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Die Gartenlaube (1882)/Heft 32

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 32.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Der Schultheiß aber fuhr fort:

„Und womit haben die Frauen, welche an der guten alten Sitte festhalten, verdient, daß ihre würdige Kopfbedeckung herabgesetzt wird wie verschlagnes Geld? Ganz zu geschweigen von der Gefahr, welche unsre Frauen laufen, wenn sie sich so mit entblößtem Antlitz den fremden Gästen zeigen! Müssen sie nicht die Zielscheibe werden für die Späße des Hofnarren Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit?“

„Des Hofnarren, Herr Schultheiß? Auch das ist ein veraltetes Wort,“ verbesserte Wilhalm verdrüßlich. „Der Narr großer Herren heißt jetzt: der lustige Rath.“

„O tolle Zeit!“ seufzte der Schultheiß. „Der Narr wird Rath genannt, und die, welche zu Rathsherren berufen sind, sollen für Narren gehalten werden. Aber so weit sind wir noch nicht in Nürnberg. Schreibt, Herr Rotmund, daß ein wohlweiser Rath der freien Reichsstadt mit schwerem Mißfallen den Fürwitz der Frauen wahrgenommen hat, dieselben zur Ehrbarkeit und Zucht ermahnt, auch ernstlich verwarnt, ferner Rotten zu machen, und ihre Bitte abschlägig bescheidet! Von Rechtswegen!“

Da ermannte sich ein ehrbarer Rath und ging zur Tagesordnung über, welche den bevorstehenden Besuch des Erzherzogs betraf. Und nachdem beschlossen war, daß man Seiner fürstlichen Durchläuchtigkeit als römischer kaiserlicher Majestät Statthalter im heiligen deutschen Reich mit besondrer Ehrerbietung entgegenreiten und Hochdieselbe ganz tapfer und ehrlich empfangen wolle, begaben sich die Herren in die Vorzimmer, wo eine bunte Schaar ihrer harrte, welche von den Stadtknechten zusammenberufen war, um Befehle zu empfangen. Da erhielt der Zeugmeister Weisung, seine Büchsen in Stand zu setzen, auf daß ihr eherner Mund dem Erzherzoge kräftigen Gruß zu donnern vermöge; die Stadtpfeifer wurden ermahnt, den hohen Gast lieblich anzublasen; den Fischhändlern ward kund, wie viel Schaff gute Fische sie für die Tafel des Erzherzogs, den Meiern aus den städtischen Vorwerken, wie viel Hafer für seine Rosse sie zu liefern hätten, und bei den berühmten Goldschmieden wurden als Gastgeschenk vergoldete Becher und eine Credenz erkiest.

„Und nun werde ich mich auf die Veste begeben,“ sagte der Rathsbaumeister, Herr Paumgartner, „um dieselbe zu einem schicklichen Losament für Seine fürstliche Gnade herzurichten. Und werde ich die Reimlein noch einmal durchlesen, in welche unser Meister Hans Sachs allen nothdürftigen Hausrath gebracht hat, den Müttern und Vätern, so eine Ausstattung beschaffen müssen, zu Nutz und Frommen. Wofür wäre in Nürnberg nicht gesorgt? Es geht nichts über unsre hochberühmte Stadt,“ schloß er, sich stolz aufrichtend.

„Wollt nicht allzu fest auf diesen Ruhm bauen!“ widersprach ihm Wilhalm. „Mancher ist uns widerwärtig, und ich habe vernommen, daß solche, die unsrer Stadt die Ehre des fürstlichen Besuches nicht gönnen, die Burg für einen baufälligen Säustall verschreien.“

Darob entsetzte sich ein ehrbarer Rath, und Herr Obernitz rief:

„Haben die schwatzhaftigen Neidharte unsre Stadt in ein übles Geschrei gebracht, so wollen wir ihnen das Maul verstopfen. Und meine ich, daß man soll den großen Reichsadler, der seine Fittiche über die Decke des Prunkgemaches auf der Burg breitet, frisch vergolden, damit männiglich erkenne, es ist eine Behausung für einen königlichen Vogel und nicht für ein ekles Rüsselthier. Dennoch mahne ich Euch, nicht allzu hoch und allzu üppig zu rüsten, auf daß nicht die Geschlechter und ehrsamen Bürger in überflüssige Unkosten geführt werden. Was kümmert unsre freie Stadt das Gekläff welscher Hofschwänzler?“

Mannlich und stolz reckten die Rathsherren die Köpfe aus ihren feingestickten Hemdkrausen empor. Aber als Herr Haller die neue Erfindung des Meisters Peter Hele, das lebendige Nürnberger Ei, welches die Zeit verkündet, aus der Tasche zog und sagte, es sei weit über Mittag, man müsse sich heim begeben, da knickten die stattlichen Gestalten wieder zusammen, und auch dem Stadtschultheißen klang die Stimme gepreßt, da er die Sitzung aufhob. Der Rotmund meinte, er wolle zu seinem husarischen Aufzug noch die Genossen werben; der Ebner, er werde sofort seinen Rundgang antreten, die Kaufleute zu dem Reiterzug zu entbieten. Selbst den Imhof schien es nicht nach Hause zu ziehen. Er erklärte, er wolle noch heute die Stadtknechte zu den Handwerkern entsenden und ihnen kund thun lassen, daß sie vor dem hohen Gaste unter den langen Spieß treten sollten.

Wilhalm Haller ging allein nach Hause. In ihm kochte der Groll darüber, daß eine verständige Neuerung von den Vätern der Stadt abgewiesen worden war. Wie oft hatte er in der Welt draußen hören müssen, daß man alles das, was recht hinter der Zeit und neuen, freien Sitte zurück war, nach seiner nürnbergischen Heimath altfränkisch nannte! Er knirschte heimlich mit den Zähnen, wenn er daran dachte, wie erstaunt der Erzherzog, wie spöttisch die fremden Herren dreinschauen würden, wenn sie einritten in das altfränkische Nürnberg, das ihnen erscheinen [522] mußte wie dem Wanderer die versunkne Stadt, welche in jedem Jahrhundert nur einmal auftaucht. Und er sollte alsdann mit der verstocktesten Geschlechterin am Arme umherstolziren, mit der Elsbeth Imhofin? Nein, die war für ihn, den aufgeklärten Mann, keine Gesponsin – es sei denn, daß sie ihren starren Sinn breche. Und gleich auf dem Flecke sollte sich der Handel entscheiden. Sie sollte sich seinem Willen beugen – das kam ihr um so mehr zu, als der liebe Gott ihr kein allzu helles Lichtlein im Kopfe entzündet hatte – oder er wollte ihrer ledig sein, daß das Gedenken an sie nimmer seinen fröhlichen Muth darnieder schlagen konnte.

Da war ja schon das gothische Thürmchen, welches das Imhofische Haus auszeichnete.

Mit trotzigen Schritten und stolz erhobnem Haupte trat er ein. Eine kühle Luft wehte ihm aus dem weiten Hausflur entgegen. Er kannte hier jeden Winkel und wußte, welcher der dunklen Gänge, in die er blickte, nach dem Wurzgärtlein, und welche nach dem Contor und den Speichern führten.

Die Thür der Küche war offen, und Elsbeth stand drinnen. In sein grollendes Gemüth schlich ein heimisches Gefühl, da er sie an der Anrichte hantiren und dem Gesinde das Mittagsbrod zutheilen sah, so gerecht und ruhig, wie es seine gute Mutter selig auch geübt hatte. Sie trug das Gebände, den Goldlatz und das Schürzenfleck wie jene, und an ihrer Seite hing ein mächtiges Schlüsselbund. Jetzt wandte sie ihm die Augen zu.

Er erwartete, daß sie ein wenig erschrecken werde bei seinem Anblicke. Aber sie erröthete nicht und erblaßte nicht. Er grüßte sie mit der neuen spanischen Reverenz, indem er die Spitze des rechten Fußes rückwärts gleiten ließ und das Knie beugte, während er mit der linken Hand den Hut so tief abnahm, daß die Feder die Fliesen streifte, aber sie schaute seiner kunstvollen Verneigung zu wie dem Seilfahrer, der sich beim Schützenfest zu zeigen pflegte, und als er geendet hatte, sagte sie trocken. „Grüß’ Gott!“ ohne in ihrer Verrichtung sich stören zu lassen.

Dagegen nahte ihm eilig die alte Imhofin.

„Je, Wilhalm, grüß’ Euch Gott, mein lieber Bub’!“ rief sie. „Kommt Ihr endlich? Waren Eures Besuches kaum mehr gewärtig. Folgt mir in das Wohngemach!“

Wilhelm schaute die Elsbeth an. Sie sprach:

„Sobald ich die Speis’ vertheilt habe, komm’ ich auch. Der Hirsebrei möchte sich sonst zu sehr verkühlen.“

Da schritt er zornig der Mutter nach durch die spitzbogige Thür in das Gemach.

Hier war noch Alles wie sonst. Es herrschte noch dasselbe Zwielicht; die kunstvoll geschmiedeten starken Eisengitter vor den in Blei gefaßten runden Fensterscheiben warfen wie sonst ihre Schatten auf den Gypsfußboden, der das ihm wohlbekannte Sternmuster von eingelegten bunten Steinen zeigte. In der Fensternische lag noch Wockenstab und Spindel, und es roch auch noch so wie früher nach Gelbveiglein, die Elsbeth in jedem Frühjahr in’s Fenster stellte. Dereinst athmete er den Duft gern ein; jetzt schien er ihm den freien Athem zu benehmen. Die Imhofin lud ihn auch auf den alten Ehrenstuhl mit den Leopardenköpfen an den Armlehnen und den Greifenklauen an den Füßen zum Sitzen ein und sprach gütevolle Worte zu ihm, die er nicht vernahm, da er die Augen ungeduldig nach der Thür richtete.

Als sich diese endlich öffnete und Elsbeth, jetzt ohne Küchenschurz, hereintrat, rief er sie in hochfahrendem Tone an:

„Habt Ihr Euren Hirsebrei endlich ausgetheilt, der Euch so über Alles wichtig dünkte?“

Elsbeth hielt die Wimpern gesenkt. Sie hing das Schlüsselbund an seinen Ort in den Wandschrank. Dann kam sie langsam näher und antwortete:

„Es muß jedes Ding in der Reih bleiben, so ein Hauswesen bestehen soll.“

„Aber wenn einer der Gefreunde nach langer Reise heimkehrt,“ rief er unmuthig, „und Euch besucht, so ist er nicht das Ding, das untenan tritt, sondern er steht obenan. Und eine edle Jungfrau, welche weiß, was sich ziemt, muß ihn vor Allem willkommen heißen.“

Sie hing den Kopf, während er sie schalt. Dann sagte sie:

„Ihr habt Euch auch Zeit genommen und manches Unnütze vollbracht, ehe Ihr an uns gedacht habt.“

„Was wäre denn unnütz, das ich vollbracht habe?“ fragte er scharf.

„Daß Ihr den heiligen Florian vom Haus herabgeworfen habt,“ erwiderte sie.

„Er war im Weg; ich gedenke statt seiner ein Fenster anzubringen, welches die Treppe erhellt, daß es wenigstens in meinem Hause Licht werde,“ erklärte Haller.

„Aber,“ sagte die Mutter, warum habt Ihr den alten guten Kachelofen aus Eurer Unterstube auf den Kehrichthaufen in der Schütt fahren lassen? Eure liebwerthe Frau Mutter – Gott tröst’ sie! – hat so manche Aepfel und Birn aus selbigem gebraten.“

Wilhalm schürzte die Lippen.

„Das bunte Gehäuse mit seinen widerwärtigen Schildereien hatte keinen Raum mehr bei mir.“

„Es waren alle biblischen Historien darauf abconterfeit,“ sagte die alte Imhofin vorwurfsvoll.

„Ja,“ entgegnete Wilhalm spöttisch, „allzeit holte Kain zum tödtlichen Schlage gegen den Bruder aus, zückte Abraham das Opfermesser nach dem Sohne, wurde Moses in einem gebrechlichen Kästlein ausgesetzt. Es war ein Wunder, daß man an dem Platz je Ruhe gefunden hatte. Ich lasse einen neuen errichten; der hat Säulchen, wie ein Tempel, eine Mauerkrone und eine Farbe wie schwarzer Marmelstein.“

„Und,“ fuhr die Mutter fort, „warum habt Ihr eine schamlose Venusin statt des ehrbaren Ziehbrunnens aufgerichtet?“

Wilhalm hob das Haupt.

„Weil sie die Göttin der Schönheit ist bei dem Volke, das alles Herrliche geschaffen hat, und vor dem wir uns in Demuth beugen.“

„Wie heißt das Volk, und wo lebt es?“ fragte die Imhofin erstaunt.

„Es sind die Griechen, und ihre Macht ist längst dahin,“ belehrte Haller herablassend.

„Ein elendes Volk, das untergegangen ist!“ sagte verächtlich Elsbeth, die wie ein Steinbild dasaß. „Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo die thörichten Menschen wieder nach dem suchen, was Ihr jetzt auf die Schütt fahrt. Warum aber stürzt Ihr Alles auf einmal um?“

„Weil mir Alles widerwärtig ist, was mich an die alte Zeit erinnert,“ rief er ungestüm.

Da war es, als fahre Elsbeth zusammen.

Aber die alte Imhofin schlug die Hände in einander und rief:

„Wollt Ihr Alles lockern, was feststand? Ihr thut übel daran!“

„Und Ihr,“ rief er, empört über ihren tadelnden Ton, „thut übel, daß Ihr als Euer Recht festhalten wollt, was doch hinfällig geworden ist. Jetzt haben Euch noch einmal die kurzsichtigen Väter der Stadt Euren Sturz gerettet. Aber es wird die Zeit kommen, da auch Euer Sturz stürzen und Euer starres Herz sich beugen wird vor einem neuen Recht, das mit dem alten Plunder aufräumt.“

„Wollt Ihr damit sagen, daß auch das Recht wandelbar sei?“ fragte die alte Imhofin entsetzt.

„Ein Recht verjährt,“ antwortete er barsch.

Die Frau bekreuzte sich und wollte eben zu heftiger Widerrede den Mund öffnen.

Da erhob sich Elsbeth.

