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Die Gartenlaube (1882)/Heft 7

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[105]

No. 7.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Plötzlich vernahm Hilda in einiger Entfernung hinter sich die Stimme ihres Bruders.

„Hollah! Auf ein Wort!“ rief Franz in munterer Laune. „Ihr scheint ja auf dem besten Wege, mit einander auf und davon zu gehen. Nur mit knapper Noth war’t Ihr noch einzuholen. Nun, Dir, Bruno, darf ich sie schon anvertrauen. Aber wie ist’s, Schwester, wenn Du für heute allenfalls noch umzukehren willens bist, wär’s, denk’ ich, Zeit.“

Die kleine Neckerei fand keine Erwiderung. Daß Hilda nicht, wie sonst, rasch mit einer ihrer schlagfertigen Antworten zur Hand war, konnte leicht als ein Zeichen von Befangenheit angesehen werden, wiewohl nur ihre ernste Stimmung schuld daran war. Auch beim Abschiede von Meinhard fand sie nicht die herzlichen klaren Grüße einer gefesteten Freundschaft. Sie fühlte ein Unbehagen, das nicht einzig der Verschiebung des Verhältnisses entsprang; sie schrieb es zum Theil auch Meinhard’s Auseinandersetzungen zu. Der sanfte Ernst und die Innigkeit seiner eindringlichen Rede waren bei der eigenen Aufregung und dem immer wieder erwachenden Mißtrauen ihrem sonst so feinen Ohr vollkommen entgangen.

Warum mahnte er sie an ihre schiefe Stellung? War es nicht tactlos, derartige Fragen anzuregen? Er hätte wenigstens ihre Mittheilungen abwarten müssen. Und in dieser Stimmung unterblieb auch die Aushändigung des Sträußchens, welches, wie seit Jahren bei seinen Besuchen üblich, eigens für ihn gepflückt worden war.

„Welch steifer Pedant, Fräulein Hilda!“ äußerte Edwin, als man sich getrennt hatte.[WS 1] „Es ist das verkörperte bureaukratische Selbstbewußtsein, das gewöhnt ist, aller Welt Schweigen aufzuerlegen, wenn es sich herabläßt, seine unfehlbaren Aussprüche zu fällen, und das empfindlich wird, sobald eben nicht alle Welt dieselben als Orakel hinnimmt.“

„Sind es nicht vielmehr Sie, Edwin,“ entgegnete Hilda leise lächelnd, „der sich empfindlich zeigt?“

„O, Sie stehen auf seiner Seite? Das allein trifft mich schmerzlich. Ich habe ihn schon so sehr um die Blumen beneidet, die ich für ihn bestimmt glaubte.“

„Heute sollen Sie dieselben haben.“

„Ist es möglich? Und darf ich mir auch eine Deutung erlauben?“

„Die Deutung ist sehr einfach,“ erklärte sie freundlich, aber kurz. „Sie haben heute einen Dank verdient für die Vertheidigung eines Bestrebens, das doch wohl bei den Meisten nicht Folge verständiger Berechnung, sondern nur ein instinctiver Drang ist – der Drang, unseren Mitmenschen beizustehen. Die Männer scheinen ihn leichter zu beherrschen; daß es den Frauen schwerer wird, daraus sollte man ihnen keinen Vorwurf machen –“

„Sondern sie dafür preisen,“ unterbrach er sie. „Mit welcher Begeisterung will ich es thun! Aber nicht nur in dem Einen sollten Sie dem edlen Instincte Ihres Herzens folgen – nicht nur da, wo es gilt, beizustehen, sondern auch, wo es gilt, glücklich zu machen. Warum muß denn ich dieses duftige Geschenk als eine Gabe ‚verständiger Berechnung‘, als eine ‚Belohnung‘ hinnehmen, wodurch es doch so viel an Werth für mich verlieren müßte?“

Dieser befremdliche Ton ging denn doch weit über die Galanterien hinaus, welche Hilda sich mit gutmüthigem Lächeln von dem leichtherzigen jungen Manne hatte gefallen lassen, ohne auch nur das geringste Gewicht darauf zu legen. Sie empfand eine gewisse Beengung, eine Scheu, die vielleicht nur ihrer inneren Spannung zuzuschreiben war und über die sie, ohne sich Rechenschaft abzulegen, hinweg zu kommen suchte.

„Sie haben Recht, es ist eine werthlose Gabe und eine Ueberhebung von mir, damit irgend ein Verdienst belohnen zu wollen. Blumen, weiter nichts – bis morgen welk. Werfen Sie sie fort! – Mimi!“ rief sie dann, seine Betheuerungen abschneidend, indem sie stehen blieb und sich umwandte. „Warum bleibst Du denn so weit zurück? Komm’ doch!“

Die Entfernung war kaum so groß, daß sie die Mahnung rechtfertigte. Auch klang die Erwiderung: „O, wir wollen uns nicht in Eure Geheimnisse eindrängen,“ schnippisch genug, um eine leichte Zurechtweisung zu verdienen, aber doch nicht den scharfen Tadel, den Hilda in ihre Entgegnung legte:

„Das ist sonst aber nicht Deine Maxime, Kleine.“

„Ich bin nicht klein. Ich bin größer als Du,“ lautete die trotzköpfige Erklärung. „Und ich begreife nicht, warum Du mich Mimi nennst. Soll ich denn immer wie ein kleines Kind gerufen werden? Ich heiße Emmy, und Mama sagt auch so.“

Das kam wie vom Zaune gebrochen, stand außer aller Beziehung zu dem Vorwurf, der sie getroffen, und im grellsten Widerspruch zu den heiteren, einschmeichelnden Liebkosungen, mit denen Mimi kurz zuvor noch ihr „Tantchen“ überhäuft. Hilda hatte nur die bittere Empfindung, daß sich, wie alles um sie her, auch dieses ihr bisher so ergebene Herz ihrem Einflusse entwand.

„Nun also,“ nahm jetzt Mimi’s Vater ein wenig spöttelnd das Wort, „frage diese erwachsene Dame, ob sie geruhen will,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. In der Vorlage fehlt der Punkt.

[106] Deinen Arm anzunehmen, Edwin! Und dann geht immerhin voraus! Ihr habt leichtere Füße. Sagt nur, wir kämen sofort nach! Wir haben nur über ein paar Sachen mit einander zu sprechen. Aber gieb Acht, daß Du über Deine Gravität nicht stolperst, Fräulein – Emmy!“

Die Gravität schien noch nicht allzu tief Wurzel geschlagen zu haben; wenigstens behinderte sie in keiner Weise die kleinen davonhüpfenden Füße. Das junge Paar war rasch voraus, während die Geschwister wie in stummem Einverständnisse ihre Schritte verlangsamten.

„Du hast mir etwas zu sagen, Franz?“ begann Hilda. Traulich setzte sie hinzu: „Auch ich Dir –“

„Nun ja,“ kam er sichtlich zögernd mit seinem Ansinnen heraus. „Eine Bitte! Weiß der Himmel, es ist mir unangenehm genug, Dir so etwas zuzumuthen, aber ich kann diese ewigen Seufzer und Klagen, diese Anspielungen und Winke mit dem Zaunpfahl nicht mehr anhören. Dir selbst kann es ja nicht entgangen sein, daß Albertinens Mutter gern Deine Zimmer beziehen möchte. Sie hat kein Recht darauf – nein, wahrhaftig keins, so lange Du unter meinem Dache bist. Du bewohnst sie, seit die Mutter starb, und sollst darin bleiben, bis es Dir selbst anders gefällt. Aber ich meine nur, freiwillig, aus Gefälligkeit – für einen Gast kann man ja auch etwas thun.“

„Für einen Gast?“ entgegnete Hilda, nachdem sie eine Weile geschwiegen. „Und für wie lange ist sie unser Gast?“

„Ja, das kann ich sie doch nicht fragen, wie Du begreifen wirst.“

„Und wenn der Gast gar nicht mehr fortginge, sondern für immer bliebe?“

„Das wäre!“ rief er mit dem Ausdrucke komischen Schrecks.

„Nimm es einmal an!“ sagte sie mit ernster Festigkeit.

„Teufel! Das will ich lieber nicht annehmen. Allerdings, gehen heißen kann ich sie nicht – das ist unmöglich. Siehst Du das ein? Na, darüber braucht man ja gar nicht zu reden. Sie ist Albertinens Mutter, und Albertine – was braucht’s da viel? Du weißt ja, wie die Verhältnisse stehen. Es wäre seltsam genug, wollt’ ich sie darin einschränken, wen sie als Gast hier haben will, wen nicht. Haben wir aber einmal – Herrgott, jetzt hätt’ ich bald ‚das Uebel‘ gesagt! – na, wie es auch ist, man muß sich damit einrichten. Gar so schlimm ist es ja auch nicht. Und es bleibt wahr, daß ihr das Treppensteigen Mühe macht. Ich habe ihr schon mein eigenes Arbeitszimmer angetragen, aber das wollte sie nicht; sie sagte, ich müsse zu ebener Erde wohnen, wenn ich mit all den Leuten zu verkehren habe, und das ist wieder wahr. Ich kann sie doch nicht in dem Salon oder im Speisezimmer unterbringen; das Natürlichste ist doch, daß Du ihr Dein Zimmer einräumst. Ihr Sinn steht einmal darnach. Gott weiß, wie schwer mir’s fällt, das von Dir zu verlangen. Es ist ja nur, daß wir Ruhe haben. Na, wie ist’s, Schwester? Wir haben uns ja immer verstanden. Schlag’ ein! Du nimmst mir’s nicht übel – nicht wahr? Am Ende ist’s ja doch nur für ein Weilchen.“

„Ich sehe wohl, es wird für mich wohl bald ebenso wenig Platz hier sein, als – für Wilhelm.“

„Was soll das wieder?“ rief er unmuthig. „Welch ein Vergleich! Das sieht Euch Frauenzimmern ähnlich: Alles in einen Topf zu werfen. Ich bitte Dich um eine kleine Gefälligkeit – wenn Du sie mir nicht erzeigen willst, kannst Du’s auch bleiben lassen, zwingen wird Dich Niemand dazu – das ist doch wohl nicht dasselbe Ding, als wenn sich Einer selber aus dem Hause hinaussperrt. Wir Zwei sind Schwester und Bruder – mit Dem dort drüben hab’ ich nichts gemein.“

„Ihr seid doch auch Bruder und Bruder.“

„Ach, was Bruder und Bruder! Beschimpfe mir das Wort nicht! Sonst dank’ ich all mein Lebtag für den Titel.“

„Und doch – mach’ Dich nicht schlimmer, als Du bist! – doch hast Du als Bruder an ihm gehandelt, als Du für ihn einstandest.“

„Nein, tausendmal nein sag’ ich! Für den Namen Reinach bin ich eingestanden, nicht für Den, der ihn besudelt hat. Keiner sollte sagen können, daß er an einem Reinach zu Schaden gekommen, und Keiner sollte auf das Zuchthaus deuten können und sagen: Seht, dort sitzt ein Reinach! Darum habe ich mit Dir die falschen Wechsel eingelöst; darum habe ich mitgeholfen, daß der Mensch sich der Strafverfolgung entzog. Wär’s nach meinem Gefühl gegangen, ich hätte ihm nur eine Pistole geschickt. Ja, bei Gott, das hätt’ ich gethan, wenn ich nicht gewußt hätte, daß er sie doch – nur wieder an den Trödler würde verkauft haben. Bah, der setzt das Leben nicht für die Ehre ein – für ein Weib verwirft er beides.“

„Und was hat es eigentlich für einen Sinn, der verlorenen Ehre auch das Leben nachzusenden, wie Du es verlangst? Ist es nicht mehr werth, ein neues Leben zu beginnen?“

„Bleib’ mir mit solchen Phrasen vom Leibe! Die gehören in die Kirche.“

„Giebt es denn keine Beispiele, wo Einer, der verloren schien, sich eine neue Existenz gründete und in ihr Achtung, Ehre, sogar Ruhm fand?“

„Dann war’s ein anderer Mann, ein Mann mit Mark in den Knochen. Nicht der! Wie oft ist das Lied vom neuen Leben abgeleiert worden! Als er seine Officierscharge niederlegte, da hieß es: ,Ich habe das Thörichte meines Treibens einsehen gelernt. Die Ehe wird aus mir einen bessern Menschen machen‘. Wer ihm abrieth, war sein Feind; nicht nur seine Stellung, auch seine Familie hat er aufgegeben um dieses Weib. Dann kam das Elend – wie oft war’s, daß er ein Anderer zu werden versprach! Und Alles wurde doch von seinem liederlichen Treiben verschlungen, Alles, was ihm ausgezahlt wurde, Alles, was wir seinen Gläubigern ersetzten, Alles, was er erhielt, um drüben in Amerika ein solides Dasein anzufangen, Alles endlich, was er später durch Lug von Dir zu erschleichen wußte. Immer wieder das alte, das unverändert alte, erbärmliche, ehrlose Leben!“

„O Franz, ich verstehe vollkommen Deinen Unwillen; eine Natur, wie Deine, deren tiefster Kern die Redlichkeit ist, muß sich über Wilhelm’s Thun empört fühlen, aber alle Menschen sind sich ja nicht gleich an Kraft des Leibes, und ebenso verschieden sind sie in der Stärke des Charakters. Vielleicht ist es genau so ungerecht, Einem vorzuwerfen, daß er einer Versuchung nicht Widerstand zu leisten, als daß er ein Centnergewicht nicht mit freier Hand zu heben vermag.“

„Nun, wir kämen weit mit solchen Anschauungen. Recht und Unrecht gäb’ es nicht mehr; Lohn und Strafe hörten auf.“

„Nicht doch, Alles bliebe, nur der Schwächling, sei es an Körper oder Seele, würde ein milderes Urtheil finden vor der Menschlichkeit, Mitleid für sein Gebrechen und die auf ihn selbst fallenden unabwendbaren Folgen desselben.“

„Und wie stünde es dann um die Folgen, welche auf Andere fallen? Was bliebe den von fremden Verschuldungen unschuldig Mitbetroffenen, wenn das Mitleid schon für solch ein Volk von Taugenichtsen verbraucht würde? Ich frage!“

„Die Ehre, die Achtung eben. Was geht darüber?“

„Nun ja, freilich – das fehlte noch –“

Die Worte des Gutsherrn verloren sich in ein unverständliches Brummen, aber aus ihnen heraus klang doch etwas wie Besänftigung, wie eine weicher werdende Stimmung. Hilda hatte das richtige Mittel gefunden, seinen Mißmuth zu dämpfen; zwar hatte sie ihn durchaus noch nicht zu ihrer Meinung bekehrt, aber die Gründe zu weiterer Widerlegung fand er nicht, und das kluge Mädchen nahm den gebotenen Vortheil wahr. Sie umschlang in schwesterlicher Zärtlichkeit seinen Arm.

„Siehst Du, Franz,“ sagte sie innig, „es ist doch ein Unterschied, und die, welchen jene höchsten Güter nicht geraubt werden können, bleiben immer hoch über den armen Gesunkenen, denen sie verloren gegangen. Sie dürfen mit stolz erhobener Stirn sich ihres Glückes freuen, das sie nachsichtiger stimmen sollte, gütiger und versöhnlicher. Denn das Glück ist ein Geschenk des Himmels, das wir nicht egoistisch für uns behalten, sondern von dem wir mittheilen sollen.“

„Sage mir nur, wo hinaus Du eigentlich willst? Umwege, weißt Du, liebe ich nicht.“

„Ich möchte Deine Verzeihung, Deinen brüderlichen Beistand.“

„Für den? Niemals!“

„Aber wenn er ein Anderer geworden wäre? Die Jahre gehen doch nicht spurlos am Menschen vorüber.“

„An meinem Sinne, ja. Und wenn eine Ewigkeit verginge – niemals, sage ich Dir! Doch wozu ereifern wir uns? Reden wir über andere Dinge!“

So leicht aber gab Hilda ihr Feld nicht verloren.

