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Die Gartenlaube (1882)/Heft 38

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 38.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Gefunden – nicht gesucht.
Novelle von E. Laddey.


1.

„Der Wagen ist da, Mimi, Mimi!“ rief ein halbes Dutzend frischer Mädchenstimmen, und ebenso viele Köpfe steckten sich aus dem großen Corridorfenster des adeligen Fräuleinstiftes zu M., um nach jenem zu schauen.

„Endlich!“ jubelte es zurück.

„Ist Mademoiselle fertig?“

„Freilich, sie steigt schon die Treppe hinab.“

„Also Adieu, Ihr Lieben! Auf Wiedersehen in acht Wochen!“

„Ach, jetzt geht’s in die Berge, in die goldene Freiheit!“ und damit sprang die elastische Gestalt, die man Mimi gerufen hatte, in ein paar Sätzen die Treppe hinab, daß das enge schwarze Pensionskleidchen kaum für die großen Sprünge ausreichte und die langen, braunen Zöpfe über das schlichte Strohhütchen emporschlugen. Mademoiselle unten an der Treppe murmelte einen Verweis, aber das glückliche Kind umfaßte die Lehrerin in stürmischer Zärtlichkeit und rief:

„Heute nicht schelten, liebe Mademoiselle! Bin zu glücklich heute!“

Die armen, jungen Dinger, die keinen Menschen hatten, bei dem sie die Ferien verbringen konnten, grüßten noch halb freundlich, halb wehmüthig auf die Scheidende herab, die so keck ihr weißes Tüchlein zum letzten Gruße schwang, daß selbst der guten Französin die Geduld riß und sie energisch die kleine Hand der Ausgelassenen festhielt.

Noch einige herzliche Zurufe des Abschiedes herüber und hinüber, und eilig fuhr der Wagen mit Mimi und der Mademoiselle davon.

Bald darauf saß man glücklich im Nichtrauchercoupé, die Französin seufzte, daß sich die süddeutschen Züge nicht einmal den Luxus eines Damencoupés gestatteten; sie hatte das eine der Sophas in Beschlag genommen, eine dicke Dame, mit einem Kinde auf dem Schooße, das zweite, auf dem dritten breitete sich in großer Behaglichkeit Mimi aus, und so blieb einem Passagier, der noch zu guter Letzt einstieg, nichts anderes übrig, als auf dem letzten leeren Sopha, das heiß von der Sonne beschienen ward, Platz zu nehmen.

Er that es seufzend, denn die Hitze war übergroß.

Der Zug setzte sich in Bewegung; Mimi nahm ihren Hut ab, warf ihn oben in das Netz, lehnte sich behaglich in die Kissen und fand das Reisen sehr hübsch und bequem. Um so mehr that ihr der junge Mann leid, der da förmlich in der Sonne briet.

„Sie haben einen abscheulichen Platz,“ sagte Mimi gutmüthig, „die kleinen Vorhänge schützen gar nicht. Setzen Sie sich hierher! Wir haben Beide Raum –“ und dabei rückte sie freundlich bei Seite.

Mademoiselle warf einen verweisenden Blick auf die unvorsichtige Pflegebefohlene, aber die Harmlosigkeit derselben verstand diesen gar nicht, sondern fühlte sich sehr zufrieden, einem Mitreisenden einen Gefallen erwiesen zu haben.

„Gelt, jetzt haben Sie’s besser?“ fragte sie in ihrem baierischen Dialect.

„Viel besser,“ entgegnete der junge Mann und verbeugte sich lächelnd, wobei sein gebräuntes Gesicht mit den klaren, blauen Augen und dem jovialen Zuge um den mit keckem Schnurrbärtchen geschmückte Mund sehr hübsch aussah. „Das Reisen in solcher Gluth ist eine wahre Tortur.“

„Ah, das Reisen ist immer ein ungeheures Vergnügen!“

„Da sind Sie gewiß noch nicht viel gereist?“

„Nein, gar nicht viel, oder doch nur von einer Stadt zur andern. Jetzt aber gehe ich zum ersten Mal in die Berge und an die Seen und werde die ganzen Ferien über ausbleiben.“

„Die Ferien? Gnädiges Fräulein sind also noch im Institute?“

„Natürlich,“ nickte Mimi, „vor dem achtzehnten Jahre kann ich nicht heraus; bis dahin sind es noch fünfzehn Monate.“

„Eine lange Gefangenschaft!“

„Na, es geht. Wir haben es gar gut in unserm Pensionate und sind sehr vergnügt mit einander. Nicht wahr, Mademoiselle?“

Jene nickte.

„Mimi,“ sagte sie, „nicht so viel sprechen, Sie werden den Errn belästigen.“

„Belästigt es Sie, wenn ich plauderee“ fragte das kleine Ungeheuer von Offenheit den Nachbar.

„Gewiß nicht,“ gab dieser lächelnd zurück, „ich sehe es vielmehr für eine Gunst des Schicksals an, eine so liebenswürdige Reisegefährtin gefunden zu haben. Ich hörte gern etwas von Ihrem Institute; ich möchte wohl wissen, ob das Leben in einem solchen etwas dem in einem Cadettenhause gleicht, in welchem ich meine Knabenzeit zugebracht habe.“

„Sie sind also Officier? Das hab’ ich im selben Augenblick gedacht, als Sie in den Wagen stiegen. Ihr Haar ist so geschnitten, auch der Schnurrbart ganz so gedreht.“

„Mimi!!“ mußte Mademoiselle einwerfen.

„Aber mein Himmel, es ist doch keine Sünde, das zu sagen. Bin ich doch selbst ein Soldatenkind, muß mich daher auf soldatische Physiognomien verstehen.“

„Der Herr Papa sind also Camerad von mir?“

[618] „War es,“ entgegnete das junge Mädchen nun mit einem Male traurig. „Er kränkelte seit dem Krieg und starb dann sehr bald. Seitdem hasse ich den Krieg und alle Soldaten.“

„Aber das ist nicht patriotisch. Die Tochter eines Vaterlandsvertheidigers sollte so nicht sprechen.“

„Ich weiß es wohl, aber ich kann mich nicht zu der Höhe solcher Auffassung aufschwingen. Ich bin ja keine Spartanerin oder Römerin, ich werde es nie begreifen lernen, daß der liebe Gott die Menschen geschaffen haben soll – damit sie sich einander todtschießen. – Ach, mein Herr, Sie wissen nicht, wie schrecklich der Krieg ist, mir nahm er Vater und Mutter, denn Mama starb über den Gram um Papas Verlust. – Nun haben Sie gewiß nimmer das Herz, von mir zu verlangen, daß ich für einen so gefährlichen Beruf schwärme?!“

„Mindestens aber, daß Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen und seinen hohen Standpunkt anerkennen. – Aber ein so ernstes Gespräch paßt nicht für eine kurze Unterhaltung im Eisenbahnwagen. Mit der Zeit werden Sie schon von selbst den Werth unseres Berufes schätzen lernen.“

„Nein, ich weiß gewiß, daß ich den Krieg immer für eine große Sünde halten werde und eher in’s Wasser springen, als eine Soldatenfrau werden würde.“

Das kleine Köpfchen nickte so energisch, die braunen Augen blickten den Nachbar so fest an, und die Worte gingen so bestimmt über die rothen Lippen, daß der Fremde bei sich selber sagte:

„Sie ist doch ein echtes Soldatenkind, die frische, muthige Kleine; sie weiß, was sie will.“

Ein Weilchen stand das Plappermäulchen still.

„Die Berge, o die himmelhohen Berge!“ rief es dann.

Ja, da tauchten sie auf, noch nebelhaft, wie mit duftigen Schleiern überzogen. Der Fremde kannte die Namen jeder Bergspitze, jedes Grates des immer deutlicher hervortretenden Höhenzuges, und Mimi hörte aus seine Erklärungen mit strahlenden Augen und grüßte mit jubelnder Erwartung die winkende Ferne.

Dann wieder deckte dunkler Wald das vielversprechende Bild; die Bahn umzog nun einen der vielen kleinen Seen, die dem baierischen Hochlande so viel Frische und Abwechselung verleihen, darnach schlängelte sie sich ein gutes Stück durch den Forst dahin.

Zu sehen gab es jetzt nichts, die kleine Unruhige suchte sich andern Zeitvertreib, sie begann mit dem ganzen Appetit der sechszehn Jahre Bonbons zu naschen, die sie in mehreren Düten aus der Tasche zog. Sie präsentirte sie zuerst ihrer Lehrerin, dann der dritten Dame mit dem Kinde und zuletzt auch dem Nachbar. Ungenirt griff dieser zu und wollte nun auch die Spender dieser Gaben kennen lernen.

„Meine Freundinnen,“ entgegnete Mimi stolz. „Wir halten in der Pension treue Freundschaft und sind nicht halb so schlimm, wie es in Erzählungen, die in Instituten spielen, geschildert wird. Wir sind sehr lieb mit einander – nicht wahr, Mademoiselle?“

Die arme gefolterte Französin, die in jedem Augenblicke über die Ungenirtheit ihrer Pflegebefohlenen erröthete und doch kein Mittel wußte, das harmlose Kind vor den Augen des jungen Mannes zu hüten, lächelte eine unbestimmte Antwort, der Fremde aber sagte:

„Wenn es erlaubt ist, von Ihnen, kleines gnädiges Fräulein, auf die Andern zu schließen, so verdienen Alle Nummer Eins!“

„O, wenn Sie ein Lehrer wären, dann würden Sie nicht so liebenswürdig urtheilen, auch nicht mit mir lachen und scherzen, sondern so aussehen.“

Dabei zog Mimi ihr Gesicht in grämliche Falten und hob den Finger warnend gegen den Nachbar empor.

Jetzt riß denn endlich der letzte Geduldsfaden der guten Mademoiselle.

Mimi, vous êtes une –

„Ich bin eine –?“ ja, was Mimi eigentlich war, erfuhr sie nicht mehr, denn der Conducteur rief:

„Prein!“

Erschrocken sprang das junge Mädchen empor, Hut und Tasche herunternehmend; denn das war ja schon die ersehnte Station, auf welcher sie ihre Verwandten finden sollte. Auch der junge Mann erhob sich.

„Steigen Sie hier auch aus?“ fragte Mimi verwundert.

„Ja, ich will hinüber nach der Fraueninsel des Chiemsees.“

„Nein, wie reizend! Dahin gehen wir ja auch.“

„Nun, so werde ich die Ehre haben, meine liebenswürdige Reisegefährtin bald wiederzusehen.“

Eine höfliche Verbeugung, und er war verschwunden.

„Ich sehe weder Tante Waldenburg noch die Schwestern,“ klagte Mimi.

„Madame la Baronne seien in der Hôtel,“ entgegnete die Französin gemessen, nahm das junge Mädchen an die Hand, als wäre es ein kleines Kind, und schritt mit ihr über die Landstraße dem Wirthshause zu.


2.

Die Baronin Waldenburg mit ihren beiden Nichten, den Töchtern ihrer verstorbenen Schwester Ranken, kam der kleinen Ferienreisenden bis zum Eingange des Wirthshausgärtchens entgegen. Das glückliche Kind warf sich der stattlichen, schön geschmückten Dame stürmisch um den Hals und umarmte auch die Schwestern so heftig, daß die duftigen Sommertoiletten derselben in bedenkliche Gefahr geriethen.

Wer mochte es Mimi verdenken, daß sie selig war, die Ihren endlich wieder zu haben. Waren es nun doch schon sieben Jahre, daß sie unter Fremden lebte, unter Fremden, denen ihr leichtlebiges Naturell sich zwar schnell angepaßt hatte, die sie aber doch das Vaterhaus nicht vergessen machen konnten!

Als den drei Schwestern die Eltern in dem kurzen Zeitraum einiger Monate entrissen worden waren, da hatte man mit der kleinen Mimi nichts anderes zu thun gewußt, als sie auf Jahre hinaus in ein Fräuleinstift zu stecken, dessen Vergünstigungen ihr als der Waise eines Officiers überdies zugute kamen. Der älteren Schwestern nahm sich von vornherein die Tante mütterlicherseits, die Baronin Waldenburg, an, die, selbst kinderlos, neues Interesse und neuen Anhalt am Leben gewann durch die Einführung der jungen Nichten in die große Welt.

Die gute Versorgung der Pflegebefohlenen, das heißt, ihre glänzende Verheirathung, ward fortan die Lebensaufgabe der Baronin, und keine Mühe und keine Kosten wurden gescheut, die jungen Damen so vortheilhaft wie möglich zu präsentiren. So pflegte der Winter mit Bällen und Festlichkeiten in der Residenz hinzugehen, der Sommer aber wurde regelmäßig zu Ausflügen nach der Schweiz oder den italienischen Seen benutzt, denn der Aufenthalt in schöner fashionabler Gegend sollte den Nichten zugleich die Vortheile bieten, welche die Uebung in einer fremden Sprache gewährt; war es doch der Baronin Stolz und Freude, Bertha und Elfriede zu viel bewunderten Sternen der Gesellschaft zu erziehen.

Dieser Wunsch ging denn auch glänzend in Erfüllung; an Bewunderern hatte es den hübschen, eleganten jungen Damen noch nie gefehlt, wohl aber an wirklichen Bewerbern, denn es gab manchen guten Rechenmeister in der Gesellschaft, der sich ganz klar machte, daß der Luxus der Damen zum größten Theile aus der brillanten Rente bestritten wurde, welche die Baronin bezog, daß es demnach ein schlechtes Resultat liefern müßte, eine so verwöhnte Frau mit geringer Mitgift heimzuführen.

So zählte Bertha bereits zweiundzwanzig, Elfriede noch ein Jahr mehr, mancher Winter war vertanzt und noch sah die arme Tante ihren Wuusch nicht gekrönt, noch hatte keine der Nichten Aussicht, den ersehnten Namen „Braut“ zu tragen.

Aber eine Frau, die in sich den Beruf fühlt Heirathsstifterin zu sein, giebt ihr Spiel nicht so bald verloren, und so hatte denn auch die Baronin nach verschiedenen im Sande verlaufenen Plänen bereits wieder einen neuen, wie es ihr schien, leicht zu realisirenden Plan gefaßt, der hier in den Bergen mit Zustimmung einer Schwägerin gegen den einzigen Sohn derselben in Scene gesetzt werden sollte.

Eine gemeinschaftliche Reise in’s Gebirge war verabredet, auf der Fraueninsel sollte das Rendezvous stattfinden, das – die Baronin zweifelte nicht daran – die Anbahnung zu der Verlobung einer der Nichten geben würde. Die besorgte Frau war dieses Mal in der Wahl des Heirathscandidaten recht vorsichtig gewesen; Felix war der einzige Sohn aus sehr reichem Hause, der Vater todt, das Majorat also ihm zugehörig; außerdem versprach der junge Mann ein ausgezeichneter Gatte zu werden, da er seiner Mutter ein solcher Sohn gewesen war, und Tante Waldenburg lebte sich förmlich enthustastisch in den Gedanken ein, den jungen Goldfisch an der Seite einer ihrer Pflegebefohlenen – ganz im Stillen meinte sie Elfrieden – zu sehen.

Mimi aber hatte ihre Freiheitswochen nur der Ansicht der [619] Tante zu danken, daß ein Umgang der jungen Mädchen mit Felix sich freier und ungenirter gestalten könne, wenn das „Kind“ ihn vermittelte.

Nun war Mimi glückselig angekommen und ward nicht müde, ihre schönen Schwestern, die sie immer nur vorübergehend gesehen hatte, zu bewundern; sie wußte nicht, ob sie die zarte Elfriede oder die lebensvolle pikante Bertha schöner finden sollte.

„Armes kleines Ding,“ sägte Elfriede, nachdem der erste Sturm der Begrüßung etwas reservirt zurückgeschlagen worden war und die Ankommenden sich mit Kaffee erfrischt hatten, „wie schaust Du jämmerlich in der abscheulichen Pensionskleidung aus! Wir haben frische schöne Sommerkleidchen mit – da kann sich der bunte Schmetterling aus der Raupe entpuppen.“

„Ich finde es unrecht, daß man Mimi ihres zweckmäßigen Anzugs entkleiden will,“ meinte Bertha, „er ist bequem und kennzeichnet ihr kindliches Alter. In Modekleidern wird sie wie eine junge Dame aussehen, und wir werden das Vergnügen haben, als die drei Grazien aufzuziehen.“

Mimi lachte laut.

„Beruhige Dich, Berthel! Mich hält kein Mensch für eine Dame, auch wenn Ihr mir seidene Schleppen anziehen wolltet. Auch verlange ich vorläufig gar nicht darnach.“

„Wenn Du auch noch Kind bleiben darfst, Mimi, so ist es Dir doch nicht gestattet, Dich wie eine Wilde zu benehmen,“ mischte sich die Baronin, die bis dahin leise mit Mademoiselle gesprochen und von dieser die ganze Ungeheuerlichkeit des Benehmens der weltunkundigen Nichte erfahren hatte, in’s Gespräch. „Wie ist es nur möglich, daß ein Mädchen von Deiner Erziehung sich so ohne Weiteres mit einem wildfremden Herrn in ein intimes Gespräch einlassen kann ja – es ist kaum zu glauben – ihn nöthigen mag, sich neben sie zu setzen!“

„Aber mein Himmel, die Sonne schien so entsetzlich, und man hat mich immer gelehrt, aufmerksam und gefällig zu sein. Gelten denn die Regeln, die man uns in der Pension giebt, nicht auch für das Leben?“

„Aber mon Dieu,’“ rief die Tante entsetzt, „weißt Du denn nicht, daß man Herren, noch dazu jungen Herren, nie entgegen kommen darf, daß ein junges Mädchen ihnen gegenüber nicht reservirt und kühl genug sein kann?“

„Nein, Tante Waldenburg, das weiß ich nicht. In der Pension sah ich ja keine andern Herren als unsre Lehrer, und die glauben sich doch contractlich berechtigt, Liebenswürdigkeit zu ernten. Aber meinetwegen mögen künftig sämmtliche Herren der Schöpfung in der Sonne braten; ich erlöse sie nicht mehr.“

„Kind, ich fange an zu fürchten, daß ich noch viel an Dir zu erziehen haben werde, Deine burschikose Art befremdet mich.“

Mademoiselle beeilte sich zu versichern, daß Mimi’s Ausdrucksweise nur der Ausfluß ihrer übermüthigen Natur, keinesfalls das Resultat einer Erziehung sei, die sorgsam bedacht sei, alle wilden Schößlinge der jungen Stämmchen zu entfernen.

In diesem Augenblicke fuhr der Omnibus, der die Besucher des Chiemsees von der Bahn zum Ufer desselben führt, an dem Gärtchen vorüber, in dem die Damen saßen; ein junger Herr lüftete im Vorbeifähren den Strohhut und grüßte Mimi freundlich.

„Das ist mein Erlöster,“ erklärte sie den Schwestern.