„Gemach!“ sprach sie. Und mit leiser Stimme, die ein wenig unsicher klang, fuhr sie gegen den Haller gewendet fort: „Ich merke, wo Ihr hinaus wollt. Der Verspruch ist Euch leid, der zwischen Eurer und meiner Sippe gehalten wurde. Warum sagt Ihr es nicht offen? Fürchtet Ihr Euch vor dem Wortbruch?“

„Wortbruch?“ rief Wilhalm und fuhr empor. Und eine so hochgewachsene Jungfrau sie war, er sah sie doch von oben an. „Ich habe mein Wort nicht gegeben; ich brauche es nicht zu brechen. Mein seliger Vater hat die Heirath zwischen Euch und mir mit Eurem Herrn Vater verabredet, und ich habe damals, ein halbes Kind, das ich war, nicht widersprochen. Ich wußte noch nicht, daß zur Brautschaft etwas Anderes gehöre, als die bräuchliche Mitgift. Aber draußen in der Welt habe ich vernommen von einem neuen Recht. Da hieß es, daß, wer ein Weib sich erkiesen wolle, wohl thue, wenn er sein Herz dabei frage. Und über Vater und Mutter solle dasselbige das erste Wort haben.“

[523] „Das wandelbare Ding,“ sagte Elsbeth verächtlich, „sollte mehr Recht haben, als die Eltern, die mit Bedacht wählen?“

„Ich glaube, Ihr würdet auch einen wunderlichen alten Kröpel oder geizigen Wittwer zum Manne nehmen, so Eure Eltern Euch dazu bestimmten,“ höhnte Wilhalm.

Elsbeth war erschrocken über den Einwurf. Aber da sie seinen Zorn sah, wünschte sie – sie wußte nicht, warum – ihn noch mehr aufzubringen und sprach:

„So meine Eltern solches geheischt hätten, würde ich ihnen gehorsamt haben.“

Da wurde er ganz wild.

„Ich sehe wohl, daß Ihr gar nicht wißt, was zärtliche Leidenschaft ist.“

„Zärtliche Leidenschaft?“ fuhr Elsbeth auf, jetzt jäh erröthend. „Nimmer würde sich eine ehrsame Jungfrau so weit vergessen, daß sie ein solch unwürdiges Gefühl hegte. Derlei Leichtfertigkeiten stellen die Maler für und die Schreiber, die Verse schmieden,“ fügte sie wegwerfend hinzu.

„Ihr wollt Euch über die Maler und Poeten stellen?“ rief er voll zorniger Verachtung. „Ihr, die Ihr nur mit Kochtopf und Kunkel bewandert seid, über einen Tizian, einen Petrarca? Hättet Ihr geschaut, wie der Maler gleich einem Fürsten lebt, seine Tochter von Schönheit strahlt wie eine Perle in güldener Fassung! Hättet Ihr einmal in mondheller Nacht auf schwarzer Gondel die Straßen Venezias durchschifft und vernommen, wie die Gondeliere sich die zärtlichen Strophen des Poeten zusingen, dieweil unter dem Baldachin des Fahrzeuges die goldmossirten Gewänder der Frauen blitzen! Dann würdet Ihr wissen, daß es noch etwas Höheres giebt, als Eure steil aufgerichteten Gesetzestafeln über das, was sich schickt und ziemt, und Eure Fertigkeit im Backen und Brauen.“

Sie hatte aufgehorcht. Aber nicht sein bebender Ton, nicht das Neue, was er erzählte, fesselte sie. Nur der Ruhm der welschen Weiber, nur die Mißachtung ihrer selbst drang ihr in’s Ohr und tief in’s Herz. Sie sah ihn forschend an. Er blickte widerwillig auf sie herab.

Da trat sie zurück. Und jetzt lief ein Zucken über ihre Lippen, und ein ernster Blick traf ihn, als sie sprach:

„Ihr seid frei.“

Die alte Imhofin wollte begütigen, aber Elsbeth schritt zum Fenster, Wilhalm nach der Thür. Sie nahm den Wocken in die Hand und ließ die Spindel tanzen.

Wie säuberlich verstand sie den Faden weiter zu spinnen, und wie schroff hatte sie das Verlöbniß gelöst!

Wilhalm verließ das Haus. Er lachte höhnisch auf. Nun war er frei, wie sein Wunsch gewesen. Und die Elsbeth selbst hatte ihm Valet gegeben. Sie hatte sich um ihn gebracht. Mochte sie es tragen! Ihn focht es nicht weiter an.

Aber mit welchem Blicke sie ihn gemessen hatte, als sie ihn frei gab! Als ob sie sich erdreistete, eine unehrerbietige Meinung von ihm zu hegen! Einen Augenblick wallte das Blut seiner fünfundzwanzig Jahre in ihm auf. Er ballte die Faust. Dann aber hob er sein Haupt wieder stolz empor. Er stand ja mit seiner Lebenserfahrung und Weltweisheit hoch über dem, was der Kopf einer Nürnberger Geschlechterin denken konnte, die so trocken, schlicht, hausbacken und derb war wie – er suchte nach einem recht schlimmen Vergleich, aber es fiel ihm kein anderer ein, als: wie das liebe Brod.

Unterdessen waren die Rathsherren von ihrem Rundgang durch die Stadt wieder beim Rathhause angelangt, aber sie beeilten sich noch nicht heim zu kommen, sondern standen betreten umher.

„Ich hab’ einen jämmerlichen Hunger,“ klagte Herr Rotmund; „aber mit dem Spargel wird’s nun nichts.“

„Ich habe seit gestern Mittag keine rechtschaffne Speise in den Magen bekommen,“ gestand der Stadtschultheiß.

„Und wer weiß, wer weiß, was uns heute bevorsteht!“ riefen die Uebrigen sorgenvoll.

„Laßt uns in unsre Trinkstube gehen!“ schlug Herr Imhof vor. „Der Wein vom Rheinfall ist gut dort, und ich weiß, daß gestern eingesalzne Biberschwänze und frische Osterlinge angekommen sind.“

Da zogen Alle in die Zechstube.

Guter Rath kommt nicht allein über Nacht, sondern auch nach einer tüchtigen Mahlzeit.

„Ich werde etwas Schönes einkaufen,“ meinte Herr Rotmund pfiffig, als er satt war. „Ein tapfres Geschenk macht allzeit frohen Muth.“

„Das läßt sich hören,“ riefen die andern Hochweisen, und sie zerstreuten sich in die reichgefüllten Buden und Läden der Stadt.

Am Abend standen die Mägde, mit ihren großen hölzernen Kannen in der Hand, um den Schönen Brunnen, der mit seiner Spitzsäule in den dämmernden Himmel ragte, und zu dem gleichförmigen Rauschen des Wassers klang das Geklatsch über die Aufnahme, welche die tapfren Geschenke bei den Frauen gefunden hatten.

Da war in dem einen Haus ein Kessel von dem neuerfundnen Messing, das wie Gold gleißte und noch in hohem Preise stand, die Treppe hinabgerollt, daß das Ingesinde gemeint hatte, der Türke mit seiner Janitscharenmusik sei hereingebrochen. In einem andern war eine zierliche erzene Bildsäule des heiligen Sebaldus aus der Rothgießerei Peter Vischer’s angelangt, jedoch sogleich wieder als Geschenk an den Pater Aloysius abgeschickt worden. Die Barbaraköchin aber erzählte:

„Bei uns war's am schlimmsten. Als die Frau ein Paar Armbänder anlegte, so ihr der Herr verehrt hatte, verfiel sie in ein großes Geschrei; denn die Smaragden erschienen ihr verblaßt, welches Zeichen allzeit die Nähe von Gift andeutet. Sie rief immerdar, der Sturz hätte sie vergiftet, bis Herr Rotmund Reißaus nahm.“

Mit dem berühmten klaren Wasser wurde der Klatsch über den versuchten Sturz des Sturzes in alle Häuser getragen und verbreitete sich in immer weitren Kreisen, bis er neben dem Gerede von dem bevorstehenden fürstlichen Besuch alle Köpfe und Zungen beschäftigte. In der Trinkstube der Geschlechter wurde bei feurigem Ungarwein nicht eifriger über den Unwillen der Frauen gegen die ehrwürdige Kopfbedeckung gesprochen, als in der Baderstube, wo der Handwerksgesell sich den Bart scheeren ließ, der ehrbare Meister schröpfte, um bei dem großen Ereigniß des Einzugs gegen Wallung und Blutschlag gesichert zu sein. Bis in das Siechhaus drang die Mär und stiftete ein altes Weib an, daß es eines Morgens die Sonne statt mit Nebelschleiern mit einem Sturz verhüllt aufgehen sah, welches schreckliche Zeichen und Wunder am frühen Morgen in allen Backhäusern mit dem frischen, nach Fenchel duftenden Brod zugleich aufgetischt wurde.

Als abermals die Gürtelmagd der Rotmundin einen Rundgang bei den Patricierinnen anhub, sahen ihr die Leute scheu nach wie dem Krieg verkündenden Heerwurm. Der Stadtknecht, der ihr begegnete, schlug ein Kreuz und murmelte in seinen grauen Bart: „Der Regenpfeifer zeigt bös Wetter an für meine hochmögenden Herren;“ und diesen selbst war zu Muthe, als werde eine Knallbüchse in’s Haus getragen, die unvermuthet losprasseln und ihre Papierpfropfen ihnen unter die Nase platzen könne.

Die Frauen aber empfingen die Magd feierlich bei verschlossenen Thüren, und sie sprach:

„Frau Rotmundin redet durch mich; das Losungswort ist nunmehr: Seine fürstliche Durchläuchtigkeit muß helfen, es koste, was es wolle!“

Dann gab es noch langes Flüstern und Raunen. Die Augen der Frauen lachten darnach wunderbarlich aufgeklärt aus den Stürzen, und der Name der Rotmundin ward mit Preis genannt. Die Stirnen der Männer falteten sich immer düstrer. Unheimlich dünkte sie das Geflüster wie das Knistern der Kohlen unter der Asche, unheimlicher fast noch die Gleichgültigkeit ihrer Eheliebsten gegen ihre Schneider. – –

Nur in das Hans der herben Ursel, das sich am Panierberg mit seinem abgestuften Giebel stolz über seine Umgebung erhob, war noch keine Nachricht von dem dräuenden Umsturz gedrungen. Wer hätte sie auch hineintragen sollen?

Selten zog ein Besuch die Glocke an der rundbogigen Pforte, über welcher ein lebensgroßes Gemälde die Himmelskönigin im purpurnen und blauen Gewande mit goldnem Heiligenschein zeigte. Manchmal schritt der Schultheiß, der versippt mit der Besitzerin war, durch den gewölbten Hausflur, die steinerne Wendelstiege hinauf, oder ein andrer Greis aus den Geschlechtern, ein Freund ihres verstorbnen Vaters, auch wohl der alte Beichtvater gingen durch die hallenden Gänge, die nur bevölkert waren von fremdartigem ausgestopftem Gethier, das vor langen Jahren der Vater der Hausherrin von seinen Reisen aus fernen Landen heimgebracht hatte.

[524] Die Zeitgenossen der Erbtochter des Patricierhauses waren allgemach weggeblieben. Gar mancher Rathsherr konnte es dem noch immer stattlichen Mädchen nicht vergessen, daß sie einst den Ehering verschmäht hatte, den er ihr geboten, als sie noch jünger und schöner war als jetzt, und auch die Frauen ließen ab von ihr. Sie fühlten wohl heraus, daß die Ursula kein Begehren trug, von ihren Leiden und Freuden zu vernehmen; ihre Kleinen aber, die sie manchmal mitführten, hingen sich schreiend in die Falten ihrer Gewänder, wenn sie dem düstren, grauen Hause nahten, das so kalt und stolz aus seinen Bogenfenstern schaute, wie die mächtigen braunen Augen seiner Besitzerin aus der Verhüllung des Sturzes.

Das Gesinde der Ursel lebte so eingezogen wie die Herrin. Die Mägde fanden nicht Ursache beim Wasserholen zu plaudern; denn im rings von steinernen Laubengängen umschlossnen Hofe rauschte ein Brunnen unter einer Blumenesche, die der schon lange zu seinen Vätern versammelte letzte Hausherr als schwankes Bäumlein aus dem Lande Italia mitgebracht hatte. Sein weißhaariger Knecht aber, der noch den Dienst versah, sprach allewege nicht.

Es dämmerte schon stark, aber das Haus war noch unerleuchtet. Nur durch das stark vergitterte Lugfensterlein im weiten Flur drang ein matter Schimmer der ewigen Lampe, die vor einem altersgeschwärzten Crucifix brannte.

An einem Fenster im ersten Stock saß die herbe Ursel auf der geschnitzten Eichenholzbank. Den Arm, dessen edle Form der eng anliegende Aermel zeigte, auf die Steinbrüstung gestützt und das schöne Haupt auf die noch jugendlich volle Hand gelehnt, schaute sie über die Giebel und Thurmspitzen hinaus dahin, wo das matte Abendroth am stahlblauen Himmel verglomm. Wie manches Jahr hatte sie nun hier allein gesessen, seit der Letzte seines Stammes, ihr Vater, draußen auf dem Johanniskirchhof den ewigen Schlaf schlief! Wie sie aus dem Gedächtniß ihrer Jugendgefährten geschwunden war, so hatte auch sie fast vergessen, daß es noch glückliche Familienkreise, heitre Feste, gute Freunde und Genossen auf Erden gab. Sie hatte Niemand mehr, dem sie am Weihnachtsabend den Lichterbaum anzündete, der mit ihr zum Hochamt nach St. Sebaldus hinüberwandelte oder beim Fasching ihr den Arm im Gedränge bot. Nur ihre Leibmagd begleitete sie mit Kerzen und Gebetbuch, wenn sie am Allerseelentag den Weg nach dem Johanniskirchhof hinausschritt, den die kunstfertige Hand Adam Krafft’s vom Pilatushaus aus auf sieben Stationen mit Steinbildern und am Eingang des Friedhofs mit einer Kreuzigung geschmückt hatte. Während sie sich niederwarf an den Passionsbildern, dachte sie, daß jedes Leben ein Leidensweg sei, und jeder Tod eine Erlösung. Und wenn ein warmer Juni- Abend sie einmal hinauslockte zum Johannisfeuer, dann ging der Knecht mit einem Knebelspieß voraus, sorgend, daß sie nicht gestoßen wurde, und die einzige Beachtung, die sie fand, war hier und da ein fremd gewordener Gruß früherer Freunde, ein scheues Flüstern der herangewachsnen Jugend, die sie nur dem herben Namen nach kannte. Und so mußte es bleiben, bis man sie unter der wappengeschmückten Grabplatte der Familiengruft zur Ruhe legte. Ihre Augen schauten starr hinaus in die hereindämmernde Nacht, und sie dachte, daß sie noch nicht vierzig Jahre zählte und daß ihr Geschlecht mit hohen Jahren vom Herrn – gesegnet wurde.