„Du hast immer noch den leichtsinnigen, eleganten, hochmüthigen [107] Officier vor Augen. Stelle Dir einmal ein anderes Bild vor, einen kranken, gebrochenen Menschen, muthlos und dem Elend verfallen! Wenn sich des Unglücklichen Niemand annimmt – fühlst Du auch da noch kein Erbarmen?“

„So, das ist also das Gemälde Deiner Phantasie? Die meine malt ganz anders. Da sitzt Einer bei der Champagnerflasche und läßt die schwesterliche Einfalt leben, welche sie ihm bezahlt.“

„O Franz, Du irrst – ich werde Dich davon überzeugen.“

„Du kannst Dir die Mühe sparen.“

„Ein einziges Wort –“

„Ich will’s nicht hören. Verstehst Du? Ein für allemal: ich will nicht.“

„Aber Du kannst mich doch nicht hindern –“

„Thorheiten zu begehen. Nein, thu’ was Du willst! Mich aber laß’ aus dem Spiel.“

„Es ist sehr bequem, sich das Ohr zuzustopfen, wenn der Hülferuf der Noth daran schlägt, sehr bequem, die Bande der Natur, die ewig unzerreißbaren, einfach für durchschnitten zu erklären –“

„Wenn Du mich nicht ernstlich erzürnen willst, so schweigst Du,“ fiel er ihr diesmal mit einem Tone in die Rede, der es außer Zweifel setzte, daß die in bedrohliche Aussicht gestellte Grenze bereits überschritten sei.

Doch auch Hilda war nicht bei der sanften Bitte stehen geblieben. Der Wunsch, zu überreden, hatte schon zu scharfer Beweisführung geführt, und ihr gesteigerter Unmuth griff nun zu noch einschneidenderer Waffe.

„Du sprichst nur von Deiner eigenen Reizbarkeit, die geschont werden soll,“ sagte sie, „aber das scheint Dir nicht der Erwägung werth, daß auch ich über Dein Verhalten erzürnt werden –“

„Das wäre in der That merkwürdig.“

„Und dann Schritte thun könnte, die –“

„Nun, was könntest Du dann thun?“

„Ich könnte Dich daran erinnern,“ erwiderte sie, durch seinen Spott immer weiter getrieben, „daß Du mir wohl das versagen kannst, um was ich mich an Dein Herz wende, nicht aber den materiellen Beistand, den ich begehre. Ich könnte Dich erinnern, daß ich in dieser Beziehung von Dir nicht abhängig bin und unter gewissen zwingenden Verhältnissen auf meinem Rechte freier Verfügung bestehen müßte.“

„Ueber Dein Vermögen?“ fragte er recht barsch, aber eigentlich nicht zornig, sondern mehr mit einer Beimischung von Ironie. „Da bedarf’s keiner Drohung. Darüber kannst Du, wenn Dir’s beliebt, disponiren. Es ist mir sogar ganz recht, wenn Du es heranziehst; ich habe schon mit meiner Frau darüber gesprochen. Du wirst wohl so viel Geduld haben, bis alles im Gange ist, dann kannst Du nach Gutdünken verschleudern – ich werde Dir nicht im Wege stehen.“

„Hast Du während der Zeit unseres Zusammenlebens so viel Anlage zum Verschleudern an mir entdeckt? Ich denke, man darf ohne Sorge auch eine größere Summe in meine Hand legen.“

„Hm! Meiner Ansicht nach thätest Du doch klüger, Du suchtest Dir freiwillig einen Curator. Es findet sich wohl ein braver Mann dafür, aber freilich weiß ich nicht, ob Du Lust hast, meinem Rathe und meinem – Beispiele zu folgen, was allerdings das Gescheidteste wäre.“

„Will man mich denn mit Gewalt aus dem Hause haben?“ fragte sie, aus dem Tone des Trotzes in den der Klage übergehend.

„Märchen! Wer drängt Dich denn fort? Es fällt Niemandem ein, und Du bist“ – seine Stimme nahm einen weicheren Klang an – „auch das erste Mädel, das es übel nimmt, wenn man ihm vorschlägt, zu heirathen.“

„Hätt’ ich es gewollt, ich hätt’ es längst thun können – das weißt Du.“

„Just so hab’ auch ich geredet, bis es doch anders gekommen ist. Siehst Du, Hilda, es hat mir schwer genug auf der Seele gelegen, daß Du Dein Leben so einsam zu Ende führen solltest, aber nach dem schweren Schicksalsschlage, der mich betroffen, meinte ich: besser, nie etwas lieb gehabt haben – so recht lieb – als es einmal verlieren. Und dann – was wollt’ ich sagen? – wenn Du hier und dort einen Korb austheiltest? Wir sind am Ende alle Egoisten, wir Männer, und wehren uns nicht gegen die Opfer, die man uns bringt. Jetzt aber liegen die Dinge doch anders. Na, ich brauch’ Dir’s nicht erst zu sagen. Du hattest ja ein ganzes Schock Vernunftgründe für mich, als Du mir zuredetest; ich kann sie Dir nur alle zurück geben. – Ich meine, Du denkst darüber nach. Adieu, Hilda!“

Er wendete sich, um noch einen Gang nach den Oekonomiegebäuden zu machen.

„Ueberflüssig!“ sagte Hilda, als sie allein war.

Ja, es war so; Meinhard hatte das rechte Wort gefunden.

„Ueberflüssig – überflüssig Allen!“ wiederholte sie mit der schmerzlich brennenden Bitterkeit, die ihr das Herz verzehrte. Allen? Nein, da war doch noch Einer, der ihrer bedurfte. Wilhelm! Nicht Allen in der Welt war sie überflüssig.




7.

Nicht Allen!

Sie dachte es lange nicht mehr, als sie zwei Tage nach der Unterredung mit ihrem Bruder hastig über den Marktplatz schritt, der den älteren Theil der Stadt von den neuen Straßenzügen trennte.

Für den Armen auf dem dürftigen Krankenlager im Jägerhause war sie jetzt auf einem doppelten Gange. Bei ihrem Morgenbesuche hatte sie ihn leidender angetroffen; die schwere Nebelluft sei schuld, hatte er gemeint, daß es mit ihm so langsam vorwärts gehe, aber eine Wiederholung jenes ohnmachtähnlichen Anfalles hatte Hilda überzeugt, daß es sich hier nicht blos – wie sie das erste Mal geglaubt – um eine durch Ueberanstrengung und Entbehrung hervorgerufene augenblickliche Erschöpfung der Kräfte handle, die durch Pflege gehoben werden konnte. Geängstigt durch die ihr fremden Symptome, vertrauete sie nicht mehr ihren eigenen Hülfsmitteln und faßte den schweren Entschluß, ihre Zuflucht zu ärztlicher Hülfe zu nehmen. Sie verkannte die Gefahr nicht, die in einem solchen Schritte lag; denn nun sollte es noch einen weiteren Mitwisser des Geheimnisses geben, und seine Besuche, wenn auch durch die Abgelegenheit des Jägerhauses möglichst der Beobachtung entzogen, vermehrten doch immerhin die Unsicherheit des Versteckes. Aber alle Bedenken mußten schließlich der Nothwendigkeit weichen; es war eben unvermeidlich, den Arzt in’s Vertrauen zu ziehen, und Eines tröstete sie bei dem gefahrvollen Schritte: der ehrwürdige alte Doctor war seit langen Jahren schon der Rathgeber und Freund ihres ganzen Hauses, und so konnte sie wohl auf seine Verschwiegenheit zählen; dennoch trat sie an diesem Morgen nicht ohne Zagen bei ihm ein, aber nachdem Befangenheit von ihrer, Erstaunen von seiner Seite überwunden war, führte die Unterhaltung zu dem erwünschten Resultate: er versprach ihr sorgsamste Beobachtung des Kranken und peinliche Wahrung des Geheimnisses.

So verließ Hilda erleichtert das Haus des würdigen Mannes. Aber nun galt es noch einen zweiten schweren Gang im Interesse ihres unglücklichen Bruders.

Die alte Trine hatte ihr am Morgen einen Zettel übergeben, der von der ungeübten Hand des Herrn Louis Schöpf die entschiedene Erklärung enthielt, dringende Gründe nöthigten ihn, an seine Abreise zu denken. Mit einem Worte: der Vertrag müsse zum Abschluß gebracht und die Angelegenheit unbedingt bis zum nächsten Morgen erledigt werden.

Hilda hielt es daher für gerathen, die Dinge nicht bis zum Aeußersten kommen zu lassen. An ihren Bruder Franz sich zu wenden, wagte sie nicht mehr. Allzu entschieden hatte er sie abgewiesen. Einen Augenblick hatte sie an eine Anleihe gedacht, aber wie sollte sie sich die Verschwiegenheit ihres Gläubigers sichern? Ja, wenn ein Freund ihr seine Vermittelung oder nur seinen Rath geliehen hätte, aber wen sollte sie darum ansprechen? Der Einzige, dem sie vertrauen konnte, durfte nicht in’s Geheimniß gezogen werden. So blieb ihr nichts Anderes übrig, als das kleine Capital flüssig zu machen, das ihr noch geblieben war. Die ganze Forderung Schöpf’s konnte freilich nicht gedeckt werden, aber sie neigte sich der Meinung zu, daß sich der freche Anspruch wohl auf die Hälfte herabstimmen lassen werde. Sechstausend Gulden waren es, die sie vor Jahren geerbt und die seither von Meinhard für sie verwaltet wurden.

Und um diese sechstausend Gulden sich auszahlen zu lassen, war sie nun auf dem Wege zum Amtsgebäude. O, es war ein schwerer Gang. Hilda’s Schritte wurden kürzer und kürzer, je mehr sie sich dem düstern alten Gebäude näherte. Wie ein befestigtes Schloß stand es neben dem verwitterten Thore, das man beim Abbruch der Stadtmauer hatte stehen lassen, und gewann [108] nur wenig an Freundlichkeit durch die Blumen, welche im ehemaligen Vertheidigungsgraben gezogen wurden, den man in ein Gärtchen verwandelt hatte.

Sie sprach sich selber Muth ein. Es war ja nicht das erste Mal, daß sie diese ausgetretenen Stufen, diesen dunklen Flur und die hallenden Gänge betrat. Schon mehrmals hatte sie Meinhard in seiner eigenen Behausung aufgesucht, wenn irgend eine Botschaft vom Bruder auszurichten war. Sie kannte den Weg zu dem alten verschnörkelten Eisengitter recht gut, das die Wohnung ihres Freundes von den Amtslocalitäten schied, aber freilich, ohne Begleitung war sie diesen Weg noch nicht gegangen. Mimi hatte sie sonst begleitet. Es war ein Hauptvergnügen des Kindes gewesen, die Winkel des seltsamen Gebäudes zu durchstöbern, durch die schmalen Spitzbogenthüren zu schlüpfen und die Glocke zu ziehen, deren dumpfer Schall an den vorspringenden Ecken und gedrückten Wölbungen ein gespenstiges Echo nach dem andern geweckt hatte. Heute mußte sie selber die Hand nach dem Klingelgriff aus geschwärztem Eisen ausstrecken. Und diese Hand zitterte ein wenig und zauderte, bevor sie den Zug that.

„Man sollte meinen, es sei des Löwen Höhle, in die ich mich wage,“ sagte sie lächelnd zu sich selbst, nachdem sie die Klingel gezogen.

Was lag daran, wenn der Diener, der ihr jetzt mit so verwunderten Augen öffnete, seine Glossen machte; es kann doch Niemandem einfallen, diesen Besuch zu mißdeuten. Ein Mann in Amt und Stellung empfängt deren mancherlei; warum sollte sie hier nicht gerade so ohne Scheu eintreten, wie eben noch beim alten Arzte? Allerdings galt ihr Anliegen nicht dem Beamten, sondern nur dem Freunde, aber auch der, dachte sie, würde ja nichts Ungewöhnliches darin sehen, daß sie zu ihm käme – nein, gewiß nicht. Sie standen beide in des Lebens Reife, und es war schon so lange, so lange her, seit – wieder streifte das Lächeln die Lippen – seit jenem Jünglingstraum.

Sie hatte den Anflug von Verlegenheit überwunden. Ruhig und mit der kühlen Herablassung der vornehmen Dame nahm sie die Versicherung des Dieners entgegen, er werde sie zwar gleich anmelden, aber es könne leicht einige Zeit vergehen, bevor sein Herr das Fräulein empfangen könne; denn der Herr Statthaltereirath käme eben jetzt schwer ab, es sei die Stunde der Unterschriften vor Postschluß. Hilda sah sich nicht neugierig um, als sie allein war; sie kannte ja bereits das Zimmer mit seiner ernsten Einrichtung und seinen hohen Bibliothekschränken. Meinhard war ein Bücherfreund, und gar manchen Band, den er ihr nach Waltershofen hinausgebracht, hätte sie hier herausgreifen können. Ihre innere Unruhe gestattete ihr jedoch nicht einmal in den ausliegenden Bilderwerken zu blättern. Aber was war das? Während ihr Auge über die goldgepreßten Einbände hinstreifte, blieb es plötzlich an einer kleinen Vase haften, die zwischen einigen Photographien auf dem Tische stand. Seltsamer Weise war es gerade ihr Portrait, vor der das zierliche Gesäß seinen Platz hatte, und in demselben hing man und farblos – ein welker Rosenstrauß.

Wie wenn die todten Blumen Augen hätten, um sie wieder zu erkennen, glaubte sie ihr vorwurfsvolles Nicken zu sehen. Wo waren die frischen blühenden Blüthen hingerathen, die als Ersatz an die Stelle ihrer abgestorbenen Schwestern treten sollten? Hilda hatte sie in eine fremde Hand gelegt. Warum hatte sie dem Freunde die Blüthen vorenthalten? Ein Unrecht erschien es ihr fast, an ihm begangen, der die Erinnerung an sie so treu bewahrte.

Es war sogar ein zarter Hauch von Wehmuth in dem Laut, der ihren Lippen, wohl ohne daß sie es wußte, entglitt: „Bruno!“

Der Name klang in ihrem Ohre wie von einer hellen Kinderstimme gerufen.

Bruno, das war ja der ernst-freundliche Knabe, mit den gemessenen Bewegungen, der unermüdlichen Bereitwilligkeit und den guten blauen Augen voll herzlicher Ergebenheit, Verwalters Bruno, der ihr immer zur Hand war, wenn sie ihn brauchte, und von dem sie, die kleine muntere Hexe, gar nicht zu denken vermochte, daß es auch anders sein könnte. War der Puppe ein Malheur passirt, dann wurde er Arzt, ging der Rauchfang des kleinen Kochherdes aus den Nieten, dann half er als Blechschmied. Wer sonst hätte es denn thun sollen? Wie hing sie dafür auch an seinem Halse unter bitterlichen Thränen, als er fortzog zur Universität! Und wenn er dann wieder in die Ferien kam, da hieß es wie ehedem: „Bruno, komm hierher! Du mußt mir das erklären, Du verstehst das viel besser als unser alter Professor im Institut,“ oder „Bruno, gieb mir Deinen Arm! Der weite Weg hat mich so müde gemacht.“

Nur wenn getanzt wurde, dann war’s mit Bruno nichts; er benahm sich gar zu ungeschickt dabei. Und „Bruno“ nannte sie ihn auch weiterhin noch, wenn auch das herangewachsene Dämchen sich sorgsam in Acht nahm, den jungen Herrn zu duzen. Sie waren ja keine kleinen Kinder mehr, es hatte sich alles so sehr verändert, nur Bruno nicht; er war der Alte geblieben, noch so treuherzig und gütig, aber auch schüchtern und linkisch wie ehedem. Er las ganz unübertrefflich ein Gedicht vor, setzte einen ernsten Gegenstand klar aus einander, aber in Gesellschaft war er so unbeholfen – besonders, wenn man ihn mit Wilhelm verglich.