„Felix!“ rief zu gleicher Zeit die Baronin. „Ja wahrhaftig, das ist Felix. Ich hätte ihn kaum erkannt – so sehr haben die Jahre ihn zum Manne gereift. Wir erwarteten ihn erst morgen – welche Ueberraschung! Nun Gottlob, daß Du mit Deiner Unvorsichtigkeit an einen Verwandten gekommen bist, Mimi!“

Die Entdeckung, daß der interessante Vetter und der Reisegefährte Mimi’s ein und dieselbe Person waren, machte die kleine Schwester mit einem Male zum Mittelpunkte des Kreises. Elfriede und Bertha konnten nun nicht müde werden, nach seinem Aussehen, seinem Benehmen, seinen Worten zu fragen, und sprachen auch auf dem Wege zum Dampfschiff, den man einschlug, sobald die Französin mit dem nächsten Zuge nach M. zurückgekehrt war, von nichts anderem als von ihm. Mimi aber dachte: „die Tante hat gesagt, junge Mädchen müßten jungen Herren gegenüber kühl und reservirt sein, aber wenn sie von ihnen sprechen, scheint man ihnen zu erlauben, sich sehr warm nach ihnen zu erkundigen; denn die Tante unterbricht der Schwestern Fragen nie. Ich werde mir das merken.“


3.

Vor dem malerisch gelegenen „Gasthause“ der Insel Frauenwörth im hellgrünen Chiemsee fand sich die zukünftige Reisegesellschaft, Baronin Waldenburg mit Nichten und dem Neffen, zusammen. Schnell hatte die weltgewandte Frau den alten Ton der Verwandtschaft diesem gegenüber wiedergefunden, und bei den jungen Damen schmeichelte sich die gewinnende, stattliche Erscheinung des Jünglings im ersten Augenblicke ein. Wie alte Freunde saß man auf der kleinen, zauberhaften Insel bei einander; angenehm kühlend wehte ein Lüftchen durch die dichten Zweige der alten Bäume, welche die wenigen Sitze vor dem Hause beschirmen; die scheidende Sonne übergoß die schimmernde Fluth mit goldenem Schein, und tausend blitzende Fünkchen tanzten auf und nieder auf den krystallenen Wellen.

Unsere Reisenden aber schienen sich wenig um die anmuthige Schönheit des Ortes zu kümmern, nach ein paar Ausrufen hergebrachten Entzückens vertiefte man sich in eine sehr belebte Conversation, in welcher Familienverhältnisse, Hof- und Stadtgeschichten, Bälle, Theater und Concerte bunt durch einander gewürfelt wurden.

Nur Mimi saß in stummem Entzücken da, die Schönheit des harmonischen Bildes, voll und ganz in sich aufnehmend.

„Ah, sieh da, meine kleine freundliche Reisegefährtin!“ hatte Felix sie beim Wiedersehen begrüßt und ihr, wie einer alten Bekannten, herzhaft die Hand gegeben.

„Ja, Sie dürfen wohl recht freundlich mit mir sein, Vetter,“ hatte das Mädchen zum Entsetzen der Tante geantwortet; „habe ich doch Ihretwegen den ersten Zank bekommen.“

Die Baronin hatte sich über die Verlegenheit, welche diese neue Naivetät Mimi’s ihr bereitete, zwar schnell mit einem Scherze fortgeholfen, nichtsdestoweniger aber wurde der kleinen Unbequemen zu verstehen gegeben, daß sie sich fortan schweigsam zu verhalten habe.

Da saß nun das ungeduldige Kind und scharrte unruhig mit den Füßen – war es doch in die Welt gereist, um viel zu sehen und zu erleben, und saß nun da festgebannt und mußte Gespräche anhören, die es ganz und gar nicht interessirten.

Endlich hielt die kleine Ungeduld es nicht länger aus.

„Tante,“ rief sie, „dort sehe ich schöne Sternblumen – darf ich sie pflücken?“

„Aber so allein –“

„Wir sind ja auf dem Lande,“ bat Elfriede, welche die kleine Vorlaute los sein wollte.

„Und Mimi ist ja ein Kind,“ betonte Bertha.

„Nun, so geh!“ gewährte die Baronin, „aber entferne Dich nicht zu weit von uns!“

„Das wäre ein Kunststück, gnädigste Tante,“ entgegnete der junge Mann lächelnd, „das kleine Eiland ist in einer Viertelstunde ganz umschritten.“

Wie der Wind war Mimi auf und davon; Entdeckungsreisen wollte sie machen. Nun, und wer nur einmal die kleine, eigenartige Insel besucht hat, der weiß, daß sie ein kleines Zauberreich ist, wo sich auf Schritt und Tritt ein anziehendes Bild, in jedem Winkelchen Neues und Originelles findet.

Rechts, vom Gasthause aus, hatte Mimi das kleine Eiland durchstreift und sich einen großen „Buschen“ schön duftenden Klees von dem einzigen Felde der Insel gepflückt. Von weitem spähte sie nach ihren Angehörigen; noch saßen sie in voriger Weise und hatten es eifrig mit der Unterhaltung. Die Sonne färbte scheidend die Gipfel der Berge immer schöner – Mimi sah es – sie begann ihre Wanderung nach der anderen Seite des Eilandes. Da war es zuerst das Kloster, das sie interessirte, denn es war eine Erziehungsanstalt darin; dann die alte Kirche und der kleine, melancholische und doch so poetisch daliegende Friedhof gefielen Mimi ungemein; die blumenduftenden Gräber mit den schlichten Kreuzen gaben ein so ernst schönes Bild in dem blitzenden Rahmen des Sees. Sie las die Inschriften der Gedenktafeln: Arm und Reich, Alt und Jung lag hier bei einander.

Ein Kreuzlein auf einem ganz frischen Grabe trug den Namen einer Sechszehnjährigen, die hier in der Klosterpension gestorben war. Mimi jammerte das Loos der Frühdahingeschiedenen; fortzugehen aus einem Leben, das man noch gar nicht kannte – o das mußte hart sein. Und von dem anstoßenden Raine pflückte sie einen Strauß rother Mohne, weißer Mariensterne und blauer Komblumen und schmückte die Grabstätte des fern von den Eltern gestorbenen Kindes.

[620] Es war eine Art collegialischer Handlung, und als sie endlich zu den Ihren zurückkehrte, war sie durch dieses kleine Ereigniß ganz ernst geworden, und die Tante hatte nicht mehr nöthig, ihren Uebermuth zu zügeln.

Wenn die Sonne hinter den Bergen versunken ist und die Nebel des Abends sich mächtig zur Erde senken, wird es auf dem kleinen Eiland gar kühl, und so trennten sich denn die Reisegefährten bald, um sich zur Ruhe zu begeben. Mimi ihrerseits war sehr mit dem frühen Aufbruch zufrieden; einmal war sie das frühe Schlafengehen ja gewöhnt, und dann hatten die vielen Eindrücke dieses Tages, die sie mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres Temperamentes in sich ausgenommen hatte, sie müde gemacht.

So war es ihr denn ga nicht recht, daß ihre Zimmergenossin, Schwester Bertha, noch so viel Lust zum Plaudern zeigte. Diese setzte sich herablassend auf das Bett der kleinen Schwester und begann sie förmlich zur Vertrauten zu machen, indem sie ihr erzählte, daß Tante Waldenburg den Plan zu haben scheine, den schönen jungen Vetter für Elfrieden zu gewinnen, daß sie, Bertha, aber schon jetzt überzeugt sei, daß der Schwester übergroße Reizbarkeit durchaus nicht für das frische, lebensvolle Naturell des Jünglings tauge, daß für ihn im Gegentheil eine Frau nöthig sei, die frisch und lustig, pikant und talentvoll sei, und daß Mimi sich ein großes Verdienst erwerben könne, wenn sie dem Vetter die Vorzüge der zweiten Schwester in’s rechte Licht setzen würde.

„Du bist ein Kind,“ meinte Bertha, „aus Deinem Munde klingt ein Lob so viel harmloser, als aus dem der erwachsenen Leute. Dein Schade sollte es nicht sein, wenn ich Waldenburg heirathe. Du bekämst dann eine Heimath, die weit angenehmer wäre, als wenn Elfriede sie Dir böte; denn sie ist launisch und wird ihrer Umgebung bald zur Last. – Aber gescheidt mußt Du es machen, Kleine, kein Wörtchen direct von mir sprechen, sondern nur so ganz obenhin, so wie zufällig, wenn die Gelegenheit es giebt. – Vor allen Dingen suche zu erfahren, ob die Tante sich nicht täuscht, ob Waldenburg überhaupt noch frei ist und auch wirklich die Absicht hat, sich zu vermählen! Das Weitere besprechen wir alsdann. Nun gute Nacht, mein Täubchen! Du hast mich verstanden, nicht wahr?“ –

Wie aber wäre Bertha erschrocken, wenn sie geahnt hätte, welchen Ideengang ihr Vertrauen in dem „Kinde“ erweckt hatte!

Belehrte doch bereits der erste Blick in die Welt Mimi, daß diese himmelweit verschieden von der Welt war, die sie aus Büchern kannte. Wie oft hatte sie von den Kämpfen gelesen, die liebende Ritter mit Riesen, Ungeheuern und Schrecknissen aller Art zu bestehen haben, um die Geliebte ihres Herzens zu erobern; wie gern hatte sie von den Troubadouren und Minnesängern gehört, die nur der holden „Herrin“ zu Liebe Sangesruhm und Ehre erwerben wollten und dann als höchsten Lohn einen Kranz aus schöner Hand erstrebten! Und wenn dann Mimi aus dieser Welt der Poesie einen Ausblick gewagt hatte in’s wirkliche Leben, da waren ihr die jungen Mädchen noch immer wie jene Heldinnen erschienen, die scheu und sittig von fern standen, dem Kampfe, der um sie gekämpft wird, klopfenden Herzens zuschauend und sich dem Sieger mit holder Demuth und sittlicher Verschämtheit entgegenneigend. Wie aber sahen diese schönen, glänzenden Bilder in der Nähe aus? Die Nüchternheit des hellen Tageslichtes löschte sie aus. Bertha’s voreiliges Vertrauen hatte grelle Schlaglichter in die Wirklichkeit geworfen. Es gab keine Ritter mehr, die für die Farbe ihrer Dame in Noth und Tod zogen; es gab nur noch moderne, heirathslustige Mädchen, die selbst die Initiative ergriffen, um – eine gute Partie machen zu können. – „Eine gute Partie,“ diese Worte hatte Bertha mehrmals ausgesprochen. Und es schickte sich, daß ein Mädchen ohne Erröthen davon spricht, einen Mann zu erobern, der vielleicht noch mit keinem Gedanken seiner gedacht hat? Und das war weiblich? Während man sie, die Unerfahrene, ausgescholten hatte einer Freundlichkeit halber, bei der sie sich doch gar nichts gedacht hatte?

Mimi’s Gedanken wirbelten durch einander.

„Ach Gott, wie ist die Welt doch so anders, als ich dachte! Wie schwer ist es, sich in sie zu finden und es Allen recht zu machen! Ich fürchte, ich fürchte, dazu werde ich überhaupt das Talent nicht haben.“

Mit diesem Erkenntnißseufzer auf den Lippen beschloß Mimi ihren ersten Freiheitstag.


4.

Gewohnt, sich früh zu erheben, verließ Mimi ihr Lagern als die Andern, noch im tiefsten Schlummer lagen. Jetzt erst musterte sie die Garderobe, welche die gütige Tante für sie mitgebracht hatte; es waren zierliche, helle Kleider, die jedem jungen Geschöpfchen Vergnügen machen mußten. Mimi wählte den bequemsten Anzug für die frühe Morgenstunde aus und fand dann selbst, daß sie in dem rosenrothen Blousenkleide von elsässischem Kattun, mit dem hübsch verzierten Ledergürtel doch ein gut Theil hübscher aussah, als in dem altväterischen Pensionskleide. Sie nahm den großen Strohhut und huschte hinaus in den thaufrischen Morgen. Als die jugendliche Gestalt nun pfeilschnell durch die schmalen Graswege zum blitzenden See hinuntereilte, da war Elfriedens Gleichniß von der Raupe, die zum Schmetterlinge geworden war, nicht so unpassend.

„Ach, die Luft, die köstliche Luft!“ jubelte Mimi tief athmend. „Wie schön ist die Welt, wie köstlich die Freiheit!“

Der blaue Himmel lachte über dem glücklichen Kinde, das unbewußt sein Gebet gesprochen hatte. Aber die gehobene Stimmung hielt nicht lange an; der alte Uebermuth, die Lust zum Wagen traten an ihre Stelle, und Mimi überlegte ernstlich, ob sie in eines der kleinen Badehäuser schlüpfen, oder den Kahn losbinden und versuchen sollte, sich ein Stückchen in den See hinaus zu rudern. Verlockend genug war der Gedanke wohl, aber doch bedenklich; denn vom Rudern verstand sie nichts.

Dem Zweifel machte eine wohlbekannte Stimme ein Ende, die fröhlich: „Guten Morgen, Klein-Bäschen!“ rief.

Mimi blickte auf. Felix stand in einer baierischen Joppe vor ihr, einen großen Strohhut auf dem Kopf.

„Grüß’ Gott, Vetter!. Ja, stehen Sie denn auch schon so früh auf? Ich dachte, vornehme Leute schlafen, bis die Sonne am Himmel steht.“

„Aber ich gehöre, ja auch nicht zu den vornehmen Leuten,“ antwortete Felix lachend, „sondern bin ein schlichter Soldat, der oft genug auf freiem Felde campirt hat.“

„Aber es muß doch lustig bei den Manövern zu bivouakiren sein,“ meinte Mimi, „so um das Wachtfeuer zu liegen mit den Cameraden und lustige Kriegs- und Marschlieder zu singen.“

„Aha, heute erblickt das kleine Fräulein das Soldatenleben von der rosigen Seite – aber die Phantasie malt zu rosig. Auf solche Mondscheinnacht folgen vielleicht lange trübe Regengüsse, und sehnend denkt man an sein behagliches Nest daheim.“

„Ja, die Wirklichkeit ist sehr abscheulich,“ entgegnete Mimi, sich ihres Gesprächs mit Bertha am vergangenen Abende erinnernd. „So abscheulich, daß ich ganz gern noch eine Weile in meinem Stifte bleibe und lerne und träume, statt in – der Welt Dinge zu hören, die ich doch nie werde leiden können.“

„Solch frischer Mund darf nicht die Lippen öffnen, um die Welt zu schmähen. Sehen Sie nur, wie rings Alles so wonnig lacht; geschwind, steigen Sie in den Kahn! Wir wollen uns die Herrlichkeit ein bischen näher anschauen.“

Felix war in den Kahn gestiegen und löste ihn los. Mimi trat zum Ufer zurück.

„Fürchten Sie sich?“ fragte er. „Ohne Sorgen Ich bin ein tüchtiger Ruderer.“

„Fürchten? Ich mich fürchten, vor dem See? Nein Aber, davor, daß Tante mich ausschilt, und ich bin zu stolz, mich ausschelten zu lassen wie ein kleines Kind. Glauben Sie nicht, daß es unpassend ist, wenn ich mit Ihnen hinausfahre?“

„Ei, ei! Gestern so zutraulich und heute schon voller Scrupel und Bedenken? Hat man Sie etwa wegen Ihrer gestrigen, Liebenswürdigkeit ausgescholten?“

„Ja!“

Felix lachte spöttisch, fast bitter, dann aber nahm sein Gesicht den gewohnten gutmüthigen Ausdruck an.

„Fürchten Sie nichts!“ sagte er begütigend, „heute wissen Sie ja, daß es ein Vetter ist, dem Sie sich anvertrauen, und dann sind Sie mir ja ausdrücklich als die ‚Kleine‘ vorgestellt worden; so kann selbst Tante Waldenburg nichts darin finden, wenn ich mich aus eigener Machtvollkommenheit zu Ihrem Beschützer aufschwinge.“

„Wenn es so ist, folge ich Ihnen mit großem Vergnügen,“ sagte Mimi und bestieg den Kahn; „wenn ich schon eine junge Dame wäre, ginge das nicht an – so viel weiß ich schon – aber noch darf ich thun, was mir gefällt – nicht wahr?“

[621]

Der Morgentrunk.
Originalzeichnung von J. Schmidt.

[622] „Gewiß!“

Das kleine Schiff strich so wohlig durch die Wellen; zuerst fuhr es an der Krautinsel vorüber, die zum Kloster gehört und der Fraueninsel gegenüber liegt. Nonnen in dunklen Gewändern, das Haar unter weißem Stirntuch verborgen, arbeiteten dort schon in aller Frühe, banden Bohnen auf und sammelten Gemüse ein.

„Die Armen!“ sagte Felix.

„O, ich kenne Schwestern, die sehr glücklich in ihrem Berufe sind,“ entgegnete Mimi, „und ich selbst habe zwei Freundinnen, die keinen sehnlicheren Wunsch haben, als in’s Kloster zu gehen.“

„Sie etwa auch?“

„Nein! Aber verreden will ich’s nicht. Immer noch besser, sein Leben in Klostermauern verbringen und Pensionärinnen erziehen, als sich von einem abscheulichen Manne in den Käfig stecken lassen und in ewiger Gefangenschaft schmachten.“

„Welch ein schreckliches Bild! Meinte ich doch, im Köpfchen einer Sechszehnjährigen seien Gedanken an Liebe nur rosig.“

„Ja, das waren sie auch, bis vor Kurzem. Aber ich weiß es jetzt, daß die Zeit vorüber ist, wo die Ritter noch Heldenthaten für ihre Damen wagten, noch um einen Kranz von ihrer Hand rangen. Die jungen Männer von heute sind sehr blasirt und verlangen womöglich, daß man ihnen die Cour macht. Aber wenn ich auch fünfzig Jahre werden sollte, ohne einen Mann zu bekommen – ich laufe Keinem nach, das habe ich mir geschworen.“

Felix lachte hell auf.

„Aber das verlangt ja auch kein Mensch. Wer hat Sie auf so närrische Ideen gebracht, Klein-Bäschen?“

Mimi machte eine ganz verständige Miene, als wisse sie das besser als ihr junger Gefährte, war aber klug genug, nicht mehr aus der Schule zu schwatzen. Schwester Bertha zu Liebe begann sie nun aber ohne Umschweife, den Vetter auszufragen.

„Nicht wahr, Herr von Waldenburg, Sie könnten es gewiß auch nicht leiden, wenn sich ein Mädchen Mühe geben wollte, Ihnen zu gefallen?“

„Gewiß nicht! Das Gefallenwollen müßte sie mir überlassen. Was ist ein Sieg ohne Kampf! Lieber wollte ich um ein Weib dienen, wie Jacob um Rahel, als daß es sich mir beim ersten Worte in die Arme würfe.“

„Das ist hübsch und ritterlich gesprochen; das gefällt mir. Vielleicht kennen Sie gar schon diejenige, der Sie solche Opfer bringen könnten.“

„Seht einmal die kleine Neugierige! Das interessirt Sie?“

„O, mich nicht – aber vielleicht Andere.“

„Andere? Ah, das wird pikant. Ich möchte wohl wissen, wer so gütig ist, solchen Antheil an meiner Wenigkeit zu nehmen.“

„Ach, Niemand – das war ja nur so ein Spaß von mir,“ beeilte sich Mimi zu versichern; sie sah erschrocken, daß sie zu weit gegangen war, und blickte nun glühend roth vor sich hin.