Einst war es freilich anders gewesen, damals, als sie noch die schöne Ursula, nicht die herbe hieß. Sie selbst wandelte zwar auch damals schon gemessen ihren Lebensweg, aber ein andrer leichter Schritt umschwärmte sie auf zierlichen Schnabelschuhen, und ob sie auch verweisend das Haupt hob, wenn an der Spitze dieser Kunstwerke ein verpöntes Schellchen klingelte, der Uebermuth zwang doch ihrem stolzen Munde ein Lächeln ab. Damals hallte in den gewölbten Gemächern neben ihrer tiefen, ernsten Stimme ein lustiger Klang, der wie frischer Vogelsang durch das alte Haus schallte, und in ihrem Mieder von Goldstoff steckten im Lenz allzeit die ersten Veilchen, die in der Nürnberger Flur sproßten. Sie lächelte zwar ob der Grasblümchen; denn in ihrem Gewächshaus dufteten Orangen, glühten Liebesäpfel. Aber wenn die feine weiße Hand sie bot und die blauen lachenden Augen so innig baten, da griff sie zu und hegte die duftenden Blumen, so lange ein Hauch von Leben in ihnen war. Er hatte ja auch nicht viel mehr zu geben. Seine Mutter war eine Muhme ihres Vaters gewesen, wurde aber in der Familie nicht sonderlich geachtet, da sie, das Kind eines verarmten Nebenzweiges, nach ihrer Herzensneigung einen geschickten Kupferstecher geheirathet hatte. Beide Eltern waren ihm früh verstorben, und Ursula’s Vater nahm den armen Vetter in die Hinterstube seines weitläufigen Hauses auf, damit er eine Heimath hatte, während er die Klosterschule der Franziskaner besuchte, und sein kleines Erbe übrig blieb für das Leben auf der Hochschule. Denn er wollte oben hinaus, wollte Doctor beider Rechte werden; dann durfte er Wappen und Siegel führen wie die alten Geschlechter, und die stolze Muhme hatte nicht viel mehr vor ihm voraus.

Es war freilich kein leichtes Werk, den Springinsfeld zu meistern. Als Kind schon zeigte sich Keiner eifriger im alten Nürnberger Spiel des Bleblingsstechens, was gleichbedeutend mit „blaue Augen schlagen“ ist. Wenn die jungen Gesellen an einander kamen im beliebten Faustkampfe, so wirbelten gewiß des Vetters Fäuste flott mit. Seine Mitschüler, die nichts in ihre Köpfe bringen konnten als die Ueberzeugung, daß sie als Rathsherrensöhne auch wieder Rathsherren werden müßten, fanden am Niclaus-Tage kleine Trichter zum Einfüllen der Gelehrsamkeit auf ihren Plätzen. Es wurde ein Gelächter und ein Aergerniß in der ganzen Stadt und zum Sprüchworte der Umgegend; die Söhne und die Väter wütheten und riefen: „Das ist der Schalksnarr gewesen.“

Ein ander Mal, als die Dominicanermönche vor ihrem Kloster, wie gebräuchlich war in der Fastenzeit, ein Faß aufstellten und daraus predigten, um die Lust des Volkes am Absonderlichen zu reizen und große Spenden in ihren Opferstock zu sammeln, da war nächtlicher Weile der Boden ausgeschnitten worden, und der Pater fiel durch. Das Volk lachte, die Mönche schrieen: „Das hat der Hansnarr gethan.“

Alle zeigten mit Fingern auf ihn, aber er blieb in keinem Schelmenstreich stecken, sodaß bald die Rede von ihm ging, er werde gewiß ein guter Rechtsgelehrter, der die wächserne Nase tüchtig zu drehen verstünde, mit welcher einer profanen Meinung nach Frau Justitia versehen ist.

Mit seinen Jahren wuchsen in ihm Lustigkeit und Muthwillen. Beim Schönbartlaufen zur Fastnacht trug er stets die lächerlichste Larve vor dem Gesichte. Unerschöpflich, wie die Raketen aus seinem mit Immergrün umwundenen Feuerkolben blitzten seine Witze und Schelmenstreiche nach allen Seiten. Sein Pritschenschlag verschonte die vornehmsten Patricier nicht, und die stolzesten Frauen wußte er durch Mittheilung ihrer tiefsten Geheimnisse in Schrecken zu setzen, bis das ganze vermummte und verluppte Nürnberg hinter ihm her war und schrie: „Fangt den vermaledeiten Narren!“ Da war er verschwunden, als ob er eine Tarnkappe aufgesetzt hätte. Selbst die strengen Rathsherren, die zu Gericht über den ausgeführten Schabernack saßen, trugen plötzlich Täflein auf den Rücken, darauf stand: „Die Nürnberger henken Keinen, sie hätten ihn denn zuvor,“ und stiegen damit würdig einher, bis das allgemeine Geschrei sie belehrte.

Sein Mühmchen aber machte er auf artigere Weise zum Fastnachtsnarren, indem er im verschneiten Hofe den Schlag des Finken nachahmte, von dem er ihr gesagt hatte, derselbe laute: Bin ich nicht ein schöner Bräutigam? Und als Ursula verwundert über den vorzeitigen Frühlingsgast auf den steinernen Laubengang hinauslief, saß er in den noch dürren Zweigen der Blumenesche vor seinem Kammerfenster; ein Regen von künstlichen mit Rosenwasser gefüllten Eiern prasselte auf sie hernieder, und lachend schmetterte er ihr noch einmal den lustigen Ruf entgegen.

Fortuna schien ihm hold. Auch bei dem Schützenfeste, welches die Gilde der Stadt auf der Zollernwiese gab, bei welchem die Glücksgöttin mit einem purpurnen Segel über dem Festplatze thronte und sich von jedem Lüftchen herumbringen ließ, zeigte sie ihm ihre schöne Seite. Er gewann mit einem guten Bogenschusse rothen Sammet zu einem Gewand und in einem Glückshafen bei dem ersten Wurf einen mit silbernen Schellchen behangnen Gürtel.

Aber auch von Fortuna gilt das Wort:

„Frauenlieb’ ist fahrende Hab’,
Heute ich lieb’ dich, morgen schab ab!“


(Fortsetzung folgt.)



[525]

Aufbruch zum Hochzeitstanz.
Nach dem Oelgemälde von J. Leisten.

[526]
Der Wildheuer.

Dort geht er am Seile und sichelt sein Gras,
Und über ihm schwebt in den Lüften,
Als Punkt nur im Aether, und späht nach dem Aas
Ein Geier in Felsen und Klüften.

Und hinter ihm gähnet die Tiefe herauf,
Und neben ihm starren die Felsen;
Dort sperren im Horste die Schnäbel auf
Die Jungen mit gierigen Hälsen.

Er schaut nicht zur Höhe; er blickt nicht zum Grund;
Er jodelt und sichelt die Halme,
Und fröhlich ertönt sein Lied ihm vom Mund:
„Mein Reich ist die sonnige Alme.

Mein Reich ist das schroffeste Felsengebiet,
Die Freiheit, die göttliche Spende –
Ihr weih’ ich den Odem; ihr weih’ ich mein Lied;
Ihr weih’ ich die schwieligen Hände.

Und ist es auch sauer erworbenes Brod,
Den Felsen, dem Abgrund entrissen,
Das hier ich verzehre, von Feinden bedroht,
Ich lieb’ es und möcht’ es nicht missen.“

Hermann Friedrichs.




Bob Zellina.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Schluß.)

So kampflos und ergeben, wie Bob es Hollfeld zwar dargestellt, bei tieferem Besinnen aber doch kaum selbst erwartet hätte, nahm Alma das über sie Beschlossene keineswegs hin. Quälend genug, ja, tief schmerzlich empfand sie, daß in dem Handeln beider Männer wenig Rücksichtnahme, ja kaum die Achtung lag, welche sie bei der vollen Reinheit ihres Gewissens fordern durfte. Dabei fand sie in ihrem immerhin freundlichen Leben an Bob’s Seite längst volle Befriedigung und achtete und schätzte ihn wahrhaft hoch. Und nun sollte sie dem Allen entsagen? Vielleicht war auch eine Ahnung in ihr aufgestiegen, ein Zweifel mindestens – ob ihr Vater, der seit jener Auseinandersetzung mit Bob auf diesen einen heimlichen Groll geworfen hatte und darum auf Alma fortdauernd im Sinne der Trennung einzuwirken suchte – ob ihr Vater wirklich Recht hätte, wenn er ihr immer und immer wieder sagte, Hollfeld sei von den beiden Männern der so viel edlere.

Sie schwankte in bangem Zweifel, und Bob kam ihrer Rathlosigkeit, ihrem feineren inneren Gefühl nicht zu Hülfe; er mied sie vollständig – wohl in dem Wunsche, ihr nichts schwerer als nöthig zu machen, oder vielleicht sogar aus dem Bangen, auf Augenblicke lang schwächer zu werden, als er durfte, irgend einer allzu mächtigen Aufwallung zu erliegen. So wurde Alma schließlich an Allem irre, ja redete sich selbst ein, daß Bob sie nicht mehr liebe und daß sie schon um seinetwillen das Opfer bringen müsse. Ein wenig mehr Muth und Entschlossenheit gab ihr auch eine Unterredung, welche sie nach Bob’s Willen mit Hollfeld gehabt, der ihren Stolz durch seine glühende Beredsamkeit aufgestachelt hatte – und da Bob nach wie vor dabei blieb, von ihrem Leiden nichts zu bemerken, scheinbar immer nur eisiger zu werden, so fuhr sie denn eines Morgens, während er in den Wald geritten war, ohne einen besondern Abschied von ihm zu nehmen, nach der Stadt.

Als Bob den Wagen ohne sie zurückkehren sah, und nun beim Durchschreiten ihrer einsamen Zimmer überall an dem Fehlen von Diesem und Jenem, was als Alma’s Eigenthum mit ihr verschwunden war, seinen Verlust ganz inne wurde, da war es auch mit seiner so lange aufrecht erhaltenen künstlichen Fassung vorbei. Immer wieder rief er verzweiflungsvoll ihren Namen. Laut aufschreien hätte er mögen.

Doch nur der antike Held durfte ja aufschreien in seiner Qual, der christliche ist gewöhnt worden, das als seiner unwürdig zu empfinden – so unterdrückte auch Bob sein Weh.

Zu seinem anscheinenden Genügen und jedenfalls in wahrhaftem Feuereifer nahm er in der nächsten Zeit Allerlei vor, was er längst geplant, aber in einer gewissen Lässigkeit immer von Neuem hinausgeschoben hatte. So wurde der Abbruch und dann der Neubau eines Wirthschaftsgebäudes in’s Werk gesetzt, und im Garten an dem Platze, welchen Alma noch dafür bestimmt, wurden die Fundamente zu einem großen Gewächshause gelegt.

Dazwischen kam und ging sein Rechtsanwalt, und es gab Conferenzen mit der Gegenpartei; denn so scharf und unangreifbar Alma’s Begründung ihres Scheidegesuches von vornherein gefaßt war, so wenig zweckentsprechend erschien immer wieder die seinige – bis der Rechtsanwalt dieselbe aufsetzte und Bob nur zustimmend zu nicken brauchte. Da kam es endlich zum Letzten, was das Gesetz forderte, und einige Wochen darauf wurde die Scheidung „dieser Gatten, die eine so unüberwindliche Abneigung vor einander empfanden“, gerichtlich vollzogen.

Die nun folgende Zeit ertrug Bob fast leichter, als die eben vergangene: er war sich jetzt völlig selbst überlassen, der Anwalt, vor welchem er eine Art von Grauen empfunden hatte, wie vor einem Arzte, der eine Wunde offen halten muß, kam nicht mehr, und Alles ging seinen gleichmäßigen Gang. Er besuchte Niemand in der Nachbarschaft – und so schonte man auch allgemein seine, wie man hoffte, nur momentane Neigung zur Zurückgezogenheit. Daheim aber stieß er nirgend auf Widerstand; seine Leute hätten ihm noch eher Alles erleichtern mögen, da er zu den liebenswerthen Naturen gehörte, welche der eigene Schmerz nicht verbittert und herbe macht; nur im Wohlthun fand er Vergessen.

In solcher Weise war ihm der Frühling, der lange Sommer vergangen. Das Wirthschaftsgebäude stand längst unter Dach. Die Mauern des Gewächshauses erhoben sich – nicht unzufrieden mit dem, was erreicht worden, konnte Bob dem Winter entgegensehen. Er hatte auch mit Clavierübungen wieder begonnen und seine Bibliothek durch das beste Neue vervollständigt; in dieser ruhigeren Stimmung wäre er wohl der stilleren Zeit begegnet, die ihn natürlich mehr an’s Haus und dessen Erinnerungen gefesselt hätte, bevor es aber Winter wurde, bei den Stürmen des Spätherbstes schon, als es täglich vom Meer her um das Sundittener Schloß ächzte und heulte, fing er plötzlich an ruheloser zu werden. Keine Beschäftigung schien ihn mehr zu fesseln; selbst das Clavierspiel vernachlässigte er bald wieder, und wie unwillkürlich horchte er nur auf jedes stärkere Geräusch, als erwartete er immer Besonderes.

In der Mittagszeit, wenn die neuen Zeitungen einmal länger als gewöhnlich ausblieben, konnte er öfter fragen, ob der Postbote noch nicht gekommen wäre, oder ging in ein Eckzimmer, von wo er eine Strecke der Chaussee übersah, welche der Bote passiren mußte. Wonach er suchte, was er erwartete, das ergründete Niemand aus seiner Umgebung. Wer aber genauer auf ihn geachtet hätte, dem wäre nicht entgangen, daß Bob nur die Zeitungen der nächsten Stadt interessirten, und dabei nicht einmal deren Haupttheil – nur die kleine, einfache Rubrik der Familiennachrichten.

Das Jahr war ja herum; jeder Tag konnte ihm nun die Bestätigung bringen, daß sein Opfer nicht umsonst gewesen. Doch wochenlang suchte er vergeblich – seine Ruhelosigkeit, seine Sorge stieg immer höher. Sollte irgend etwas Hinderndes vorgefallen sein?

Absichtlich hatte er jede Verbindung mit Ruland’s aufgehoben; jetzt peinigte ihn diese Ungewißheit aber noch mehr, als es die Gewißheit vermocht hätte.

So hatte seine Erregung sich schon bis zur Krankhaftigkeit gesteigert, als er endlich unter den Aufgeboten das von Hollfeld und Alma fand, und zwar gleich ein für alle Mal. Dieses ein für alle Mal erschreckte ihn im ersten Momente – schien damit doch unmöglich zu werden, was er seinem Herzen wie ein letztes Almosen versprochen hatte – Alma noch einmal zu sehen.

[527] Vielleicht gestern schon – heute spätestens mußte die Hochzeit sein. – Was bedeutete es im Grunde auch, ob er Alma noch einmal sah oder nicht? Doch das Herz, wenn ihm bereits viel auferlegt worden, läßt sich nichts mehr nehmen. So bestand auch sein Herz auf diesem Einen, was er eigensinnig wie sein volles Recht empfand – wie ein Scheiden vor dem Tode, wo Alles gestattet ist – Alles. – Und wenigstens der Versuch konnte gemacht werden. Irgendwo, und wäre es auch auf dem Wege zu der Bahn, ließe sich der Wunsch doch erfüllen? – Nur noch ein Sehen!

Trotzdem zögerte Bob und zögerte, schien einmal schon entschlossen, auch jetzt noch fest zu bleiben – dann zog er aber plötzlich die Klingel und befahl dem Reitknecht, für ihn und sich Pferde zu satteln. Sobald der Befehl gegeben war, überkam es ihn wie eine Genugthuung – es war das Rechte gewesen.