Wie ein Zauber kam es mit dem matten Duft der welken Rosen über Hilda.

Ein Bild aus längst vergangener Zeit stand da vor ihren Augen, lebhaft und deutlich, als ob es Leben hätte. Die Sonne schien im Garten über ein Rosenbeet, von dem der Wind die Blätter über alle Wege hin geweht hatte, und dort schwammen auch ein paar Rosenblätter wie Elfenkähne auf dem kleinen unter dem Sonnenstrahl stetig zitternden Ocean des Springbrunnens. Und neben dem Bassin stand ein kaum erblühtes Mädchen und horchte auf die Worte eines jungen Mannes, der eifrig und warm sprach, doch allmählich immer stiller und schüchterner wurde und endlich fast mit versagender Stimme eine Bitte wagte, vor der er selbst zu erschrecken schien. Das Mädchen aber schüttelte den Kopf und that gar klug und gleichgültig, so heftig das kleine Herz in der Brust auch eine Minute lang pochte, und sprach von den ernsten Pflichten, die es übernommen, von dem Verlust, den das arme Kind des Bruders erlitten, von dem großen Lebenszweck, der einem Schwesterherzen damit erwachsen und der jeden selbstsüchtigen Gedanken ausschließe, und sah nicht, daß, während all die großen Worte fielen, das kleine mutterlose Ding, das kaum noch den ersten Schritt zu machen gelernt, dem Springbrunnen zugekrochen war und das Händchen nach den schiffenden Blättern streckte.

Es war nur ein Augenblick, doch der junge Mann hatte die Gefahr erkannt und war ihr mit der gewohnten Geistesgegenwart begegnet. Es war nur eine blitzschnelle Bewegung, ein Schritt, und dann ein Aufplätschern des Wassers; der junge Mann hatte plötzlich das Gleichgewicht verloren und war, das Kind bewahrend, selbst in das Bassin gestürzt.

„Ha, Bruno –!“ – der jähe Schreck, der Hilda an’s Herz fuhr, verwandelte sich bei dem munteren Geschöpfe, dem die ernsten Gefühle fremd wie die Trauerkleider standen, alsbald in ungemessene Heiterkeit. Es war auch gar spaßig anzusehen, wie der triefende Liebeswerber, mit Haaren, die ihm in die Augen hingen und einer seltsam wasserspeienden Cravatte, einem Flußgotte gleich, aus seinem nassen Grabe wieder auftauchte.

„Das war doch kein Selbstmordversuch, Bruno? Nein, so arg dürfen Sie sich’s nicht zu Herzen nehmen.“

Und ihr helles Lachen folgte ihm noch, als er schon weit aus ihrem Gesichtskreise entflohen war, so weit, daß es fast schien, als sollte er nimmer in denselben zurückkehren; es schien in der That für lange Zeit so; denn sofort nach dem unfreiwilligen Bade war er verschwunden, verschwunden aus seiner Anstellung, verschwunden aus der Stadt, verschwunden aus der Gegend, und man sah und hörte nichts mehr von ihm.

All diese Gedanken und Bilder waren Hilda beim Anblicke des verwelkten Bouquets vor die Seele getreten.

„Ja damals!“ flüsterte sie vor sich hin. „Wie lange ist’s nun wohl her? Mimi kroch noch auf Händen und Füßen. Wie alt und verständig man doch wird!“

Sie seufzte und blickte im Zimmer umher.

„Nichts als eine rechte Junggesellenwirthschaft!“ Und ihr Blick streifte wiederum, aber diesmal recht unfreundlich, die welken Rosen. „Da denkt kein Mensch daran, alte Blumen wegzu –“ sie konnte ihren Gedanken nicht zu Ende denken; denn plötzlich öffnete sich die Thür, und Meinhard stand vor ihr.

(Fortsetzung folgt.)



[109]

Album schöner Frauenköpfe: 2. Schwarzwälder Bauernmädchen.
Nach dem Oelgemälde von R. Epp.

[110]
Das „Internationale Eislaufen in Wien“.
(Am 21., 22. und 23. Januar 1882.)

Als ich am Ende der Jahre 1867 und 1868 in der „Gartenlaube“ zum ersten Male öffentlich auf die neuere Entwickelung des Eislaufs aufmerksam machte und zugleich Warnungen und Rathschläge einflocht, unter deren Beachtung die vielfach befürchteten Unfälle auf dem Eise verhütet werden können, da war der Wiener Eislaufverein noch in den Kinderschuhen. Eine Anzahl günstiger Umstände wirkte indessen zusammen, um diesem Vereine unter allen Gesellschaften dieser Art auf dem Continente den höchsten Aufschwung zu verleihen. Die für die Größe der Stadt sehr centrale Lage des der Gesellschaft eingeräumten Platzes, der durch eine eigene Dampfmaschine sowie durch die Hochquellenleitung mit dem nöthigen Wasser zum Füllen des Bassins und zum Bespritzen der Eisfläche versehen ist und außerdem die erforderlichen Gebäude und Tribünen, sowie sieben große elektrische Lampen in der Gesammtstärke von ungefähr 6000 Kerzen besitzt, macht diesen Eisplatz zu einem Lieblingsaufenthalte der gebildeten Wiener. Solange der Frost dauert, wird die Eisdecke in jeder Nacht vollständig gereinigt und mittelst einer an langen, von den Hochquellen gespeisten Kautschukschläuchen befestigten Brause bespritzt, sodaß die Mitglieder jeden Morgen frisches Spiegeleis befahren. Dieser sorgsamen Pflege, die bei milderem Wetter durch Hobelmaschinen ergänzt wird, steht das mehr continentale Klima Wiens zur Seite, das der Eisbildung günstiger ist, als in den Städten des Westens, ohne durch so große Kälte abzuschrecken, wie sie an der Ostsee herrscht.

Man kann daher auf dem Platze des Wiener Eislaufvereins im Winter durchschnittlich auf fünfzig Schleiftage rechnen. Der Ausfall milderer Winter wird durch die höhere Ziffer strengerer Jahre ausgeglichen, wie wir es denn im verflossenen Winter bis auf zweiundsechszig und im Winter 1879 auf 1880 auf vierundsiebenzig Schleiftage gebracht haben. Hält man diese günstige Conjunctur mit der elektrischen Beleuchtung zusammen, durch welche der Eislaufplatz Abends von fünf bis neun Uhr so hell erleuchtet wird, daß man beim Laufen lesen kann, so erscheint es begreiflich, daß man in Wien fast ebenso lange Kunstübungen auf dem Eise vornehmen kann, wie in New-York oder Montreal.

Einzig in der Welt stehen wohl die costümirten Eisfeste da, welche alljährlich ein- bis zweimal auf dem Platze des Wiener Eislaufvereins abgehalten werden. Wien ist durch seine Carnevalslust, durch seine costümirten Bälle und hinreißenden Walzer berühmt. Aber nirgends entfaltet sich diese Lust phantastischer und decenter, fröhlicher und bezaubernder, als bei diesen Eiscostümfesten, wo sechs- bis achthundert costümirte Schlittschuhläufer, Damen und Herren, Alt und Jung beim Scheine von sieben elektrischen Sonnen unter einander wirbeln, während in Gestalt von bengalischen, auf künstlich errichteten Schneegebirgen leuchtenden Flammen die Mitternachtssonne das bunte Treiben zu beleuchten scheint. Unter den Klängen rauschender Militärmusik pflegen dann häufig Massentänze und Cotillons ausgeführt zu werden, bei welchen historische Trachten zur Geltung kommen oder lustige Scenen, unter denen besonders der „lernende Schlittschuhläufer“ sehr beliebt ist, dargestellt werdet; die letzterwähnte Scene namentlich pflegt viel Vergnügen zu bereiten, und als vor zwei Jahren bei der fünfzigjährigen Jubiläumsfeier am Traunsee einer unserer Eisläufer den Gmundern unter anderen Eiskünsten das Spiel des Anfängers in einem echten Bauerngewande vorführte, da schütteten sich neben mir stehende Bauerndirnen vor Lachen aus über die Ungeschicklichkeit ihres vermeintlichen Landsmannes, der jeden Augenblick hinfiel und dabei seinen Hut zerknüllte; sie drückten aber dann laut ihr Erstaunen aus über die unglaublich schnellen Fortschritte, die der Mann im Lernen machte, da er in einer Viertelstunde vom Purzeln bis zum Purzelbaum vorrückte und in weiteren fünfzehn Minuten Figuren machte, zu deren Erlernung Viele fünfzehn Jahre brauchen. Ein anderes Costümfest führte uns das Schiff „Tegetthoff“ vor, wie es mit seiner Mannschaft vom Nordpole angefahren kommt; ein drittes Mal erschien ein kolossaler Triumphwagen im Stile des Cinque Cento, von zwölf Pagen mit bengalischen rothen Fackeln geleitet, welche einen so unglaublichen Glanz auf die Scene warfen, daß fast das elektrische Licht erblaßte und grün schimmerte. Wieder ein anderes Mal kam der chinesische Riese auf Schlittschuhen in täuschender Aehnlichkeit, über zwölf Fuß hoch, in gewandtem Bogenlaufe daher. Auch sahen wir auf unserer Eisbahn ein spanisches Stiergefecht, wobei 4000 amphitheatralisch gruppirte Zuschauer ihre Befriedigung in lautem Jubel kundgaben.

Der hohe Reiz, welcher sich demnach auf dem Platze des „Wiener Eislaufvereins“ concentrirt, sowie dessen völlige Gefahrlosigkeit machen es begreiflich, daß das Kunstlaufen mit Vorliebe betrieben wird, obgleich auch für das Schnelllaufen Schauplätze sich darbieten, welche sich mit den schönsten Eisflächen Hollands oder des Ostseegebietes messen können. Wir haben in der nächsten Nähe sowohl das alte Donaubett und den Neustädter Canal, wie große Seen, von denen einer in zweistündiger Eisenbahnfahrt und andere in einer Nachtfahrt erreicht werden können.

Dabei gefrieren einige der Seen des Salzkammerguts – wie der Grundlsee – und Kärntens, wie der Wörther, Ossiacher und Millstädter See – fast in jedem Jahre. Besonders die Kärntner Seen genießen eines eigenthümlichen Klimas. Im Sommer erwärmen sie sich sehr bald bis zu + 21 bis 23 R. Im Winter herrscht hier sibirische Kälte, sodaß diese Seen meist drei Monate zugefroren sind, und ihre Eisdecke oft bis Mitte April tragen. Für den Eisläufer werden aber alle diese Seen in Schatten gestellt durch den Neusiedlersee in Ungarn, welcher, obgleich er vor drei Lustren mehrere Jahre völlig ausgetrocknet war, heute fast noch den Umfang des Bodensees hat, gegen 340 Quadratkilometer umfaßt, 50 Kilometer lang, 10 bis 15 Kilometer breit und einige Kilometer vom Ufer ab auf allen Seiten nicht mehr als ½ Meter tief ist. Nur in der Mitte wird eine Tiefe von 2 bis 4 Meter erreicht, welche indessen ebenfalls gefahrlos ist, weil hier das Eis, den Winden mehr ausgesetzt, schon früher die erforderliche Dicke und Festigkeit erhält als am Ufer.

Mit der Seichtigkeit und der völligen Gefahrlosigkeit hängt der Umstand zusammen, daß dieses ungeheure Wasserbecken in jedem Jahre zufriert, daß sogar in diesem milden Winter seine Eisdecke den Schauplatz mehrerer Ausflüge des Oedenburger Eislaufvereins am 1. und 15. Januar gebildet hat und daß noch am 17. Januar die Fischer, denen die „Windsbraut“, das Eissegelboot des Wiener Eislaufvereins, in Verwahrung gegeben worden, eine Schnellfahrt auf der Spiegelfläche des Sees gemacht haben. Trotz dieser vom Standpunkt des Eissports seltenen Eigenschaften ist der Neusiedlersee bis vor zwei Jahren von Seiten der Wiener Eisläufer nie benutzt worden, obwohl die Hinfahrt nur drei Stunden erfordert. Einerseits die Bequemlichkeit der Wiener Eisplätze, andererseits die geringe Bekanntschaft mit dem hohen Reize der Weit- und Schnellfahrten auf großen Flächen mag daran schuld gewesen sein. Deshalb wurde dieser Theil des Eissports in Wien weniger gepflegt, als das Kunst- oder Figurenlaufen.

Ich habe hier die Entwickelung und den gegenwärtigen Stand des Wiener Eissportes in seinen Hauptumrissen geschildert, um die Berechtigung des Eislaufvereins der österreichischen Kaiserstadt zur Ausschreibung eines internationalen Eislaufwettkampfes zu zeigen.

Schon das erste internationale Eisfest vor zehn Jahren war von unserm Eislaufverein veranstaltet worden, bei welchem Wiener die Preise im Figurenlaufen gewannen und der beste Schlittschuhläufer Norddeutschlands, Graf Schlippenbach, den Preis im Schnelllauf davontrug; er führte mit ihm zugleich eine reiche schöne Wienerin heim. Heute galt es zu prüfen, welche Fortschritte in der Kunst seit einem Jahrzehnt gemacht worden waren, und ich kann sofort vorausschicken, daß nicht blos unsere, sondern auch der Fremden Erwartungen bei Weitem übertroffen wurden.

Das Fest war schon seit Jahr und Tag mit jener Gründlichkeit vorbereitet worden, welche die Wiener bei Angelegenheiten des Vergnügens mit besonderer Liebe anzuwenden pflegen.

Dem Collegium der Preisrichter für das Figurenlaufen standen als Präsident Fürst Alexander Schönburg, als Vicepräsidenten Baron Albert Rothschild und der Präsident des Wiener Eislaufvereins Dr. von Korper vor. Der Präsident der Preisrichter des Wettlaufens war Landgraf Kneenz zu Fürstenberg und Vicepräsidenten Graf V. Latour und Dr. Schachner, Vicepräsident des Wiener Eislaufvereins. Der Werth der ausgesetzten Preise belief sich auf über 8500 Franken Gold, und dieselben bestanden für die Nichtberufskünstler theils aus plastischen Figuren, Kannen, Bechern [111] und Emblemen von Edelmetall, theils aus goldenen Medaillen und aus zwei Preisen von 1000 und 500 Franken für die berufsmäßigen Künstler.

Alle Vorbereitungen waren getroffen worden, um das Unternehmen möglichst weithin bekannt zu machen, und es waren Zustimmungsadressen von allen Eisclubs und Zuschriften und Telegramme aus Deutschland, Frankreich, Rußland, Holland, Schweden, Norwegen, England, Canada und den Vereinigten Staaten eingetroffen. Aber der unerwartet milde Winter machte einen gewaltigen Strich durch die Rechnung.