Felix betrachtete das verlegene Antlitz: die kindlichen Züge der kleinen Dame sagten deutlich, daß sie diese Frage nicht aus sich selber gestellt habe.

„Nun, meine kleine Inquisitorin, es wäre ja möglich, daß sich einmal Jemand in dieser Weise nach mir erkundigte. Dann sagen Sie ihm getrost: Noch ist der Cousin frei wie der Vogel in der Luft und wird es, wenn seine Ahnung ihn nicht täuscht, vielleicht noch ein Jahrzehnt bleiben.“

„Das ist sehr lang,“ sagte Mimi und sah den Vetter ernsthaft an, dann aber mußten Beide lachen, und mit diesem Lachen endete das gefährliche Gesprächsthema und sprang auf harmlose Gegenstände über.

Unter fröhlichen Gesprächen hatte Mimi ganz Tante Waldenburg und was diese wohl über das lange Ausbleiben sagen würde, vergessen. Als Felix sie endlich an’s Land zurückgerudert hatte, sprang sie den Weg zum Hause hinauf, mit dem nicht ungewöhnlichen Gefühl der sechszehn Jahre, daß sie sich noch nie im Leben so amüsirt habe, wie an diesem Morgen.

Unter dem Vorwande, das Haar ordnen zu wollen, entzog sie sich den vorwurfsvollen Mienen der Ihren, fest überzeugt, Felix würde das drohende Unwetter von ihr abwenden.

Bertha eilte ihr nach.

„Nun,“ fragte sie, „hast Du diplomatisch geforscht?“

„Das verstand ich nicht, aber ich habe geradezu gefragt. Der schöne Heirathscandidat ist frei, ganz frei, aber weder Du noch Elfriede wird ihn bekommen; vor zehn langen Jahren will er gar nicht heirathen, und so lange werdet Ihr doch nicht warten wollen?!“

Auf alle weiteren Fragen hatte Mimi nur ein immer erneutes Lachen, und ärgerlich wandte Jene sich von dem „albernen kleinen Dinge“ ab, dem sie sich so unnütz verrathen hatte.




5.

Unsere Reisegesellschaft hatte sich schnell in einander eingelebt; war Felix doch ein liebenswürdiger Reisemarschall, der stets zur rechten Zeit für Wagen oder Führer sorgte und mit seiner heitern Laune das Herz Aller gewann.

Man vertraute seiner Führung unbedingt; schon war das Innthal durchstrichen, ein längerer Aufenthalt im Pusterthal genommen und im Ampezzothal die seltsame Formation der Dolomiten angestaunt worden, die als neueste Reisemode von der ganzen fashionablen Welt aufgesucht wurden.

Im einsamen Landro fanden die Reisenden einen alten Bekannten wieder, Mr. Billings, einen Engländer, der vor ein paar Jahren der stolzen Elfriede seine Huldigungen dargebracht hatte, in Betracht seines bürgerlichen Namens jedoch nicht sonderlich in denselben ermutigt worden war.

Hatten die Jahre Elfrieden anspruchsloser oder für den Werth des Geldes, das Billings in reichlichem Maße besaß, empfänglicher gemacht, oder gefiel ihr der keineswegs unüble Mann jetzt besser? Wer konnte es wissen? Eins nur schien sicher: den Wettstreit mit Bertha gab sie auf, spielte die Vornehm-Kühle gegen Felix und hatte ihr gewinnendes Lächeln fortan nur noch für den Engländer. Ob dadurch Bertha’s Chancen, den ansehnlichen Heirathscandidaten zu gewinnen, besser standen, konnte ebenfalls kein Mensch sagen; Felix war ein liebenswürdiger Verwandter, nichts mehr noch minder, blieb aber bei aller Galanterie stets Herr seiner Person.

Da geschah ein Wunder: die bequeme, sonst bis an den hohen Morgen schlafende Bertha ward, so oft Felix Fußpartien unternehmen wollte, mit einem Male eine leidenschaftliche Bergliebhaberin; jede Spitze wollte sie mit besteigen, jede Felsenschlucht aus eigener Anschauung kennen lernen. Zu solchen Excursionen sich aufzuschwingen, das brachte Tante Waldenburg doch nicht mehr fertig, und so ward denn Mimi commandirt, das junge Paar zu begleiten; Niemand war vergnügter als sie, wenn es früh Morgens, wo die Dämmerung noch das ganze Thal einhüllte, in Begleitung eines Führers zum Aufbruche ging. Für solche Touren wurde das schlichte kurze Pensionskleid wieder hervorgesucht, und von keinem überflüssigen Putz beengt, schritt Mimi, immer die Erste des kleinen Zuges, vergnügt und muthvoll voran. Dem jungen Körper that solche Bewegung wohl; Mimi blühte wie eine Rose auf, und legte die arme Bertha sich diese Tortur nur auf, um neben dem jungen Vetter sein zu können, so zeigte es sich, daß in der jüngeren Schwester die wahrhafteste Naturfreundin geschlummert hatte. Es hätte jubeln mögen, laut auf, das arme Kind, das bisher die Welt nur von einem Spaziergange unter strengsten Regeln kannte.

Es konnte scheinen, als wären Mimi und Felix weniger intim als in den ersten Tagen; man sah sie selten bei einander; natürlich: man hatte Mimi’s Zutraulichkeit gehörig zu verschüchtern gewußt und so hielt sie sich geflissentlich fern.

Was interessirten sie auch die Gespräche, die Bertha und der Vetter führten, noch wußte sie ja nichts von Gesellschaften, Theatern, Concerten und all den Gesprächsobjecten der Beiden; da war es viel lustiger anzuhören, was Führer und Sennerin zu erzählen wußten von dem Leben in und auf den Bergen. Auch zum Botanisiren gaben die Bergtouren Gelegenheit; die großen vollfarbigen Blüthen, wie sie auf den Höhen wachsen, entzückten Mimi ungemein, und das Album, das sie sich von getrockneten Alpenblumen und Gräsern zusammenstellte, ward für sie eine Quelle reinsten Vergnügens.

So hatte die Baronin Waldenburg denn die Genugthuung, ihre drei Nichten je nach ihren Ansprüchen zufrieden zu sehen, und durfte wohl hoffen, daß eine Verlobung der beiden älteren die Sommerreise auf’s Erwünschteste abschließen würde.

Welche köstliche Aussicht, beide Nichten versorgt zu sehen, ehe die jüngste, die sich zusehends zum reizendsten Mädchen entwickelte, [623] aus dem Institut heimkehrte und neue Anstrengungen auf geselligem Gebiete erforderte!

Unsere kleine Gesellschaft, der sich lose auch bereits Mr. Billings angeschlossen hatte, war nach Reichenhall übergesiedelt. Am Nachmittage wurde meistens ein gemeinsamer Spaziergang nach einem der vielen Wirthshäuser unternommen.

So saßen unsere Freunde eines Abends auch an einem gar anmuthigen, erhöht am Fuße des Hohenstaufen liegenden Orte, von wo aus Reichenhall mit seinen dahinterliegenden Bergen sich gar hübsch und idyllisch ausnimmt. Die milde Abendsonne vergoldete die Landschaft mit einem Heiligenscheine; es war ein reiches, romantisches, vollumkränztes Bild, das sich dem Auge bot.

In die Harmonie dieses Gemäldes wollte das blasse Antlitz einer Frau, die müden Fußes die Stufen des kleinen Abhanges hinanklomm und unter der Last einer alten Harfe fast zusammenbrach, nicht passen. Ein etwa neunjähriger Knabe schritt ihr zur Seite, blickte aus großen traurigen Augen und bemühte sich, mit mageren Händchen die Harfe tragen zu helfen.

Ein hoffnungsvolles Lächeln glitt über das Antlitz der Armen, als sie in der kleinen Wirthschaft die zahlreichen Gäste erblickte, und ohne auch nur einen Augenblick zu rasten, lehnte sie die Harfe an den Baum, der in der Mitte des mit Tischen und Bänken besetzten Platzes stand, und begann mit schwacher Stimme, welche einstige Schönheit verrieth, einfache Lieder zu singen.

Der kleine Knabe aber ließ sich auf einem Stuhl vor einem leeren Tische nieder – er brauchte diese Erholung wohl nothwendig; denn als ihm ein freundlicher Herr mitleidig ein Schüsselchen mit gestandener Milch und ein Stück Brod hinstellte, da dankte er zwar glücklich, verzehrte die Gabe aber nicht, sondern lehnte mit sichtbarer Genugthuung in seinem Stuhle, sodaß man wohl sah, die kleinen Füße hatten eine weite Wanderung hinter sich.

Da langten neue Gäste an, schauten sich nach einem passenden Platze um und machten kaum Miene den Tisch zu wählen, vor welchem der arme Junge saß, als der Wirth auch schon hinzusprang, Milchschüssel und Brod des Knaben auf den Rand des Brunnens stellte und mit einer Barschheit, die an Rohheit grenzte, zu dem kleinen müden Wanderer sagte:

„Weg da! Die Sitze sind nur für Herrschaften.“

Der kleine Junge zitterte und wurde blutroth; über das verhärmte Antlitz der armen Mutter zuckte es tief schmerzlich.

Mimi sprang plötzlich auf und trug ihren Stuhl zu dem Knaben.

„Da, lieber Junge!“ sagte sie, „ruhe Dich aus! Ich hab’ lange genug gesessen und bin gar nicht müde.“

Dann hatte sie dem kleinen Knaben noch ein Stück Kuchen, das sie gerade hatte verzehren wollen, in die Hand gesteckt und war dann zum Tische zurückgekehrt, wo erstaunte, ja mißbilligende Blicke sie empfingen.

„Mimi, was soll das heißen?“ fragte die Tante, „welch ein auffallendes Benehmen! Die ganze Gesellschaft schaut auf Dich! Wirst Du denn niemals lernen, Dich zu benehmen, wie es sich für ein Mädchen geziemt?“

Der Wirth hatte zwar sofort einen anderen Stuhl für Mimi herbeigeholt, aber die Baronin war verstimmt; es genirte sie, daß man von allen Seiten auf ihre junge Pflegebefohlene, wenn auch mit wohlwollender Neugierde, sah.

„Lernt man dieses ostentative Ausüben der Barmherzigkeit in Deiner Pension oder entspringt es Deiner eigenen Natur?“ fragte Bertha Mimi auf dem Heimwege so spöttisch, daß diese Thränen in den Augen fühlte und still hinter Allen herging, sich nun förmlich ihres menschenfreundlichen Impulses schämend.

Da gesellte sich ihr Felix zu, der sich scheinbar lange nicht um sie gekümmert; er sprach zu ihr lieb und gut wie mit einem Kinde, über Gegenstände, die ein Kind interessiren können. Aber in der Beherrschung war Mimi noch keine Meisterin; ihr Plappermäulchen war verstummt, und Waldenburg fühlte, daß dieser jungen Seele mit indirectem Troste nicht geholfen sei.

Schon zeigten sich die ersten Häuser Reichenhalls; Felix hatte noch ein Rendezvous für den Abend mit einem zufällig eingetroffenen Cameraden. Scheidend reichte er seiner jungen Begleiterin die Hand und sagte tröstend:

„Seien Sie nicht traurig, Cousinchen! Unsere Tante hat von ihrem Standpunkte freilich Recht, aber der Vorwurf trifft am meisten uns Herren; an uns wäre es gewesen, die brüske Art des Bauern an dem kleinen Jungen zu sühnen. Sie aber können ganz ruhig nach dieser That schlafen, kleine Cousine; denn Ihr Herz wird Ihnen sagen, daß der kleine Betteljunge Ihre Güte gerade so dankbar empfunden haben wird, wie ein gewisser Jemand, den Sie davor schützten, in der Sonne zu rösten. Gute Nacht!“

(Schluß folgt.)




Um die Erde.
Von Rudolf Cronau.
Elfter Brief:0 Eine Fahrt durch die Prairie Dacotahs.

Westlich vom Red River of the North liegt ein Land, so groß wie manches Königreich, größer als Preußen. Bis vor Kurzem ward dieses 141,000 englische Quadratmeilen umfassende Territorium in den geographischen Handbüchern kurz abgethan, etwa mit den Worten: „gehört zu den wildesten Theilen der Vereinigten Staaten, ist zum größten Theile unbekannt, wenig bevölkert und die Heimstätte kriegerischer Indianerstämme.“ Im Westen reicht dieses Gebiet bis zur Mündung des Gelbsteinflusses, im Süden bis zum Keya-Paha und dem Niobrara; durch den wilden Missouri wird es von Nordwest nach Südost in zwei Hälften getheilt. Ungeheure Länderstrecken der östlichen Hälfte und der gesammte Westen dieses Gebietes sind noch ödes Wüstenland, bald endlose flache Prairien, wogenden Grasseen gleich, bald welliges Land, sogenannte „rollende Prairie“, die sich nach Südwesten hin zu immer höheren, wilderen Zügen emporschiebt, um endlich in den aus buntfarbigem Thon gebildeten, nur für den Naturfreund und Geologen interessanten „bad lands“ und in den nadelholzbekleideten goldberühmten „Schwarzen Bergen“ ihre höchste Erhebung zu finden. Baumlos ist dieses endlose Gebiet, nur an den zahlreichen Seen und größeren oder kleineren Strombetten finden wir spärliche Waldungen von Eichen, Baumwollen- und Hickoryholz; sonst ist alles Prairie, bestanden von dem langen, wogenden Büffelgrase, unter welches sich bunte sternförmige Astern und seltsame Sonnenblumen, die eine Höhe von acht Fuß erreichen, malerisch mischen. Das ist Dacotah, das Territorium, welches dereinst dazu berufen sein wird, eine große Rolle in der Reihe der Staaten der Union zu spielen.

Das hochinteressante Land reizte besonders meine Neugierde, und flugs bestieg ich in St. Paul, der Hauptstadt Minnesotas, einen Eisenbahnzug zur Fahrt nach dem Westen. Bei Einbruch der Nacht erreichten wir die Stadt Bismarck, von wo aus ich am nächsten Morgen per Stage meinen Ausflug nach der sechszig englische Meilen südlich am Ufer des Missouri gelegenen Standing-Rock-Agentur anzutreten gedachte. Die „Stage“ war ein kleiner viersitziger Wagen, offen und ohne Verdeck, mehr zum Transporte des Gepäcks als zur Beförderung von Passagieren bestimmt, deren es in jener Gegend freilich auch kaum zwei bis drei im Jahre geben mag.

Gegen Zahlung von 7 Dollars erstand ich von dem Agenten der „Stage-Gesellschaft“, der zugleich einen Handel mit Oefen und sonstigen Eisenwaaren unterhält, das Recht, auf diesem Vehikel einen Tag lang durch die wilden Prairien zu fahren. Als wir Bismarck verließen, lag dasselbe noch still und todt; nur hier und da eine übernächtige Gestalt von zweifelhaftem Aussehen. Der Strich Landes zwischen Ort und Fluß ist mit wüstem struppigen Gebüsch bewachsen, das den dürren, sonnverbrannten Bergen im Hintergrunde als besonders effectvoller Vordergrund dient. Oeder noch ward die Scenerie, als wir den „big muddy“, den „Großen Schlamm“, das heißt den Missouri, erreichten, dessen Fluthen gelb dahinschossen, gelb wie die Berge dort, an und auf denen sich die Gebäude des Forts Lincoln lagern. Schwarz und verkohlt ragten jenseits des Forts einige Höhen empor, auf denen das Prairiefeuer gewüthet. Die umherliegenden Steine und Felsbrocken machten den Eindruck von verstreuten Riesenknochen. Ein [624] eisiger Nordwind blies über die öde Steppe, und fester hüllte ich mich in die Büffelhäute, die ich in meinem Wagen vorgefunden hatte; den Farbenspuren auf der Innenseite nach, hatten sie früher einem Indianerwigwam angehört, eine Wahrnehmung, die meine Gemüthsstimmung nicht gerade hob; wilder schwang der Treiber seine endlose, schlangenartige, nur mit einem kurzen Handgriff versehene Peitsche, und die Maulthiere mochten dieses Instrument gar wohl kennen; denn sie griffen nun noch einmal so schnell aus und trugen uns im Galopp den entfernten Hügelketten zu, die in feinem bläulichem Dufte vor uns lagen, bald langgestreckte, sargartige, bald wellenförmige oder zackige Höhen bildend. – Wir überschritten einen Strich, auf welchem wenige Tage vorher ein Prairiefeuer alles Leben vernichtet hatte. Soweit das Auge reichte, war Alles, Alles, selbst die Oberfläche des Bodens verkohlt – nur hier und da dürre, hohläugige Büffelschädel und bläulichweiße Antilopenskelete!

Nach einer halben Stunde hatten wir diese traurige Einöde passirt; um uns sahen wir wieder, wenn auch spärliche Zeichen des Lebens. Ueber den mit struppigem Buschwerk und Cottonbäumen bewachsenen Niederungen des Missouri wiegten sich mächtige Falken und Aasgeier, nach Beute spähend, während uns zu Füßen in dem wogenden Büffelgrase buntgefärbte Schlangen dahinschossen. Wir fuhren den ganzen Morgen, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen; rings um uns her lag der endlose Ocean gelben, wogenden Grases, eine Einöde von großartigem, aber unheimlichem Zuge. Diese baum- und strauchlosen Steppen bildeten das Königreich, auf welchem die Dacotahs, der mächtigste und neben den Apachen und Comanchen der berüchtigtste aller nordamerikanischen Indianerstämme, seine Jagdgebiete hatte.

Je weiter wir in die Prairie gelangten, desto fesselnder wurden die Bilder, die sie uns bot: dunkle Wolkenschatten zogen eiligen Fluges über die Hügel und Thäler dahin, oft einen ganzen Landstrich überschattend, der kurz vorher noch in herrlichen gelben, braunrothen oder röthlichen Tönen geleuchtet. Im Osten erglänzte manchmal der Lauf des Missouri aus tiefblauen, tafelförmigen Hügelketten; an anderen Stellen wieder wand er sich wie ein dunkles Band durch schimmernde Gelände. Nach Mittag erst erreichten wir den „Cannon ball river“, den „Kanonenkugelfluß“, welcher seinen Namen der eigenthümlichen Erscheinung verdankt, daß sich in den Felswänden, die der Fluß durchbrochen, häufig runde Steinblöcke, ähnlich den steinernen Kanonenkugeln des Mittelalters finden, von den Wassern halb bloßgelegt, sodaß sie den Glauben hervorrufen können, als seien die senkrechten Felswände die Zielscheiben einer Artillerie gewesen, deren Steinkugeln aber keine Kraft besessen, ganz in die Felswände einzudringen.