Eine halbe Stunde darauf ritt er langsam, wie immer, vom Hofe und grüßte nur mit einem langen Blicke noch die Fenster, die zu Alma’s Zimmer gehört hatten. Erst jenseits des kleinen Friedhofes am Rande des Waldes, wo seine Mutter unter einem Marmorkreuze ruhte, das jetzt groß und feierlich über die entlaubte Dornenhecke emporragte, erst dort begann er rascher zu reiten. Dabei räthselte er zum ersten Male darüber, warum sein Vater ausdrücklich bestimmt hätte, nicht auf diesem Friedhofe begraben zu werden. War seine Mutter auch eine Verlassene gewesen? So früh war sie fortgestorben? Bald aber wandte er sich wieder der Gegenwart zu und grübelte und malte es sich aus, ob und wo er Alma sehen würde.

Schon kurz nach Vier traf er in der Stadt ein. Die Frau seines Verwalters, dem die Sorge für Villa und Garten übergeben worden, erzählte ihm ungefragt, daß heute ja die Hochzeit der gnädigen Frau wäre und dieselbe darauf bestanden hätte, in der Kirche getraut zu werden. Um Aufsehen zu vermeiden, solle die Trauung jedoch erst Abends stattfinden.

In der Kirche wollte sie mit Hollfeld verbunden werden! Bei ihm hatte sie sich in die Trauung zu Hause gefügt. Wie einfach sich nun aber sein Zweck erreichen ließe! – dachte er – in der Marien-Kirche gab es genug Ecken ober Pfeiler, hinter denen verborgen er den Zug vorübergehen lassen konnte.

Er sah an sich nieder: der schmutzbespritzte Reitanzug paßte allerdings kaum zu einer Hochzeitsfeier, und warum nicht selbst im Verborgenen festlich? War es doch eigentlich das höchste Fest seines Lebens!

Mit heiserem Lachen ging er nach seinem Ankleidezimmer. In einem der Schränke mußte noch sein Hochzeitsanzug hängen: wie passend der gerade war! – Ohne sich weiter zu besinnen, suchte er ihn hervor und legte ihn an.

Es war ein eigenes Gesicht – wenig hochzeitlich, das ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte. Mehr Ruhe bedurfte er unbedingt. Ein Gang durch den Garten mochte diese Ruhe geben.

Als er hinab kam, fuhr ihm der Wind stärker als vorher entgegen – schien in Sturm übergehen zu wollen. Ihn fröstelte. Dennoch drängte es ihn vorwärts, und er schritt um das Rondel herum nach jener Hauptallee, die dem Meere zulief. Aus der Ferne wogte es grau heran; Meernebel wälzten sich näher – in der ganzen Natur war bald nichts wie Gräue und klagende Laute, als ginge es mit ihr zum Sterben. Ruhe gewann sich da nicht – so trieb es Bob vor der Zeit nach der Kirche.

Das Schweigen hier, die volle Dunkelheit, welche sich bereits über die niedrigen Seitenschiffe gebreitet hatte, berührte ihn wohlthuend: hier in einer Kirchenbank ließ sich Alles ruhig erwarten.

Lang währte es auch nicht mehr, da zündete man Lichter auf dem Hauptaltare an, einen Kronleuchter selbst und einzelne der Lampen an den Pfeilern. Ein Mädchen streute Laub und Blumen im mittleren Gange, und Bob bemerkte, wie auch der Platz am Altare durch hochstämmige Gewächse geschmückt war. Er sah das Alles, wie er meinte, unbewegt – ja er wunderte sich fast, wie viel der Mensch über sich vermöchte. Einmal freilich wollte es ihm auch scheinen, als wäre all sein heutiges Thun und Treiben so seltsam – wie das eines Wahnsinnigen: da drängte es ihn fort; es war ihm, als brenne der Anzug, den er trug.

Schon gingen die Kirchthüren unaufhörlich, und das Geräusch heranrollender Wagen drang näher. Bob erhob sich mühsam und schritt bis an einen Pfeiler, an welchem eine hohe Tafel mit weit ausgezacktem Rahmen hing. Hier mußte er für die im mittleren Gange Hinschreitenden unsichtbar sein, während er selbst Alle sah.

Und fern öffnete sich wieder eine Thür; die Frauen in den vorderen Kirchenbänken blickten der Richtung nach dem Portale zu; dann schleifte und rauschte Seide über die Fliesen hin.

Bob wurde gleichsam ein Sehen; Nichts lebte an ihm als der Blick – und dieser sah dieselbe weiße, umschleierte Gestalt, welche einst neben ihm gegangen war, nun am Arme des Andern hinschreiten. Den Kopf wie damals gesenkt – dennoch schien er anders getragen zu werden. Das Glück macht den Kopf anders senken als die Ergebung. – Hollfeld ging straff aufgerichtet: in seinen Zügen war etwas fest in sich Geschlossenes, mehr Ernst als das Strahlen des Siegers. So hatte er ihn sich gedacht.

Von der Trauung vermochte Bob nichts zu sehen – es drängte ihn auch nicht darnach. Ebenso hörte er nur Hollfeld’s „Ja“, nicht das Alma’s. Gesprochen war es jedoch. Die bald darauf folgende Unruhe der Zuschauerinnen bezeugte es ihm.

Ueber eine kleine Weile sah er den Zug dann noch einmal vorübergehen: jetzt trug auch Alma den Kopf erhoben, und auf ihrem Gesichte lag der Ausdruck, jenes heiße Leuchten, das er nur einmal gesehen, und das er noch einmal hatte sehen müssen.

Man löschte die Lampen: es wurde dunkler; nur in der Ferne tönte noch das Gerassel der Wagen – da schwankte auch Bob aus der Kirche. Der Sturm hatte die Nebel verjagt oder ballte sie in mächtige Wolken zusammen, bis auch die aus einander getrieben wurden und das falbe Licht des letzten Mondviertels niederschimmerte.

Bob kam endlich wieder in der Villa an, geisterhaft blaß und auf Nichts um sich her achtend. Da er schon vorher satteln gelassen, warf ihm der Reitknecht nur den Mantel über, dann sprengten sie vom Hofe. Als Bob die freie Straße gewonnen hatte, ging er in volle Carrière über.

Der Reitknecht vermochte auf seinem weniger tüchtigen Pferde seine Distanz nicht inne zu halten und blieb zurück: das schien Bob zu beabsichtigen – er setzte sein Jagen fort und verschwand beim Beginn des Waldes ganz den Blicken des Dieners.

Es war wohl nicht blos der Wunsch des Alleinseins, der ihn zu seinem wilden Reiten stachelte – die Gährung, in welche er körperlich und geistig immer tiefer hineingerieth, als stimme so Gleiches zu Gleichem. Die klaren Gedanken schwanden mehr und mehr; bald drang nur noch mitunter einer durch: vor Allem das inbrünstige Verlangen, der zu bleiben, als der er sich erwiesen hatte, zu zeigen, daß sein Opfer nicht größer gewesen war, als seine Kraft. Was vermochte ein rechter Mann nicht Alles! – Immer rascher verdämmerten solche Gedanken; es waren bald nicht mehr Gedanken – bloße Visionen noch.

Das junge Pferd, welches er ritt, flog dabei mehr, als daß es den Boden berührte – und flimmerte einmal ein Stamm zu licht, so versuchte er es abzudrängen, bis eine eiserne Faust dazwischen fuhr. Auf der Waldwiese gar, wo überall noch Nebel wie Geister hockten und es in Spukgestalten nebenher trieb, plötzlich emportauchte und dann wieder verschwunden war – da knirschte und schäumte das Pferd im Zügel. Auf dem fliegenden Mantelkoller hatte einmal etwas Weißes gesessen und Bob mit Augen angesehen, als wären es Alma’s Augen: schwarze Flügel waren freilich darüber zusammengeschlagen – und dann wieder bloß Nacht ringsum, vorn hinschlängelnd nur der graue Waldweg, hier und da Lachen von Mondlicht darauf!

Bob vermochte nichts mehr zu denken; selbst die heisere Stimme war endlich verstummt, die von neuem Brautglück zu flüstern gewußt – von einem neuen? Wie es da irre in seinen Gedanken, immer irrer geworden war! Wie es nur noch in lauter Feuerfunken vor seinen Augen blitzte – und der einzige Wunsch ihn beseelte, so fortzurasen – weiter, nur weiter! O bis an’s Ende!

Doch schon lag die Biegung zwischen dem Friedhofe und dem Abhange vor ihm: weich vom Monde beschienen, erglänzte das weiße Kreuz der Mutter. Unwillkürlich richtete er sich höher auf, als wollte er, wie immer, hinübergrüßen, dabei mußte aber auch der Rappe das gespenstische Kreuz erblickt haben – mit einem mächtigen Satze warf er sich nach der anderen Seite. Bob, wieder ganz an irgend ein Phantom von Gedanken hingegeben, verlor den Schluß, die Bügel – ein zweiter Sprung des Pferdes [528] vorwärts – und schwer schlug ein Körper gegen die Prellsteine des Abhanges.

Der Rappe flog in toller Flucht davon – sein Herr war plötzlich sehr still geworden: nur in der Brust hob es sich krampfhaft, und Blut strömte aus einer klaffenden Stirnwunde. –

Nach einer längeren Weile, als fern herüber ein Pfiff ertönte, das Signal des Eilzuges, welcher eben die nächste Station passirte – dieses Zuges, der gen Süden geht und ein glückselig Paar mit sich führte, da schwankte eine Trage, auf der ein Todter lag, an dem Friedhofe von Sunditten hin. Und dasselbe weiche Mondlicht webte um ein hohes Kreuz und um das Antlitz des Todten.




Aus der fränkischen Schweiz.

Von B. Florschütz. Mit Abbildungen von R. Püttner.

Riesenburg. Adler-Steine. Sophien-Höhle. Rich. A. Püttner.

Uns grüßen seltsam geformte, phantastisch in den blauen Himmel emporragende Felsen, mächtige Steinwände, gespalten und zerklüftet, vielfach mit freundlichem Grün umkleidet und gekrönt von altersgrauen Burgen und Ruinen, die sich in krystallenen Wässern spiegeln – uns grüßen weite Felsdome in kühner und gigantischer Wölbung, wie von Riesenhänden erbaut, und dann wieder wunderbare Höhlen mit ihrem schauerlichen Dunkel, die tief hineindringen in das Innere der Berge und in gewaltigen Draperien ihre Stalaktiten über unsere Häupter gezogen haben. Wir sind in der fränkischen Schweiz, in jenem Eldorado für Alle, deren Herz empfänglich ist für romantische Naturschönheit, in jener unerschöpflichen Fundgrube für den Mann der Wissenschaft, der seltenen Pflanzen nachgeht oder den mannigfachen Fossilien, welche als stumme Zeugen längst untergegangener Entwickelungsperioden die Bergrücken bedecken, oder den mehr oder weniger versteinerten Knochen der großen Säugethiere, des gigantischen Mammuth, des furchtbaren Höhlenbären und -Löwen, welche um unberechenbare Zeiten später auf dem ursprünglich meerbedeckten Boden gewandelt und in längst verschollenen Vorzeiten wieder ausgestorben sind. Ist ja doch auch für den Anthropologen – besonders seit den epochemachenden Entdeckungen der menschlichen Höhlenwohnungen in den dortigen Flußthälern durch Herrn Dechanten Engelhardt – unser Terrain zu einem der wichtigsten und interessantesten Forschungsgebiete geworden. Aber man braucht nicht Gelehrter zu sein, der seinem Wissensdrange fröhnen will, oder ein Schwärmer für pittoreske Partien und zerfallene Burgen – schon der einfache Reiz des wirklich Schönen in der Natur, verbunden mit der herrlichsten Luft, welche durch die tiefen Thäler mit ihren saftigen Matten und ihren rauschenden, grünen Forellenbächen weht, muß jeden Besucher sich zum dauernden Freunde machen und hat schon manchen siechen Körper gekräftigt und manches umdüsterte Gemüth einem frohen und verständigen Leben wiedergegeben.

Die fränkische Schweiz bildet einen kleinen, zwischen Bayreuth und Erlangen gelegenen und durch seine Naturschönheiten wie wenig andere Gegenden Deutschlands ausgezeichneten Theil des in Baiern gelegenen fränkischen Jura, eines umfangreichen, nicht zu hohen Gebirgplateaus, welches in einem großen Bogen nach Osten bis in die Nähe Regensburgs sich erstreckt und nach Norden mit seinen äußersten, grotesk gestalteten Ausläufern am Main, an der coburger, der „sächsischen“ Grenze endet. Die bedeutendste Erhebung dieses nördlichen Endes, welches uns hier allein interessirt, hat eine Höhe von 530 Metern über dem Meere und ist im Allgemeinen von außerordentlicher Plattheit mit einzelnen Bergkuppen oder Buckeln, die nur wenig emporragen, aber meist mit den bizarrsten Felsbildungen bedeckt sind. Der porösen Natur des Gesteins nach ist das Plateau außerordentlich trocken und wasserarm. Ortsnamen, wie z. B. Dürrenwasserlos, deuten schon auf diesen Mangel hin, welchem die Einwohner der auf der Hochebene nur spärlich verstreuten Ortschaften durch die Anlage von Cisternen („Hülben“) abzuhelfen suchen. Trotzdem kann bei günstiger Witterung dem mit Steinen besäten Kalkboden eine vortreffliche Ernte abgewonnen werden, und habe ich auf weite Stunden hin [529] den herrlichsten Getreidestand angetroffen, während die Gegend selbst, welche nur selten zwischen den Aeckern und einzelnen Waldparzellen eine einsame weiße Capelle oder uralte vergessene Hünengräber erkennen läßt, einen verhältnißmäßig monotonen Eindruck hervorruft.

Das Bild ändert sich mit einem Schlage, sobald wir in eines der zahlreichen Thäler herabsteigen, welche, tief und scharf in die Hochebene eingeschnitten, das Auge sofort durch die Ueppigkeit ihrer Vegetation und besonders ihres Baumwuchses entzücken. Prächtige Nußbäume stehen zu dichten Hainen vereinigt in solcher Fülle und Schönheit der Entwickelung, wie sie wohl selten wo anders getroffen werden; sie bilden ein dichtes Laubdach über freundlichen kleinen Ortschaften, deren rothe Dächer durch die Blätter leuchten; kaum daß der goldene Knopf der Kirche die hohen Bäume überragt. Obstbäume werden in Masse cultivirt und drängen sich in Ueberfüllung und gegenseitiger Behinderung in den Gärten; ein kräftiger, üppiger Wiesenwuchs überkleidet den Boden, durch welchen eiligen Laufes krystallklare Gewässer rinnen, die vielleicht eben erst in auffällig starker, eiskalter Quelle dem Kalkgebirge entsprungen sind.

BLICK v. NEUDECK auf STREITBERG.       RUINE NEUDECK.
CURHAUS MUGGENDORF.