Schon vierzehn Tage vor dem bestimmten Termin war ein liebenswürdiger Engländer eintroffen, um sich auf unserem Eisplatze für den Wettkampf im Figurenlaufen vorzubereiten. Allein beim Anblick der Leistungen unserer Matadore zog er seine Anmeldung zurück. Aus Amerika war nur der Berufskünstler Callie Curtis eingetroffen; Petersburg und Stockholm hatten sich telegraphisch entschuldigt, Frankreich war nur durch einen unserer treuen Wintergäste, England durch zwei angesehene Gentlemen gesetzten Alters und auch Holland in gleicher Weise durch einen Sportsfreund im Preisgericht vertreten. Ungarn, Dänemark und Belgien waren ganz ausgeblieben, und sogar das Brudervolk im deutschen Reiche hätte uns im Stiche gelassen, wenn es nicht durch einen Baiern aus Tegernsee vertreten gewesen wäre, welcher den zweiten Preis in einem der Wettläufe davontrug. Glänzend repräsentirt war Norwegen, das seine besten Eiskämpen entsandt hatte, den Herrn Anne aus Drontheim, einen hochgewachsenen, blonden, jungen Mann mit edlen Gesichtszügen, eine Gestalt, wie sie die Dichter von den skandinavischen Helden entwerfen, den taubstummen Herrn Karl Werner und die Brüder Herrn Axel und Herrn Edwin Paulson aus Christiania, beide an Kraft und Gelenkigkeit den Eisbären ihres Nordens vergleichbar.

Diese Herren waren hier rechtzeitig eingetroffen und fanden, da das Fest wegen der milden Witterung auf acht Tage, das heißt auf den 21., 22. und 23. Januar verschoben worden, Muße, beim Anblick der Wiener Figurenläufer einige Lücken ihrer Schule auszufüllen. Der Wettkampf im Figurenlaufen fand am Sonnabend den 21. statt und hatten sich dazu zwölf Concurrenten gemeldet.

Das Figurenlaufen bestand aus drei Abtheilungen: 1) dem Schullaufen, 2) der Vorführung einer Specialfigur und 3) einem combinirten vier Minuten langen Kunstlaufen. Das Schullaufen bestand aus dreiundzwanzig Nummern, welche die sämmtlichen Grundzüge des Figurenlaufens, vom einfachen Bogen und Kreis, mit und ohne Uebertreten, bis zum Dreier, Doppeldreier, Achter und zur Schlinge umfaßten und mit der nachfolgend verzeichneten Figur 23 schlossen, die sämmtlich vier Mal, das heißt vor- und rückwärts, rechts und links gelaufen werden mußten.

Fig. 21. Fig 23.

Alle diese Figuren wurden den Preisrichtern und einem engeren Kreise von Zuschauern vorgeführt, und zwar von sämmtlichen Wiener Concurrenten fehlerfrei gelaufen, sodaß nur der größere Durchmesser der Bogen und die größere Sicherheit und Eleganz über die Rangstufe entschied. Nur Axel Paulson konnte die Figur 23 nicht bewältigen und wiederholte die Figur 21, weil in Christiania die Schlinge noch nicht bekannt war und er erst hier die einfache Schlinge bewältigt hatte.

Die Bemerkung darf nicht unterdrückt werden, daß diese Gesammtleistung, welche fünf volle Stunden für nur sieben Concurrenten in Anspruch nahm und bestimmt ist, eine hervorragende Stelle in der Geschichte des Eissportes einzunehmen, unter den ungünstigsten Eisverhältnissen vollbracht wurde. Seit drei Tagen war die Temperatur während des Tages auf + 5° R gestiegen und des Nachts nicht unter + 2° R gesunken. Die Eisdecke war daher im Thauen begriffen und die Oberfläche so weich, daß die Schlittschuhe nur dadurch vom tieferen Einschneiden bewahrt werden konnten, daß die Eisfläche in jeder Pause mit frischem Brunnenwasser bespritzt wurde. In Folge dieser ungünstigen Beschaffenheit des Eises und der vollendeten Leistungen der Concurrenten zogen fünf unter den zwölf Angemeldeten sich noch während der Probe zurück, worunter zwei Norweger.

Noch bis zum letzten Augenblick waren das Preisrichtercollegium und der Verwaltungsausschuß darüber uneinig und unschlüssig, ob es möglich sein würde, bei der um die Tagesmitte steigenden Temperatur das Preisfigurenlaufen am Nachmittage abzuhalten. Nachdem aber das Schullaufen so unerwartet vorzügliche Resultate ergeben hatte, entschloß sich das Preisgericht, im Einverständniß mit den Concurrenten, nach einer kurzen, der Erholung gewidmeten Pause den Wettkampf um zwei Uhr Nachmittags zu beginnen. Derselbe bot das interessanteste Schauspiel, welches seit Jackson Haynes’ Productionen hier gesehen wurde.

Der Leser stelle sich den Schauplatz als eine Art großartigen Amphitheaters vor, dessen äußerer Ring von majestätischen Monumentalbauten gebildet wird, während der innere Kreis von den Gebäuden des Eislaufvereins, der Rollschuhbahnhalle, dem Musikpavillon und den treppenförmig aufgebauten Tribünen, eingefaßt wird. Rings um den Eisplatz sind fünf große elektrische Lampen an zierlichen Mastbäumen aufgepflanzt, während in den beiden Brennpunkten der eine Ellipse bildenden Eisfläche sich zwei höhere, in Holzgitterart erbaute Thürme befinden, welche die größeren elektrischen Lampen tragen. Zwischen diesen beiden Thürmen fand der Figurenwettkampf statt, während die Preisrichter auf den Sockeln der beiden Thürme vertheilt waren, wohin sie sich wegen der Schwäche des Eises auf gelegten Brettern zu begeben genöthigt waren. Die Tribünen waren schwächer besucht, als man es hier bei den Costümfesten gewöhnt ist, weil das Fest schon einmal bei günstigerer Witterung vertagt worden war und Viele nicht daran glauben wollten, daß es bei größerem Thauwetter abgehalten werden könnte. Gleichwohl waren Tausende von Zuschauern gegenwärtig und begrüßten die erfolgreichen Wettkämpfer mit lautem Beifall, während eine Musikcapelle deren Leistungen begleitete.

Zuerst kam die Specialfigur an die Reihe, von welcher die Concurrenten eine Zeichnung in versiegeltem Couvert vorher den Preisrichtern hatten einreichen müssen. Da ich selbst Mitglied des Preisgerichts war, so bin ich im Stande, die Copie der Originale hier folgen zu lassen, wobei zu bemerken ist, daß Axel Paulson’s Specialfigur sich nicht zur Aufzeichnung eignete.[1]

Der Erste, welcher durch Trompetenstoß in die Schranken gerufen wurde, war Leopold Frey aus Wien, dessen beide Figuren, obwohl die eine, die Pirouette, nicht ganz neu, sondern Haynes entlehnt ist, überaus schwunghaft und effectvoll sich ausnahmen. Mit einem raschen Anlauf auf dem Schauplatz erscheinend und in weitem Rückwärtsbogen die Zuschauer begrüßend, worunter sich in der Hofloge die Erzherzoge Wilhelm Ludwig Victor und Rainer befanden, sprang er sofort zur Darstellung der Figur 1, des sogenannten Mondes, über. In die Grätschstellung springend, die Fußspitzen auswärts, zuerst etwas gegen rückwärts gerichtet, beschrieb er einen Kreis im Durchmesser von ungefähr zehn Meter, um sodann mittelst einer kleinen Schwenkung in den Einwärtskreis einzulenken und dadurch einen Achter in der Grätschstellung zu bilden, welcher zuletzt in einer Spirale auslief. Hierauf zeichnete er Figur 2, die Pirouette, indem er von der stehenden Haltung in die Kniebeuge überging, sich dann nach zehnmaliger Umdrehung wieder erhob und mit einem Rückwärtsbogen abschloß. Stürmischer Beifall belohnte diese Leistung, welche so gelungen war, als ob sie auf Spiegeleis vollbracht worden wäre.

Als neu ist die Specialfigur Engelmann’s hervorzuheben, welcher je einen Doppeldreier mit einer Pirouette auf der Fußspitze verband, was einen sehr zierlichen Anblick gewährte.

Das Kraftelement war durch Axel Paulson vertreten, welcher in raschem Anlauf, einen Bogen nach rückwärts beschreibend und zu einem riesigen Sprung ausholend, sich anderthalb Mal in der Luft um sich selbst drehte und dann mit Bogen vorwärts endete – ein effectvolles Kraftstück, das von den Zuschauern mit besonderem Beifall begrüßt wurde.

Nach dem hier Gesagten kann man sich vorstellen, daß die nachfolgende Schlußproduction, bei welcher jeder der sieben Concurrenten vier Minuten lang in combinirten Figuren fuhr, ganz der Höhe der übrigen Leistungen entsprach, daß aber das Schauspiel seinen Höhepunkt erreichte, als zum Schluß sämmtliche Preiskämpfer gleichzeitig auf dem Schauplatze erschienen und bei den rauschenden Klängen der Musik in den kühnsten Schwingungen wirbelten, wobei Axel Paulson durch kraftvolle Pirouetten und kühne Sprünge, Frey und Engelmann, die sich zu einer gemeinsamen [112] Figur die Hände gereicht, durch die Grazie, mit der sie schwierige Verschlingungen durchführten, Bewunderung erregten.

Noch vor dieser Gesammtleistung hatte, da die Sonne von Wolken bedeckt blieb, die Schaustellung der berufsmäßigen Eiskünstler stattgefunden, zu welcher sich der bekannte Amerikaner Callie Curtis und Edwin Paulson aus Christiania (Letzterer als erstes Debut) gemeldet hatten. Bei der strengsten Unparteilichkeit, welcher ich mich schon als Preisrichter befleißigen mußte, kann ich die Erklärung nicht unterdrücken, daß diese Leistungen weit unter denen der Nichtberufskünstler standen, wobei das schlechte Eis einen Theil der Schuld tragen mag, da es für Kraftstücke am ungünstigsten war. Uebrigens gestand Curtis, dessen Leistungen wir vor vier Jahren hier bewundert, daß seit damals außerordentliche Fortschritte gemacht worden und daß er selbst sich nicht zutraue, allen Anforderungen des geleisteten Schullaufens zu genügen.

Das Schauspiel hatte so lange gedauert, daß die Preisvertheilung, obgleich die Preisrichter rasch einig waren, beim Scheine des elektrischen Lichtes abgehalten wurde, wobei die Gaben am Eisplatze selbst auf einem der Thürme durch die beste Kunstläuferin Wiens, das jugendliche Fräulein Tischler, ausgehändigt wurden und die noch zahlreichen Zuschauer ihren Beifall über die Gerechtigkeit des Wahrspruches zu erkennen gaben. Die Preise fielen folgendermaßen aus: Erster Preis Leopold Frey aus Wien. Zweiter Preis Eduard Engelmann aus Wien. Dritter Preis Axel Paulson aus Christiania. Vierter Preis Anton Tuschl aus Wien. Fünfter Preis Franz Biberhofer aus Wien. Schulpreis Ed. Engelmann. Specialfigur A. Paulson. Vier Minuten Figurenlaufen L. Frey. Berufskünstler: Erster Preis Callie Curtis aus New-York. Zweiter Preis Edwin Paulson aus Christiania.

Allen Hoffnungen zum Trotz hatte sich das Wetter über Nacht nicht gebessert; das Aufthauen hatte weitere Fortschritte gemacht, und die Eisdecke war noch schwächer und weicher geworden. Es kostete im Preisrichtercollegium einen dreistündigen Kampf, bis die entschlossenere Richtung die Abhaltung des Rennens durchsetzte, welches denn auch Sonntag Nachmittags, unter weit stärkerer Betheiligung des Publicums stattfand. Wegen der Schwäche des Eises am Ufer mußte die ellipseförmige Rennbahn enger gestellt und die Bahn zur Zurücklegung des internationalen Flachrennens auf eine Distanz von 1600 Metern zwölfmal umfahren werden. Hier trugen die Norweger den Sieg davon, wobei indessen zu berücksichtigen ist, daß sie ihre Kunstlaufschlittschuhe mit stark gekrümmter Curve mit friesischen Schlittschuhen mit langer Tangente vertauscht hatten, während die Wiener Concurrenten trotz aller Warnungen ihre gecurvten Figurenschlittschuhe beibehielten, die in’s Eis einschnitten, während jene darüber hinwegglitten.

Theodor Langer.

Diamantidis-Stern.
Vier Arten.

Anton Tuschl.

Verkehrte Wechselwendung, auf einem Fuße fortgesetzt.

Franz Biberhofer.

Dreier-Schlinge, Dreier und Wechselwendung.

Eduard Engelmann.

Dreier-Drehung auf der Fußspitze.

Heinrich Jockel.

Dreier-Schlinge, Dreier- und gekreuzte vierfache Rebe auf vier Arten.

Leopold Frey.

Mond, Vexir-Achter und Haynes’ Pirouette in tiefer Kniebeuge.

Ernst von Stein.

Schlingenstern. Vier Arten.

Specialfiguren, ausgeführt bei dem „Internationalen Eislaufen in Wien“ am 21. Januar 1882.


Das internationale Flachrennen gewährte daher einen überaus interessanten Anblick. Nach gegebenem Zeichen schoß Aune aus Drontheim wie ein Pfeil voraus, die erste Wendung mit Uebertreten nehmend, während sein Landsmann Axel Paulson in bedächtigen Zügen nachfolgte. Bald spielte der Kampf nur zwischen diesen Beiden, während die übrigen fünf Concurrenten immer mehr zurückblieben. Die Bahn war noch nicht das zweite Mal umkreist, als Aune der Athem ausging, während Axel Paulson mit jeder Wendung seine Schnelligkeit vermehrte, ihn überholte und in langen Zügen, vorwärts gebeugt, einen so bedeutenden Vorsprung gewann, daß er die letzten Concurrenten wieder erreichte und dieselben um eine ganze Bahnlänge schlug, während Aune als Zweiter um drei Viertel der Bahn zurückblieb. Dritter war der taubstumme Werner aus Christiania. Während Aune im Gehrock lief, hatte Paulson eine gestrickte Wollweste angelegt.

Das zweite Flachrennen für Inländer wurde von Leopold Frey leicht gewonnen. Als Zweiter zeichnete sich der Wiener Richard Kreuter aus. Am dritten Rennen nahmen die zwei Berufskünstler Theil, wobei der Amerikaner Curtis von Edwin Paulson, obgleich Letzterer einmal stürzte, glänzend geschlagen wurde. Karl Reinhart aus Tegernsee war Zweiter. Da schon beim letzten Rennen sogar ein Preisrichter in’s Eis eingebrochen war, so mußte das Rennen mit Hindernissen aufgegeben werden, und auch das glänzende Costümfest, welches vorbereitet war, unterbleiben.

Vom Fachstandpunkt aus war das internationale Fest als ein glänzendes zu bezeichnen; denn trotz des weichen Eises hatte Axel Paulson die englische Meile in drei Minuten fünfunddreißig Secunden zurückgelegt, was der bisher höchsten Leistung in England von drei Minuten bei gerader Bahn und glattem Eise sehr nahe kommt und sie unter Berücksichtigung der Umstände überragt. Im Figurenrennen hatten namentlich die Wiener Sieger alle Erwartungen übertroffen, was besonders die fremden Preisrichter, ein Holländer, zwei Engländer und ein Franzose, bezeugten.

Bei dem im Hôtel Metropole abgehaltenen Schlußbankette, welches zu einem wahren internationalen Verbrüderungsfeste sich gestaltete, erklärte der Preisrichter Russel Shaw aus London, daß er niemals in England so viele ausgezeichnete Eiskünstler in einer Stadt gesehen, wie die Wiener Eisläufer, und der amerikanische Berufskünstler Curtis betheuerte, daß er auf dem ganzen Continent keine so vorzüglichen Figurenläufer angetroffen. Der Preisrichter Herr Edward Smithson sagte in einem Danksagungsschreiben an [113] das Comité, daß er die Tage des internationalen Eisfestes nie vergessen und daß insbesondere seine Erinnerung an dasselbe mit den Namen Frey und Engelmann stets verknüpft sein werde; sie seien die besten Eisläufer, die er je gesehen und wohl je sehen werde.