In dem Thale dieses Flusses ist ein Indianerdorf gelegen, und in den Büschen trieben sich Kinder herum, über und über mit Zinnober bestrichen.

Wir hielten vor einem kleinen, inmitten der hohen Bergwände gelegenen Blockhause, um Mittagsmahl zu halten und die Maulthiere zu wechseln. Der Mann, welcher hier seine abgelegene Clause aufgeschlagen und gleich einem Anachoreten lebt, war ein Canadier, französischer Abkunft, trug indianisches Costüm, lederne Beinkleider mit Franzen und Perlstickereien, Mocassins und ein Jagdhemd. Er hatte in seiner Clause ein Essen aufgetischt, bei dessen Anblick alle gutgearteten europäischen Mägen sich umgewendet haben würden, hier aber, inmitten der Einöde, drückte man ein Auge zu und zahlte auch gern mit Hôtelpreisen – 50 Cents gleich 2 Mark deutschen Geldes.

Nach diesem Mittagsmahle ging es weiter, vor dem Wagen ein Maulthier und ein unbändiges indianisches Pony, welch letzteres zum ersten Male als Zugthier benutzt wurde. Nachdem es eine Zeit lang gegen das ungewohnte Joch gewüthet und getobt, schien es sich in sein Schicksal zu fügen; wir fuhren, drei Personen stark, ab, durchschritten zweimal den jetzt ziemlich seichten Fluß und gelangten dann auf ebene Prairie. Der heftige Wind, der den ganzen Morgen uns in den Rücken gepfiffen und mächtige Staubwolken in den Missouriniederungen aufgewirbelt, hatte sich ein wenig gelegt, dagegen aber war der Himmel mit Regenwolken umzogen. Tief einsam war es wieder rings umher – da und dort ein Prairiehuhn, das, durch das Rollen unseres Wagens aufgeschreckt, schwirrend emporflog, sonst aber als Staffage nur ab und zu Büffel- oder Hirschskelete – wer weiß: vielleicht auch das des Jägers, welcher einst diese Thiere gejagt.

Als wir nach einstündiger Fahrt wieder in hügligeres Terrain einlenkten, hielt ein Indianerzug vor uns, ein äußerst malerisches Bild gewährend: in einem kleinen Karren, auf dessen Vorspannpferden zwei riesige in blaue Decken gehüllte Indianer saßen, tummelten sich einige Kinder, deren schwarze, glänzende Augen wie blitzende Beeren aus den dunklen, rothbemalten Gesichtern hervorleuchteten. Dem Karren folgte ein Weib, wie ein Mann rittlings zu Pferde sitzend und tief in ihre Decke gehüllt, zwei Kinder, allerhand Geräth und die grobe Leinwand des Wigwams hinter und neben sich aufgethürmt. Den Schluß des von Ziegen, Hunden und Füllen bunt umschwärmten Zuges bildete ein imposanter Indianer, über sechs Fuß hoch, in rosagewürfeltem Hemde und blauen, bändergezierten Beinkleidern, der mit einem Knüppel ein Pferd vor sich hertrieb; dieses schleifte die in zwei Bündel getheilten und mit den Spitzen zu beiden Seiten des Sattels befestigten fünfzehn Fuß langen Zeltstangen hinter sich her. Finsteren Blickes und ohne Gruß zog die Cavalcade vorüber und war gleich darauf hinter den Hügeln verschwunden.

Noch war ich in Erinnerung des Bildes ganz versunken, als eine neue Erscheinung auftauchte und sich in schier übernatürlich scheinenden Umrissen gegen den ziehenden Wolkenhimmel abhob. Ein Indianer war’s, der in wildem Jagen, einen Tomahawk schwingend, auf seinem struppigen Pony an uns vorübersprengte, eine wahre Enaksfigur. Lang flatterte das schwarze Haar, dessen Zöpfe mit rothen Tuchstreifchen umflochten, im Winde, und lang wehte die mächtige Adlerfeder, welche die Scalplocke des furchtbaren Kriegers zierte. In einem Augenblicke war der Ton der kleinen Schellen, mit denen er seine Beinkleider geschmückt, verklungen.

Auf den Hügeln erblickten wir nun hin und wieder verlassene Indianerhütten, von denen nur noch die aus vielen Stangen gebildeten Gerippe standen, oder wir kamen an einer der seltsamen Begräbnißstellen vorüber, wo die Todten, in ihrem vollen Schmucke und in Blankets gehüllt oder in roh zusammengeschlagene Kisten gelegt, auf hohen Gerüsten aufgebahrt werden. (Vergl. unsere Abbildung S. 625.)

Wir hatten eben den dreiundvierzigsten Meilenpfosten passirt und näherten uns dem Battle Creek, als unser Kutscher mit Peitschenhieben die Thiere anzutreiben suchte. Waren sie durch diese Hiebe oder durch die mit denselben verbundenen fürchterlichen Flüche des Rosselenkers erschreckt – genug, sie wurden unruhig, und das indianische Pony richtete sich kerzengerade in die Höhe, schlug nach vorn und hinten aus und ging dann, das Maulthier unaufhaltsam mit sich reißend, durch. Alle Versuche, das Thier zu bändigen, waren vergebens, steigerten vielmehr die Wuth desselben; es wurde noch mehr erschreckt, als der neben dem Treiber sitzende zweite Passagier, ein in einen hellblauen Soldatenmantel gehüllter Civilist, in einem günstigen Augenblick herauszuspringen suchte, dabei aber mit einem dumpfen Krache zu Boden schlug. Zugleich gerieth dem Pony die Wagendeichsel zwischen die Beine, und nun war keine Rettung mehr.

Immer rasender wurde die Jagd, immer geringer die Aussicht, die Thiere zur Ruhe zu bringen, und so wagte auch ich im letzten Augenblicke, als wir am Rande einer Schlucht anlangten, wo das fernere Geschick des Wagens sich unfehlbar entscheiden mußte, den nothwendigen Sprung. Ich fiel lang auf die Erde nieder, fühlte mich aber unwiderstehlich wie von unsichtbarer Gewalt emporgehoben und zu einem Kunststücke gezwungen, das mir in den Jahren meiner frühesten Jugend darum als Gipfelpunkt der Gymnastik erschienen war, weil ich es niemals auszuführen vermochte. Jetzt gelang es mir; denn ich hob die Beine kerzengerade gen Himmel und schlug rücklings den kunstgerechtesten Purzelbaum meines Lebens. Als sich dann meine unteren Extremitäten nochmals hoben, konnte ich mich eines Lachens kaum erwehren, als mir wie ein Blitz der Gedanke durch den Kopf fuhr, was wohl die ehrsamen Leser der „Gartenlaube“ dazu sagen würden, wenn sie den Correspondenten derselben in solchen Exercitien begriffen sähen. Doch trotz des Gedankens hatte ich auch den zweiten Purzelbaum mit aller Grazie zu vollenden.

Auf wunderbare Weise war der Wagen unterdeß durch die Schlucht gekommen, und sahen wir das Gespann mit demselben den Bergen zueilen. Der Treiber aber war herausgeschleudert worden und lag jammernd und fluchend in einem Strauche. Ich raffte mich auf, dem Wagen nachzueilen, um [625] wenigstens meine Tagebücher zu retten. Da sah ich plötzlich, wie der Wagen hoch in die Luft geschleudert wurde und in zwei Hälften brach, während gleich darauf auch das Maulthier stürzte und durch seine Last das an seinen Cameraden gefesselte Pony zum Stehen zwang.

Aechzend und seufzend kamen jetzt auch meine beiden Unglücksgefährten herbei, und nun gingen wir, unterwegs all die zerstreuten Gepäckstücke zusammenlesend, dem Schauplatz der Katastrophe zu, ich mit einem Tränkeimer, einer Sitzbank und zwei Büffelhäuten beladen.

Ein Indianerlager in West-Dacotah.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.
(Die zur linken Seite sichtbaren Gerüste stellen einen indianischen Begräbnißplatz dar.)

Du großer Gott, wie sah der Wagen aus! Kein Rad mehr an demselben – Deichsel und Achse zerbrochen – Boden und Seitenwände – total zersplittert! Die Postbeutel und den Rest unseres Gepäckes fanden wir im Umkreise von hundert Schritten.

Da saßen wir nun „im romantischen Lande“, mitten in der einsamen Prairie, von unserem Ziele noch siebenzehn lange Meilen entfernt!

Wir beluden das Maulthier mit den Poststücken und dem leichteren Gepäck, schoben einen Stock zwischen die Riemen meines Koffers, nahmen ihn an dieser improvisirten Tragbahre in die Mitte und wanderten so ab, die Thiere hinter uns herziehend. Wir durchwateten den Battle Creek und gelangten beim Einbruch der Dämmerung an den kleinen, etwa zweieinhalb Fuß hoch aus der Erde ragenden Felsblock, von dem die Standing-Rock-Agentur ihren Namen hat. Er steht bei den Indianern hoch in Ehren, im Geruche der Heiligkeit, und keiner der Vorübergehenden versäumt es, ihn über und über mit Fett zu salben oder mit Farben zu bestreichen, wie wir denn auch am Fuße des Blockes Blumen und Maiskolben niedergelegt fanden, wahrscheinlich Opfergaben irgend eines gläubigen Indianermädchens; denn an diesen Stein knüpft sich die Sage, daß eine junge Indianerin, die zu einer ihr widerwilligen Heirath gezwungen werden sollte, auf ihr Flehen hin vom Großen Geiste in diesen Stein verwandelt worden sei, und steht er darum namentlich bei den indianischen Jungfrauen in gutem Ansehen. – Als schon die Hügel bei der wachsenden Dämmerung mehr und mehr in einander verschwammen, erreichten wir ein etwa vierzig bis [626] fünfzig Zelte zählendes Indianerlager. In den weißen, gespenstig aus der Dunkelheit hervorleuchtenden Wigwams, hier „Tipi“ genannt, flammten die Feuer und ließen die Umrisse der im Innern sich bewegenden und kauernden Gestalten als scharfe Silhouetten auf der Zeltwand erscheinen.

Ein ganzes Rudel Hunde stürzte uns entgegen und meldete unsere Ankunft; zugleich erschienen da und dort die dunklen Gestalten der Krieger, deren aus Adlerfedern gefertigter Kopfputz im Winde flatterte.

Mittelst Zeichen und Beigabe einiger indianischer Brocken, die der eine meiner Reisegefährten inne hatte, erklärten wir den Rothhäuten das Malheur, welches uns betroffen, und fragten, ob sie uns gegen eine Vergütung auf einem ihrer Karren zum Fort bringen wollten, da die Beine meiner Unglücksgefährten so angeschwollen waren, daß sie sich kaum noch weiter bewegen konnten. Einer der Indianer erklärte sich auch bereit dazu und ging, sein Pferd zu holen, welches an Stelle des Ponys als Vorspann dienen sollte. Doch warteten wir seiner Rückkunft vergeblich, und da sich die anderen Krieger bei der zunehmenden Dunkelheit immer weniger willig zeigten, so zogen wir endlich unverrichteter Sache ab. Eine oder zwei Meilen wanderten wir, und verloren in der Dunkelheit mehrmals den Weg. Da plötzlich tönte es hinter uns, wie Schakalgeheul, ein langgezogener, gellend endigender Laut, der uns das Blut in den Adern fast erstarren machte. Eine halbe Minute später ertönte der Schrei rechts, in demselben Augenblicke links, und gleich darauf hörten wir es neben uns rascheln, und ein halbes Dutzend Indianer versperrte uns den Weg. Im Nu waren die Revolver heraus; die Hähne knackten; wir standen Rücken gegen Rücken, und mein einiger Brocken der Siouxsprache mächtiger Gefährte forderte energisch die unheimlichen Gesellen auf, den Weg frei zu geben, widrigenfalls wir sofort schießen würden. Wie in den Erdboden versunken, war die Gesellschaft, die uns wohl unbewaffnet geglaubt, verschwunden, und so schritten wir, die Finger beständig am Drücker des Revolvers, vorsichtig weiter und weiter, immer aber hörten wir es im Prairiegrase rascheln und vernahmen das Geräusch unterdrückter Stimmen. So kamen wir, ein zweites vor uns liegendes Indianerlager in weitem Bogen umgehend, an einen kleinen Fluß, durchwateten denselben und schritten dann, als wir unsere ungebetenen Begleiter nun nicht mehr neben uns hörten, so gut uns die Beine tragen wollten, in der Richtung fort, in welcher das Fort liegen mußte. Einen auf der Prairie herumlungernden Indianer schreckten wir noch auf, der sich aber auf unseren drohenden Anruf schleunigst bei Seite drückte.

Es war eine unheimliche Nacht: Regen und Wind strichen über die Prairie, und nur ab und zu unterbrach das Schnauben eines der Thiere das eintönige Klirren ihrer Geschirre. Den Weg hatten wir ganz verloren und irrten auf’s Gerathewohl durch das nasse hohe Büffelgras. Die Riemen meines Koffers rissen, und ich mußte denselben nun, wollte ich ihn nicht zurücklassen, auf die Schulter nehmen. Endlich, endlich, als wir schon verzweifelnd in Berathung zogen, ob es nicht rathsam sei, das nutzlose Suchen aufzugeben und die Nacht auf der Prairie zu verbringen, hoben sich, kaum sichtbar, die Umrisse des breiten Hügelrückens gegen den Nachthimmel empor, hinter welchem, der Aussage des Treibers zufolge, das Fort Yates und die Standing-Rock-Agentur liegen mußten, und mit dem Rest unserer Kräfte schritten wir dem Hügel zu.

Noch eine Stunde harter Wanderung – dann blitzten uns Lichter entgegen; bald darauf sahen wir die Wigwams vor uns; dunkle Häuserumrisse wurden sichtbar; wir hörten Trompetensignale und den Anruf der Soldaten, und nun erreichten wir endlich das als Postamt dienende Gebäude – gerade in dem Augenblicke, als der eine meiner Begleiter ohnmächtig zusammenbrach und die schwere Last des Koffers meinen von Kälte und Regen erstarrten Händen entfiel. Wir waren in Sicherheit.

Damit endete diese abenteuerliche Episode meiner Reise in’s „romantische Land“.




Die Entwickelung der Kriegsflotten.

Von Contre-Admiral a. D. R. Werner.

Die Geschichte und ihre Denkmäler künden uns, daß die Schifffahrt eines der ältesten Gewerbe der Menschheit ist. Die vor nicht langer Zeit aufgedeckten ägyptischen Tempelgräber von Sakara zeigen in ihren Wandsculpturen Fluß- und Seeschiffe aus dem dritten und zweiten Jahrtausend vor Christo. Sie sind von verhältnißmäßig so hoher technischer Vollkommenheit, daß bei den damaligen Culturzuständen schon andere Jahrtausende verflossen sein mußten, bevor sie sich aus den Uranfängen der Schifffahrt, aus dem roh zusammengefügten Floß und dem vom Feuer ausgehöhlten Baumstamme, so weit entwickeln konnten.

Wir finden in ihnen Ruder- und Segelkraft vereint, zweckmäßige Form des Rumpfes und Elasticität bei genügender Stärke, um dem Anprall der Wogen gewachsen zu sein, sowie eine große Zahl jener einfachen und doch kunstreichen Hülfsmittel zur Erleichterung der Arbeit, wie wir sie noch jetzt in wenig veränderter Gestalt an Bord benutzen.

Diese Fahrzeuge dienten friedlichen und kriegerischen Zwecken zugleich; Handel und Seeraub gingen zu jener Zeit Hand in Hand; denn während die ersten Seefahrer, die Phönicier, auf kühnem Kiel zu den verschiedenen Inseln und Gestaden des Mittelmeeres schifften, um deren Bewohnern ihre Landesproducte feilzubieten, füllten sie auf der Heimreise die entleerten Räume mit geraubten Menschen für die Sclavenmärkte von Sidon und Tyrus. Ihr Beispiel reizte zur Nachahmung, und bald bedeckte sich das Meer mit Tausenden von Raubschiffen, die es beutegierig durchfurchten. Es wurde ein Krieg Aller gegen Alle; der Seehandel ging zu Grunde, und den Anfängen der Cultur drohte Vernichtung.

Da griff Minos von Kreta mit fester Hand ein, säuberte den griechischen Archipel von der Pest der Seeräuberei und schuf wieder gesicherte Bahnen für den friedlichen Verkehr, um dafür nach seinem Tode von dem dankbaren Volke auf den Richterstuhl der Unterwelt erhoben zu werden.

Wenn auch in mythischem Gewande, begegnen wir in diesen den Seeräubern feindlichen Schiffen des Minos der ersten Kriegsflotte, und zwar wurde sie nicht geschaffen, um den ruhm- und beutesüchtigen Gelüsten eines Fürsten zu dienen, sondern um Handel und Wandel zu schirmen und damit der Welt einen civilisatorischen Dienst zu leisten. Nur die Thatsache ist uns berichtet, über die Schiffe selbst und ihre Verwendung fehlen alle Angaben.

Jahrhunderte vergehen; dann tritt uns im Zuge der Griechen nach Troja die zweite Kriegsflotte entgegen, poetisch verherrlicht durch die Gesänge Homer’s. Doch die Schiffe, welche Achill, Ulysses und die andern griechischen Helden trugen, sind, wenn wir sie des dichterischen Nimbus entkleiden, wenig fortgeschritten gegen die der ägyptischen Königin Thutmosis auf den Grabwänden von Sakara. Wie jene führen sie eine Reihe Ruder, einen Mast, ein Segel; sie dienen nur zum Transport der Krieger, aber liefern keine Kämpfe auf dem Wasser.

Wieder entschwindet ein halbes Jahrtausend, von Sage umwoben, bis mit den gewaltigen Heereszügen des Darius und Xerxes die Geschichte in ihr Recht tritt, um fortan die Weltereignisse mit ehernem Griffel zu verzeichnen und für uns zu bewahren. Marathon und Salamis sind die Marksteine dieser Periode, in der sich historisches Licht von mythischem Dunkel scheidet, und ihnen ist es zu danken, daß nicht asiatisches Barbarenthum unseren Welttheil überfluthete und die aufblühende Cultur Europas wieder auf Jahrtausende erstickte.

Vor Allem aber ist es eine Kriegsflotte, welche diese Wendung herbeiführt und damit bestimmend in die zukünftigen Geschicke der ganzen Welt eingreift. Wie ein begnadeter Seher hat Themistokles nach Marathon den Griechen zugerufen: „Baut Trieren!“ und glücklicher Weise sind sie seinem Rathe gefolgt. Die Schlacht bei Salamis wird geschlagen, die gewaltigste, welche der Ocean gesehen, 336 peloponnesische Schiffe stehen gegen 800 persische – 70,000 Griechen gegen 160,000 Meder.