Rich. Püttner       Kaeseberg & Oertel. X. I.
Bilder aus der fränkischen Schweiz: Muggendorf und Umgebung.

An den oft geradezu senkrechten Thalwänden aber tritt überall der weißliche oder graugelbe Jurakalk zu Tage, in wunderbaren Zacken und Nadeln emporstarrend, oft genug hinter Haselstauden oder kleinen Föhren mancherlei Höhlen versteckend, wie sie die Bergwässer ausgenagt haben, Höhlen, denen der Urmensch der fränkischen Schweiz mit Feuer und Wasser nachgeholfen hat, um ihnen eine bequeme Rundung zu geben oder sich einen kunstlosen Herd zu gestalten.

Wer sich für dieses alte, uns nach Rasse und Zeit ganz unbekannte Völkchen interessirt, das dort gleichzeitig mit den Höhlenbären und anderen Bestien den Kampf um’s Dasein geführt hat, der achte nur auf den Lauf der Bäche und vorzugsweise auf den Ursprung der zahlreichen Quellen an denselben, und er wird überall an solchen wasserreichen Orten, an welchen gleichzeitig eine von der Höhe herabführende Schlucht oder Mulde dereinst dem Wilde die Möglichkeit gab, bequem zur Tränke herunterzusteigen, seitlich in den Felswänden in circa zwei Stockwerk Höhe sehr bald solche Wohnungen entdecken, klein oder groß, zum Oeftern, wie z. B. bei Treunitz, zu ganzen Dorfanlagen vereinigt, mit einer Feuerstelle, die außen nebenan in den Fels eingebrannt ist, oder aber mit einem auch heute meist noch offenen Zugloche im Innern, während der roh aus Steinen aufgebaute Herd unter dem mehrere Meter hohen Schutt und Mulm begraben liegt.

[530] Und will er wissen, mit was dereinst die Leutchen hantirten, um sich der wilden Thiere zu erwehren und sich Nahrung und Kleidung zu verschaffen, so gehe er zum Herrn Limmer nach Muggendorf! Der wird ihm gern sein hübsches Privatmuseum zeigen, in welchem zu Tausenden all die verschiedenen Geräthe, Waffen und Schmucksachen aufgespeichert liegen, die aus dem Boden dieser Höhlenwohnungen erhoben worden sind. Wir wandeln auf einem hochinteressanten vorgeschichtlichen Terrain, wie wir neben dem der Pfahlbauten kaum ein zweites von gleicher Bedeutung haben.

Je tiefer wir im Verlauf dieser Thäler herabsteigen und je mehr wir uns dem Centrum des Nordstockes des fränkischen Jura nähern, desto großartiger und romantischer gestaltet sich die Scenerie. Was uns früher Rand des Plateaus schien, entwickelt sich jetzt zu mächtigen Zinnen und Felsburgen, gewaltigen Thürmen und Domen, die aus einer Höhe von Hunderten von Fußen stolz zu uns herniederblicken.

Es ist der Dolomit, welcher, dem Jura aufgelagert, bei der leichten Verwitterbarkeit seines Steines diese wunderbaren Figuren bildet und der Gegend ihr specifisches Gepräge aufdrückt. Man muß selbst zwischen diesen Bildungen herumgeklettert sein, um einen Begriff von der unendlichen Verschiedenheit der abenteuerlichsten Formen und Gestaltungen zu gewinnen.

Vielfach hat sich mit ihnen die Volkspoesie beschäftigt und die Werke übermenschlicher Kraft in ihnen erblickt, und am interessantesten ist ihr Anblick, wenn sie auf ihrem Scheitel noch wirkliches Menschenwerk tragen in Gestalt kleiner Burgen oder verfallener Ruinen, deren graues Gemäuer mit dem alten Steine verwachsen scheint. Freilich beschäftigen sie auch zeitweilig die Baupolizei; denn gar nicht so selten, besonders im Frühjahr, rollen ganz hübsche Brocken aus der Höhe hernieder und bedrohen die ländlichen Wohnungen, ja häufig müssen gelockerte Partien, welche mit Sturz drohen, künstlich entfernt werden. Trotz dieser für das Ganze ja verschwindenden Verluste werden die imponirenden Massen noch lange Zeiten durchdauern und des Wanderers Herz stets mit neuem Staunen und Entzücken füllen. Interessant ist der Reichthum an Fossilien, die man auf ihnen findet und welche in seltenen Ammonshörnern, Belemniten, Korallen und anderen Producten des Seebodens Manchem schon zu einer schönen Sammlung verholfen haben; nicht minder auch die Flora, welche zwar keine Alpenrosen beut und in welcher das Edelweiß erst noch der künstlichen Anpflanzung harrt, die aber doch eine ganze Reihe subalpiner Formen, vom stolzen Apollo-Falter umgaukelt, aufweist, ganz abgesehen von der seltsamen Mückenpflanze und dem zierlichen Frauenschuh, jenen beiden Lieblingen des echten jurassischen Bodens. Auch mancher Opferplatz findet sich da oben und manche Wallburg mit regelmäßigen Steinhäufungen und Gräben, die noch des Studiums und der Beschreibung durch den Alterthumsforscher warten. Kurz überall, wohin unser Auge blickt, ist es anregend und schön, und wenn auch oft die Felsen über unseren Häuptern zusammenzustürzen scheinen oder in wildem Chaos ihre Trümmer über einander gehäuft haben, so vermissen wir doch nie den Reiz des Lieblichen, welcher gerade die fränkische Schweiz bei allen großen Eindrücken uns immer so anmuthig erscheinen läßt.

Der Schwarm der Touristen, der in die fränkische Schweiz gelangen will, benützt den Weg von der Station Forchheim, einer uralten Stadt und ursprünglichem Meierhof der Carolinger zwischen Bamberg und Erlangen, bei welcher die Wiesent in die Regnitz einmündet, über Ebermannstadt nach Streitberg und Muggendorf und gelangt auf diese Weise mit beguemer Fahrgelegenheit allerdings zu der schönsten Eintrittspforte, welche in die fränkische Schweiz leitet.

Lange schon haben die Berge zu beiden Seiten der Straße eine eigenthümliche Form angenommen; theils zeigen sie in fortlaufendem Zusammenhange nasenförmige Vorsprünge, welche weithin leuchtende Capellen tragen, theils heben sie sich einzeln, wie der Walburgisberg mit scharfgeschnittenem Sattel, aus der üppig-grünen, durch Schöpfräder im Flusse bewässerten Wiesenfläche. Allmählich aber rücken sie mehr und mehr zusammen.

Wie ein paar gewaltige Wächter begrüßen uns auf steiler Berghöhe zu beiden Seiten des Thales zwei stattliche Ruinen, in ihren Trümmern noch die Festigkeit und Größe der ursprünglichen Burgen verrathend. Weithin beherrschen sie die Gegend und bilden die romantischste Einfassung für den ersten Einblick in die seltsamen Gebirgsformationen der fränkischen Schweiz.

Die Burg links, in ihren Anlagen noch deutlich erkennbar und zum letzten Male im Jahre 1811 zerstört, ist Streitberg, eine Ritterburg aus altersgrauer Zeit, welche durch mancher Herren Hände gewandert ist; ihr gegenüber in imponirender Lage ragt die Ruine Neudeck mit drei hohen Thürmen und mancherlei Gemäuer, auf welchem jetzt Bäume und Sträucher sich im Winde wiegen, über das saftige Grün der Flur empor. Sie ist nicht jünger als ihr vis-à-vis und wurde in den Raubzügen des Markgrafen Albrecht Alcibiades zerstört, welchen auch damals die Burg Streitberg zum Opfer fiel. Sie bestand ursprünglich aus drei einzelnen festen Schlössern, deren Reste noch heute die umfangreichsten der ganzen Gegend sind und unter die schönsten Ruinen auf deutschem Boden gerechnet werden.

Am Fuße der Ruine Streitberg entfaltet sich in malerischer Umgebung das gleichnamige Dorf, dessen Häuser amphitheatralisch am Berge zwischen Obstgärten hingebaut sind. Es ist ein vielbesuchter, altrenommirter Luft- und Molkencurort unter vorzüglicher ärztlicher Leitung, umgeben von schönen Promenaden, welche zu interessanten Punkten führen, und mit mancherlei Höhlen in der Nähe. Auch das freundliche Muggendorf, zu dem wir nach einstündiger Wanderung von Streitberg aus gelangen, genießt seit einer Reihe von Jahren den wohlbegründeten Ruf eines vorzüglichen Curortes. Als einer der ältesten Orte im ganzen Lande, hat es jetzt wie all die verschiedenen Städtchen und Marktflecken, welchen wir auf unserem Wege begegnen, das Gepräge eines reinlichen, sauberen Landstädtchens mit freundlichen Häusern und freundlichen Menschen und dazu jenes eigenthümlich Anheimelnde, das leichter empfunden als definirt wird, uns aber den Aufenthalt in solchen Plätzen immer schwer vergessen läßt.

Zahlreiche Spaziergänge führen uns nach allen Richtungen, theils längs des Flusses, der krystallklar, aber mit empfindlicher, nicht für jeden Badenden verträglicher Frische und mit seinen pfeilgeschwinden Forellen an uns vorbei eilt, theils die Bergwände hinan zu den mannigfachsten Aussichtspunkten. In nächster Nähe befindet sich die im Jahre 1790 entdeckte Rosenmüllershöhle, welche wohl noch von keinem Besucher Müggendorfs unbesichtigt gelassen worden ist. Bequem zugänglich, aber nicht ohne Führer zu betreten, hat sie wohl nicht so viel Imponirendes und Erhebendes aufzuweisen, wie manche der anderen Höhlen, aber sie besitzt doch eine Höhe von über zwölf Meter und ist mit den prächtigsten Stalaktiten geschmückt, welche durch ihre wunderbaren Formen im Glanze des mitgebrachten Lichtes einen überraschenden, Staunen und Bewunderung gebietenden Eindruck machen. Sie ist mehr wie jede andere geeignet, dem Laien durch diese reichen, phantastischen Formen, welche durch niedertropfendes Wasser in steter Weiterbildung begriffen sind und als Stalaktiten von der Decke herab, als Stalagmiten vom Boden auf immer fortwachsen, einen deutlichen Begriff der Höhlenbildung im Jurakalk zu gewähren.

Ein anderer Ausflug, welcher, weil weiter, von Vielen unterlassen wird und doch höchst interessant ist, führt uns über die Wiesent auf prächtig beschatteten, leicht zugänglichen Wegen und in schönster Waldluft zu dem auf der Höhe des Plateaus links gelegenen Trainmeusel, einem kleinen und ärmlichen Dörfchen, wie die meisten oben auf der Höhe. In demselben wird uns der allerdings uralte Unterbau eines Bauernhauses als letzter Rest der Burg jenes famosen Raubritters Eppelin von Gailingen gezeigt, welcher dereinst den Nürnberger Kaufleuten das Leben so sauer machte und ihnen zu dem bekannten Sprüchwort: „Die Nürnberger hängen keinen nicht, sie hätten ihn denn zuvor“ verholfen hat. Doch wir kümmern uns nicht um diese alten, höchst unschönen und mehr als sagenhaften Mauertrümmer und lasten uns auch durch das Luftmalzbier, das Nationalgetränk, obgleich es an heißen Tagen herrlich mundet, zu keinem langen Aufenthalte in dem niedrigen, kleinfenstrigen Wirthshause verleiten; wir holen uns daselbst nur einen Führer und wandern mit diesem über das Dorf Wohlmannsgesees nach einem der interessantesten und geheimnißvollsten Orte, welche unser Vaterland bietet, nach dem Druidenhain. Der Name ist wohl von einem Alterthumsfreunde dem merkwürdigen Waldterrain gegeben worden, das wir am besten bei Sonnenuntergang betreten, wenn wir uns ganz seinem Einflusse hingeben wollen; denn uns ist nichts von einem heimischen Druidendienste bekannt, und finden sich auch keine alten Namen, die wir auf einen solchen deuten könnten. Und doch sagt uns der erste Blick, trotz der gegentheiligen Ansicht mancher Forscher, daß wir es in dem auffälligen Felsenaufbau, den wir in einem hohen [531] Fichtenhain vor uns sehen, nicht mit einem Naturspiele zu thun haben. Da ist nichts von den bizarren, ausgenagten und zu den abenteuerlichsten Figuren umgestalteten Felspyramiden oder den wüsten Trümmerhaufen, wie sie der Dolomit auf den benachbarten Höhen bietet, Formen, welche auf dem sogenannten Quackenschloß oberhalb der Baumfurter Mühle oder aus dem aussichtsreichen Adlerstein so mächtigen Eindruck hervorrufen – im Gegentheil: hier finden wir in strenger Ordnung und regelmäßig wie die Bänke in einer Kirche eine Menge großer, oblonger Felsblöcke in zwei Abtheilungen mit breitem Mittelgang und engen Zwischengängen aufgestellt, und alle, soweit es die Verwitterung zugelassen hat, von gleichmäßiger Gestalt und bankartigem Aussehen. Vor ihnen aber und etwas seitlich stehen zwei oder drei gewaltige viereckige Steine wie mächtige Altäre, ebenso mit Moos und Flechten überwuchert, wie die Bänke. Und wenn wir das Moos von den Steinen mit der Hand entfernen, so finden wir auf ihrer Oberfläche eine Anzahl größerer und kleinerer, sorgfältig in Stein ausgearbeiteter Näpfe, von denen die meisten einen schmalen Canal nach außen haben – uralte Opferschalen zum Auffangen des Blutes mit ihren Blutrinnen. Ueber dem Ganzen aber schließen sich, vergoldet vom letzten Sonnenstrahl, die Wipfel der hohen Föhren zu einem dichten Dome, während um die alten Steine mächtiger Epheu wuchert und in dichten Büscheln die Wedel des Farnkrautes zwischen den Felsen hervorsprossen.

Vor unserm inneren Auge aber belebt sich mit den ersten Schatten der Dämmerung die schweigende Steinmasse rings umher; im Flüstern des Abendwindes, der durch die Bäume fährt, hören wir murmelnde Stimmen, wie Götterbeschwörung, und die alten Priester sehen wir über die Altäre gebeugt, in dem Blute der eben geschlachteten Kriegsopfer den Willen der Unsterblichen zu lesen. Auf den Bänken aber sitzen die Männer des Stammes in schweigender Andacht, den funkelnden, kampffreudigen Blick auf das Antlitz der Priester geheftet, das Haar langhängend oder zum Knoten geschürzt, wie die eigenthümlichen Kopfringe der dortigen Gegend vermuthen lassen, bekleidet mit grobfelliger Gewandung, die Handgelenke geschmückt mit bronzenen Spangen, die Faust bewehrt mit der steinernen Streitaxt. Und lauter und lauter wird das Murmeln und Beschwören der Priester; sie sehen gute Zeichen im rinnenden Blute, und ihre Erregung theilt sich den Zuschauern mit, daß es lebendig wird auf allen Sitzen und heller Kampfruf ertönt, während über den rauschenden Gipfeln die schwarzen Vögel Wuotan’s ihre Kreise ziehen.

