wie folgt: für Preußen 75,32 Kilogrammometer, für Oesterreich 75,87, für Frankreich 75 und für England 76,03 Kilogrammometer. Die Durchschnittskraft eines lebenden Pferdes wird auf nur 50 Kilogrammometer geschätzt, sodaß bei einer Dampfmaschine, die Tag und Nacht arbeitet, eine Maschinenpferdekraft in ihrer Leistung 31/2 lebenden Pferdekräften gleichkommt.

B. K. Ungeeignet.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferimg der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung. 
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Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In einer Länge von 625 Meter überschreitet der Viaduct das Thal, getragen von 20 Gruppen eiserner Säulen, die man Pfeiler oder Thürme nennt und deren Mittel 30,32 Meter von einander abstehen. Jeder dieser Thürme besteht aus 4 Säulen, die in der Längenrichtung 11,73 Meter und in der Breite, zwischen den Säulenköpfen gemessen, 3,05 Meter von einander entfernt sind, während sie seitlich nach unten im Verhältniß 1:3 divergiren, sodaß die höchsten oder Centralthürme eine Grundfläche von 11,73 Meter Länge und 31,4 Meter Breite haben. Die Thürme sind in Etagen von circa 10 Meter Höhe eingetheilt und durch entsprechende Verstrebung nach allen Richtungen hin gegen Zerknicken oder seitliche Ausbiegung vollkommen gesichert. Oben auf den Säulenköpfen ruhen die Gitterträger, welche die directe Unterlage für die Querschwellen unter den Eisenbahnschienen bilden.
  2. Vergleiche: „Der Boden und sein Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen“ von Max von Pettenkofer (Berlin, Gebr. Paetel, 1882), eine Schrift, die wir hiermit der allgemeinen Beachtung empfehlen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Elern