Der Kampf ist wild und blutig; er dauert bis zur Nacht, und Xerxes schaut ihm vom Fuße des Aegaleos aus zu. Doch bald wird sein Blick trübe und starr. Die regellose Masse seiner Schiffe wird von den Griechen decimirt; ihre ehernen Schiffsschnäbel bohren sich mit tödtlicher Sicherheit in die wehrlosen Flanken der [627] nautisch untüchtigen Gegner, um diese in Hekatomben zum Hades zu senden. Ihnen hilft keine Tapferkeit; ihre Pfeile prallen von den Rüstungen der Hopliten, der griechischen Fußtruppen, ab, aber deren Waffen treffen die ungeschützten Leiber der Perser stets blutig.

Als die Nacht ihre dunklen Schatten herniedersenkt, da bedecken nur Schiffstrümmer und Leichen das wogende Schlachtfeld, der siegesjubelnde Päan (Schlachtgesang) der Griechen erfüllt die Luft, und sein Echo hallt an den Bergen wieder.

Sie haben die Schlacht gewonnen, und Xerres verhüllt zorn- und schmerzerregt das Antlitz. Die Seinen fliehen; der Ruhm seiner Waffen ist dahin – doch Europa ist vor den Barbaren gerettet. 200 persische Schiffe sind zerstört, 40,000 Mann ihrer Besatzungen von den Fluthen verschlungen, während die Sieger noch nicht den fünften Theil eingebüßt haben.

Was Themistokles bei Salamis begonnen, das vollendeten Xanthippus und Cimon in den nächsten dreißig Jahren bei Mykale, am Eurymedon und bei Cypern. Die griechische Kriegsflotte schwang sich in diesem Zeitraume zur alleinigen Beherrscherin des Mittelmeeres auf, um unter Perikles ihren Höhepunkt zu erreichen. Ihr Typus ist das Dreireihenschiff, die Triere, über welche die Geschichte so genaue Data hinterlassen hat, daß wir uns ein ziemlich erschöpfendes Bild von ihr machen können.

Der Bau der ersten Trieren wird den Korinthern zugeschrieben. Ihre Techniker leisteten damit Vorzügliches, und schon die äußere Erscheinung dieser Fahrzeuge verräth den hohen Standpunkt der damaligen Schiffsbaukunst. (Bild 1.)

Sie waren von schlanker eleganter Form, welche ihnen Schnelligkeit sicherte, während der feine Schnitt ihres Rumpfes gleichzeitig die Manövrirfähigkeit begünstigte. In diesen beiden Eigenschaften gipfelte der kriegerische Werth der Trieren, deren Taktik hauptsächlich nicht in dem Kampfe von Mann gegen Mann, sondern von Schiff gegen Schiff bestand, indem sie mit einem vorn in der Wasserlinie angebrachten Sporn die Seite des Gegners zu durchbohren und denselben zu vernichten suchten.

Die zu diesem Zwecke erforderliche Beweglichkeit wäre durch Benutzung des Windes als Motor zu sehr beschränkt worden; deshalb bediente man sich in der Schlacht nur der Ruder, auf deren möglichst geschickter Handhabung der Sieg beruhte.

Die Mannschaft solcher Trieren bestand aus 200 Köpfen. Davon waren 170 Ruderer, 12 bis 15 Soldaten, und den Rest machten die Officiere, Handwerker und Diener aus. Die Ruderer arbeiteten in drei Reihen über einander, und das Arrangement war ein sehr sinnreiches, sodaß sich der Rumpf des Schiffes verhältnißmäßig nicht hoch über das Wasser erhob und die Ruder der oberen Reihen nicht zu lang und schwerfällig wurden.

Die Herrschaft der Trieren behauptete sich fast ein Jahrhundert lang. In der letzten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. besaß Athen allein nicht weniger als 400 Trieren, von denen Perikles 300 stets seebereit und 60 zur Wache und Uebung ununterbrochen im Aegäischen Meere hielt. Es war der Glanzpunkt der griechischen Seemacht; bald sollte sie jedoch im unseligen peloponnesischen Kriege sich gegenseitig vernichten.

Mit dem Beginn des vierten Jahrhunderts wurde die Triere durch ein größeres Modell verdrängt. Nachdem die Karthager bereits mit Vierreihenschiffen vorgegangen waren, baute Dionysius der Erste von Syrakus die ersten Fünfreihenschiffe, die Penteren, welche fortan die entscheidenden Factoren in den Seeschlachten wurden. Sie waren bedeutend größer als die Trieren; ihre Länge betrug etwa 52 Meter bei 8 Meter Breite, 4½ Meter Tiefgang und 500 Tonnen (1000 Centner) Gehalt. Die Besatzung belief sich auf 400 Köpfe, worunter sich 300 Ruderer befanden, während die Zahl der Soldaten allmählich wuchs, da sich auch die Kampfweise der Schiffe veränderte.

Die Römer gaben den Impuls zu dieser Aenderung. Ihr Kampf mit den Karthagern konnte nur auf dem Meere ausgetragen werden; doch sie waren kein Seevolk; deshalb suchten sie ihre Landkampfweise auf die Schiffe anzuwenden. Nachdem sie eine Flotte von 120 solcher Fahrzeuge gebaut, besetzten sie die selben mit einer großen Zahl Schwerbewaffneter und rüsteten sie mit Enterbrücken aus, d. h. mit Brücken, welche mit Haken versehen waren, um sie auf die nahenden feindlichen Schiffe fallen zu lassen und diese festzuhalten.

Damit trat an die Stelle des Kampfes von Schiff gegen Schiff der von Mann gegen Mann, und die Entscheidung der Schlacht beruhte nicht mehr wie bisher auf dem nautischen Geschick der Ruderer, sondern auf der Masse und militärischen Schulung der eingeschifften Soldaten. Die Folge dieser neuen Taktik war der Sieg der Römer über die Karthager gleich in der ersten Seeschlacht bei Mylae im ersten punischen Kriege und der baldige Zusammenbruch der karthagischen Seeherrschaft, welche nunmehr Rom antrat, um sie fast ein halbes Jahrtausend zu behaupten.

Die veränderte Kampfweise beeinflußte naturgemäß den Bau der Kriegsschiffe. Ihre hauptsächlich auf den Spornstoß berechnete Leichtigkeit und Beweglichkeit wich größeren und schwereren Formen, und unter den Epigonen Alexander’s des Großen entstanden nicht nur Zehn- und Sechszehn, sondern unter Ptolemaeus Philopator sogar ein Vierzigreihenschiff.

Die Construction so gewaltiger Schiffe stellte an die Technik ungemein hohe Anforderungen, sodaß die Schiffsbaukunst sich nothwendig sehr vervollkommnen mußte, und besonders war es Syrakus, das sich darin auszeichnete.

Indessen fanden diese Vorgänge keine allgemeinere Nachahmung; im Gegentheil wurde der Schiffsbau vernachlässigt, als die Herrschaft der Römer sich mehr und mehr ausbreitete, sie in den unbestrittenen Besitz des Mittelmeeres gelangten und mit keiner andern Nation mehr zu rivalisiren hatten. Sie begnügten sich mit Fünfreihenschiffen, und die bis zum Beginn unserer Zeitrechnung noch vorkommenden größeren Seekriege gegen Mithridates von Pontus, zwischen Cäsar und Pompejus, sowie die Schlacht von Actium wurden mit jenen Fahrzeugen ausgefochten.

In dem letzten Jahrhundert v. Chr. vollzog sich jedoch wiederum eine die Bau-Art der Kriegsschiffe beeinflussende Taktik. Während seit Salamis bis zu den punischen Kriegen der Spornstoß die Hauptrolle spielte und darnach die Enterung in den Vordergrund trat, machte sich jetzt das Bestreben geltend, sich mehr aus der Ferne zu bekämpfen.

Man versah die Schiffe mit Wurfmaschinen verschiedener Art, um schwere Pfeile, Speere, Balken, Steine und brennende Stoffe schleudern zu können, und ebenso errichtete man auf den Verdecken Thürme, in denen Bogenschützen postirt wurden, um die Mannschaften auf den feindlichen Verdecken auf weitere Distanzen unschädlich zu machen. Diese Belastung der Schiffe zwang zum Aufgeben der feinen Linien, der schlanken und gefälligen Formen, durch welche sie sich bisher ausgezeichnet hatten.

Nach Aufrichtung des römischen Kaiserreiches fanden bis zu dessen Auflösung keine größeren Seeschlachten statt, und die Flotte beschränkte sich auf die Reinhaltung des Mittelmeeres von Seeräubern. Dreihundert Jahre herrschte Ruhe auf dem Meere, und wie das Kaiserreich überhaupt, verfiel in dieser Zeit auch seine Flotte. Die größeren Schiffe verschwanden; die Schiffsbaukunst stieg reißend schnell von ihrer einstigen Höhe herab, und bis zum zehnten Jahrhundert nach Chr. bestanden die Flotten des Mittelmeeres nur aus kleinen Fahrzeugen mit einer Ruderreihe ohne maritime Bedeutung.

Indessen verlegte sich der Schwerpunkt des Seewesens nach dem Norden Europas; dort waren es die Angelsachsen und Skandinavier, welche in ihrem wagenden Muthe den Anstoß dazu gaben. Im Beginne unserer Zeitrechnung noch hatten sie nur Einbäume und schwache Fahrzeuge aus Weidengeflecht, mit Thierhäuten bezogen, aber sie bekämpften damit nicht nur Sturm und Woge ihrer ungastlichen Küsten, sondern griffen selbst die Trierenflotten der römischen Eindringlinge an, wenn ihre Tapferkeit auch an der feindlichen Kriegskunst scheiterte.

Doch sie verloren nicht Muth und Selbstvertrauen; sie verbesserten ihre Fahrzeuge, und das vor einiger Zeit im Nydamer Moor im Schleswigschen aufgefundene und wunderbar erhaltene dreißigruderige Boot aus dem dritten Jahrhundert nach Chr. giebt Zeugniß, welche erstaunliche Fortschritte unsere Vorfahren in der kurzen Zeit im Schiffsbau gemacht hatten. Der Zug von Hengist und Horsa nach England auf solchen Tschulen, wie diese Boote hießen, erscheint nicht mehr gefährlich.

Als die Angeln und Sachsen in Britannien eine neue Heimath gefunden, da entsagten sie für Jahrhunderte dem Meere und wandten sich dem friedlichen Ackerbau zu, doch die Einfälle der wilden nordischen Seekönige rüttelten sie wieder aus ihrer Ruhe auf und riefen die alten Erinnerungen in ihnen wach. Ihre Könige Alfred und Edgar schufen neue Flotten, schlugen die Dänen und die Wikinger und jagten sie über die Nordsee zurück.

[628]

Kriegsschiffe aus alter und neuer Zeit. Originalzeichnung von Fritz Stoltenberg.
1. Triere, Alterthum. – 2. Wikinger Schiff, XI. Jahrhundert. – 3. Kriegsschiff Heinrich’s des Achten von England, XVI. Jahrhundert. – 4. Venetianische Galeere, XVII. Jahrhundert. – 5. Holländische Kriegsschiffe salutirend, XVII. Jahrhundert. – 6. Englisches Linienschiff, XVIII. und XIX. Jahrhundert. – 7. Panzerschiff „König Wilhelm“, XIX. Jahrhundert. – 8. Torpedodampfer „Ziethen“, XIX. Jahrhundert.

[629]  WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [630] Nummer 2 unserer Bilder veranschaulicht ein solches Wikinger Schiff aus dem neunten Jahrhundert, wie es kürzlich in Norwegen gefunden wurde; es ist zum Segeln und Rudern eingerichtet und mit Kriegern gefüllt, deren Schilder sich längs der Bordwand zeigen.

Zweihundert Jahre später sehen wir in den Schiffen Wilhelm’s des Eroberers, deren treue Abbilder uns die Gobelins von Bayeux aufbewahrt, einen bedeutenden Fortschritt in der Schiffsbaukunst; die Ruder sind fortgefallen; drei Masten mit Raasegeln haben sie ersetzt, und die feste runde Bauart verräth das Hochseeschiff, welches jetzt in den nordischen Meeren die Ruder zu verdrängen beginnt, um für seine Bewegung nur noch mit den Winden zu rechnen.

Bis zum Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts vervollkommnete sich das Seewesen wenig, dann aber gaben zwei zeitlich nahe liegende Momente ihm einen bedeutenden Aufschwung: die Einführung des Compasses und die ihr bald folgende Erfindung der Schußwaffen. Von beiden Neuerungen machten zuerst die Schiffe der damals auf dem Höhepunkt ihrer Seemacht stehenden Hansa Gebrauch, und sie zogen wesentliche Verbesserungen im Schiffsbau nach sich. Der Compaß gestattete die bisherige Küstenfahrt zu verlassen und die Handelsverbindungen bedeutend weiter auszudehnen, wodurch sich das Seewesen nothwendig heben mußte. Bisher einander fremde Nationen kamen sich näher, tauschten ihre Erfahrungen aus und zogen daraus für ihre Schifffahrt Nutzen, der Norden jedoch am meisten. Seinen Seeleuten wohnte der höhere Unternehmungsgeist bei; sie gingen nach dem Mittelmeere, während dessen Küstenbewohner sich auf ihre ruhigen Gewässer beschränkten. Durch die längeren Reisen wurden Jene gezwungen, ihre Schiffe besonders stark und seefest zu bauen, und die Armirung mit Geschützen erforderte ebenfalls sowohl starken Bau, wie veränderte Form.

Merkwürdiger Weise wuchsen die Schiffe nicht so an Größe, wie man hätte annehmen sollen. Ihr durchschnittlicher Raumgehalt belief sich auf 300 Tonnen, wie ihn die hölzernen Kanonenboote unserer Marine haben, und 500 Tonnen (eine Größe wie die unserer kleinen Segelbriggs für Schiffsjungen) war während des ganzen Jahrhunderts eine Ausnahme. Selbst die Schiffe des Columbus hatten nur etwa 300 Tonnen Gehalt, und sein Wagniß, damit den atlantischen Ocean zu kreuzen, erscheint dadurch nur noch bewundernswerther.

Mit dem sechszehnten Jahrhundert erweiterten sich jedoch die Dimensionen der Schiffe; ebenso schieden sich um diese Zeit die Kriegsflotten von den Handelsmarinen und begannen eigene militärische Körper zu bilden. Bis dahin wählten nämlich die Regierungen für Seekriege die größten Handelsschiffe aus, um sie zu bewaffnen, und Heinrich der Achte von England schuf zuerst die Grundlage einer nur für den Krieg bestimmten Flotte, worauf die übrigen Mächte allmählich seinem Beispiele folgten.

Das Zeitalter der Entdeckungen überzeugte die Seestaaten, daß nur tüchtige Kriegsflotten ihnen einen Antheil an den durch die Zeit gebotenen Vortheilen sichern und ihnen Macht und Reichthum schaffen könnten, was die Anregung zu weiterer Vervollkommnung des Schiffsbaues gab; man erbaute nunmehr namentlich größere Fahrzeuge und vermehrte die Geschützzahl bedeutend. Die ersten Versuche nach dieser Richtung hin fielen allerdings noch nicht sehr glücklich aus, und der um 1513 erbaute „Henry Grace à Dieu“ mit seinen beiden unförmlichen Castellen, den unser Bild Nr. 3 darstellt, zeigt eine geradezu ungeheuerliche Figur. Er führte 80 Geschütze und hatte doch nur einen Raumgehalt von 1000 Tonnen, also so viel wie unsere kleinsten Dampfcorvetten von 10 Geschützen. Allerdings befanden sich unter jenen 80 Kanonen nur etwa fünfzig 18- bis 9-Pfünder, während die übrigen aus 6- bis 1-Pfündern bestanden.

Doch schon drei Jahrzehnte später änderte sich die Sache. Die thurmartigen Aufbaue wurden ganz bedeutend reducirt; die Takelage stieg symmetrisch in die Höhe, und von dieser Zeit an schritt der Schiffbau in stetiger Vervollkommnung vorwärts. Die niederländischen Kriegsschiffe aus dem siebenzehnten Jahrhundert (Bild Nr. 5) zeigen bereits den Uebergang zu den ebenso zweckmäßigen wie eleganten Formen der Fregatten und Linienschiffe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.

Im Mittelmeere, der Wiege des Seewesens, blieb man jedoch in dieser Beziehung zurück und ließ sich von dem energischen Norden in jeder Beziehung überflügeln. Mit der verwüstenden Völkerwanderung war mit anderen geistigen Gütern auch die einst so hochstehende antike Schiffsbaukunst verloren gegangen. Die Galeere, wie sie Bild 4 aus dem Jahre 1600 zeigt, war zwar eine Nachahmung der alten Triere, jedoch lange nicht so vollkommen wie sie und nur mit einer Reihe Ruder versehen, welche nicht Seeleute, sondern Verbrecher und Sclaven führten. Mit ihren 5 Geschützen, ihrer niedrigen Lage über Wasser und ihrer leichten Bauart war sie den starken Hochbauschiffen nicht gewachsen und verschwand in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aus der Reihe der Kriegsflotten.

Während des siebenzehnten Jahrhunderts entwickelten sich die Letzteren ganz ungemein: England, Holland, Frankreich und Spanien rangen fast ein halbes Jahrhundert in zahllosen blutigen Kämpfen um die Herrschaft des Meeres, und die Kriegsschiffe wuchsen an Zahl und Größe. Mit dem englischen „Royal Sovereign“ trat 1640 das erste Linienschiff (Dreidecker) auf, um fortan als Schlachtschiff die Stärke der Flotten zu bilden und den Ocean zwei Jahrhunderte lang zu beherrschen. Mit ihm fand diese Form einen ungefähren Abschluß und änderte sich bis zur Anwendung der Dampfkraft auf die Schifffahrt verhältnißmäßig nur wenig, wie dies der Vergleich zwischen den Bildern 5 und 6 zeigt, obwohl beide Typen über 150 Jahre aus einander liegen, jener dem siebenzehnten und letzterer unserem Jahrhundert angehört. Die hauptsächlichsten Veränderungen während dieses Zeitraumes beschränken sich auf das Verhältniß von der Breite zur Länge des Rumpfes, das von 1:3 in 1:4 übergeht, um sich auf diesem Punkte bis zur Einführung der Dampfkraft zu erhalten.

Ebenso vollzog sich allmählich eine Wandlung in der Bewaffnung der Schiffe. Man verringerte die Zahl der Geschütze und die Vielfältigkeit ihrer Kaliber, um die letzteren dafür zu vergrößern, und strebte dahin, die Technik der Geschützfabrikation zu vervollkommnen. Bei Erfindung der Kanonen stellte man diese aus Schmiedeeisen her; später ging man zum Guß über, aber daß derselbe sehr zu wünschen übrig ließ, geht aus der Thatsache hervor, daß während einer Seeschlacht zwischen Engländern und Holländern 1666 auf den Schiffen der Letzteren nicht weniger als 118 Geschütze sprangen.

Seit Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts begann man auch der Taktik größere Aufmerksamkeit zu schenken; denn wenn man bis dahin dieselbe wenig beachtete und ohne sichtbare Ordnung kämpfte, so entstanden jetzt feste Regeln für die Bewegungen der einzelnen Schiffe wie der Geschwader, und die Manövrirkunst wurde zu einem wichtigen Factor, um in der Schlacht Vortheile über den Gegner zu erringen.