Inzwischen hat das Costümfest nun doch am letzten Januar bei günstigem Frostwetter stattgefunden und die „Windsbraut“ auf dem See ihre Flügel entfaltet. Ich gedenke auf dieses interessante Fest noch in einem besonderen kurzgefaßten Artikel zurückzukommen.

Max Wirth.     




Die Gobelin-Manufactur zu Paris.

Zugleich ein Blick auf den Antheil deutscher Meister an ihrer Entstehung.
Von Ernst Pasqué.

Es ist ein Irrthum, wenn man annimmt, daß die seit mehr als zwei Jahrhunderten bekannte und mit Recht berühmte Gobelin-Manufactur zu Paris, die vor der Zeit der unseligen Commune eine der größten und beliebtesten Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt war, durch ein Machtwort Ludwig’s des Vierzehnten in’s Leben getreten sei. Schon ein Jahrhundert vor diesem Regierungs-Erlaß bestand eine königliche Teppich- oder besser gesagt Tapetenwirkerei, während diese Kunstindustrie selbst bereits seit mehreren Jahrhunderten in Frankreich betrieben wurde, wie sie denn überhaupt eine der ältesten Künste war und schon im Orient unter den verschiedenen Völkern der alten Welt zu hoher Blüthe gelangte, und zwar mitsammt ihrer Schwesterkunst, der Färberei, die ihre eigentliche Grundlage bildet.

Allegorie des Herbstes.
Gobelin-Tapete aus dem siebenzehnten Jahrhundert.

In den barbarischen Zeiten der Völkerwanderung gingen beide Künste für das Abendland so gut wie verloren; die Mauren retteten sie für Europa nach Spanien hinüber, und ihre Teppiche, „Sarrasinois“ genannt, waren die einzigen, welche außer denen des Orients das früheste Mittelalter kannte. Diese wurden bald in Frankreich, dann besonders in Flandern nachgeahmt und mit der Zeit zu selbstständigen eigenartigen Schöpfungen ausgebildet. Hierzu zwang, außer dem Kunsttriebe, der jedem gesitteten Volke eigen ist, auch die Noth. Bedurften doch die Fürsten und der Adel für ihre Steinpaläste der gewirkten und gewebten Tapeten und Teppiche, um das Innere ihrer hohen und kalten Gemächer damit zu versehen, sie dadurch nicht allein prächtiger zu gestalten, sondern überhaupt erst wohnlich zu machen. Auch für die Kirchen [114] waren Teppiche ein nothwendiger Schmuck. König Dagobert, welcher 629 die Basilika von St. Denis erweitern ließ, schmückte sie mit prächtigen Teppichen aus, die er wahrscheinlich aus dem Orient hatte kommen lassen.

Die älteste französische Teppichfabrik bestand im zehnten Jahrhundert zu Poitiers[WS 1]; sie versandte sogar ihre Producte weithin, bis nach Italien. Im zwölften Jahrhundert begannen die flamändischen Fabriken haute und basse lisse (hoch- und tiefschäftige) Teppiche zu fertigen, durch welche neue und höchst effectvolle Art der Wirkerei die „saracenische“ Teppichweberei so ziemlich verdrängt wurde. Obgleich nun auch das alte Paris seine Teppich-Weber und -Wirker hatte, so überflügelten doch die flamändischen Städte, besonders Arras, dann Lille, Tournay, Audenarde und Brüssel, die französische Hauptstadt.

Erst mit dem Anfang des sechszehnten Jahrhunderts beginnt in Paris die Tapeten- und Teppichweberei sich überraschend schnell zu entwickeln, und ist dies wohl hauptsächlich dem Umstand zu verdanken, daß die französischen Könige sich dieser Kunst, welche ihnen so herrliche Ausschmückungen ihrer Paläste bot, annahmen. Der erste der Reihe war der ritterliche, pracht- und kunstliebende Franz der Erste. Er gründete im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts eine Fabrik für Tapetenwirkerei in Fontainebleau, seinem Lieblingsaufenthalt, wo er auch andere Künstler, Maler und Bildhauer, wie Benvenuto Cellini, unterhielt.

Sein Nachfolger, Heinrich der Zweite, übertrug die Leitung der Fabrik in Fontainebleau dem berühmten Architekten Philibert de l’Orme und gründete zugleich eine neue Tapetenwirkerei zu Paris im Spital de la Trinité, wo 136 Waisenkinder in verschiedenen Handwerken, von nun an hauptsächlich in der Teppichweberei unterrichtet wurden. Hier wurde unter anderen eine Tapete für die Königin Katharina von Medicis, Gemahlin Heinrich’s des Zweiten, gewirkt, die, aus mehreren Theilen bestehend, dreiundsechszig Ellen lang und vier Ellen hoch war und die Geschichte des Königs Mausolus und der Artemisia darstellte. Karl der Neunte errichtete eine ähnliche Fabrik in Tours, und Heinrich der Vierte vereinigte die verschiedenen unter Heinrich dem Dritten mehr oder minder vernachlässigten Fabriken und verlegte sie nach der Faubourg St. Antoine in das Kloster der 1594 aus Frankreich verwiesenen Jesuiten. Er versuchte, so viel er nur konnte, dieses schöne Kunstgewerbe zu neuer Blüthe zu bringen, was ihm auch theilweise gelang, und 1603, als die Jesuiten wiederkehrten, bezog die Fabrik einen noch übrig gebliebenen Theil des alten Louvre. Hier traten 1607 zwei geschickte Weber aus Flandern ein, Markus von Comans und Francis de la Planche, welche die Fabrik unter großen Vortheilen und mit einem Privilegium für die Tapetenwirkerei „nach flandrischer Art“ auf die Dauer von fünfundzwanzig Jahren selbstständig übernahmen. Sie arbeiteten wohl für den König, doch auch für das Publicum; so war die königliche Manufactur ein industrielles Etablissement geworden.

Nachdem diese flandrischen Tapetenwirker mit ihrer Fabrik aus dem alten Louvre nach dem Place Royale, dann wieder zurück nach dem Louvre gewandert waren, zogen ihre Söhne Charles de Comans und Raphael de la Planche 1630 in die ehemaligen Werkstätten der Färberei der alten Familie Gobelin, womit für unsere nur in Umrissen erfolgende Darstellung ein neuer Abschnitt beginnt.

Etwa gegen die Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts zog ein Färber aus Rheims, Johann oder Gilles Gobelin, nach Paris (die Holländer behaupten, er stamme aus Holland und habe Jan Gobeelen geheißen) und errichtete außerhalb der Stadt und der Faubourg St. Marceau am Ufer eines Flüßchens, Bièvre geheißen, eine Färberei. Da nun gut und schön gefärbte Wolle und Seide die erste Grundlage und zugleich eine Hauptbedingung zur Herstellung einer prächtigen und wirksamen Tapete bildete, da Gobelin ferner seine, wenn auch damals noch sehr unvollkommene Kunst wohl verstand und das reine Wasser des Flüßchens sich zu seinem Vorhaben als äußerst günstig erwies, seine Fabrikate sich somit vor anderen vortheilhaft auszeichneten, so mußten seine Werkstatt und Fabrik prosperiren. Doch ihren größten Glanz sollten sie durch einen seiner Nachkommen (der erste Gobelin starb 1476) unter Franz dem Ersten erhalten, und zwar mit Hülfe eines deutschen Färbers.

Dies war also gekommen. Die im Alterthum bekannte Kunst, den Scharlach und Purpur zu färben, war theils verloren gegangen, theils unmöglich geworden; dafür färbte man Roth in verschiedenen Nuancen, hauptsächlich vermittelst der Scharlachbeere. Unter den damaligen deutschen rheinischen Färbern, die man auch „Waidfärber“ – im Gegensatz zu den Schlecht- und Schwarzfärbern – nannte, weil sie aus der Waidpflanze (Isatis tinctoria), dem deutschen Indigo, nicht allein eine schöne blaue, sondern auch eine grüne Farbe herstellten, befand sich einer, bald Küster, Küffler, bald Kepfler[2] genannt , dem es gelungen war, aus der nach der Entdeckung Amerikas in Europa eingeführten Cochenille (die amerikanische Schildlaus, der Scharlachwurm), vermittelst einer Zinnsolution, eine neue überaus schöne Scharlachfarbe zu gewinnen. Zu derselben Zeit zog ein Maler mit Namen Gluck an den Rhein – die Holländer nennen ihn Kloek – der sich Jahre lang in der Türkei und im Orient herumgetrieben und auf solchen gewiß abenteuerlichen Fahrten die dortigen Färberkünste erlernt hatte. Am Rhein gelang es ihm auch, das Geheimniß der neuen Scharlachfarbe Kepfler’s sich anzueignen, und mit dieser wichtigen Errungenschaft wandte er sich nach Holland. Dort errichtete er eine Färberei, die ungemeines Glück machte. Bis an seinen im Jahre 1550 erfolgten Tod leitete er dieselbe und übertrug sie testamentarisch auf seine Nachkommen.

Nun ereignete sich Seltsames. Zu derselben Zeit, als Gluck seine neue Scharlachfarbe, die Erfindung des deutschen Färbers Kepfler, in Holland an’s Licht brachte, producirte ein Nachkomme des ersten Gobelin, Gilles geheißen, dieselbe in Paris. Er soll die Bereitung von Gluck erlernt haben, doch ist es viel wahrscheinlicher, daß Beide, Gluck und Gilles Gobelin, der sich vielleicht auf der Wanderschaft befunden haben mag, zusammen dem deutschen Erfinder sein Geheimniß ablauschten und dasselbe dann mit größtem Erfolge in Holland und Paris verwertheten.

Ein weiteres seltsames Zusammentreffen ist, daß später ein Nachkomme Glucks in einem entscheidenden Augenblicke mit dem Etablissement der Familie Gobelin sich verbindet und zu der Weltberühnttheit ihres Namens beitragen sollte, wie wir dies bald sehen werden.

Gilles Gobelin hatte sofort die ganze Tragweite der neuen Erfindung erfaßt und beschloß, sie kräftig auszubeuten. Nach Paris zurückgekehrt, kaufte er an der Bièvre ein ausgedehntes Terrain und begann neben der Werkstätte seines Vaters neue große und prächtige Bauten, zu seinem Zwecke passend, zu errichten. Die Bewohner der nahen Vorstadt St. Marceau wußten sich dies nicht zu deuten. Sie sahen mit Staunen die vielen Wohnstätten dem Boden entsteigen und nannten Gobelin einen Narren und seine Bauten „la Folie-Gobelin – die Gobelin-Thorheit“. Der Sohn dieses Gilles errichtete am Ursprung der Bièvre, in der Nähe von Versailles ein prächtiges Landhaus, das er als Antwort auf jene Spottreden nun wirklich „La Folie-Gobelin“ taufte. – Doch es sollte noch anders kommen. Gilles Gobelin gewann durch seine neue Scharlachfarbe einen solchen Ruhm und zugleich einen solchen Reichthum, daß er in kürzester Zeit ein Krösus wurde. Dies konnte das Volk von Paris erst recht nicht begreifen und schrieb die Ursache davon – dem Teufel zu. Folgende hübsche Sage aus jener Zeit hat sich erhalten.

Gilles Gobelin hatte seine Seele dem Teufel verschrieben – also erzählte man sich – als Lohn dafür, daß dieser ihm das Geheimniß der neuen Scharlachfarbe kundgethan. Da nun Gilles’ Zeit um war, ging er eines Abends mit einem Licht über den Hof, als plötzlich der Gottseibeiuns vor ihm stand, um ihn in sein höllisches Reich abzuholen. Gobelin bat demüthig nur noch um eine kurze Frist, so lange, bis sein Licht zu Ende gebrannt sei. Dies bewilligte in Gnaden der – dumme Teufel, und der kluge Gilles warf flugs sein Licht in einen nahen Brunnen, in dem es erlosch und den er dann sofort zuwerfen ließ. Mit dem obligaten Gestank entfernte sich der geprellte Teufel, und Gilles Gobelin genoß bis an das Ende seines Lebens die Frucht seiner List und Arbeit – und der des deutschen Färbers Kepfler.

Nur noch wenige Generationen der Gobelins blieben Färber: der Reichthum der Familie mehrte sich von Jahr zu Jahr, und ihre Glieder kauften sich Titel, Aemter und Würden mitsammt dem [115] Adel. Schon 1544 wurde Jacques Gobelin, ein Sohn des Gilles, correcteur des comptes und adelig und dessen Sohn Balthasar kaufte von Heinrich dem Zweiten, den er mit seinem Gelde unterstützte, die Seigneurie Brie-Comte-Robert. Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß die im folgenden Jahrhundert, 1676, zu Paris enthauptete entsetzliche Giftmischerin Marquise von Brinvilliers die Gattin von Antoine Gobelin, Marquis von Brinvilliers, war. Die letzten Gobelins, welche zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts noch in der alten Werkstatt der Väter als Färber arbeiteten, waren die Gebrüder Etienne und Henri. Dann zogen Fremde hinein. Doch die Färberei wie auch das Flüßchen behielten den Namen Gobelin. Letzteres hatte denselben bald nach dem Einzuge des ersten Gobelin erhalten, und erst während der Revolution nahm es wieder seinen ursprünglichen Namen, die Bièvre, an.

Es war nur ein kleiner Theil der Gobelin’schen Besitzung, den die beiden flamändischen Teppichwirker Comans und de la Planche 1630 bezogen, nämlich die an dem Wasser gelegenen Färbereien, während der übrige Complex von Gebäuden und Ländereien in andere Hände überging. Die beiden Genannten arbeiteten nun hier eine ziemliche Reihe von Jahren, färbten ihre Wolle und Seide und wirkten ihre Tapeten. Da trennte sich 1650 de la Planche von seinem Gefährten und errichtete eine eigene Fabrik in der Vorstadt St. Germain und Comans ließ zu seiner Hülfe einen berühmten Tapetenwirker aus Flandern (Audenarde) kommen, der Jan Jansen hieß, dessen Name jedoch von den Franzosen in Jean Jans umgewandelt wurde, unter welchem er noch heute angestaunte Meisterwerke der Tapetenwirkerei schuf.

Jetzt aber erschien ein Mann, dessen Leistungen, wenn auch gerade nicht in der Wirkerei selbst, so doch auf dem diese Arbeiten vorbereitenden Gebiete der Färberei, von der weittragendsten Bedeutung werden und den eigentlichen Anstoß zur Errichtung der königlichen Manufactur geben sollten. Es ist ein seltsamer Zufall, daß dieser Reformator der Färbekunst denselben Namen trug, wie der etwa hundert Jahre später auftauchende Reformator der dramatischen Musik, und daß er, wie Jener, unzweifelhaft ein Dentscher war: er hieß Hans Gluck.

Dem Ahnherrn der Familie sind wir in unserer obigen Schilderung schon hundert Jahre früher begegnet. Seine Nachkommen scheinen sich nach Deutschland zurück gewendet und mit der Färberei beschäftigt zu haben; denn als der oben Genannte wieder in Flandern und Holland arbeitete, wurde er selbst von den Holländern nicht mehr Kloek, sondern mit dem deutschen Namen Gluck genannt, wie auch in der Folge von den Franzosen. Hans Gluck muß sich für seine Zeit und sein Fach bedeutende chemische Kenntnisse angeeignet haben; stimmen doch alle Aussagen über ihn darin überein, daß er Farben, besonders Scharlach, in einer solchen blendenden Frische und Schönheit hergestellt habe, wie man sie bis dahin noch nicht gesehen, dazu noch jede Farbe in vielen Abstufungen, daß man jetzt erst im Stande war, wirklich farbenprächtige Tapeten mit richtig abschattirten Sujets herzustellen. Dabei muß er ein durchaus praktischer Mann gewesen sein; denn er war es, der die Krappfarbe, die heute noch einen so bedeutenden Handelsartikel Frankreichs bildet, dort erst recht in Aufnahme brachte.[3]

1655 kam Hans oder, wie er jetzt genannt wurde, Jean Gluck nach Paris und siedelte sich sofort dicht neben der Gobelin-Färberei an. Seine Producte, besonders sein Scharlach, sowie auch die billige rothe Farbe, welche er aus der „Färberröthe“, der Garance (Rubia tinctorum sativa), herzustellen wußte, erregten allgemeines und größtes Aufsehen und bald auch die Aufmerksamkeit Colbert’s, Ministers und Generalcontrolleurs der Finanzen unter Ludwig dem Vierzehnten.