Der Führer mahnt uns zum Aufbruch und weckt uns aus den Träumen, die in der seltsamen Umgebung so nahe liegen; er erzählt uns nur noch, daß in dem großen Acker, über den mit mächtigem Absatz der Druidenhain sich erhebt, mächtige Lagen von Asche und mancherlei Scherben aufgefunden wurden. Wimmelt es doch ringsum von den Resten der vorgeschichtlichen Bewohner, die nach den Höhlenmenschen unten in den Thälern da oben ihre Grabhügel geschichtet haben und den Göttern ihre Opfer brachten.

Muggendorf ist vermöge seiner günstigen Lage zum Hauptquartier der vielen Fremden geworden, welche von ihm aus das schöne Gebirgsländchen vom Frühjahr bis in den Herbst hinein nach allen Richtungen durchstreifen. Wir folgen, die Wiesent aufwärts, welche mittelst zahlreicher großer Schöpf-(„Schlupf“-)räder das immer mehr sich verengende Thal bewässert, zwischen den gegen 120 Meter hohen, vielfach bewaldeten Bergwänden der bequemen Fahrstraße, um Gößweinstein aufzusuchen, können uns aber nicht versagen, auf nahezu halbem Wege rechts abzubiegen nach Burg-Gailenreuth mit seinem noch leidlich erhaltenen Schlosse und dem dabei liegenden Windisch-Gailenreuth, um der weltberühmten Gailenreuther- oder Zoolithenhöhle unsern Besuch abzustatten.

Dieselbe ist in Betreff ihrer terrassenförmigen Bildung, besonders aber durch ihre außerordentliche Reichhaltigkeit an fossilen Resten eine der merkwürdigsten, ja in letzter Hinsicht vielleicht die bedeutendste Höhle der ganzen Welt. Noch heute lange nicht erschöpft, barg sie in ungezählten Massen die Skelettheile jener längst ausgestorbenen Thiere, welche das Volk gemeinhin als vorsündfluthlich zu bezeichnen pflegt, und hat fast alle Museen der Erde mit ihren Funden bereichert.

Gegenwärtig ist hier, wie in der Sophienhöhle, mit dankenswerther Aufmerksamkeit dafür Sorge getragen worden, daß keine weiteren Verschleppungen stattfinden und die noch vorhandenen Reste erhalten bleiben. Die Gailenreuther Höhle hat nicht weniger als sechs Abtheilungen, von denen die zweite vierzig Meter lang und zehn Meter breit ist; zur vierten muß man mittelst einer Leiter sechs Meter tief hinabsteigen, und ragen in ihr die fossilen Knochen aus den Wänden hervor. In der nächsten Abtheilung fand man nicht weniger als 180 ganze Köpfe, zumeist vom furchtbaren Höhlenbären, dessen Unterkiefer mit abgebrochenen Winkeln eine hauptsächliche Waffe für den damaligen Menschen bildete, und hat man zur sechsten und letzten gleich ausgestatteten Abtheilung wieder sechs Meter hinabzusteigen. In der Nähe befindet sich ferner eine ganze Folge von Höhlen, welche zum Theil noch der Erforschung bedürfen, wie denn überhaupt jedes Jahr neue Höhlen, wenn auch meistens kleineren Umfanges, aber fast ausnahmslos mit Thierresten oder den Spuren menschlicher Thätigkeit entdeckt werden.

Das Schloß Gößweinstein, auf steilem Felsen liegend und weithin leuchtend – beherrscht es doch vier Thäler – wird schon in einer Urkunde des Kaisers Friedrich des Ersten von 1160 als Besitzung des Hochstiftes Bamberg erwähnt. 1526 zerstört, wurde es 1767 zum Amtssitz erhoben und ist jetzt, in Privatbesitz übergegangen, durch einen guten Fahrweg leicht zugänglich, abgesehen von den schönen königlichen Anlagen im Staatswalde, welche im Zickzack heraufführen. Die Aussicht von demselben gehört zu den schönsten und umfassendsten der fränkischen Schweiz. Der Markt Gößweinstein, unterhalb des Schlosses gelegen und hübsch und sauber wie Muggendorf, ist bekannt durch seine weither besuchte, geschmackvoll gebaute, wenn auch im Innern etwas überladene Wallfahrtskirche zur Heiligen Dreieinigkeit und ist weiter interessant durch sein Wasserwerk, welches am Fuße des schroffen Felsens, auf welchem Markt und Schloß liegen, bei der Stämpfer- oder Dreiquellenmühle in ausgedehnter Röhrleitung das Quellwasser auf die Höhe hinauftreibt.

Dicht oberhalb des Gößweinsteiner Berges, im Centrum jener sich vereinigenden Thäler, liegt Behringermühle, ein kleines Dorf, von dem man am besten zu der bekannten Riesenburg gelangt. Sie zeigt die größten Felsbogen mit mächtigen Säulen und Thoren, welche letztere in eine geräumige Höhle mit weit vorspringendem Dache führen und durch ihre großartige Anlage wirklich von überwältigender Wirkung sind.

(Schluß folgt.)




Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg.

Zur Stunde herrscht in der für gewöhnlich so ernsten und gemessenen Metropole des deutschen Welthandels, in Hamburg, der zweitgrößten Stadt des Reiches, ein bunt bewegtes, fröhliches Festtreiben. In ihren Mauern wird das dritte deutsche Sängerbundesfest gefeiert. Dame Hammonia hat sich für einige Tage die Geschäftsfalten von der Stirn gestrichen und schwingt den Tausenden von deutschen Sangesbrüdern und Festgenossen, die aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes, von weither aus der Fremde, ja von jenseits des Atlantischen Oceans, wo überall das deutsche Lied gleichsam ein harmonisches Band um die deutschen Stammesgenossen schlingt, gezogen kamen, zum frohen Gruße den grünen Eichenkranz entgegen. Sie will sich einige Tage gänzlich das Soll und Haben aus dem Sinn schlagen, eine Weile die vielfachen Sorgen und Verdrießlichkeiten vergessen, die ihr commercieller Beruf nothwendig mit sich bringt und die durch den jüngst erfolgten Zollanschluß, der ihre Tasche um diverse Millionen leichter machen wird, wesentlich vermehrt wurden; sie will mit den sangeskundigen Söhnen ihrer Heimath gemeinsam sich erheben über die Alltäglichkeit des Lebens hinaus in die heiteren Regionen der Kunst und sich laben an den Schätzen des Liedes und des Chorgesanges. Das werden genußreiche und anregende Tage werden, die Sängerfesttage des Monats August, genußreich und anregend sowohl für die Gastgeberin wie für die Gäste.

Man hat Hamburg häufig das deutsche Venedig genannt, [532] und das wahrhaft großartige Panorama der Stadt an den Ufern der Außen- und Binnenalster hat die „Gartenlaube“ erst vor Kurzem ihren Lesern in trefflichem Bilde vorgeführt (vergl. Nr. 30). Den Hauptreiz für den Binnenländer bildet jedoch unstreitig der Hafen Hamburgs neben den damit verbundenen Anlagen. Dort erhebt sich vor den staunenden Blicken „der Schiffe mastenreicher Wald“, von allen seefahrenden Nationen der Welt hierher gesandt, wie die bunten Flaggen verkünden; dort erstrecken sich die gigantischen Quai-Anlagen mit ihrem rastlosen Getriebe; dort liegen die Werfte, auf denen die kunstreiche Menschenhand jene schwimmenden Kolosse zusammenfügt, welche die Länder der Erde unter einander verbinden.

Und welch eine fast sinnverwirrende Geschäftigkeit herrscht hier überall! Tausende von Händen regen sich unausgesetzt, und ein wahres Tohuwabohu von Geräuschen erfüllt die Luft. In directem Zusammenhange mit dem Hafen stehen die zahllosen hohen Speicher in der Stadt, die ihre Hintergiebel den dunklen Canälen, hier „Fleete“ genannt, zukehren und in deren Räumen Millionen über Millionen an Werthe lagern in den vielfältigen Artikeln, die der Handel vertreibt, den Erzeugnissen aller Himmelsstriche von den arktischen Eisregionen bis zu den Gegenden, wo die Sonne des Aequators ihre sengenden Strahlen zur Erde sendet.

Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Festzeichen am Bug des Schiffes.
Originalzeichnung von P. Duyffcke.

Es ist völlig naturgemäß, daß der Charakter der Stadt auch dem Charakter ihrer Bewohner seinen Stempel aufgedrückt hat, und in der That zeichnet den eingeborenen Hamburger durchweg ein ernster, ruhiger Geschäftssinn aus, dem einst der boshafte Poet Heine so viele komische Gesichtspunkte abzugewinnen wußte. Wer sich indessen die Hamburger und ihr Wesen mit unbefangen prüfendem Blicke betrachtet und nicht im Hohlspiegel der Satire, der wird sich von jenem Wesen eher angezogen als abgestoßen fühlen. Freilich, alles Windige ist dem gesetzten Hamburger verhaßt, und Dinge, deren absolute Nützlichkeit er nicht einzusehen vermag, bezeichnet er mit einem ornithologischen Gleichnisse gar zu gern wegwerfend als „Hühnerkram“. Dabei ist er jedoch keineswegs so in Materialismus versunken, wie die böse Welt ihm häufig nachzusagen beliebt. Im Gegentheil, in Hamburg ist der Sinn für die idealen Güter des Lebens, für Kunst und Kunstbestrebungen stets außerordentlich rege gewesen. Kunst und Künstler haben hier stets offene empfängliche Herzen und offene freigebige Hände gefunden. Zum Beweise dessen mag die hohe Blüthe dienen, deren sich hier das Theater von jeher erfreut hat und sich bis auf den heutigen Tag noch erfreut. Speciell auch die Tonkunst fand in Hamburg stets die ausgiebigste Pflege und zahlreiche Freunde. Die Concerte der „Philharmonischen Gesellschaft“ genießen in der Musikwelt mit Recht großer Berühmtheit.

Es war darum gewiß nicht ungerechtfertigt, wenn man Hamburg als Nachfolgerin von Dresden und München zum Orte für das dritte deutsche Sängerbundesfest ausersah. Das erste Fest mußte selbstverständlich dort gefeiert werden, wo des deutschen Sängerbundes eigentliche Wiege steht, in dem liederfrohen Sachsen; das zweite wurde begangen im deutschen Süden, wo Sang und Klang ihre uralte Heimstätte haben. Zum dritten Feste wurde das Banner des Bundes hinaufgetragen nach dem deutschen Norden, um die deutsche Einheit auch im Reiche der Töne zu manifestiren und der Welt zu zeigen, daß auch dem Norddeutschen wie seinem süddeutschen Bruder „schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süßen Mund Apoll“. Als die Beschlußfassung über das Fest getroffen war, trat sofort in Hamburg eine Reihe der angesehensten Männer zusammen, um dasselbe in einer ihrer Vaterstadt würdigen Weise vorzubereiten.

An die Spitze trat Dr. Kirchenpauer, der würdige und gelehrte Bürgermeister der freien Hansastadt, ein Mann, der in seinem langen Leben sich viele Verdienste tun Wissenschaft und Kunst erworben und dessen Name in Hamburg zu den gefeiertesten gehört. Zum ersten und zweiten Präsidenten wurden auserkoren Senator Haye und Dr. Hachmann, Präsident der „Bürgerschaft“. Es bildeten sich die nöthigen Ausschüsse, die ungesäumt eine energische Thätigkeit entwickelten. Die Bogen, welche der Finanzausschuß zur Zeichnung der erforderlichen Fonds circuliren ließ, bedeckten sich rasch mit gewichtigen Unterschriften, und bald konnte der Ausschuß constatiren, daß die Baarmittel für das Fest gesichert seien. Mit schwierigeren Umständen hatte der Quartierausschuß zu kämpfen. Es bedurfte von seiner Seite wiederholt eines dringenden Appells an die Gastfreundschaft der Bevölkerung, um die große Zahl der nothwendigen Freiquartiere zu beschaffen; denn darin hat der Hamburger, ungeachtet seiner sonstigen guten Eigenschaften, etwas unverkennbar Englisches, daß er sein Haus gern als eine Welt für sich behütet. Auch er sagt: „Mein Haus ist meine Burg.“

Zuletzt indessen wurde der Quartierausschuß jeder Sorge enthoben, als die „Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-Actien-Gesellschaft“ in liberalster Weise ihm ein schwimmendes Hôtel zur Verfügung stellte, nämlich ihren großen transatlantischen Dampfer „Lessing“, der, wie alle Auswandererschiffe der Gesellschaft, bekanntlich mit höchstem Comfort eingerichtet ist. Ferner bot die Oberschulbehörde dem Ausschusse ihre Volksschulen, sämmtlich erst in den letzten Jahren erbaute schöne Gebäude, mit hohen luftigen Räumen, zur Einrichtung von Massenquartieren an. Es bedurfte so vieler Quartiere, weil die Zahl der angemeldeten Sänger eine unerwartet große war. Nicht weniger denn 8620 Mitglieder des deutschen Sängerbundes meldeten sich an. Davon stellte allein das Königreich Sachsen 2833. Alle diese Sänger zusammen bilden gewiß ein gewaltiges Sängerheer, und es muß majestätisch erklingen, wenn aus all diesen Tausenden von Männerkehlen vierstimmig kunstvoller Gesang brausend schallt und auf prächtigem Klanggefieder sich in die Lüfte erhebt.

Als der geeignetste Ort zur Abhaltung des Festes wurde die sogenannte Moorweide vor dem ehemaligen Dammthore ausersehen. Die dort vor zwei Jahren errichtete permanente Ausstellungshalle, ein ganz aus Holz und Eisen construirter stattlicher Kuppelbau, wurde zur Festhalle umgewandelt, der weite Platz ringsum eingehegt, mit den nöthigen Restaurations- und Erfrischungshallen versehen und zum Festplatze erhoben. Unser Künstler hat die Festhalle und ihre Umgebung für die Leser der „Gartenlaube“ mit getreuem Stifte wiedergegeben. Der im Innern wie von außen für das Fest prächtig decorirte Bau ist von kolossalen Dimensionen, und das ist auch nöthig für die beiden Riesenconcerte, die darin abgehalten werden sollen. In dem nach dem Dammthore gerichteten Flügel ist die Estrade aufgebaut, aus der sich die Sänger aufstellen. Dieser gegenüber befindet sich eine Tribüne mit 934 Balconsitzen, und in der Mitte der Halle sind 6390 Parquetsitze eingerichtet. Außerdem bietet die Halle noch Raum für 2200 Stehplätze. Vor der Halle ist auf dem Platze [533] ein Musiktempel für die Instrumentalconcerte erbaut neben den schon erwähnten Restaurations- und Erfrischungshallen. Dort kann sich fröhliches, bunt bewegtes Festtreiben vollauf entfalten.