Mit der zunehmenden Größe der Schiffe und der Geschütze wuchs auch die Zahl der Bemannung. Während man im siebenzehnten Jahrhundert ungefähr 5 Mann auf ein Geschütz rechnete, stieg dieses Verhältniß im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert bis zu 10, sodaß z. B. die Linienschiffe unserer Zeit von 90 Kanonen, welche lange 32-, 24- und 18-Pfünder führten, 900 Mann Besatzung – statt wie früher die Hälfte – zählen. Andererseits verringerte sich die Zahl der Schlachtschiffe in der Flotte, da die Bau- und Unterhaltungskosten ja bedeutend größer wurden. 1646 kaufte Frankreich von Schweden 4 ausgesuchte und voll ausgerüstete Kriegsschiffe von 36 bis 44 Kanonen, wie sie damals das Gros der Schlachtschiffe ausmachten, für 72,000 Thaler; ein einziges dreideckiges Linienschiff von 90 bis 100 Kanonen kostete dagegen zu Anfang des Jahrhunderts über 1 Million Thaler.

So kam es, daß wir 1673 98 holländische gegen 110 englische Kriegsschiffe sehen, während die großen Schlachten von St. Vincent, Abukir und Trafalgar um den Beginn unseres Jahrhunderts nur mit einem Dritttheile jener Zahlen und weniger geschlagen wurden. Man kann sagen, daß um diese Zeit die Kriegsflotten den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hatten und die Segelschifffahrt kaum noch Verbesserungen wesentlicher Art erfahren konnte. Die Manövrirkunst und die Taktik waren hoch ausgebildet und litten nur an einem Mangel: an der Abhängigkeit vom Winde.

Der Einführung der Dampfkraft auf den Schiffen war es vorbehalten, diesen Mangel zu beseitigen, aber sie eröffnete für die Kriegsflotten auch gleichzeitig eine neue Aera in Bezug auf Bauart, Taktik, Zusammensetzung und Bewaffnung.

1807 baute Fulton den ersten Flußdampfer. Schon 1815 lief in den „Vereinigten Staaten“ der erste Kriegsraddampfer, die Fregatte „Fulton“, mit 32 Kanonen vom Stapel, und sehr bald folgten die übrigen Seemächte dem gegebenen Beispiele. [631] So bedeutende Vortheile indessen der neue Motor für Kriegszwecke besaß, indem er den Schiffen eine unbegrenzte Manövrirfähigkeit verlieh, beschränkten andererseits verschiedene Mängel seine Wirksamkeit: für Linienschiffe war der Radkasten zu unförmlich; bei den kleineren Schiffen lagen Maschinentheile über Wasser; ein einziger Treffer konnte sie zerstören und damit das ganze Schiff kampfunfähig machen. Die Radkasten boten ein großes Ziel, hinderten die Aufstellung von Geschützen und beeinträchtigten die nautischen Eigenschaften der Schiffe.

Man suchte deshalb nach einem besseren Motor und fand ihn in der Schraube. Ihre Vorzüge waren so bedeutend, daß sie sich sehr bald einführte, die kaum seit zwei Jahrzehnten bestehenden Raddampfer als Schlachtschiffe vollständig verdrängte und seit 1840 in den Flotten zur Alleinherrschaft gelangte. Die geschützte Lage aller Maschinentheile unter Wasser, die Möglichkeit, die frühere Segel- und Geschützkraft in ihrem vollen Umfange beizubehalten, im Gefecht dagegen sich vom Winde unabhängig zu machen, waren zu große Vortheile, als daß man sie nicht sofort allseitig hätte erkennen sollen.

Es begann sich deshalb eine allgemeine Umwandlung der Kriegsschiffe in Schraubendampfer zu vollziehen, und mit ihr trat wieder eine Aenderung der Form auf. Um den durch Maschine und Kohlen eingenommenen, aber nicht entbehrlichen Raum wieder zu gewinnen, wurde das Verhältniß der Breite zur Länge bis auf 1:6 und 7 erhöht und damit zugleich eine größere Geschwindigkeit erzielt. Kaum war jedoch diese für alle Marinen mit ungemein großen Kosten verknüpfte Aenderung vollzogen, als das Kriegsseewesen nothgedrungen schon wieder in eine neue Phase treten mußte, die abermals eine vollständige Umgestaltung der Schlachtschiffe nach sich zog.

Das Linienschiff, der Stolz des Oceans, das ihn länger als zweihundert Jahre beherrscht und so viele Schlachten entschieden hatte, trat seit 1860 von dem Schauplatze seiner ruhmvollen Thätigkeit ab, um den Panzerschiffen den Platz zu räumen.

Letztere verdanken ihren Ursprung den Verbesserungen der Artillerie und namentlich den Bombenkanonen, welche 1822 von dem Franzosen Paixhans erfunden wurden und sich allmählich auf deren Flotten einbürgerten.

Die darauf folgende lange Friedenszeit bot keine Gelegenheit, die Wirksamkeit der neuen Geschütze zu erproben, und erst die Schlacht bei Sinope, sowie der Angriff der alliirten Flotten auf Sebastopol während des Krimkrieges gaben ein erschreckendes Zeugniß davon; denn in ersterer vernichteten die Granaten russischer Schiffe in nur wenigen Stunden einen großen Theil der türkischen Flotte, und während des letzteren richteten die gleichen Geschosse der Festungswerke einen verheerenden Schaden auf den englisch-französischen Schiffen an.

Diese Erfolge sprachen das Todesurtheil über die hölzernen Schlachtschiffe aus, und man gewann die Ueberzeugung, daß nur eine angemessene Eisenpanzerung Schutz gegen solche furchtbare Wirkungen bieten könne.

Napoleon der Dritte gab dieser Idee praktische Gestaltung, indem er noch während des Krieges schwimmende Batterien mit Eisenplatten decken und sie zur Beschießung von Kinburn verwenden ließ. Der Ausgang des Kampfes entsprach den gehegten Erwartungen: die schwimmenden Batterien litten sehr wenig und blieben Sieger gegen die Festung.

Mit dieser Thatsache begann eine vollständige Umwälzung der ganzen Seekriegführung, und im Jahre 1860 wurden die gepanzerten hölzernen französischen Fregatten „La Gloire“, „Invincible“ und „Normandie“ fertig gestellt, denen das rivalisirende England alsbald zwei bedeutend größere eiserne, den „Black Prince“ und „Warrior“ gegenüberstellte.

Während die schwimmenden Batterien von Kinburn jedoch nur einen Panzer von 10 Centimeter Dicke besaßen, welcher gegen die Granaten der achtundsechszigpfündigen Bombenkanonen völlig genügte, erhielten die genannten Fregatten schon eine Stärke von 12 Centimeter; denn inzwischen war ein anderer wichtiger Factor aufgetreten, mit dem man zu rechnen gezwungen war: die gezogenen Geschütze mit ihrer so viel größeren Durchschlagskraft waren in’s Leben getreten, und mit ihnen begann der Kampf zwischen Panzer und Kanone, der in den letzten zwanzig Jahren die Techniker zu Leistungen anspornte, welche früher für absolut unmöglich gehalten wurden, der den Seestaaten viele Tausende von illionen gekostet und bis zum heutigen Tage noch keinen Abschluß gefunden hat.

Die ersten gezogenen Schiffsgeschütze hatten einen Seelendurchmesser von 15 bis 16, die ersten Panzer eine Stärke von 10 Centimeter; jetzt ist man für erstere schon bei 45, für letztere bei 60 Centimeter angelangt.

Das Gewicht solcher Eisenmassen stellte Anforderungen an die Tragkraft der Schiffe, für welche neue Formen gefunden und die Dimensionen bedeutend vergrößert werden mußten. Es ent standen daher Kolosse von 120 bis 130 Meter Länge und 20 bis 25 Meter Breite, gegen welche die früheren Linienschiffe in den Schatten traten.

Dieser Wechsel ging ungemein schnell vor sich; eine Erfindung jagte die andere; in fieberhafter Hast überboten sich die Nationen, namentlich England und Frankreich, in Neuconstructionen, und während z. B. unser „König Wilhelm“ (siehe Bild Nr. 7) zur Zeit seiner Erbauung (1865 bis 1868) mit 20 Centimeter Panzer und 18 Stück 24 Centimeter-Geschützen für das größte und stärkste Kriegsschiff galt, war er nach wenigen Jahren aller Orten überholt und würde jetzt im Kampfe mit einem der neuesten englischen Panzerschiffe, z. B. „Inflexible“ (40 bis 60 Centimeter Panzer und 4 Stück 45 Centimeter-Geschütze) bald vernichtet sein.

Die Versuche, Panzer und Kanonen zur bestmöglichen Verwerthung in der Schlacht zu bringen, rief eine Reihe verschiedener Schiffstypen in’s Leben, Breitseit-, Casematten- und Thurmschiffe, welche letztere wieder in solche mit drehbaren, oben geschlossenen, und festen, oben offenen Thürmen zerfallen, in denen die Geschütze über Bord feuern, und die sämmtlich auch in unserer Marine vertreten sind. Bei den ersten („Friedrich Wilhelm“) sind die Geschütze auf dem größten Theile der Breitseiten vertheilt, auf den Casemattschiffen in einer besonders stark und ringsum gepanzerten Casematte in der Mitte des Schiffes concentrirt. In den Thürmen stehen nur je 2, aber dafür desto schwerere Geschütze. Man zieht in neuerer Zeit die Thurmschiffe ohne Bemastung vor, und ebenso scheint man jetzt nicht mehr über 100 Meter Länge und 22 bis 24 Meter Breite hinausgehen zu wollen, um das Manövriren nicht zu hindern.

Lezteres ist mehr als je für die Seekriegführung in den Vordergrund getreten, um die furchtbare Waffe des Sporns, mit dem jedes Panzerschiff ausgerüstet wird, möglichst gut zu verwenden, da ein gelungener Stoß den Gegner versenken oder wenigstens kampfunfähig machen kann. Man hat zwar versucht, der Gefahr des schnellen Sinkens in solchem Falle („Ré d’Italia“ bei Lissa, „Großer Kurfürst“) durch Construction eines doppelten Schiffsbodens mit Hunderten von wasserdichten Abtheilungen vorzubeugen, bezüglich sie zu vermindern, hat aber bis jetzt noch keine Garantie dafür, da entscheidende Proben der verschiedenen Systeme natürlich ausgeschlossen sind.

Eine Folge des Sporns ist die gänzliche Umkehrung der früheren Taktik. Die Stärke der Segel- und Schraubenschiffe lag in ihrer Breitseite. Für den Angriff entwickelte sie mit ihrer gesammten Geschützzahl die größte Kraft, und für die Vertheidigung schadeten die feindlichen Geschosse dort am wenigsten, während sie in der Längsrichtung die größten Verheerungen anrichteten. Bei den Panzern liegt die größte Stärke jedoch vorn im Bug, für den Angriff im Sporn und schweren in der Kielrichtung schießenden Kanonen, für die Vertheidigung in der scharfen Form des Vordertheils, wo die feindlichen Geschosse den Panzer nur unter einem spitzen Winkel treffen können und dadurch ungemein an ihrer Kraft einbüßen.

Man sieht, die Kriegführung der Jetztzeit ist so ziemlich wieder dort angelangt, von wo sie auf griechischer Seite in der Schlacht von Salamis ausging. Hier wie dort der Sporn und das Bestreben, ihn im Nahkampfe zur Geltung zu bringen; hier wie dort Unabhängigkeit vom Winde beim Manövriren, wobei das frühere Ruderwerk durch die Dampfmaschine ersetzt ist; jetzt wie damals vorwiegend Einzelkämpfe von Schiff gegen Schiff, statt des Zusammenwirkens von größeren Abtheilungen.

Wer weiß jedoch, welche kurze Lebensdauer dem neuesten Schlachtschiffe beschieden sein mag? Den Goliath „Panzer“ bedroht bereits der David „Torpedo“, jene schrecklichste und unheimlichste aller Waffen, welche menschlicher Zerstörungssinn hat erdenken können. Schon früher – zu den verschiedensten Zeiten – ist der Torpedo aufgetaucht, aber erst das letzte Jahrzehnt [632] hat ihn in der Gestalt des Fischtorpedos soweit verbessert, daß er an Bord der Kriegsschiffe eingeführt worden ist. Er wird aus Röhren mit comprimirter Luft ausgestoßen und bewegt sich bis auf etwa 1000 Meter mit einer durch dieselbe Kraft in Thätigkeit gesetzten Schraubenmaschine vorwärts. Wenn er sein Ziel trifft, so ist seine Wirkung geradezu gewaltig, und kein Panzerschiff der Welt kann dann der Vernichtung durch ihn entgehen.

Noch ist die Kriegsbrauchbarkeit des Torpedos nicht vollständig, sein berechneter Weg nicht sicher; er kann noch plötzlich einen Bogen machen und sich gegen das Schiff derjenigen wenden, die ihn geschleudert haben. Aber es ist kaum zu bezweifeln, daß seine Verwendung für Kriegszwecke früh oder spät eine gesicherte werden wird, und in dieser Voraussicht ist er auf allen Marinen eingeführt worden. Zu seiner Forcirung bedarf es nur kleiner Fahrzeuge, der Torpedoboote von kaum 30 Meter Länge und wenigen Mann Besatzung, wie sie sich täglich in den Marinen mehren und von denen sich für die Kosten eines Panzerschiffes 50 bis 100 bauen lassen (siehe Bild Nr. 8). Man erhöht ihre Geschwindigkeit auf 20 Knoten und mehr, während für Panzer 14 Knoten ein Maximum ist. Wie will ein solcher Koloß sich des Angriffs von 10 bis 20 dieser Fahrzeuge erwehren? Er mag mehr als drei Viertheile von ihnen zerstören und ist doch verloren.

Welch furchtbares Bild gegenseitiger Vernichtung wird die nächste Seeschlacht bieten? Möge sie noch in recht weite Ferne gerückt sein!

Die Wandelung des Seekriegswesens seit Einführung des Dampfes hat aber – um dies zum Schlusse nicht unerwähnt zu lassen – auch in anderer als kriegerischer Beziehung bedauerlich gewirkt. Sie hat den poetischen Nimbus verscheucht, der das Segelschiff umgab. Wenn dieses mit seinen schlanken schönen Formen über die Azurfläche des Meeres graziös dahinglitt und der Wind sanft die Segel schwellte, deren schneeige Leinwand sich in Pyramidenform symmetrisch hoch aufbaute, dann bot es eine Erscheinung, die Herz und Sinn erfreute. Zwischen ihm und dem Seemanne, der sich Jahre lang auf ihm schaukelte, Freud’ und Leid auf ihm durchlebte, wob sich ein Band der Zusammengehörigkeit, das Jenen mit magischer Kraft an sein Schiff fesselte. Er hielt es hoch wie eine Geliebte; er fühlte sich wohl und behaglich auf ihm, mochte es ihn in Stille oder Sturm, im Frieden oder im Kampfe tragen. Dagegen das Schiff von heute – der Dampfer! Schwarzer Rauch ringelt sich in dichten Wolken aus den Schloten und verfinstert die Sonne, die sonst freundlich und friedlich auf die Segelfläche herabschien. Gejagt vom Geiste der Zeit, saust es ohne Ruhe und Rast dahin – es mag dem berechnenden Verstande genügen, dem Herzen nicht. Nach wie vor wird der Seemann auf dem Panzerschiffe seine Pflicht thun, aber jenes zarte Band ist für immer zerrissen – er wird es nie lieben können.




Bernhard von Langenbeck.

Eine Portraitskizze.

„Ich bin stets ein Vertreter der conservativen Chirurgie gewesen.“ Dies waren so ziemlich die letzten Worte, welche der Altmeister der deutschen Chirurgie am 29. Juli d. J. gesprochen, als er von der Stätte seiner glänzendsten öffentlichen Wirksamkeit als Lehrer und hülfreicher Arzt, von dem Operationssaal in der Berliner Universitätsklinik, Abschied nahm. Freiwillig hat der unermüdliche Mann, da er die Einflüsse des herannahenden Alters an sich verspüren mochte, seine an ungewöhnlichen wissenschaftlichen Erfolgen und äußeren Ehren überreiche Stellung aufgegeben. Fürwahr ein seltenes Beispiel hoher, gewissenhafter Pflichttreue!

Wer ihm noch in der allerletzten Zeit am Operationstische zusehen durfte, wie er mit seiner sprüchwörtlich gewordenen Eleganz und seiner unerschütterlichen Kaltblütigkeit sein schweres Amt vollführte und mit ungebrochener geistiger Kraft seine kühnen Entwürfe ausführte, der hätte nur sehr ungern sich dem Gedanken hingegeben, daß diese „sichere Hand“ fortan nicht länger im Dienste der Leidenden würde thätig sein.

Als zuerst von dem Rücktritte Langenbeck’s etwas in die Oeffentlichkeit drang, da gerieth wirklich die ganze Hauptstadt in eine nicht geringe Aufregung. Alle Kreise der Bevölkerung, bis in die höchsten hinan, wurden durch diese Kunde in Mitleidenschaft gezogen. Kein Mittel blieb unversucht, um den allverehrten Mann zu weiterem Verbleiben in seinem Lehramte und in seiner chirurgischen Wirksamkeit zu vermögen. Allein umsonst! Langenbeck’s Entschluß stand unwiderruflich fest, und mit Ende des Sommersemesters sollte derselbe endgültig ausgeführt werden. Und fürwahr! Diese allgemeine Theilnahme, welche dem Rücktritte des berühmten Wundarztes entgegengebracht wurde, war gar wohl gerechtfertigt; galt sie doch einer Persönlichkeit, welche auch außerhalb der eigentlichen Berufswirksamkeit so viele menschlich liebenswerthe Eigenschaften zu entfalten gewußt. Wenn wir daher in nachfolgenden Zeilen ein Bild von dem vielgefeierten Arzt unsern Lesern zu geben versuchen, werden wir nicht nur seine Stellung in der chirurgischen Wissenschaft, sondern auch seine gesellschaftliche – und diese nicht zum geringsten Theile – zu berücksichtigen haben.

Langenbeck entstammt einer Gelehrten-, insonderheit einer Medicinerfamilie. Sein großer Oheim, der berühmte Göttinger Anatom und Chirurg, ist sein bestimmender Lehrer und Leiter gewesen. Der große Langenbeck mochte frühzeitig die seltene Befähigung seines gelehrigen Schülers und Neffen erkannt haben, als er ihm rieth, vor allem anatomische und physiologische Studien eifrig zu betreiben; denn diese bilden die alte und die neue Grundlage für jeden wissenschaftlichen Fortschritt in der Chirurgie.