Dieser praktische Staatsmann erkannte sofort, welche Vortheile aus den Arbeiten Gluck’s zu ziehen seien, und beredete den König, dessen Färberei mit den bereits bestehenden, sowie den verschiedenen Tapetenwirkereien und anderen königlichen Manufacturen zu einer einzigen großen Staatsanstalt zu vereinigen. Ludwig der Vierzehnte billigte den Vorschlag seines Ministers, der einen ebenso großen künstlerischen wie praktischen Erfolg versprach, und ohne Säumen ging Colbert an die Ausführung seines Planes. Am 8. Juni 1662 kaufte er den ganzen ehemaligen Gütercomplex der Familie Gobelin, aus dem großen „Hôtel des Gobelins“, Höfen, zahlreichen Bauwerken, Gärten, Wiesen, Waldungen und Erlenpflanzungen längs dem Flüßchen Bièvre bestehend, dem damaligen und letzten Eigenthümer, dem Parlamentsrath Leleu, im Namen des Königs für 40,775 Livres ab, und die bald weltberühmte Gobelin-Manufactur war in’s Leben getreten.

In diese vielen Bauwerke wurden nun nicht allein die Färberei Gluck’s, die Tapetenwirkerei Comans’ und Jans’, sowie die der beiden Lefebre, Vater und Sohn, welche noch Ludwig der Dreizehnte sich aus Italien verschrieben hatte und die im Louvre arbeiteten, untergebracht, sondern auch alle anderen Kunsthandwerker, die im Solde des Königs thätig waren, wie die Gold-, Seiden- und Perlensticker, die Gold- und Bronze-Arbeiter, die Steinschneider, die Medailleure und Ciselirer, die Bildhauer und Kunsttischler.

Das ganze großartige Etablissement, welches mit seiner zahlreichen Bevölkerung an verheiratheten und unverheiratheten Künstlern, Kunsthandwerkern und gewöhnlichen Arbeitern eine kleine Stadt für sich bildete, erhielt nun den stolzen Namen: „Manufacture royale desmeubles de la couronne“ („Königliche Manufactur des Mobiliars der Krone“). Im folgenden Jahr, 1663, wurde der berühmte Maler Charles Lebrun zum Director und künstlerischen Leiter des Ganzen ernannt, doch erst fünf Jahre später, 1667, erfolgte die Veröffentlichung der königlichen Verordnung, welche die Gründung der Gobelin-Manufactur befahl, und zu gleicher Zeit ließ Colbert den inneren Dienst der verschiedenen Kunstgattungen und Arbeiten durch umfangreiche und sorgfältig ausgearbeitete Instructionen ordnen. Diejenige für die wichtige Branche der Färberei fertigte ein Herr von Albo, und sie erhielt sich, weil in ihrer Art ganz vortrefflich, in verschiedenen Auflagen bis in das vorige Jahrhundert.[4]

Die Leitung der eigentlichen Tapetenwirkerei der neuen Gobelin-Manufactur, mit der allein wir es hier zu thun haben, war dem Flamänder Jean Jans übertragen worden. Ihm folgte Girard Laurent, in dessen Atelier während der Jahre 1676 bis 1679 eine der berühmtesten Gobelin-Tapeten, „Der Besuch Ludwig’s des Vierzehnten in der Gobelin-Manufactur“ (am 15. October 1667) hergestellt wurde.

Diese prächtige Tapete (4,00 Meter hoch und 5,80 Meter breit) wurde in zwei Exemplaren gewirkt; leider verbrannten die Sansculotten im Jahre 1793 eines derselben, weil sich die königlichen Lilien darauf befanden! Das andere entging der Vernichtung durch die Communards des Jahres 1871 nur durch rasche und glückliche Verbergung. Dafür verbrannten die Elenden das Etablissement selbst. Heute bildet diese Tapete das Hauptstück der sehr zusammengeschmolzenen Gobelin-Gallerie und -Ausstellung.

Lebrun blieb bis an seinen Tod, der 1690 erfolgte, Director der Gobelins. Unter ihm lieferten 250 Arbeiter 19 Hautelissetapeten von zusammen 4110 Ellen im Geviert und 34 Basselissetapeten von 4294 Ellen, die heute einen Werth von mehr als 10 Millionen Franken repräsentiren. Darunter befanden sich die berühmten „Jahreszeiten“, „die Monate“ und die „Geschichte Ludwig’s des Vierzehnten“; letztere aus einer ganzen Reihe von Tapeten nach Lebrun und Van der Meulen bestehend. Unter den „Jahreszeiten“ zeichnet sich besonders der Herbst aus, nach Ballin und einer Composition von Lebrun. Diese Tapete, von der wir als Beigabe zu diesem Artikel eine Abbildung bringen, hat Jean Jans, der Sohn des früher Genannten, von 1691 bis 1731 Leiter der Arbeiten, in Hautelisse, Wolle, Seide und Gold ausgeführt. Sie hat noch heute ihre ganze Farbenfrische bewahrt, ist 4,85 Meter hoch, 5,75 Meter breit und gehört zu den 1871 geretteten Tapeten.

Von 1690 bis 1695 war der nicht minder bekannte Hofmaler Ludwig’s des Vierzehnten, Pierre Mignard, Director der Manufactur, doch traf das Unternehmen während dieser Zeit ein [116] harter Schlag; denn die finanziellen Bedrängnisse, in welche der König durch seine Kriege gerathen war, nöthigten ihn 1694, den größten Theil der Ateliers zu schließen und die Kunsthandwerker und Künstler zu entlassen. Colbert, ihr kunstsinniger und praktischer Beschützer, war bereits 1683 gestorben. Auch waren die königlichen Schlösser mit Kunstgegenständen aller Art überfüllt. So wurden erst 1699 die Arbeiter der Tapetenwirkerei wieder in Thätigkeit gesetzt, und von dieser Epoche an blieben sie allein die Bewohner der Gobelin-Manufactur, die von nun an nur noch Tapeten, wenn auch nicht mehr in früherer verhältnißmäßig großer Anzahl lieferte. Robert de Cotte, bedeutender Architekt, wurde ihr Director. Er leitete die Anstalt über Ludwig’s des Vierzehnten Tod hinaus, bis zum Jahre 1735, worauf sein Sohn, ebenfalls Architekt, sie übernahm und ihr bis 1747 vorstand.

Während dieser Zeit hatte die Mode eine vollständige Wandlung erfahren. Die kräftigen Tinten Lebrun’s, Van der Meulen’s und Mignard’s waren nicht mehr beliebt, dafür um so mehr die feinen und leichten Töne, besonders Grau in allen erdenklichen Nuancen. François Boucher (1703 bis 1770), „der Maler der Grazien“, wie er von seinen Zeitgenossen schmeichelnd genannt wurde, und würdiger Nachfolger Watteau’s (1684 bis 1724), wurde Inspector der Gobelins, und nun änderten sich deren Arbeiten wie auf einen Zauberschlag. Neilson, Chef der Tapetenwirkerei (von 1749 bis 1788), erzielte mit Hülfe des Färbers und Chemikers Quemiset über tausend bestimmte Farbennuancen, von denen jede wieder in zwölf Schattirungen von der hellsten bis zur dunkelsten zerfiel. Die Reformen und Leistungen des Meister-Färbers Gluck, welche während eines Jahrhunderts so viel zum Ruhme der Gobelin-Manufactur und ihrer Tapeten beigetragen hatten, waren überboten, und mit den neuen zahllosen Farben und Nuancen begann nun eine ganz andere Arbeitsart als bisher. Man brauchte keine eigens für die Gobelins hergestellten farbigen Cartons mehr, sondern nahm das Gemälde selbst vor, um es zu copiren. Hierdurch entstanden die wunderbaren Schöpfungen, welche bis heute immer mehr vervollkommnet wurden. Doch war dadurch auch die Tapetenwirkerei ihrer eigentlichen Bestimmung entrückt worden; denn statt selbstständige Kunstwerke und stilvolle Behänge, lieferte sie jetzt nur mehr oder minder gelungene Copien vorhandener Meisterwerke der Malerei.

(Schluß folgt.)




Um die Erde.

Von Rudolf Cronau.
Sechster Brief:0 In Minnesota.

Einst war das Gold Californiens der gewaltige Magnet, welcher abenteuerliche Auswanderer nach Amerika zog; später lockte das Petroleum Pennsylvaniens Capitalisten und Arbeiter nach der Neuen Welt hinüber; heute ist der Glanz dieser Bodenschätze erloschen, und ein neuer Zauberer verdrängte sogar den berühmten Baumwollenkönig. Der rothe Winterweizen ist es, der Menschenschaaren nach dem fernen Westen führt, der ehrliche Ackerbau, welcher weder das Gold- noch das Oelfieber erzeugt und dennoch den Arbeiter reichlich für seine Mühe lohnt.

Tausende vertrauten dem jungfräulichen Boden der wasserreichen nordwestlichen Staaten, und sie wurden wahrlich nicht betrogen. Sind doch jene weiten Strecken, auf denen noch vor einem halben Jahrhundert Indianer wild hausten, heute zu der Kornkammer der alten Welt geworden; hat doch der amerikanische Weizen vor wenigen Jahren das übervölkerte Albion und das von einem Mißwachs heimgesuchte Frankreich vor bitterer Theuerung, wenn nicht vor Hungersnoth, bewahrt.

Aber nicht nur die Fruchtbarkeit des Landes veranlaßte mich, dem Rufe „Young man, go west!“ zu folgen – noch ein anderer Zauber webt über jenen fernen Strichen, der bestrickende Reiz einer durch ihre landschaftliche Schönheit fesselnden Natur, jener unwiderstehliche Zauber, der auch mich, den schauensdurstigen Künstler, in das „neue romantische Land“ trieb.

Von den Gestaden des Atlantischen Oceans zu den Quellen des Mississippi, welch’ wunderbare Fahrt durch das industriereichste Land der Welt! Aber ohne Aufenthalt eilen wir vorwärts, um weniger bekannte Gebiete zu erreichen. – Längst lag hinter uns Chicago, die Königin der Seen, der Phönix des Westens, da breitete sich vor den erstaunten Augen, von der aufgehenden Sonne magisch beleuchtet, ein Wunderland aus, nein, ein fließendes Meer mit tausend waldigen Inseln – „der Vater der Ströme!“ Endlich fuhren wir nun an dem Ufer des Flusses entlang, dessen Name in den Jahren unserer Jugend immer einen zauberischen Klang für uns gehabt, und durften uns an dem Anblicke des majestätischen Strombildes und der schöngeformten Bergzüge mit ihren nackten Felsenabstürzen weiden.

Mit dem Ueberschreiten des Riesenstromes traten wir in den Staat Minnesota ein, von dessen vielgepriesenem Wasserreichthum ich nicht zu berichten brauche. Gleich Lebensadern schlängeln sich hier Bäche und rauschen Ströme durch einen nie ermüdenden Wechsel von Wald und Prairie, von Hochland und thalähnlichen Gründen, und aus dem üppigen Grün der welligen Hügel glänzen Hunderte von größeren und kleineren Seen hervor, gleich träumerisch blauen Augen.

Noch vor einem Menschenalter war dieses prächtige Land fast unbewohnt und unbebaut, und nur von Zeit zu Zeit verkündete in dem dichten Urwalde das rollende Echo der scharfgeladenen Büchse eines Buschmannes den nahenden Einzug der Cultur. Erst seit wenigen Jahrzehnten schlagen die Räder der Dampfboote die Wasser der größeren Ströme, durchfliegt das Dampfroß die Thäler und klingen die Aexte der Ansiedler in den Wäldern.

Und wenn man die Werke der Cultur in Minnesota betrachtet, erscheint es fast unglaublich, dies alles habe der menschliche Fleiß in einer so kurzen Spanne Zeit verrichtet.

Dort, wo der aus dem Itasco-See hervorgegangene Mississippi, zu einer Breite von 600 Fuß angewachsen, seine Wassermassen über die steile Felsenbarriere bei St. Anthony herniederstürzt, fesselt zunächst die gewerbfleißige, blühende Stadt Minneapolis unsere Aufmerksamkeit. Der erfinderische Geist ihrer Einwohner verstand durch kunstvolle Anlagen die natürliche Kraft des schäumenden Stromes sich dienstbar zu machen, so daß die Industriellen von Minneapolis durch zahlreiche Leitungen eine billige Betriebskraft beziehen, die man im Ganzen der von 120,000 Pferden gleichschätzt, Die Wassermühlen, welche hier die Stromufer umgürten, zermahlen jährlich gegen 40 Millionen Bushel Korn und zersägen gegen 200 Millionen Cubikfuß Holz.

Noch in den fünfziger Jahren war der Name dieser Stadt kaum bekannt, aber schon 1860 zählte sie 5809 und bei der letzten Volkszählung 1880 sogar 43,053 Seelen.

Fahren wir nun den Mississippi hinab, so erreichen wir nach kurzer Reise das zehn Meilen entfernte St. Paul, die Rivalin von Minneapolis und die politische Hauptstadt des Landes. Das Leben in diesem Hauptsitze der Staatsregierung gewinnt um so mehr an Bedeutung, als hier der Mississippi für die großen Dampfer schiffbar zu werden beginnt. Die zahlreichen prächtigen Steingebäude, die eleganten Hotels und Privatwohnungen lassen kaum glauben, daß wir uns in einer Stadt befinden, deren erster Beginn in einer kleinen, 1838 von dem Canadier Parrant aufgeschlagenen Cabine bestand.

Hier sah ich zuerst jene „schwimmenden Paläste“, deren Ruf die früheren Erzählungen von den gefahrvollen und lästigen Mississippifahrten verstummen ließ, jene häuserhoch über dem Wasserspiegel hervorragenden Dampfer, welche mit dem denkbarsten Comfort ausgestattet sind und in denen selbst die prunkhaftesten „Bridal-Rooms“, die Brautgemächer, nicht fehlen. Eine solche Brautfahrt auf dem Mississippi mag vielleicht manchem später enttäuschten Ehemanne als ein treues Miniaturbild seines eigenen Lebens erschienen sein; denn anfangs im nördlichen Theil des Stromes steuert das Schiff durch reizende, abwechselungsreiche, wahrhaft poetische Gegenden, um später aus dem krystallklaren Schneewasser des Flusses in schlammig-trübe Wellen zu gelangen und sich durch öde, langweilige Strecken bis nach New-Orleans in gleichmäßigem Tempo durchzuwinden.

St. Paul bildete für kurze Zeit mein Hauptquartier, von wo aus ich zahlreiche Ausflüge in die interessante Umgegend unternahm.