Es erübrigt uns nun noch, die wesentlichsten Punkte aus dem Programme mitzutheilen, wie es für das Fest aufgestellt und endgültig angenommen wurde. Die aus allen Gegenden der Windrose ankommenden Sänger werden schon an den Bahnhöfen begrüßt, während der officielle Empfang am Abend des 10. August, verbunden mit Gesang und Reden, in der Festhalle stattfindet.

Am Freitage den 11. August ist Vormittags Probe und Nachmittags das erste Concert in der Halle, während in den Mittagsstunden die Abgeordneten der Gaubünde den „Sängertag“ abhalten. Das erste Concert, in dem 17 Nummern gesungen werden, leitet Bürgermeister Dr. Kirchenpauer mit einer Ansprache ein. Die Abendstunden sind der geselligen Vereinigung der Sänger in der Halle gewidmet, derweil auf dem Festplatze für das Publicum allerhand volksthümliche Arrangements getroffen werden.

Am Sonnabend den 12. August findet der großartige Festzug durch einen Theil der Stadt nach der Festhalle statt, wo Nachmittags um 6 Uhr das zweite Concert, aus 15 Nummern bestehend, abgehalten wird. Den Gesang dirigiren Professor Julius von Bernuth, der verdienstvolle Leiter des Hamburger Conservatoriums und der oben erwähnten philharmonischen Concerte, sowie der Bundeschormeister Franz Schmidt aus München. Zu den Concerten sind die noch lebenden Dichter und Componisten der auf dem Programm befindlichen Gesangsstücke als Ehrengäste eingeladen, und die meisten haben ihr Erscheinen zugesagt. Diesem zweiten Concerte schließt sich ein großer Commers in der Festhalle an.

Am vierten und letzten Tage werden Ausflüge in die Umgebung Hamburgs veranstaltet, wobei eine festliche Elbfahrt nach dem reizenden Blankenese obenan stehen soll. Nachmittags erfolgt dann der officielle Schluß mit einer Abschiedsrede an die Sänger.

R. Henkel XA       P Düyffcke/82
Das dritte deutsche Sängerbundesfest in Hamburg: Die Festhalle.
Originalzeichnung von P. Duyffcke.

Das wird in großen Zügen der Verlauf des schönen nationalen Gesangsfestes sein, das zur Stunde in dem Weichbilde der Hamburgischen drei Thürme die Sangesbrüder deutscher Zunge „zu löblichem Thun“ vereinigt. Es dürfte fast überflüssig sein, noch besonders auf die große Bedeutung des Festes hinzuweisen. Das deutsche Lied ist eine deutsche Macht, siegesgewaltiger noch als das deutsche Schwert. Wo das deutsche Lied ertönt, da erobert es mit zwingender Kraft die Herzen. Die erlauchtesten Geister unserer Nation haben die ihnen von der Gottheit verliehene Flamme des Genies in den Dienst des Liedes und des Gesanges gestellt, des herrlichen Gesanges, dessen Macht uns Schiller schon treffend gekennzeichnet hat:

„So rafft von jeder eitlen Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde.
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen;
Ihm darf nichts Irdisches sich nah’n,
Und jede andre Macht muß schweigen,
Und kein Verhängniß fällt ihn an;
Es schwinden jedes Kummers Falten,
so lang’ des Liedes Zauber walten.“

Und mehr nach als diesen idealen Genuß werden die fremden Sänger vom diesmaligen Sängerbundsfeste nach Hause tragen; es werden, aus dem Inneren des Landes kommend, die Meisten wohl zum ersten Mal in ihrem Leben den Fuß setzen in eine große Handels- und Seestadt. Vieles, von dem sie sich bislang nur aus Büchern und Beschreibungen ein unvollkommenes Bild haben machen können, tritt ihnen hier leiblich entgegen, und [534] Mancher wird zum ersten Mal eine klare Idee gewinnen von der Großartigkeit des Welthandels, seinen Factoren und seiner Bedeutung für das Culturleben. Dabei aber werden die Festgäste einsehen, daß emsiges Streben nach materiellem Gewinn sich gar wohl mit frendigem Ringen um die Palme idealen Genusses vereinigen läßt, und sie werden nach den frohen Tagen des Zusammenseins mit Hamburger Sangesgenossen und Sangesfreunden nicht mehr mit einstimmen, wenn spöttisch von „Pfeffer- und Kaffeesäcken“ die Rede ist, die nur für solche Dinge Sinn haben, die ihrem Arnheim neue Schätze einbringen.

Vor allen Dingen aber wird den Sängern im gemeinsamen Chorgesange mit Macht das Gefühl erstarken, daß sie die Söhne eines Volkes sind, welches zusammenstehen soll in Freud’ und Leid, damit seine Willensäußerungen immer mehr und mehr hinausklingen als mächtige Accorde in die weite Halle der Zeitgeschichte. Wie die einzelnen Stimmen sich ergänzen und harmonisch verbinden, so möge das gesammte deutsche Volk von den himmelanstrebenden Wänden der Alpen bis zu den Borden der wogenden See in Zukunft stets einen gewaltigen Chor bilden, und in diesem Sinne ruft die „Gartenlaube“ den versammelten Sangesbrüdern in Hammonias Mauern einen frohen Sängergruß zu. Ihr schönes Fest möge groß und erhebend ausklingen wie eine imposante Jubelhymne!

„Tenor sei Süd und Baß der Nord –
so kling’ die Hymne jubelnd fort!
Sie klinge fort die Welt entlang
In deutscher Männer Chorgesang!“

Harbert Harberts.




Zum Verständniß der Ereignisse in Aegypten.

Von Adolf Ebeling.
II.

Das Institut der Generalcontroleure gab, wie wir gesehen haben, der Autorität des Khedives Ismaïl einen gewaltigen Stoß, aber von einem durchgreifenden Nutzen für das Land ist es nicht gewesen und konnte es, schon der Persönlichkeiten wegen, aus denen es zusammengesetzt war, nicht sein. Dieser letztere Punkt ist schon deshalb wichtig, weil er nicht allein den Haß der Aegypter gegen die Engländer und gegen alles englische Wesen erklärt, sondern auch denjenigen Recht giebt, die bezweifeln, daß gerade die Engländer jetzt berufen sein sollten, das Land zu organisiren und einer glücklichen und ruhigen Zukunft entgegenzuführen. Auf ihre Weise wohl, wie wir das in Indien gesehen und noch täglich sehen können, und zwar etwa folgendermaßen: Dem völlig von ihnen abhängigen Khedive wird eine Civilliste und ein kleiner Hof gewährt, im Uebrigen das Land von englischen Beamten verwaltet und regiert, dabei jede nationale Regung und vollends jedes Streben nach Selbstständigkeit mißachtet und unterdrückt, aber die Productionskraft des Landes, durch geschickte Benutzung aller Hülfsquellen, auf’s Höchste angespannt, um so viel Geld wie nur irgend möglich daraus zu machen – das war mit zwei Worten ungefähr das Programm, welches der englischen Controle zu Grunde lag, oder wie es doch vom ägyptischen Volke aufgefaßt wurde. Von da bis zur völligen Umwandlung Aegyptens in eine englische Provinz war nur ein Schritt, mit dem es vor der Hand noch nicht drängte.

Frankreich kam, wie wir wissen, immer erst in zweiter Reihe; England hätte es gern ganz abgeschüttelt, aber die finanziellen Interessen Frankreichs in Aegypten erlaubten dies nicht und die Politik noch weniger. Doch wer weiß, ob nicht schon damals ein leiser Wink vom Londoner Cabinet nach Paris gefallen ist, der den Franzosen ungestörte Freiheit in Tunis verhieß, um sie von Aegypten abzulenken. Brachte doch die „Times“ in jener Zeit einen sehr charakteristischen Artikel über die Nothwendigkeit einer vollständigen Christianisirung des ganzen nördlichen Afrikas, wobei Marokko Spanien, Tripolis Italien und Tunis Frankreich zugesprochen wurden. Der Löwenantheil, Aegypten, blieb unberührt, aber ein Kind konnte zwischen den Zeilen lesen, daß derselbe England zufallen müsse. Und das hauptsächlich wegen des Suezcanals, der großen Fahrstraße mach Indien, auf die England so gern die alleinige Hand legen möchte, wobei freilich in Betracht kommt, daß von zehn den Canal passirenden Schiffen neun englische sind. So lange der Suezcanal im Entstehen war, wurde das Werk von England bekämpft, einestheils, weil der kurzsichtige Palmerston die Ausführung für unmöglich hielt, und anderntheils, weil er daraus Verwickelungen mit der Türkei befürchtete – jetzt, wo der Canal vollendet ist und sich längst bewährt hat, erheben die Engländer den Hauptanspruch darauf: das ist englische Politik. Doch kehren wir zur Lage Aegyptens im letzten Regierungsjahre Ismaïl Pascha’s zurück!

England und Frankreich, als die bedeutendsten finanziellen Interessenten, hatten ihm, schon im August 1878, außer den Generalcontroleuren und dem damit verbundenen Beamtenheere, auch noch ein Ministerium ihrer Façon aufoctroyirt, das er sich, wie alle übrigen Maßregeln, gefallen lassen mußte.

In diesem Ministerium figurirte, um den Schein zu wahren, Nubar Pascha als Präsident, aber die Finanzen hatte der Engländer Rivers Wilson und das Innere der Franzose Blignières übernommen. Wilson war mithin die eigentliche Seele des Cabinets; denn er hatte die Hand auf dem Staatssäckel und sorgte für die richtige Zahlung der Coupons, die allein für die consolidirte Schuld 800,000 Pfund Sterling pro Semester betrugen, aber auch für nichts weiter. Man erstaunt, wie es bei der allgemeinen finanziellen Zerrüttung Aegyptens überall noch möglich war, so ungeheuere Summen aufzubringen; es geschah indeß auch nur durch Aufwendung der gesammten Steuerkraft des unglücklichen Landes. Alle sonstigen Zahlungsansprüche blieben gänzlich unberücksichtigt, auch die berechtigtsten, und dazu gehörten doch in erster Reihe die Beamtengehälter für Civil und Militär; nur die fremden Beamten bezogen nach wie vor pränumerando ihre immensen Besoldungen.

Daß nicht schon damals eine Revolution ausbrach, hat einfach seinen Grund in dem sanften und schüchternen ägyptischen Volkscharakter, vielleicht auch darin, daß sich kein energischer Führer vorfand, um sich an die Spitze der Unzufriedenen zu stellen. Dieser Führer (Arabi) existierte aber schon; nur wagte er noch nicht hervorzutreten; denn die Zeit seiner „erlösenden Mission“ war noch nicht gekommen.

Daß der Khedive ingrimmig war über seine Lage und die ihm aufgedrängte Vormundschaft abzuschütteln suchte, liegt auf der Hand, er war aber doch schon zu sehr abendländisch civilisirt, das heißt zu klug, um es mit einer Tasse Kaffee zu versuchen, dem gewöhnlichen Mittel im Orient, sich unliebsamer Leute, denen man sonst nicht beikommen kann, zu entledigen; er entschied sich daher für einen anderen Weg, nämlich für einen Staatsstreich, und die Gelegenheit dazu war wirklich nicht ungünstig. Das Ministerium hatte, um Ersparnisse zu machen, den Effectivbestand der Armee um 10,000 Mann vermindert und in Folge dessen gegen 1200 Officiere aller Grade entlassen; an sich keine üble Maßregel, vorzüglich wenn man sie einige Jahre früher ausgeführt hätte, in jenem Moment aber ein kopfloser, schlimmer Gewaltstreich und zwar um so mehr, als man gar nicht daran dachte, den guten Leuten ihren rückständigen fünfzehn- und zwanzigmonatlichen Sold auszuzahlen.

In wie weit der Khedive dabei die Hand im Spiele gehabt, ist niemals aufgeklärt worden; sehr wahrscheinlich ist es indeß, daß er die revoltirenden Officiere im Geheimen hatte ermuthigen lassen; genug, eines schönen Morgens, im Frühjahr 1879, wachte die Stadt Kairo mit einer kleinen Revolution auf. Tausende von Soldaten und mehrere hundert Officiere zogen lärmend durch die Stadt nach dem Abdin-Palast, um beim Khedive Schutz gegen das Ministerium zu verlangen und zugleich ihr Geld, auf das man sie seit Jahr und Tag vertröstet hatte. Als die Tumultuanten am Finanzministerium vorbeikamen, wollte es ein unglücklicher Zufall, daß die Minister sich gleichfalls zu einer Sitzung dorthin begaben, und nun wurde die Sache ernst. Nubar wurde zuerst aus dem Wagen gerissen und dergestalt gemißhandelt, daß fast sein Leben in Gefahr kam, und den Herren Wilson und [535] Blignières erging es wenig besser, bis sich einige besonnenere Officiere in’s Mittel legten und die geängsteten Excellenzen in das Gebäude hineinschafften, wo sie streng bewacht wurden. Dann schickte man eine Deputation ab, um den Khedive zu holen. Ismaïl, der von dem Muthe seines Großvaters wenig geerbt hatte, zögerte anfangs; denn sein Gewissen war nicht rein, aber er ließ sich doch durch einige schnell herbeigeeilte Generalconsuln, unter denen sich auch der deutsche befand, bestimmen, hinzufahren.

Er wurde von der Soldateska mit dem lauten Zurufe empfangen: „Allah schenke Dir tausend Jahre!“

Geld, viel Geld wäre ihm jedenfalls ein willkommeneres Geschenk gewesen – und gleich darauf erklärte er vom Balcon des Palastes, daß alle gerechten Ansprüche berücksichtigt werden sollten etc. Pro forma wurden einige der Haupträdelsführer verhaftet, aber schon nach einigen Tagen wieder freigegeben; das Ministerium reichte seine Entlassung ein, und der Khedive hatte jetzt freie Hand, oder glaubte wenigstens, sie zu haben. Er erließ verschiedene Proclamationen, in welchen er an den Patriotismus der Aegypter appellirte, ein volksthümliches Ministerium verhieß und nur in der Volkspartei seine Stütze finden wollte. Das ägyptische Volk staunte mit Recht über diese Sprache, für die es gar kein richtiges Verständniß hatte; die Fellachen, die bis dahin immer nur Prügel erhalten hatten und zahlen mußten, waren auf einmal die guten Freunde des „Efendina“ geworden und sollten sogar neue Vertreter nach Kairo schicken; denn auch von einer Wiedereinberufung der sogenannten Notabeln, der lächerlichsten aller Komödien der Ismaïl’schen Regierung, war in jenen Proclamationen die Rede. Nur das Eine leuchtete auch dem letzten Fellachen ein: die Nützlichkeit der Beseitigung der fremden Minister und ihres Anhangs, vornehmlich der verhaßten „Ingilis“ – denn bis in das kleinste Dorf hatte sich bereits ihr Einfluß geltend gemacht, und wenn der Mudir (der Gouverneur) dem Kaimakam (dem Untergouverneur) und dieser dem Schech el Beled (dem Dorfschulzen) das strenge Eintreiben immer neuer Steuern gebot, wobei natürlich jeder von ihnen sein Schäfchen im Stillen schor, so sagte der Letztere stets zu den Fellachen: „Der Ingilis hat es so befohlen, und Efendina muß gehorchen.“

Ein Efendina, der gehorchen muß, das war den braunen Nilbewohnern im blauen Baumwollenhemde etwas Unerhörtes.