Die ersten Arbeiten des jungen Gelehrten gehörten auch wirklich der Physiologie an, für welche Wissenschaft er sich an der Göttinger Hochschule als Privatdocent habilitirte. Indessen sah er in dieser Beschäftigung nur die wissenschaftliche Vorstufe für seinen eigentlichen praktischen Lebensberuf. Langenbeck trat, wenn man so sagen darf, unter den denkbar günstigsten Zeichen in die Chirurgie ein. Die mannigfachen großartigen Errungenschaften der modernen, auf dem wissenschaftlich angeordneten Versuch aufgebauten Naturerkenntniß, der tiefe Einblick, welchen die moderne Forschung in das Wesen der Einzelvorgänge innerhalb des thierischen und menschlichen Organismus verstattete, sie sollten nicht blos zur Sicherung und Erweiterung der Gesammtanschauung, zur Vermehrung des theoretischen Wissens dienen, nein, sie sollten zum Heile der Leidenden, zur Linderung ihrer Gebrechen, zur Beseitigung von Uebeln verwendet werden. Die Chirurgie war, sozusagen, rasch zur Hand, sich alle die günstigen Aussichten zu nutze zu machen. Sie nahm die ihr von den gelehrten Schwestern dargebotenen Erkenntnißmittel bereitwillig an und zeigte sich ihrerseits schnell entschlossen, alle die guten Gedanken und vortrefflichen Rathschläge in die Praxis einzuführen. Physiologie und Chemie gaben die leitende Richtung an, und die Chirurgen, eingedenk der Wurzelbedeutung des Wortes, übernahmen die Ausführung aller von jenen eben genannten Wissenschaften gegebenen Aufträge und Andeutungen.

Zu den vorzüglichsten Ausführern aber jener wissenschaftlicherseits gegebenen Aufträge gehört eben Bernhard von Langenbeck. Er hat viel, sehr viel zu dem Triumphzuge beigesteuert, welchen die Chirurgie während der lezten Jahrzehnte feiern durfte, und namentlich dadurch hat er ihr zu dem allgemeinen Jubel über ihre Wunderleistungen verholfen, daß er ihr vorzugsweise die Aufgabe stellte, das Vorhandene an dem erkrankten Körper so viel wie nur irgend angänglich zu erhalten und nur im außersten Nothfalle endgültig die Beseitigung des Unhaltbaren vorzunehmen. Doch wohlgemerkt: dieser äußerste Nothfall mußte aber auch als ein solcher vorher und mit den schärfsten wissenschaftlichen Prüfungsmitteln erkannt sein. Dies hieß aber nichts Anderes, als jene unüberwindliche Nothfallsgrenze immer weiter und weiter hinauszuschieben.

In diesem Betrachte unterschieden sich vorzugsweise die ältere und die neuere Chirurgie. Jene sah in den scharf geschliffenen Messern, den spitzen Haken und Zangen, den Hämmern und Sägen vornehmlich die Werkzeuge zur möglichst schleunigen Entfernung von erkrankten Körpertheilen; diese hingegen machte sie zu wohlgeeigneten Bundesgenossen an ihrem conservirenden, erhaltenden Werke. Kaum waren die nähern Bedingungen des Knochenwachsthums, das Verhältniß der Knochenhaut zum eigentlichen Knochengewebe, [633] erklärt, als hieraus sofort neue Aufgaben für die erhaltende Chirurgie gegeben waren.

Mehr und mehr wurde die Nothwendigkeit der völligen Abtrennung einzelner Körpertheile eingeschränkt und die Ausschälung der betreffenden erkrankten Theile in’s Auge gefaßt. Die Amputationen verminderten sich; die Resectionen (das Herausschneiden eines Knochenstückes, zumeist eines Gelenkes) gewannen mehr und mehr an Bedeutung. Auf diesem Gebiete erntete Langenbeck zuerst seine glänzenden Erfolge. Die Behandlung erkrankter Knochentheile oder erkrankter Gelenkverbindungen – mochten die Ursachen mechanische, von außen her einwirkende oder innere, allgemein-constitutionelle sein – wurde mit einem Schlage eine von Grund aus veränderte.

Aber sollte das Werk des Chirurgen gelingen, das auf Erhaltung oder Wiedererlangung der durch die eingetretene Erkrankung zerstörten oder beeinträchtigten Gebrauchsfähigkeit des betreffenden Organes gerichtet war, dann kam Alles auf die Art und Weise der auszuführenden Operation, auf die weitere Wundbehandlung, auf die zweckmäßige Lagerung des operirten Körpertheiles an. Eine Fülle von Aufgaben harrte der Lösung, und es bleibt ein unvergänglicher Ruhmestitel Langenbeck’s, dieselben theils vollendet, theils weitergeführt, theils vorbereitet oder angebahnt zu[WS 1] haben.

Auf Grund seiner ausgezeichneten, in das Kleinste gehenden anatomischen Kenntnisse, der ihm allezeit geläufigen Lagerungsverhältnisse der einzelnen Organe und Organgruppen zu einander, ersann er die zweckmäßigsten Methoden, nach welchen derartige Gelenk- oder Knochenresectionen ausgeführt werden mußten. Sein an Auskunftsmitteln überreicher Sinn ließ ihn die brauchbarsten Instrumente erfinden oder die vorhandenen verbessern. Dem Laienauge mag manches unbedeutend erscheinen: aber wie viel auf diese vermeintlichen Unbedeutendheiten ankommt, das vermag in vollem Umfange nur zu würdigen, wer an derlei Arbeiten thätigen Antheil zu nehmen berufen ist. Langenbeck erlangte mit der Zeit nach dieser Richtung hin eine staunenerregende Virtuosität, die vor keinem noch so kühnen Eingriffe zurückzuschrecken brauchte.

Bernhard von Langenbeck.
Nach der Marmorbüste von Professor R. Siemering.

Mit sichtbarster Genugthuung erfüllte es ihn, und durfte es ihn erfüllen, wenn er seinen Schülern die erzielten Heilerfolge an den Opfern der modernen Industrie oder der modernen Kriege vorführte. Mit unauslöschlichen Lettern ist sein Name in die Geschichtsannalen der Kriegschirurgie eingegraben. Kein Wort des Lobes ist vollwichtig genug für das, was er in dieser Richtung an unseren todesmuthigen Soldaten vollbracht. Und wenn die Zahl der Amputationen an zerschossenen Gliedmaßen so zusehends zusammenschrumpfte, wenn die Größe der Opfer, welche unsere letzten nationalen Kämpfe gefordert, mehr und mehr gesunken, so ist dies nicht in letzter Reihe den erfolgreichen Mühen Langenbeck’s und seiner zahlreichen Schüler zu danken.

Kam es bei dieser Gruppe von auszuführenden operativen Eingriffen vor Allem darauf an, die ursprüngliche Gebrauchsfähigkeit der beschädigten Organe wieder herzustellen, so waren bei anderen verwandten Operationen mehr ästhetische Rücksichten zu nehmen. Wer kennte nicht die schauderhaft entstellenden Mißbildungen, welche, durch gewisse örtliche oder allgemeine Erkrankungen hervorgerufen, das menschliche Antlitz entstellen? Wem wären nicht schon einmal jene furchtbaren Narbenbildungen zu Gesicht gekommen, wie solche nach umfangreichen Verbrühungen, Verbrennungen in Folge von Explosionen der mannigfachsten Art sich einstellen? Wer hätte nicht schon hier und da jene gräulichen Bildungsfehler gesehen, die unter dem Namen Hasenscharten, Wolfsrachen volksbekannt sind? In allen diesen Fällen gilt es, so viel wie irgend möglich, die von Haus aus vorhandenen oder erst später entstandenen Defecte zu beseitigen. In allen diesen Fällen wird der Wundarzt zum Modelleur; er treibt sozusagen einen Wettbewerb mit dem künstlerischen Bildner. Nur hat es dieser um so Vieles leichter, als der leblose Thon oder Stein unendlich fügsamer ist, denn der menschliche Organismus.

Dieses Gebiet der Chirurgie, gemeinhin das plastische genannt, wurde von dem Vorgänger Langenbeck’s, dem bahnbrechenden Dieffenbach, recht eigentlich begründet und von dem Nachfolger auf die glücklichste Weise fortentwickelt und vervollkommnet. Und die große Gewandtheit, welche den Meister gerade in dieser Richtung auszeichnete, war mehr als einmal die Veranlassung zu den bezeichnendsten Anekdoten. Es ist vorgekommen, daß man nachträglich die Langenbeck’sche Nase für schöner halten mußte, als die ursprüngliche gewesen. Hier hatte der nachbildende Operateur eben der launenhaften Natur sozusagen die Wege gewiesen.

Trotz der unaufhörlichen Beschäftigung mit dem chirurgischen Handwerkszeuge hatte Langenbeck gewisse Derbheiten, wie sie sich bei jedem Metier im Laufe der Zeit einzustellen pflegen, stets von sich fern zu halten gewußt. Oder richtiger vielleicht, daß sie an seiner von Hause aus zu einer gewissen äußerlichen Eleganz hinneigenden Natur spurlos abglitten. Mitten in seiner blutigen Arbeit am Operationstische behielt er die natürliche Anmuth seiner feinen Gestalt, die so wohl zu seinem ganzen übrigen maßvollen Wesen paßte. In seiner ganzen Art sich zu geben lag eine Verbindlichkeit, wie sie sonst nur, dem allgemeinen Erfahrungsurtheile nach, den höheren Schichten unserer Gesellschaft eigen ist. Derselbe Mann, welcher im Sommer schon um sechs Uhr Morgens in dem Leichenhause der Berliner Charité einen Operationscursus gab, sodann die Krankenvisite in der Universitätsklinik machte, eine ungeheure consultative Praxis in der Stadt versah und in den Nachmittagsstunden bis gegen vier Uhr die chirurgische Klinik abhielt, war so wenig in die jedem Berufe bis zu einem gewissen Grade sonst eigenen Formen eingezwängt, daß man in dem zierlichen Reiter im Thiergarten, wie er mit einer kleinen, aber unleugbaren Koketterie durch die schattigen Wege dahin trabte, auch [634] nicht entfernt den Universitätsprofessor vermuthet hätte. Er sah wie ein geborener Edelmann aus und wie einer obenein, der einem alten, erbangesessenen Hause entstammte.

In der That, er liebte auch die Gesellschaft dieser Kreise und wußte es ihnen in ihren Gewohnheiten völlig gleich zu thun. Als er später geadelt wurde, erschien dies Allen wie etwas ganz Selbstverständliches, aber er hörte auch jetzt nicht auf, ein Bürger in des Wortes schönster Bedeutung zu sein. Stets blieb er eingedenk, was gerade er seinem Stande schuldig war, und auch hierin zeigte er sich als ein echter, rechter Edelmann.

Eine Persönlichkeit wie die Langenbeck’s vermag, ohne scheinbar selbstthätig in irgend welche bestehende Verhältnisse einzugreifen, dennoch gar Vieles zu deren Umgestaltung beizutragen. Der Einfluß, den sie unter Umständen im gegebenen Augenblicke ausübt, wirkt beinahe mit der Selbstverständlichkeit eines Naturvorganges. Es ist daher nicht zu viel behauptet, wenn man die bedeutsame Stellung, welche die deutschen Militärärzte innerhalb der großartigen Organisation unserer Armee nunmehr zugewiesen erhielten, dem indirecten Wirken dieser eigenthümlich gearteten Persönlichkeit Langenbeck’s zu einem nicht geringen Theile zuschreibt. Als man einen Mann von solch anerkannter Bedeutung auf den verantwortlichen Posten eines consultirenden Generalarztes der Feldarmeen stellte, da war es wiederum etwas, was sich von selbst verstand, daß man für ihn einen ihm entsprechenden militärischen Rang schaffen mußte. Was weiter noch in der angedeuteten Richtung zu geschehen hatte, erwies sich nur als eine einfache Schlußfolgerung, welche der erste Schritt mit Nothwendigkeit nach sich zog, und so erwuchs denn nach und nach ganz zwanglos die Einreihung des militärärztlichen Personals als Sanitätscorps in den Armeeverband. Die frühere Zwitterstellung war ein- für allemal beseitigt. Was und ob überhaupt Langenbeck zu dieser Umgestaltung beigetragen, entzieht sich gänzlich unserer Beurtheilung. Sicherlich kann aber nicht bezweifelt werden, daß der in seinem Wirken selbst von der höchstentscheidenden Stelle aus anerkannte Mann schon aus diesem Grunde die ganze Organisation wirklich beeinflußt hat. So bethätigte er sich, ohne es doch absichtlich zu wollen, und gewiß erwies sich diese Art der unmittelbar persönlichen Wirksamkeit als eine um so nachhaltigere.

Und wie ein rechter Edelmann es sein soll, blieb er von gewissen häßlichen, weil auf niedrigen Gemüthseigenschaften beruhenden Vorurtheilen vollkommen frei. Es war ein Genuß, mit diesem natürlich-höflichen Manne zu verkehren. Seine wissenschaftliche Bedeutsamkeit, sein ungeheures Können hatte für die mittelmäßigen Söhne dieser Erde nichts Bedrückendes, und gern ließ er auch geringes Verdienst gelten. Freilich mangelte es ihm auch keineswegs an den Waffen einer feinsten Ironie, sobald es galt, gewissen Anmaßlichkeiten zu begegnen. Er verstand meisterlich zu sticheln, und mit seinem scharfen, durch viele Erfahrung gesicherten Gefühle just den empfindlichen Punkt zu treffen. Wurde aber diese Operation ihrem Sinne nach begriffen, dann war’s geschehen und abgethan.

Eine derartige Ausnahmsstellung, wie sie Langenbeck in der universitären und außerfachmännischen Gesellschaft errungen hatte, wiederholt sich so leicht nicht.
Isidor Kastan.     




Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Als der zweite Geschlechtertanz gehalten werden sollte, da regte es sich lebhaft in den Frauengemächern; denn mit dem Sturz war von den Geschlechterinnen die unheimliche Gleichgültigkeit gegen ihre Schönheit gewichen. Nun lohnte es die Mühe, sich zu schmücken.

Am geschäftigsten ging es bei der Rotmundin zu. Sie saß am Putztisch. Die Barbaraköchin brachte im silbernen Gießbecken das aus Wein, Schlüsselblumen, Diptamwurzel und Limoniensaft bereitete Schönheitswasser. Auf der blank gebohnten Platte standen Serpentinnäpfchen mit einem feinen Mehl aus Senfkörnern, die Hände damit abzureiben, und daran reihten sich in zierlicher Ordnung Töpfchen voll feiner Schminkfarbe aus Natterwurz und Fläschchen und Büchschen, welche köstliche Wohlgerüche enthielten.

In den zarten Fingern hielt Frau Rotmundin ein Handspieglein, dessen kostbare, aus Elfenbein geschnitzte Fassung die Erstürmung einer von Frauen besetzten Minneburg darstellte, welche mit Rosen beschossen und mit Rosen verteidigt wurde. Sie war fest entschlossen, ihre krausen Augenwimpern nicht von dem Spieglein zu erheben, es habe ihr denn zuvor gesagt, daß sie die Schönste im ganzen Lande sei.

Und siehe! Endlich that das Spieglein den gewünschten Ausspruch. – –

Mit zaghaft klopfendem Herzen stand Elsbeth Imhofin vor ihrer Gewandtruhe. Auch sie hatte den Entschluß gefaßt, heute holdselig zu sein. Die Aufgabe erschien ihr schwer zu lösen; wird sie dieselbige auszuführen vermögen, oder wird sie ihr mißrathen, wie ihr die erste Pastete mißrieth? Auch quälte sie immer die Sorge, daß sie eine Sünde begehe, indem sie den Sinn auf eiteln Putz wende. „Ist die Freude an der Schönheit eine Schwachheit? Darf die Tugend nit auch anmuthig sein?“ sprach sie leise vor sich hin, um die strenge Stimme in sich zur Ruhe zu bringen, die nach dem Sturz verlangte und sie darob schalt, daß ihr das pomesinfarbige Kleid und das nägleinbraune nimmer gut genug erschienen.

Ach nein! Nicht der freundliche Wurzelgräber und nicht der sanfte Maler hatten sie umgestimmt; dem Wilhalm Haller allein zu Liebe wollte sie sich putzen. Und damit konnte sie sich auch vor ihrem Gewissen entschuldigen. Denn auf eine göttliche Anordnung stützte er sich, wenn er es Mannesrecht nannte, sein Weib sich zu erziehen nach seinem Willen, und wenn er nun verlangte, daß sie den Weg zu seinem Herzen durch die Augen nehme, so mußte sie diesen Weg wandeln ohne Widerrede. Es war ja auch noch ein guter Zweck dabei, wenn sie ihn den welschen Teufelinnen abwendig machte.

Und wieder klopfte ihr Herz angstvoll. Sie wußte nicht, was in der Welt eigentlich schön genannt wurde. Nur aus den alten Märchen stammte ihre Weisheit, und da sahen die sieghaftesten Kleider wie Sonne, Mond und Sterne aus. Solche besaß sie freilich nicht. Rathlos und kummervoll kramte sie in ihrer Truhe. Und es ging wie immer: das Beste fand sich zu unterst. Das war ein lichtblauer Rock und darauf lag, wie Sonnenstrahlen auf dem Himmelsgewölbe, ein Netz, aus Goldfäden gewebt. Das hatte sie seiner Wunderlichkeit wegen einst einem Händler aus Venedig abgekauft und nie gedacht, es selbst zu tragen.

Und nun schlug ihr das Herz vor Freude, als sie es ersah. Sie schmückte sich mit dem himmelfarbnen Kleide, und ihr Goldhaar barg sie im Netze. Dann nahm sie den Spiegel zur Hand und schaute zaghaft hinein. Sie legte ihn schnell wieder bei Seite. Ihre Wangen aber färbten sich höher; ihre Augen strahlten, und jubelnd zog durch ihre Seele das Sprüchlein aus dem alten Märchen: Hinter mir Nacht, vor mir Tag! – –

Und ähnlich wie im Rotmundischen und Imhofischen ging es in allen anderen Geschlechterhäusern zu. Die Frauen waren mit Putz und Tand beschäftigt, und die Männer lachten und freuten sich, daß ihre Frauen so hübsch waren in der neuen Tracht.

Nur Eine schmückte sich nicht: die herbe Ursel; nur Einer lachte nicht: der lustige Rath.

Das alte Geschlechterhaus am Panierberg lag in Dunkel gehüllt. Die Herrin hatte seit ihrer Unmacht seine Schwelle nicht überschritten, und der theilnehmende Nachbar war mit kaltem Danke an der Stubenthür abgewiesen worden. Sie konnte sich Niemand zeigen, wie sie unruhig hin und her ging, angstvoll die Hände wand, bei jedem Laut aufhorchend, ob der altbekannte Schritt nicht auf der Treppe erklang.

Die Stunden schlichen hin – er kam nicht.

Nun tönte wieder die Tanzmusik vom Rathhaus herüber. Diese Weisen begleiteten die Späße, mit denen er die Gäste belustigte, er, der Narr, ihr Friedel.

Das Herz drohte ihr zu zerspringen.