[117]

Mündung des Minnesota in den Mississippi bei Fort Snelling.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[118] Vor Allem muß ich hier Fort Snelling erwähnen. Inmitten großartiger Landschaft an der Mündung des Minnesota in den Mississippi auf hohem Felsen gelegen, bietet die vielgenannte Befestigung ein wahrhaft imposantes Bild, Ich hatte das Glück, bei meinem ersten Besuch in diesem Hauptquartier der amerikanischen Armee für den Nordwesten die Landschaft in der malerischesten Stimmung betrachten zu dürfen; denn am Himmel zog gerade ein Gewitter herauf; tiefe Schatten lagen über den schweigenden Wäldern und den geheimnißvollen Thälern, und nur von Zeit zu Zeit zuckten unheimliche Lichter über die Landschaft – der grelle Widerschein aufflammender Blitze.

In dem beigegebenen Bilde habe ich den Lesern der „Gartenlaube“ das Fort und die Mündung des Minnesota vorzuführen versucht, um ihnen die eigenartige Landschaft des oberen Mississippilaufes zu veranschaulichen.

Die Amerikaner hatten wohl Grund, hier eine Festung zu erbauen; denn als im Jahre 1803 dieser Landstrich durch Kauf von Frankreich an die Vereinigten Staaten überging, da hausten noch an den Ufern des „rauchenden Flusses“ (Minnesota) kriegerische Indianerstämme, die mit Waffengewalt von der Plünderung der Ansiedlerwohnungen abgehalten werden mußten. So ward das Fort, welches im Jahre 1819 eine Garnison erhielt, der erste Stützpunkt der westlichen Cultur in diesem Theile des „goldenen Nordwestens“. Manch blutiges Kriegswerk ist mit seiner Geschichte eng verbunden; denn noch in den Jahren 1862 und 1863 begab sich in dieser Gegend der gefürchtete Häuptling Little-Crow auf den Kriegspfad und mordete 800 Weiße.

Heute ertönt kein Schlachtgeheul mehr an den Ufern des „rauchenden Flusses“, und getrost konnte ich mich in das Lager der wenigen hier noch weilenden Rothhäute begeben, um die Nachkömmlinge der Scalphelden, ihre Zelte und Waffen und die wild romantische Gegend, in der sie ihr kümmerliches Dasein fristen, für die über die weite Erde zerstreuten Leser der „Gartenlaube“ zu zeichnen und sie ihnen zu beschreiben.




Die Mutter.

Charakterstudie von M. Corvus.
(Schluß.)


„So hattest Du, liebe Käthe, das erste Lebensjahr erreicht,“ fuhr Heine fort, „da ging das Scharlachfieber im Dorfe um, und auch Du wurdest davon befallen. In meiner Sorge um Dich schrieb ich an Constanze und bat sie, die nun auch allein stand – denn ihre Mutter war inzwischen gestorben – zu mir zu eilen, um Dich zu pflegen. Sie kam auch in alter Anhänglichkeit und übernahm Sorge und Pflege für Dich, sowie die Führung des Hauses, wie sie es ja auch seither gethan, und als Du wieder hergestellt, dachte sie abermals an’s Scheiden. Da aber fragte ich sie, schnell entschlossen, ob sie an die Stelle ihrer liebsten Freundin treten und als mein Weib meinem armen Kinde eine treue Mutter sein wolle? Sie bejahte meine Frage, Käthe, aber sie that es nur mit der Bedingung, daß sie als Deine rechte Mutter gelten solle.“

„Das war die Bedingung?“ fragte Käthe erstaunt dazwischen.

„Die Bedingung, mein Kind: o, das Wort Stiefmutter hat einen rauhen Klang, und vor diesem Klange fürchtete sich Constanze – davor wollte sie sich wie Dich bewahren, und da sie fest entschlossen war, von diesem Zugeständnisse nicht abzulassen, so willigte ich endlich ein. Sie drängte mich nun, meine Pachtung aufzugeben und allein mit Euch Beiden in eine andere Gegend zu ziehen, wo uns Niemand kenne und sie als Deine Mutter gelten könne, ohne eine Entdeckung ihres falschen Vorgebens fürchten zu müssen.“

„So planvoll!“ schaltete Käthe bitter ein.

„Constanze hatte von ihrer Mutter ein ansehnliches Vermögen geerbt,“ nahm Heine wieder das Wort, „und dieses, mit dem meinigen vereint, genügte zum Ankauf unseres jetzigen Gutes; so verschwanden wir denn aus dem Bereiche unserer früheren Bekannten. Doch auch Deinen Großeltern mußte unser neuer Aufenthalt vorläufig verborgen bleiben, und so gab ich Deiner Großmutter regelmäßig nach jedem Vierteljahr durch meinen früheren Advocaten in Breslau Nachricht über Dein Ergehen, damit sie nie in Sorge um Dich sein möchte, und vertröstete sie von Jahr zu Jahr auf ein Zusammentreffen mit Dir. Aber nachdem Constanze sich nun in ihre Mutterrechte eingelebt hatte, hing sie mit ganzer Seele an Dir, ihrem einzigen Kinde und fürchtete sich immer mehr vor einer Aenderung dieses schönen Verhältnisses; um so weniger konnte sie sich entschließen, Dir die Wahrheit zu enthüllen.“

Er seufzte schmerzlich auf.

„Und hierin, Käthe, liegt ihr Unrecht, sowie das meine. Ich war schwach genug, ihren Bitten nachzugeben und die Aufklärung noch weiter hinauszuzögern. Es ist ein Gewebe von Schuld und Liebe, meine Tochter, das ich soeben vor Deinen Augen entwirrt habe.“

Robert Heine schwieg. Seine Erzählung hatte nichts in Käthe’s aufgeregten Gesichtszügen gemildert – dieselbe überreizte Spannung loderte noch immer in ihnen.

„Welch’ ein Aufbau von Falschheit und Heimlichkeit, um mir die todte Mutter, der alten Großmutter die Enkelin zu entfremden! Wie kann aus so viel Lüge Gutes hervorgehen? Ich würde gewiß Jene geliebt haben, wie ich es bisher gethan, wenn Ihr mir auch die Wahrheit offenbart hättet – aber stehlen, nein, durch Lüge stehlen lasse ich meine Liebe nicht! Meine arme Mutter, mit ihrem Leben bezahlte sie das meine, und siebenzehn lange Jahre habe ich dieses Leben genossen, mich aller seiner Herrlichkeit erfreut, ohne nur einen Gedanken der zu weihen, der ich es verdanke. Das ist unmenschlich, grausam; das heißt ein Kind zum Undank zwingen, damit sich Jene der geraubten Kindesliebe freue, als eines unrechtmäßigen Besitzes. Nein, nein, ich kann sie nicht mehr lieben; sie hat mit dieser ungeheuren Lüge alle Gutthat wieder ausgelöscht, die sie mir hat zu Theil werden lassen.“

„O Käthe, Käthe,“ mahnte der Vater sein Kind, „möchtest Du die Schuld dieses Wortes niemals zu büßen haben! Und um Eins bitt’ ich Dich,“ fügte er hinzu, da sie eben in den Gutshof einführen: „Schone Die, welche nun sogleich vor Dir stehen wird und die es so gut mit Dir meint!“

Käthe blieb stumm. Der Wagen hielt vor dem Hause.

In der offenen Thür stand Constanze; die schlanke Gestalt ein wenig vorwärts gebeugt, harrte sie sehnsüchtig der Kommenden, und ein Freudenstrahl leuchtete aus ihren Augen den Geliebten entgegen.

„Da seid Ihr ja endlich! Willkommen wieder daheim, Käthe, mein liebes Kind!“ rief sie fröhlich und breitete die Arme liebevoll nach ihr aus.

Aber kein Gruß von Käthens Mund, kein Blick ihrer Augen antwortete der Mutter; das Mädchen wendete stumm den Kopf ab und zauderte, vom Wagen herabzusteigen, während Heine, der hastig herabgesprungen war, besorgt und mitleidig auf seine nichts ahnende Frau blickte und ihr mit der Hand winkte, fortzugehen.

Da – jählings, mit dem Instinct der Mutterliebe – begriff sie alles, was geschehen war. Das Blut stockte in ihrem Herzen, und sie starrte todtenbleich von Käthe zu ihrem Gatten, von ihm zu ihr. Ein Blick auf das abgewendete junge Mädchenhaupt genügte – sie wußte alles: sie hatte ihr Kind verloren.

Kein Wort drang über ihre Lippen – sie preßte die Hände auf’s Herz, wie um dessen allzu hohes Schlagen zu hemmen, kehrte sich ab und wankte in’s Haus.




Ein freundlicher Maimorgen breitete seinen hellen Sonnenglanz auf das junge Grün des Gartens und auf den beweglichen Wasserspiegel eines großen Bassins, in welchem Goldfische munter umherschossen. Schmetterlinge gaukelten umher, und auf dem gelben Kies der verschlungenen Wege und Stege übte ein kleiner Knabe seine ersten Laufversuche an der Mutter Hand, während die Wärterin den Beiden folgte.

Wie anmuthig sie war, die junge Mutter! Ihre glücklich leuchtenden Augen hingen mit frohem Entzücken an den unsicheren Schritten des Kindes, als seien sie eine Großthat. Eine überströmende Fülle von Liebe und Glück spiegelte sich auf den lieblichen, fast kindlichen Zügen ihres Gesichtes und in dem warmen [119] Glanze ihrer großen Augen wieder. Was war sie aber auch für eine glückliche Frau geworden in den jüngst verflossenen beiden Jahren, unsere Käthe! Alles, was ihr Herz erhoffen konnte, hatte sie gefunden an der Hand ihres Gatten, zu welchem sie mit derselben Liebe und Hochschätzung emporblickte, wie damals, als ihr Brief den ersten Seligkeitsrausch ihres Liebesglückes in das Vaterhaus trug.

Durch die Stille der Vorstadt erschallte jetzt das Heranrollen eines Wagens, der vor dem Hause anhielt, und bald darauf trat Robert Heine in den Garten.

„Der Großpapa!“ rief Käthe fröhlich, den Kleinen auf den Arm nehmend und mit ihm dem Vater entgegeneilend.

Heine umarmte mit stürmischer Freude zugleich Tochter und Enkel; er lachte in Herzenslust auf, als der Kleine die Händchen ihm entgegenstreckte und vernehmlich „Papa!“ rief.

„Was tausend, er kann schon Papa sagen? Das muß gleich belohnt werden, Du Prachtjunge!“ sagte er und zog eine Düte Confect hervor.

„Du bist auch recht lange nicht bei uns gewesen, Vater; da mußt Du freilich unsern Jungen verändert finden,“ meinte die junge Frau mit mütterlichem Stolz. „Ist er nicht recht gewachsen? Und wieviel hat er inzwischen gelernt! Er fängt schon an zu laufen und zu sprechen, aber so gut er ‚Papa‘ sagen kann, bringt er doch immer noch nicht ‚Mama‘ hervor, wie oft ich es ihm auch vorspreche.“

„Das lernt er schon noch – beruhige Dich darüber, Käthe!“ lachte Heine. „Er wird es Dir nur zu oft vorschreien.“

„Aber ich möchte es so gern schon jetzt hören – ‚Mama‘ müßte doch das erste Wort sein, das ein Kind sagen lernt,“ eiferte sie und nahm aus der Düte ein Biscuit. „Sage Mama, mein Herzenskind – dann bekommst Du das hier.“

Der Knabe drückte das Köpfchen an der Mutter Gesicht, langte begierig nach dem Naschwerk, stammelte aber wieder nur „Papa“ hervor.

„So geh, Robert – Du bist nicht gut,“ sagte sie und übergab den Knaben der Wärterin, und obgleich sie sich nun den Anschein gab, als sei sie erzürnt, sprach sich doch unverkennbar gekränktes Muttergefühl in ihren Mienen aus. „Lassen Sie Robert noch im Sonnenschein herumlaufen, aber seien Sie vorsichtig mit ihm. Er ist gar so ungestüm und lebhaft,“ legte sie noch dem Mädchen an’s Herz. Dann wendete sie sich mit dem Vater zum Gehen, als sie jedoch ein paar Schritte gethan hatte, kehrte sie den Kopf nach dem Knaben unwillkürlich um, und da konnte sie nicht widerstehen: es zog sie zu gewaltig wieder zu ihm zurück. Sie nahm ihn nochmals auf den Arm, herzte und küßte ihn inniglich, als gehe sie auf lange fort, und überließ ihn erst dann wieder der Wärterin.

„Nun aber komm, lieber Vater,“ sagte sie seinen Arm umschlingend. „Ich will mich gar nicht wieder umsehen; sonst komme ich nicht los, und es wird doch Zeit, daß Du Dir es bequem machst und ich Dir eine Erfrischung reiche. Du findest Max noch nicht zu Haus; er ist wie gewöhnlich im Geschäft und kommt erst zu Mittag heim.“

Sie richtete schnell im Gartensaal ein Frühstück her, und mit dem Vater Platz nehmend, fragte sie nach Allem, wie es daheim ergehe, was sie dort getrieben und wie es auf dem Gute aussehe. Heine erzählte von Constanzen und brachte Grüße von ihr; Käthe dankte, aber sie sprach von ihr nur als seiner Frau, ohne das Wort Mutter auszusprechen, wie es denn seit jenem traurigen Tage nicht wieder über ihre Lippen gekommen war.

Die dazwischen liegende Zeit mit all ihrem Glücke hatte nicht vermocht, die Herbigkeit in Katharinens Empfinden zu mildern. So groß und leidenschaftlich auch ihre Zuneigung zu dem geliebten Manne war, in Einem hatten weder Max Reinhard noch ihr Vater Macht über sie, in dem Gefühle tiefer Erbitterung gegen Constanze.

Diese trug den ungeheuren Schmerz ohne Klage, so sehr sie auch in tiefster Seele darunter litt. Ja, sie wehrte sogar Heine’s Eifer, ihr zu ihrem wohlerworbenen Mutterrechte wieder zu verhelfen, dringend ab und bat, Käthe sich hierin selbst zu überlassen.

„Ich sehe nur zu sehr nun ein, daß sie Recht hat zu sagen: was kann aus der Lüge Gutes hervorgehen?“ meinte die unglückliche Frau. „Ich habe dadurch die Tochter verloren und kann sie nicht wieder an mich ziehen, wenn nicht ihr Herz selbst sie wieder zu mir zurückführt.“

So hatte denn Heine damals um so bereitwilliger seine Zustimmung zu der Verbindung mit Reinhard gegeben, den er sehr bald schätzen gelernt. Stiefmutter und Tochter hatten sich nicht wieder gesehen. Es schnitt Heine in’s Herz, den nagenden Kummer seines Weibes zu sehen und dabei sich sagen zu müssen: Du warst der Stärkere, Du hättest hier nicht der Nachgebende sein sollen.

Auch jetzt lastete dieser innere Vorwurf auf ihm, als bei seinen Schilderungen von daheim die trauernde Gestalt Constanzens vor seine Seele trat; sie warf einen tiefen Schatten auf all’ das Glück, das er bei seinen Kindern vor Augen hatte.

„Käthe,“ sagte er da plötzlich, „Du kränkst Dich, daß Dein Bube nicht ‚Mama‘ ruft, und er kann es doch noch nicht, Du denkst aber nicht daran, wie sehr sich Eine grämt, daß Du, die es könnte, nicht ‚Mutter‘ zu ihr sagen magst, und sie liebt Dich doch nicht weniger, wie Du Deinen Buben.“

Sie sah mit feuchtem Blicke auf, als er so zu ihr sprach; denn alles, was an das Band rührte, welches ihr Kind so innig mit ihr verknüpfte, bewegte sie auf’s Tiefste. Ein Widerhall des Vorwurfs, den der Vater aussprach, wollte sich in ihr regen aber er ward übertäubt von einem ungestümen Verlangen, das sie plötzlich nach dem Kinde erfaßte. Ihre Augen wendeten sich nach dem Garten und suchten nach dem Lieblinge, von dem sie sich vorhin so widerstrebend getrennt hatte. Da aber erschrak sie; denn, das Gesicht ihr zugekehrt, kniete die Wärterin an dem Bassin und hielt den Kleinen vor sich, dem sie die Goldfischchen zu zeigen schien. Es mochte ihn das sehr belustigen, man hörte sein fröhliches Kinderstimmchen laut erschallen und seine Händchen suchten darnach hinab zu langen. Das Mutterherz aber erfüllte der Anblick mit heißer Angst.