Aber Efendina mußte gar bald von ganz anderer Seite Befehle vernehmen und gehorchen. Der Staatsstreich, oder richtiger die in Folge desselben verheißene volksthümliche Regierung erwies sich als eitel Windbeutelei, ja die Gesammtlage des Landes war schon dergestalt zerrüttet und der Karren schon so tief festgefahren, daß es dem Khedive, selbst bei dem besten Willen, an dem man aber gründlich zu zweifeln berechtigt war, unmöglich gewesen wäre, jetzt noch ernstlich und durchgreifend zu reformiren. Dabei fehlte es ihm in dieser letzten entscheidenden Stunde, wie während seiner ganzen Regentschaft, an befähigten, energischen und vor Allem an uneigennützigen Männern. Sein Hauptminister und Intimus war ja von jeher der Muffetisch gewesen, und was der geleistet und wie ihm gelohnt wurde, haben wir bereits im vorigen Artikel gesehen. Höchstens wäre noch Nubar zu nennen, sein langjähriger Minister der auswärtigen Angelegenheiten, dessen diplomatischer Schlauheit er alle nach und nach in Constantinopel erlangten Zugeständnisse und Begünstigungen, darunter als die wichtigste die directe Erbfolge für seinen ältesten Sohn, zu verdanken hatte, freilich unter Aufwendung ungeheuerer Geldsummen zu Geschenken und zu Bestechungen im Betrage von vielen Millionen Pfund Sterling. Nubar Pascha war auch der Einzige, der seinem Herrn die Wahrheit sagen durfte, was im Orient noch weit mehr bedeuten will, als im Occident; als er dies aber auch in Bezug auf die unsinnige abessinische Expedition im Jahre 1875 gethan hatte, fiel er in Ungnade und wurde entlassen. Er zog sich in’s Privatleben und zwar nach Paris zurück, wie man sagte, mit einem Vermögen von über eine Million Pfund Sterling. Er war vor zwanzig Jahren als armer armenischer Schreiber nach Aegypten gekommen – das Prädicat „uneigennützig“ dürfte also schwerlich auf ihn passen. Nur durch England und Frankreich gezwungen, hatte ihn der Khedive nochmals als Minister angenommen.

Wir können uns hier auf eine Charakteristik der übrigen Minister nicht einlassen; denn das Gewitter, welches in seinem Schooße den Donnerschlag der Absetzung birgt, zieht schon herauf. Die Vertreter Englands und Frankreichs waren nämlich nicht müßig gewesen; sie hatten nach London und Paris den Verlauf der Dinge gemeldet, mit dem Bedeuten, daß sie unter den obwaltenden Umständen die Interessen der Gläubiger nicht mehr genügend vertreten könnten, worauf die beiden Cabinete eine identische Note an den Sultan schickten, mit dem Ersuchen, der tollen Wirthschaft am Nil durch einen souverainen Machtspruch ein schnelles Ende zu machen.

Die Pression von der Themse und Seine muß am Goldenen Horn sehr stark gewesen sein; denn wider Erwarten ging die Pforte diesmal von ihrem gewöhnlichen Verzögerungs- und Lavirsystem ab, und der Sultan, der noch vor kaum einem Monat große Summen aus Kairo erhalten hatte, um, wie gewöhnlich, ein Auge zuzudrücken, decretirte die Absetzung des unbotmäßigen Vasallen. Ob, wie damals allgemein das Gerücht ging, aus Varzin gleichfalls eine ernste Mahnung gekommen war, die sogar den Ausschlag gegeben haben soll, lassen wir auf sich beruhen; möglich ist es ja immerhin – und schon der Umstand spricht dafür, daß der deutsche Generalconsul der Erste war, welcher einen officiellen Protest bei dem neuen Ministerium einreichte.

Die Pforte war übrigens noch sehr gnädig gewesen, indem sie den Khedive unbehelligt abziehen ließ und ihn nicht zur Rechenschaft zog; aber sie mochte wohl ihre guten Gründe dazu haben; denn wenn der abgesetzte Vasall die volle Wahrheit gesagt hätte, so würde die Welt erfahren haben, daß der Hauptblutsauger Aegyptens von jeher der Sultan selbst gewesen, der Jahr für Jahr den an sich schon ungeheuren Tribut immer doppelt und dreifach empfangen, das heißt erpreßt hatte.

Kläglicher ist aber wohl selten ein entthronter Fürst abgezogen als Ismaïl Pascha; keine Hand erhob sich für ihn, nicht einmal zu einem Abschiedsgruß; keine Stimme der Theilnahme für ihn wurde laut, und die ihm am meisten verpflichtet waren, verließen ihn zuerst. Wie es im „Wallenstein“ heißt:

„Vom Staube hat er Manchen aufgelesen,
Zu hoher Ehr’ und Würden ihn erhöht,
Und sich nicht einen Freund damit erkauft,
Nicht Einen, der in Noth ihm Farbe hielt.“

Um ihm keine Demüthigung zu ersparen, mußten seine beiden Söhne, Hussein und Hassan, ihn in’s Exil begleiten; an dem Ersteren war nicht viel verloren, aber der Zweite hätte wohl ein besseres Loos verdient.

Er hatte als anerkannt tüchtiger Officier einige Jahre in Berlin bei den Garde-Dragonern gedient, seine militärischen Kenntnisse erweitert und auch sonst deutschen Ernst und deutsches Wesen kennen gelernt; er hätte mithin unter Leitung würdiger Männer, die nur leider in Aegypten so rar sind, seinem Vaterlande sehr nützlich werden können, aber der Herr Papa machte ihn sofort nach seiner Rückkehr zum Kriegsminister und zum Generalissimus der Armee, und diese Doppelwürde, über die man in Berlin gewiß gelächelt hat, berauschte ihn dergestalt, daß er von da an nur mehr noch den großen Herrn spielte und es wie die anderen seines Gleichen machte.

Ismaïl’s Nachfolger war sein ältester Sohn Tewfik (sprich: Taufik); denn der Sultan hatte doch nicht gewagt, den Firman vom 27. Mai 1866, der dem Khedive die directe Erbfolge zusicherte, umzustoßen, und das um so weniger, als gegen den jungen sechsundzwanzigjährigen Prinzen nichts Ungünstiges und nichts Mißtrauen Erweckendes vorlag.

Tewfik trat die schwere und verantwortliche Erbschaft muthig an und hatte jedenfalls den besten Wille, die Mißgriffe, Fehler und Verkehrtheiten seines Vorgängers nach Kräften wieder gut zu machen. Dies ehrenvolle Zeugniß wird ihm die Geschichte für seine ersten Regierungsjahre jedenfalls ausstellen, gleichviel ob seine Regentenlaufbahn schon geschlossen ist und er einem neuen Khedive Platz machen muß, oder ob er sich durch die augenblicklichen Wirren, deren Ausgang zur Stunde, wo wir dies schreiben, noch gar nicht abzusehen ist, glücklich durchkämpft.

Sein Hauptaugenmerk waren natürlich sofort die Finanzen; denn es mag hier nochmals wiederholt werden, daß die ägyptische Frage nichts als eine Geldfrage ist: die Capitalisten Europas, speciell Englands und Frankreichs, haben dem Lande ungeheuere Capitalien geliehen und verlangen jetzt ihr Geld zurück oder doch Sicherheit für pünktliche Zinszahlung und Amortisation. Alles Andere ist für die Gläubiger Nebensache; ob Tewfik, Arabi oder wer sonst Khedive ist, bleibt ihnen vollständig gleichgültig, wenn sie nur zu ihrem Gelde kommen. Was jetzt so viel in englischen [536] und französischen Blättern von der civilisatorischen Mission der beiden Großmächte in Aegypten geredet wird, sind Phrasen; England und Frankreich bestehen, wie der Jude Shylock, auf ihrem Schein, und auf dem englischen Schein steht außerdem noch der Suezcanal, den England gar zu gern für sich allein haben möchte.

Anfänglich ging auch Alles gut unter dem neuen Khedive, und es wäre noch bester gegangen, wenn nicht der abgesetzte Ismaïl von Italien aus fortwährend in Kairo und Alexandrien intriguirt hätte. Seine gut besoldeten Emissäre zogen umher und suchten die unteren Volksclassen aufzureizen, weniger gegen die Regierung selbst, als gegen die Europäer und speciell gegen die englisch-französischen Finanzcontroleure, die natürlich wieder ihre früheren Plätze eingenommen hatten. Ja, wer weiß, ob Ismaïl nicht schon damals die früheren geheimen Fäden mit der Militärpartei weitergesponnen hat, wo nicht gar mit Arabi selbst, dem trotz Allem der Exkhedive um vieles höher steht, als die verhaßten Inglisi und Frenzi.

Tewfik ließ sofort namhafte Ersparnisse eintreten, und, was große Anerkennung verdient, er begann damit in seinem eigenen Hause. Der frühere verschwenderische Hofhalt wurde eingeschränkt und die skandalöse Haremswirthschaft, die unter Ismaïl jährlich mehrere Millionen (nicht Franken, sondern Pfund Sterling!) verschlungen hatte, insofern abgeschafft, als der neue Khedive nur eine Gattin besaß und deren Hofstaat möglichst einfach einrichtete.

Die rückständigen Besoldungen wurden bezahlt, die Weiterführung der unter Ismaïl begonnenen kolossalen Bauten fast ganz eingestellt und die Mudirs in den Provinzen besser überwacht und controlirt, sodaß sie, wie eine alexandrinische Zeitung damals naiv bemerkte, doch nur mehr die Hälfte der eingegangenen Steuern bei Seite schaffen konnten. Das war etwas und jedenfalls ein guter Anfang; nur war die Noth zu groß, die unheilvolle Mißwirthschaft zu tief eingerissen, um schon in anderthalb Jahren überall ersprießliche Wandlung zu schaffen.

Auch der Charakter des neuen Khedive, seine frühere Erziehung und seine Anschauungsweise müssen dabei billig in Betracht gezogen werden. Tewfik ist ein strenggläubiger Mohammedaner, der alle Vorschriften des Korans, Gebete, Waschungen und Fasten, gewissenhaft beobachtet, und als solcher folgerichtig allem christlichen Wesen abhold ist.


R.P.       GÖSSWEINSTEIN v. d. Kegelbahn aus       Kae. & Oe. X. I.
Bilder aus der fränkischen Schweiz: Gößweinstein.
Originalzeichnung von R. Püttner.

Er hatte als Prinz immer nur wenig Umgang mit Christen, und am wenigsten mit den vielen Franzosen am Hofe seines Vaters gehabt, was ihn freilich nicht verhinderte, sofort nach seiner Erhebung einen Franzosen, Godard Bey, einen anerkannt rechtschaffenen und verständigen Mann, zu seinem Cabinetssecretär zu machen; er war ferner nie in Europa gewesen und stand mit seinem Bruder Hussein, den er spöttisch den „Pariser“ nannte, auf gespanntem Fuße, und ähnlich mit Hassan, der von jeher die Engländer vorzog; er kennt beide Sprachen nur oberflächlich und spricht sie ungern; er tadelte es immer laut, daß in Ismaïl’s Umgebung und auf allen Ministerien und den höheren „Divans“ fast nur französisch gesprochen wurde. Erst später, als Khedive, hat er, aus Politik und der Nothwendigkeit nachgebend, sich mehr den Engländern und Franzosen zugeneigt, ohne dabei aufzuhören, dieselben, und vorzüglich die Ersteren, als seine ungestümen Dränger zu betrachten und als das peinlichste Element der ihm von seinem Vater überkommenen unseligen Erbschaft. Trotzdem wäre vielleicht doch noch Alles gut gegangen, wenn sich nicht in Aegypten selbst im Stillen eine Partei herangebildet hätte, die, von der Regierung anfangs unterschätzt, immer weiter und weiter um sich griff und plötzlich dem Throne als eine Macht gegenüber stand, mit der nicht allein ernsthaft gerechnet werden mußte, sondern die gar bald den Anschein gewann, als wolle sie die Herrschaft im Lande ganz an sich reißen. Das war die ägyptische Nationalpartei, wie sie sich anfangs nicht ohne eine gewisse Berechtigung nannte, mit dem Wahlspruch: „Aegypten für die Aegypter“, und das Haupt derselben trat jetzt aus dem Dunkel hervor und zwar in der Person des Obersten Arabi, der auch aus seinem Programm, das jenen Wahlspruch an der Stirn trug, gar kein Hehl machte. So wenigstens ist die erste Phase der Bewegung aufzufassen, die nur jetzt von gar Vielen übersehen wird, weil die späteren Ereignisse den Führer und seine Sache in einem ganz anderen Lichte erscheinen ließen.

Diese Ereignisse, die indeß zur Zeit noch keineswegs ein entscheidendes Endergebniß bieten können, dürfen wir wohl bei unsern Lesern als bekannt voraussetzen; wir werden deshalb in einem letzten Artikel die Bewegung nur von ihrer nationalen Seite beleuchten und die eigentlichen Ursachen ihrer Entstehung darlegen, und dies sowohl im Hinblick auf die augenblickliche Lage, wie auch auf die nächste Zukunft des ägyptischen Volkes.




Blätter und Blüthen.

Aufbruch zum Hochzeitstanze. (Mit Abbildung Seite 525.) Der buntfarbige Strom der Touristen und Sommerfrischler hat bereits, von der Tiefebene gegen das Hochgebirge strömend, die romantisch gelegenen Orte der deutschen Berge besetzt. Da ereignet sich wohl oft, daß die Städter zu neugierigen Zeugen einer fröhlichen und farbigen Bauernhochzeit werden und daß auf diese Weise ein buntes Treiben sich entwickelt, in welchem mit dem Panzercorsett der Weltdame das schmucke Mieder der Sennerin rivalisirt. Der Düsseldorfer Genremaler Jacob Leisten hat in seinem von uns reproducirten Gemälde mit seltener Lebenstreue eine solche Scene dargestellt. Der Künstler, 1845 zu Düsseldorf geboren, besuchte in den Jahren 1861 bis 1863 die Akademie seiner Vaterstadt und das Atelier des Bildhauers Reiß. Erst seit 1864 wandte er sich der Malerei zu. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in München kehrte Leisten 1873 nach Düsseldorf zurück, wo er die meisten seiner geistvollen Compositionen malte; namentlich fanden: „Ein Liebesbrief“, „Werther und Lotte“, und die früher in der „Gartenlaube“ reproducierten Bilder „Zwei Wittwen“ (Jahrgang 1872, S. 411, und „Gratulationsbesuch bei der Gutsherrschaft“ (Jahrgang 1877, S. 13) Anerkennung.




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Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.