[635] Sie griff nach ihrem Gebetbuch. Aber ihr Blick blieb auf dem in Elfenbein geschnitzten Einband haften. Er zeigte eine Auferstehung der Todten: den zu Gericht sitzenden Gottvater, Posaunen blasende Engel und die Erde, die ihre Todten wieder gab. Da stiegen sie heraus, die Armen, aus den flachen Erdwellen, demüthig arbeiteten sie sich empor im Leichenhemd, aber an den Grabhäusern, wo die Rathsherren schliefen, standen Engel und öffneten, dienstbereit wie Knechte, die Pforte, und herfür gingen die stolzen Patrizier in nadelspitzen Schnabelschuhen, Pelzschauben und Gogel.

Ursula schleuderte das Buch von sich. O, was hatte der alte Meister für geschickte Hände gehabt und für einen ungeschickten Kopf, daß er sich die ewige Seligkeit also fürstellte! Sollte die, so einem vornehmen Geschlecht entsprossen war, in alle Ewigkeit verflucht sein, abgesondert von denen zu bleiben, die keinen großen Namen trugen?

Der Athem fehlte ihr; es litt sie nicht mehr in der engen Stube. Sie konnte nicht einmal beten hier. Sie hüllte sich in Sturz und Mantel, um nach St. Sebaldus hinüber zu gehen, nach dem einsamen Winkel, wohin sie seit Jahren mit ihrem schwer bedrückten Herzen geflüchtet war, wo das Bild des verlornen Sohnes stand. Mit brechenden Knieen schlich sie durch die von den Hängelampen nur schwach erleuchteten Gänge. Die Glasaugen der ausgestopften Vögel sahen ihr gespenstisch nach. Unter ihren verblichnen Federn hatte einst auch ein warmes Herz geklopft, und nun standen sie von Motten zerfressen auf dürrem Holz, der Stunde harrend, wo die letzte Faser in Staub zerfiel.

Auf der Schwelle zögerte ihr Schritt. Dahin hatte seine liebe Hand den Veilchenstrauß für sie gelegt, ein Zeichen, daß er ihrer gedachte. Ihr Blick glitt flehend zu dem Marienbilde empor, das die Mauer ihres Hauses schmückte. Aber entmuthigt sank er wieder herab. Das war nicht die Schmerzensreiche mit den sieben Schwertern in der Brust, an die sie sich hätte wenden mögen. Das war die stolze gekrönte Himmelskönigin. Was hätte auch die demüthige Magd im Hause des Hochmuths zu schaffen gehabt?

Sie schritt der Kirche zu durch das nach dem Rathhaus strömende Volk, welches trotz der späten Stunde von der dröhnenden Musik wach erhalten wurde. Aus dem grellen Schein, den die am Portal lodernden Pechpfannen warfen, trat sie in den stillen Kirchhof. Da war das Schreyer’sche Grabmal, das an jenem traurigsten Morgen ihres Lebens geweiht worden war. Viele von denen, die damals mit ihr hier auf den Knieen gelegen, schliefen den ewigen Schlaf; die Andren tanzten dort drüben einen fröhlichen Reigen. Sie allein war ausgezählt. Sie war nicht todt, und sie lebte auch nicht.

Vor den Heiligenbildern brannte hier und da ein Lämpchen, von flehenden Händen gestiftet. Nur in dem Winkel, wo sie Trost suchte, lagerten tiefe Schatten. Sie vermochte das alte Bild nicht mehr zu erkennen. Ihr Blick glitt langsam an den Pfeilern empor. Droben strahlte Stern an Stern. Der Wind, der die Kerzen und Lampen löschte, vermochte dort oben nichts auszublasen. Sie hob die Arme. Langsam und laut sprach sie in die flüsternde Nachtluft hinein:

„Herr des Himmels und der Erde! Vergieb, daß ich arme Magd mich ohne Fürsprache der Heiligen an Dich wende! Es geht aber anjetzo die Red, wir dürften uns nit fürchten, Du hörtest alle Deine Kinder an. Und der gerade Weg ist mir allezeit der liebste gewesen. So höre mich also! Du hast jeder Creatur eine frohe Stunde gegeben: die Rose darf blühen, die Lerche singend in den Himmel fliegen; selbst das Mücklein freut sich spielend im Sonnenlicht. Nur ich bin in Nacht gewandelt zeitlebens – das weißt Du – und nur Du allein. Und bin ich nicht auch Dein Geschöpf wie die Andren? Hast Du den Frauen den Wunsch ihres lustigen Sinnes nach einer nichtigen Haube erfüllt, so kannst Du rechtschaffner Weise nicht Nein sagen, wenn ich Dich bitte: Zeig mir den Weg, auf den ich mir ihn, der das Glück und die Freude meines störrischen Herzens war, rette aus Narrenthum und Schellengeklingel! Erhöre mich!“

Sie schaute inbrünstig empor.

Da löste sich neben ihr ein hoher grauer Schatten aus dem Winkel und trat heran.

„Wen erflehst Du für Dich, Ursula?“ sprach eine bebende Stimme.

Ihr stockte der Athem. Dann brach es jubelnd über ihre Lippen:

„Friedel! Gott sei gepriesen, der mich erhörte!“

„Ja,“ sagte der lustige Rath ernst, „er hat es gnädig gefügt, daß wir uns versöhnt die Hände reichen dürfen, bevor wir für immer scheiden.“

„Scheiden für immer, da wir uns eben erst gefunden?“ flüsterte Ursula mit bebenden Lippen. „Kannst Du mir nicht verzeihen? Sieh, hier hebe ich meine Hände zu Dir auf und bitte: Vergieb mir meine Schuld, wie Du willst, daß Dir vergeben werde!“

Er zog ihre Hände sanft herab.

„Ich habe Dir lange vergeben. Das Schicksal hat Deinen strengen Urtheilsspruch bestätigt. Ich habe die Schellen getragen in bittrem Ernst. Aber die Stunde ist gekommen, da ich die Schmach von mir werfen muß. Ich bin heimlich von der Burg entwichen und auf dem Wege in.die Welt hinaus. Nur einmal wollte ich das Bild vom verlornen Sohn noch sehen, von dem man mir sagte, daß Du gern davor betest.“

„Du willst abermals gehen?“ rief Ursula verzweifelnd. „Und ich soll allein sein immerdar?“

„Was bleibt uns sonst übrig?“ fragte er bitter. „Die Kluft zwischen dem Hofnarren, der jederzeit auf den mit Eselsohren verzierten Stuhl gewiesen werden konnte, und der Patriciertochter ist zu tief.“

„Welche Kluft überbrückt die Liebe nicht?“ rief sie. „Verbirg’ Dich, bis der Erzherzog fort ist. Die geschornen Locken müssen wachsen; der Bart muß fallen, daß das liebe Friedelgesicht wieder zum Vorschein kommt. Dann trittst Du herfür als weitgereister, vielerfahrener Mann. Wer könnte dann den lustigen Rath in Dir ahnen? Und wer sollte Dir die Ehre weigern,“ fuhr sie, stolz sich aufrichtend, fort, „wenn Du an meiner Hand Dich zeigst, mit unsrem Wappen, und den Platz einnimmst, auf dem Du seit nahezu zwanzig Jahren stehen solltest? Die Patricier selbst werden Dir die Rathsherrnstelle antragen.“

Er trat einen Schritt zurück.

„Seit wann zieht die Frau den Mann zu sich empor? Ich will nicht mit einem Wappen stolziren, das ich mir nicht selbst errang; ich will nicht weise Narrheit, die Menschheit zu knebeln, auf dem Rathhaus ausbrüten, lieber närrische Weisheit auch fürder verkündigen, und ich will nicht unter Euren schweren Steinplatten begraben sein, sondern unter einem grünen Baum und blauen Veilchen ruhen, daß der Finke über mir sein Lied schmettern kann.“

„So laß mich Dir folgen auf den Armenkirchhof!“ sprach Ursula leise.

Ueber sein Gesicht flog ein heller Schein; aber er bezwang sich. Sein Blick fiel ernst auf sie nieder, als er sprach:

„Du gefällst Dir im Großmüthigsein heute wie damals. Du bist dieselbe geblieben; ich aber bin nicht mehr der junge Friedel, dessen einziges Ziel der Besitz eines geliebten Weibes war. Da mein Weg in Finsterniß führte, ist mir ein Licht aufgestrahlt und zum Leitstern geworden. Es ist die neue Zeit, die mächtig heraufsteigt. Meine Seele hat sich dem Mönch von Wittenberg zugewendet, und ich will eher Leib und Leben und selbst Dich verlieren, ehe ich ihn wieder aufgebe, der das göttliche Wort so hell und klar in sich trägt und mit so großem Sieg und Triumph aus freimüthigem und unerschrocknem Geist verkündet.“

Die Geschlechterin neigte demüthig das mit dem Sturz geschmückte Haupt vor dem Mann mit der Narrenkappe.

„Dein Gott sei mein Gott! Auch ich habe heut’ in der schwersten Stunde meines Lebens Zuflucht bei ihm gesucht ohne Fürsprache der Heiligen, und er hat mich erhört.“

Da schloß er sie in seine Arme. Dann richtete er sich auf und sprach:

„Nun lebe Wohl, Ursula, bis wir frei und offen vereint vor unsre Vaterstadt hintreten können!“

„Aber wie willst Du Dich flüchten?“ fragte sie angstvoll, „und wohin Deinen Schritt wenden?“

Er lächelte.

„Ich kenne von meinen wilden Knabenjahren her jedes Eckchen, jeden Steg in Nürnberg. Ein altes Pförtlein in der Stadtmauer ist heut’ wie vor zwanzig Jahren fest verschlossen, aber die Angeln sind so rostig wie damals. Ich will den bekannten Weg noch einmal gehen. Bin ich erst draußen, so finde [636] ich überall Herberge; denn der Bund Derer, die der neuen Lehre anhängen, ist größer, als Du weißt. Ein gelahrter Kräutersucher, der ihr auch zugethan ist, begegnete mir, da ich nach dem Weg in’s Weite spähte, und wies mir eine Schenke an der Heerstraße, wo unsre Gesinnungsgenossen nächtigen. Alsdann will ich zu erkunden suchen, wo Doctor Luther weilt. Von einem fahrenden Schüler hörte ich, daß er nicht in’s Elend gegangen ist, sondern wohlbehütet auf einer Burg in Thüringen lebt. Zu ihm will ich wallfahrten. Vielleicht sagt mir der große Mann, wie ihm ein Schalksnarr dienen kann.“

„So geh’!“ sprach Ursula. „Und laß Dich auch belehren von Deinem großen Meister, wie man ein schönes Hab’ und Gut so anwendet, daß es vielen armen Herzen nützt, die noch gefangen liegen in eisernen Ketten! Dann aber kehre wieder, nimm Alles, was ich habe, und thue damit, wie er will! Die Ursula aber behalte für Dich und verlaß sie nie wieder! Sie hat Nichts und Niemand auf der Welt lieb als Dich allein.“

Er drückte sie fest an sein Herz. Mitsammen gingen sie durch die abgelegnen nächtlich stillen Gäßchen nach der Stadtmauer. Sie ließ sich nicht zurückweisen; sie wollte ihn erst geborgen wissen und entgegnete auf seine besorgten Einreden:

„Die herbe Ursel hat Friede in Nürnberg.“

Sie standen am aufgesperrten Pförtlein. Da nahm Friedel die Narrenkappe vom Haupt.

„Ich thue sie von mir. Meinst Du, daß ein Sturz schwerer wiegt als sie?“

Und Ursula verstand ihn. Sie nahm den Sturz ab und schleuderte ihn in den Stadtgraben hinab.

„Hebe dich von mir, Ungethüm! Mögen Eule und Fledermaus in dir nisten.“

Da warf der Narr seine Kappe nach und sprach:

„Und in dir ein Spottvogel!“

Sie nahmen Abschied.

Bald stand er draußen und blickte auf die Ringmauern und Thorthürme wie vor wenigen Tagen. Aber diesmal war es ein glückliches ernstes Lächeln, mit dem er flüsterte: „Daheim in Altnürnberg!“

Eine Weile darauf stand in ihrem Haus mit strahlendem Antlitz die herbe Ursula vor dem Ingesinde, das jetzt erst vom Rathhaus zurückgekehrt war, und sprach:

„Nehmt den Beutel mit Gold und geht in die Spitäler, in das Waisenhaus und zu den Leprosen! Bringt jedem einen Theil und sagt, sie sollen Gott mit mir danken! Denn es ist mir Kunde geworden, daß der verlorne Sohn dieses Hauses heimkehren wird.“

Dann faltete sie die Hände zu stummem Gebet und schaute mit weinenden Augen zum Himmel empor, an dem glänzend der Morgenstern aufstieg. –

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Ein neuer Desinfectionsapparat. Ebenso alt wie die Kenntniß der ansteckenden Natur vieler Krankheiten ist das Bestreben, Mittel zu schaffen, welche dem weiteren Umsichgreifen derselben vorbeugen würden. Als einst die Menschheit die verheerenden Epidemien für den directen Ausfluß göttlichen Zornes ansah, da nahm sie ihre Zuflucht zu aller Art von Zaubereien und Amuleten, welche die Kraft besitzen sollten, den Dämon der Krankheit von den einzelnen Individuen fernzuhalten, und diese Schutzmittel haben sich in abergläubischen Gemüthern bis auf den heutigen Tag erhalten. Nur langsam brach sich eine bessere Anschauung Bahn: man vermied zunächst jede Berührung mit den an ansteckender Krankheit Darniederliegenden, oder suchte die Wirkung des unbekannten Giftes durch allerlei Oele und Salben aufzuheben, und während der Pest trugen die Aerzte des Mittelalters oft Masken aus Wachs und besondere Gewänder, in welchen sie sich den Patienten näherten.

In neuerer Zeit hat man schließlich Jahrzehnte hindurch die verschiedensten Chemikalien zu diesem Zwecke angewandt und schrieb vor Allem dem Chlorgas, der schwefligen Säure, der Carbol- und der Salicylsäure die Eigenschaft zu, Ansteckungsstoffe zu zerstören. Mit welchem Recht man diese ätzenden Stoffe als wirkliche Desinfectionsmittel bezeichnen durfte, das blieb freilich noch dahingestellt.

Erst der Gegenwart war es vorbehalten, den Nachweis zu liefern, daß wenigstens eine große Anzahl ansteckender Krankheiten durch kleinste, nur mittelst der stärksten Mikroskope sichtbare Organismen – sogenannte Bacillen – erzeugt werde. Seitdem nun die gelehrten Forscher durch sinnreiche Versuche die Lebensbedingungen dieser Organismen ergründet, ließen sie auch die oben genannten Mittel auf dieselben einwirken, um zu erfahren, ob jene ätzenden Stoffe mit Recht den Namen „Desinfectionsmittel“ trügen. Da zeigte sich aber bald, daß diese Stoffe vielfach das Leben der Bacillen erst in einer Concentration vernichten, welche auch die mit ihnen behafteten Gewebe zerstören mußte. Die Versuche führten jedoch ferner zu der wichtigen Entdeckung, daß es ein leicht zu beschaffendes Mittel giebt, die betreffenden Organismen ihrer ansteckenden Eigenschaften sicher zu berauben: die unter der Leitung von Dr. R. Koch in dem deutschen Reichsgesundheitsamte angestellten Experimente, welche bekanntlich ebenso wie andere Arbeiten des hochverdienten Forschers gerade in diesen Tagen auf dem hygienischen Congresse zu Genf den Neid der Franzosen erregt haben, erwiesen nämlich, daß die Bacillen durch Wasserdämpfe von 100 Grad Celsius sicher zerstört werden.

Es lag nun nahe, diese Entdeckung zur Desinfection von Wäsche, Kleidungsstücken und allen Gegenständen, mit welchen Kranke in Berührung gekommen sind, zu verwerthen und so einer weiteren Verbreitung der betreffenden Krankheiten vorzubeugen. So wurde von dem Verwaltungsdirector im Berliner Barackenlazareth, Herrn Merke, welcher sofort nach dem Bekanntwerden jener Entdeckung mit dem neuen Desinfectionsmittel umfangreiche Versuche angestellt hatte, die Maschinenfabrik von Oscar Schimmel und Compagnie in Chemnitz aufgefordert, einen Apparat zu construiren, in welchem Wasserdämpfe von 100 Grad Celsius nebst überhitzter Luft zur Desinfection benutzt werden könnten.

Ein solcher Apparat ist nun wirklich von der genannten Firma hergestellt worden; er besteht aus einem starken Gehäuse aus Eisenblech mit doppelten Wandungen, die mit einem schlechten Wärmeleiter (Holzasche etc.) ausgefüllt sind. In diesen Apparat werden die zu desinficirenden Gegenstände gebracht und, nachdem derselbe genügend erhitzt worden, einige Zeit belassen. Der ganze Proceß dauert höchstens anderthalb Stunden, und wird während dieser Zeit selbst das Innere von umfangreicheren Gegenständen, wie Bettstücken und Matratzen, auf eine Temperatur von über 100 Grad Celsius erhitzt.

Hoffentlich wird diese neue Desinfectionsmethode bald in unseren so vorzüglich eingerichteten Krankenhäusern die allgemeinste Verbreitung finden; und es wäre dringend zu wünschen, daß auch die großen Privatwäschereien die Einführung derselben in Erwägung zögen.


Ein trefflich gelungenes Portrait von Dr. Schulze-Delitzsch, dem unermüdlichen Vorkämpfer und Leiter des deutschen Genossenschaftswesens, ist vor Kurzem in großem Kupferstich aus dem Atelier von Alfred Krauße in Leipzig hervorgegangen. Sicher wird es vielen Freunden der deutschen Genossenschaften zur Freude gereichen, ihr Zimmer mit dem Bildnisse eines Mannes schmücken zu können, der sich um die Wohlfahrt unseres Volkes so unvergängliche Verdienste erworben. Wir weisen daher hiermit auf den besagten Kupferstich hin und bemerken, daß der Preis bis zum 15. November dieses Jahres für das Portrait auf weißem Papier Mk. 5 und für ein solches auf chinesischem Papier Mk. 6.50 beträgt; nach dem besagten Termin dagegen wird der Ladenpreis fast auf das Doppelte erhöht werden. Bestellungen sind an das Atelier von Alfred Krauße in Leipzig zu richten.




Kleiner Briefkasten.

J. Z. in Paris. Jede der neun deutschen Münzstätten führt einen Münzbuchstaben, welcher auf den aus ihr hervorgegangenen Münzen abgeprägt wird. Die Bedeutung der Buchstaben ist folgende: A Berlin, B Hannover, C Frankfurt am Main, D München, E Dresden, F Stuttgart, G Karlsruhe, H Darmstadt, I Hamburg.

M. v. M. in H. Einen Artikel über Garibaldi werden Sie in einer der nächsten Nummern unseres Blattes finden, und zwar einen aus der Feder unseres wackern, altgetreuen Johannes Scherr.

N. N. Die Adresse des Verfassers des in Nr.35 erschienenen Artikels „Aus deutschen Idiotenanstalten“ lautet: Herrn Director W. Schröter in Dresden-Neustadt, Oppellstraße Nr. 44.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Die Verlagshandlung. 



Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zn