Schnell trat sie in die offen stehende Thür.

„Gehen Sie mit dem Kinde von dem Wasser fort!“ rief sie dem Mädchen zu.

Bei dem Schall ihrer Stimme horchte der Knabe auf und sah in die Höhe; da erblickte er die Mutter, wie sie dort in dem Rahmen der Thür stand. Er hob die Aermchen verlangend nach ihr auf und heftig vorwärts strebend, als wolle er zu ihr, fand er plötzlich das so oft von ihr begehrte Wort und rief es laut und jubelnd: „Mama!“

Das war der erste entzückende Ruf, nach welchem Käthe’s Herz so lange schon sehnsüchtig gelauscht und der sie nun vor Freude erbeben machte – dann aber mit der Schnelle des Blitzes ein Schrei, ein Fall – und der Knabe war in das Wasser hinabgestürzt.

War es, daß seine Bewegung, wie er jäh und plötzlich vorwärts strebte, zu ungestüm gewesen und daß er sich dadurch aus den Händen der Wärterin riß – war diese durch den Anruf erschreckt und hielt ihn in Folge dessen nicht fest genug – wie dem auch sei, das Kind war ihren Händen entglitten.

Die arme Mutter vermochte keinen Schrei über ihre Lippen zu bringen. Sie flog an die Unglücksstätte, wo die bestürzte Dienerin vergeblich sich mühte. das Kind wieder zu erlangen. Sie warf sich neben dem Mädchen nieder, tauchte die Arme hinab, bis sie das Kleidchen erfaßte und das Kind wieder zu sich emporzuziehen vermochte. Doch so schnell das geschah, der Knabe war starr – die Augen geschlossen, lag er leblos in der Mutter Armen.

Sie drückte ihn krampfhaft an sich, als müßte sie ihn an ihrem Herzen wieder zum Leben erwärmen. Es war ja nicht anders möglich, diese Augen mußten sich doch wieder öffnen und die Mutter ansehen; dieser kleine Mund, der sie noch eben gerufen hatte, konnte doch nicht für immer verstummt sein. Aber umsonst, was sie auch thaten, alle Belebungsversuche, welche sie mit Hülfe des sofort herbeigeholten Arztes anwendeten – umsonst, umsonst – das Kind war todt.

Es war ein gräßlicher Wechsel, ein furchtbar unvermittelter Schritt vom süßesten Glück zu ungeheuerstem Jammer. Und dennoch – während Reinhard und Heine schluchzend auf den bleichen Liebling niedersahen, hielt ihn Katharina fest umschlungen, ohne daß eine Thräne ihre blasse Wange netzte. Sie jammerte nicht, sie klagte nicht – es war eine Erstarrung in ihrem Schmerz, als habe die Hand des Todes sich auch auf sie gelegt und alles Blut und alle Thränen seien darunter zu Eis geworden.

Sie wich nicht von dem Kinde; als müsse sie die Augenblicke nutzen, in denen sie es noch besitzen konnte, hielt sie bei ihm Wache, thränenlos, wortlos, eine Niobe im unendlichen Schmerze. Nur [120] einmal, als der Vater sie zu trösten versuchen wollte, hob sie die heißen, verzweiflungsvollen Augen zu ihm auf und sagte:

„Laß, Vater! Du siehst, Gott ist gerecht!“

Er blickte sie erschrocken fragend an:

„Wie meinst Du das, Käthe?“

Sie aber war wieder in ihren stummem unnahbaren Schmerz versunken, Keinem einen Einblick in ihre Seele gewährend, aber auch bei Keinem eine Linderung ihres Leides suchend.

Endlich mußte sie aber doch die kleine Leiche von sich geben, um sie in ihr letztes Ruhebett zu legen und sie hinaus in den Schooß der Erde tragen zu lassen. Sie riß sich in Verzweiflung los, aber mit demselben furchtbar stummen, thränenlosen Schmerz wie bisher.

„Vielleicht wird nun um der Erschlaffung ihrer Kräfte ein erlösender Ausbruch ihres Schmerzes eintreten,“ sagte Reinhard in großer Besorgniß zu dem Vater, als sie von dem schweren Gange heimgekehrt waren. „Sie will Keines Zuspruch, auch den meinigen nicht; es ist, als ob der Schmerz sie uns fern gerückt hätte. Und doch, eine so mittheilsame Natur, wie Käthe ist, kann auch den Schmerz auf die Länge nicht allein tragen, oder sie geht daran zu Grunde.“

Da trat sie zu ihnen in’s Zimmer – reisefertig.

„Max, ich muß mit dem Vater nach Schönhaide reisen,“ sagte sie zu ihrem Manne mit tonlos müder Stimme.

Erschöpfung lag auf ihren bleichen Zügen und doch eine eigenthümliche unruhige Erregung; es glühte in diesen großen, thränenlosen Augen wie verhaltenes Sehnen ünd Verlangen.

„Jetzt, liebe Käthe? Gönne Dir Ruhe!“

„Nein, Max – ich fühle, was mir Noth thut.“

Sie ging mit dem Vater in die Heimath.

Hier war noch Alles wie sonst. In Breitenstein stand wieder der Jagdwagen, mit welchem der alte Christian seinen Herrn erwartete, und während der Diener den kleinen Sitz hinter ihnen einnahm, saß sie wieder neben dem Vater, der die Pferde lenkte, gerade so wie damals, als sie von ihrem ersten Ausflug in’s Elternhaus heimkehrte. Aber daran dachte sie nicht – sie dachte und fühlte nur das eine brennende Verlangen nach dem Herzen, das sie so lange geflohen, gekränkt, das um sie gelitten, wie sie jetzt um ihren Knaben litt, das ihr aber doch verzeihen werde wie kein anderes Herz und das auch wie kein anderes das Leid verstehen müsse, welches sie erfüllte.

In der Nacht ihres Jammers hatte sich ihr die Ueberzeugung aufgedrängt, daß die ewige Gerechtigkeit ihr das Mutterglück genommen, weil sie sich am Mutterglück versündigt.

„Mutter!“

Das Wort hatte einen so heiligen Klang. Sie hatte es begraben gehabt bei der todten Mutter unter der Erde; jetzt hatte es ihr Knabe sterbend wieder in ihr wach gerufen – mit dem nur einmal gehörten süßen Wort „Mama!“ war es erstanden in seiner alles beschwörenden Hoheit und Fülle der Liebe und trieb sie in unwiderstehlicher Sehnsucht zu der Mutter hin. Sie fragte nicht mehr: ist es die, welcher ich das Leben verdanke, oder die, welche mich in das Leben geleitet? – sie war ihr die Mutter, die, welche sie immer geliebt und verstanden, so lange sie zu denken vermochte – sie mußte zur Mutter.

Als sie die letzte Anhöhe kurz vor Schönhaide herabfuhren, löste sich plötzlich die Schraube an dem einen Rade und zwang sie zu einem Aufenthalt in ihrer Fahrt.

„Laß mich die kurze Strecke gehen, Vater!“ Sie ging.

Der Frühlingsabend dämmerte bereits, und ein feiner nebliger Schleier, als ob es bald zu regnen beginnen wolle, lag uber den Wiesen und über dem Gutshofe. Des Tages reges Treiben und Arbeiten war beendet und tiefe Ruhe schon eingetreten, als ihr Fuß die alte Stätte wieder betrat. Ihr Herz klopfte nicht in Erregung, nein, es wurde seltsam still darin, als ob sie in die Kirche trete, aber sie beschleunigte ihre Schritte immer mehr; denn sie hatte das Gefühl, als könnten die Füße sie nicht mehr lange tragen, und sie müsse eilen, das Ziel der Ruhe noch zu erreichen.

Wie ein dunkler Schatten glitt die schwarze Gestalt über den Hof; der Wachhund bellte ungestüm und freudig auf, als erkenne er sie wieder, und zerrte an der Kette; die feiernden Mägde, welche noch vor den Thüren saßen, starrten sie erschrocken und verwundert an, sie aber sah nach Keinem.

Und da stand sie in dem altbekannten Zimmer, wo sie als Kind gespielt – da stand sie an der Thür, und dort am Fenster lehnte Constanze, traurig in die Dämmerung hinaussehend.

„Sie trauert auch um ihr Kind,“ dachte Käthe, und es schnitt ihr in die Seele. Es war ihr, als fühlte sie wieder, wie ihr Knabe von ihrem Herzen losgerissen würde.

„Mutter!“ drang es da schluchzend von ihren Lippen. „Hier bin ich, Dein Kind. O meine Mutter, laß mich an Deinem Herzen mein Leid ausweinen!“

Und in Constanzens Arme sinkend, fühlte Käthe ihre Wangen von unaufhaltsamen Thränen überströmt, als ob sie, heimwehkrank, endlich in die rechte Heimath sich wieder gefunden und nun aus jeder Falte ihrer Seele sich löse, was an tiefem Weh darin zurückgedrängt worden war. Als dann Beider Thränen in einander flossen, löschten sie alles aus, was die beiden Frauen geschieden; sie fühlten nun, wie unzertrennlich die Bande seien, welche Mutter und Kind umschlingen.




Blätter und Blüthen.

„Johann Ludwig Runeberg.“ Von Eugen Peschier (Stuttgart, Metzler). Die Dichter des Nordens haben in Deutschland nur eine verschwindend kleine Gemeinde; denn außer dem schwedischen Frithjofsänger Esaias Tegnér und dem dänischen Märchendichter Andersen hat kaum ein Sänger der skandinavischen Lande bei uns festen Fuß gefaßt. Und doch ist die Literaturgeschichte des Nordens reich an tiefen und großen Dichtertalenten. Um so freudiger muß jeder Versuch begrüßt werden, die Poeten der rauhen Zone Europas der deutschen Leserwelt vorzustellen und zu ihrem allgemeineren Verständnisse beizutragen. Unter den schwedisch-finnischen Dichtern ist derjenige, mit dem sich das oben bezeichnete Gedenkblatt beschäftigt, weitaus einer der bedeutendsten. Runeberg, der Sänger des „Königs Fjalar“, der „Erzählungen des Fähnrichs Stahl“, der „Könige von Salamis“ und vieler anderer bedeutender Dichtungen, wird nicht nur in seiner Heimath, Finnland, sondern auch in Schweden als gemeinsamer Nationaldichter vor Anderen gefeiert, und die Liebe, welche der vor einigen Jahren in Borgo, einer kleinen Stadt Finnlands, verschiedene Greis in beiden nordischen Ländern genießt, erklärt sich leicht; denn in einer Form, die in der nordischen Literatur, was Kraft und Schönheit betrifft, beispiellos ist, hat er das gemeinschaftliche Ringen und Kämpfen beider Volker, ihren Ruhm und ihr nationales Unglück in ergreifender Weise besungen und daneben tief hineingegriffen in die Seele seines Heimathsvolkes, da er dasselbe in seiner eigenthümlichen Denk- und Gefühlsweise, in seinen eigenartigen Sitten und Gewohnheiten mit greifbarer Anschaulichkeit geschildert – er hat es in einer wahrhaft tiefen und großen Weise gethan, indem er das Nationale stets mit dem Menschlichen zu erfüllen, das Specielle zum Allgemeinen zu erweitern wußte. So ist er nicht nur ein Dichter seiner nordischen Heimath, sondern auch ein Anwalt und Verkünder großer menschheitlicher Ideen geworden, ein Poet, an dessen Werken die gesammte gebildete Welt sich erfreuen sollte.

Eugen Peschier hat sich daher mit seiner ebenso gründlichen wie geistvollen Monographie, welche den edlen Runeberg uns Deutschen näher zu bringen sucht, den Dank Aller verdient, die heute noch ein offenes Herz für die Schönheit echter Poesie haben. Besonders beachtenswerth ist die anmuthig und elegant geschriebene Charakteristik auch noch deshalb, weil sie nicht nur Runeberg’s Schaffen und Wirken, sondern zugleich die politischen und literarischen Zustände Finnlands in entsprechender Weise schildert. (Vergl. auch die „Gartenlaube“ 1878 S. 435)


Kleiner Briefkasten.

E. K. in St. Petersburg. Von unserer mit Recht so gefeierten Erzählerin E. Werner werden wir voraussichtlich am Schluß des laufenden, spätestens aber im Beginn des nächsten Jahres einen längeren fesselnden Roman zum Abdruck bringen.

R. S. in E. Wenn Sie am 3. August geboren sind, so waren Sie ohne Zweifel der jüngste Soldat des deutschen Heeres in dem Kriege von 1870 und 1871. Wer aber war wohl der älteste?

L. L. in Reval. Unter der neuesten „Literatur für unsere Kinder" dürfen wir Ihnen unter Anderem zwei Erzeugnisse des Stroefer’schen Verlages in München warm empfehlen, in denen Vers und Bild sich auf das anmuthigste die Hand reichen: „Für Mutter und Kind, alte Reime mit neuen Bildern“ von Paul Thumann, und „Kinderhort in Bild und Wort“, componirt von J. Kleinmichel, mit Reimen von Helene Binder. Das eine wie das andere dieser Werke verbindet mit dem echt künstlerischen Geiste, der aus den Illustrationen spricht, viel Anmuth und gesunden Sinn in den begleitenden poetischen Texten.

Abonnent G. H. aus Coblenz. Napoleon der Erste und Bismarck!

E. C. E....l in Wien, L. Z. in Meerane, A. S. Ausland und W. S. in R. Ungeeignet! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!

W. M. in Schwerin. Wenden Sie sich gefälligst an die „Industrieblätter“ in Berlin (Verlag von Friedländer und Sohn)!


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Näheren Aufschluß über die Ausführung der obigen Figuren findet man in dem Lehrbuch des Wiener Eislaufvereins, welches unter dem Titel „Spuren auf dem Eise“ bei Alfred Hölder in Wien erschienen ist.
  2. Kepfler wird wohl der richtige Name und der deutsche Färber Kepfler, welcher 1643 nach England zog und dort die Färbekunst durchaus umgestaltete, ein Nachkomme des deutschen Erfinders gewesen sein. Nannte man doch noch hundert Jahre später in England die Scharlachfarbe Bowdge, weil Kepfler seine Färberei in einem Dorfe Bow bei London errichtet hatte und betrieb.
  3. Unter Colbert wurde bald in Frankreich jährlich für für 500,000 Livres Krapp oder Garance gezogen und verarbeitet. Eine ähnliche Bedeutung erhielt für Deutschland die Waidpflanze, der deutsche Indigo, die in früheren Jahrhunderten besonders in Thüringen stark angebaut wurde. Hießen doch die Städte Erfurt, Gotha, Langensalza, Tennstädt und Arnstadt die fünf Waidstätte. 1616 gab es mehr als dreihundert thüringische Dörfer, welche Waid bauten. Doch der wirkliche Indigo verdrängte den Waid, und im vorigen Jahrhundert wird nur noch das Dorf Friemar bei Gotha genannt, das sich mit seiner Pflanzung befaßte.
  4. Diese „Instruction générale“, 1669 und 1672 in Paris veröffentlicht, erhielt im vorigen Jahrhundert den Titel: „Le teinturier parfait, ou l’instruction nouvelle et générale“ und bildete lange Zeit sozusagen das Evangelium der Färber. Auch wurde sie von Johann Jacob Marperger in’s Deutsche übersetzt und herausgegeben.

Anmerkungen (Wikisource)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Potier