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Die Gartenlaube (1882)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[357]

No. 22.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Engelid.

Novelle von Balduin Möllhausen.


1.

Ein bleigrauer Himmel hing über der norwegischen Küste. Zwischen den Inseln und Schärenfelsen, welche den natürlichen Schutz der Einfahrt in den Nord-Fjord bilden, lag das Meer ruhig. Die schweren Dünungen des Oceans brachen sich draußen an dem wild zerklüfteten und zersplitterten Granitpanzer, der, abgeschliffen durch den vieltausendjährigen Anprall träge abwärts gleitender Eismassen, das Ufer rings umzäunte.

Wo die landwärts stehende Strömung eine offene Bahn zwischen den zahlreichen Felseilanden fand, da wälzte es sich hügelähnlich herein, jedoch um nach kurzem Rollen sich zu ebnen, einzuschlummern angesichts der melancholischen Umgebung. Einzuschlummern – denn Farben und Formen trugen in gleichem Maße einen gewissen einschläfernden Charakter. Ueberall, je nach den verschiedenen Entfernungen, sah das Auge matte Abstufungen eines kalten Graublau: graublau dehnte sich die unregelmäßig begrenzte Wasserfläche aus; graublau erhoben sich die gewaltigen Felsmassen der Inseln Hornelen, Batalden und Aralden [aus dem] Meere; graublau ragten dazwischen vereinzelte Klippen empor, während landwärts zerklüftete Plateaus düster über den in dumpfer Stille daliegenden, gleichsam erblindeten Wasserspiegel blickten. Und erblindet durfte man ihn in der That nennen, strahlte er doch, außer dem grauen Himmel, nichts zurück; schien er doch mit dem Gestein in eine einzige starre Masse verwebt zu sein. Nur wenn ein schärferer Windstoß darüber hinpeitschte und strichweise die Fluthen kräuselte, schoß es wie gespenstisches Leben einher, um nach kurzer Frist wieder zu ersterben.

Obwohl es noch Sommer war, machte der Anblick der starren Eintönigkeit das Herz frösteln. Die fernen duftigen Höhen mit dazwischen gestreuten weißen Feldern ewigen Schnees brachten nur dürftige Abwechselung in diese Einöde von Wasser und Fels. Man hätte sie mit phantastischen Träumen aus der Eiszeit vergleichen mögen, mit verkörperten nordischen Märchen von verwegenen Wikingern, gewaltigen Zauberern, Riesen und Meerungeheuern. –

Lautlose Stille überall! Hier und dort schwebte eine Möve mit trägem Flügelschlage einher, rasteten auf einer Klippe einige Robben, steuerten Tauch-Enten mit kaum wahrnehmbarer Bewegung durch die Fluth. Alles melancholisch – melancholisch gemahnte auch ein großes viereckiges, braunrothes Segel, welches, anscheinend aus dem Nord-Fjord kommend, seinen Cours zwischen der Horneleninsel und dem Festlande hindurchhielt. Es gehörte zu einem plump gebauten Fahrzeuge mit niedrigem stumpfem Mast, einer sogenannten Nordlandsjacht, und folgte schwerfällig dem Druck der matten Luftströmung auf die Insel Aralden zu.

Statt des Bugspriets erhob sich vorn der nach oben verlängerte Kielbalken gegen vier Fuß hoch über den Rand des seltsamen Schiffsgebäudes. Dort lehnte er sich etwas zurück, sodaß das obere Ende nur eines Schmuckes in Form eines Drachenkopfes bedurft hätte, um ein Boot zu veranschaulichen, wie sie vor tausend Jahren, von raublustigen Recken gesteuert, ihren Weg zwischen den Schären hindurch nahmen. Ein Schiffsknecht stand auf der Bedachung des kleinen Kajütraumes am Steuer, einer Art Deichsel, die er bei dem stetigen, wenn auch matten Winde nur selten ein wenig nach der einen oder der anderen Seite hinüberzuschieben brauchte.

Zwei andere Männer saßen vorn neben dem Schiffsschnabel, die Füße auf dem Verdeck einer Art Vorrathskammer. Die Ladung, welche den ganzen übrigen Raum ausfüllte, bestand aus gedörrten Fischen und war mit einem Stück getheerter Leinwand bedeckt. Da nun das einzige, von einer kurzen Raae niederhängende Segel keiner sonderlichen Aufmerksamkeit oder Fürsorge bedurfte, so mochten die beiden Männer ungestört ihre kurzen Pfeifen rauchen und ihrem Gespräch nachhängen.

„Höre, Knut, es gereut mich in der That, daß Du nicht weiter mit willst,“ erklärte der Schiffseigner, eine verwitterte echte Lootsengestalt mit scharfen blauen Augen und bereits etwas ergrautem schwarzem Haar und Bart. „Deine Gesellschaft sollte mir lieb gewesen sein bis nach Bergen hinunter; denn kommt Jemand, wie Du, von draußen herein, wo er seine zehn Jahre und drüber auf allen Meeren kreuzte, so hat er mehr gesehen, als Andere, und weiß manch gutes Garn abzuspinnen. Bei Gott, Knut, in Bergen wollte ich Dich auf eine Stelle führen, da giebt’s einen Punsch, der auf der ganzen Welt seines Gleichen sucht. Der fließt nämlich über die Zunge wie Milch, wärmt’s Innere ordentlich auf, daß es eine Lust ist und die Munterkeit Dir aus den Augen sprüht, so wahr ich Olsen heiße.“

Knut, ein ungewöhnlich großer und kräftiger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mit einem offenen, ernsten Gesicht, nahm den Hut vom Haupte und strich mit der Hand durch sein schlichtes, blondes Haar und den röthlichen Vollbart. Er sandte einen träumerischen Blick nach den schroffen Höhen der Horneleninsel hinüber, und sich wieder bedeckend, antwortete er mit sorglosem Achselzucken:

„Das klingt verlockend; ich wäre auch der Mann für Dich, aber ich muß auf Aralden vorsprechen – da hinten. Da lebt Jemand, den ich wiedersehen möchte – Olaf heißt er, wenn Du ihn kennst.“

„Olaf, den Spielmann? Wer kennte den nicht! Freilich, seit Jahren kreuzte er meinen Weg nicht. Er ist nicht mehr jung, [358] und da mag er’s aufgegeben haben, hierhin und dahin zu reisen, um den Leuten Eins aufzuspielen. Also auf Aralden wohnt der? Nun ja – da konnt’ ich ihm nicht viel begegnen. Aralden lag mir immer zu weit aus dem Cours. Und was sollt’ ich da? Der Felsen sieht nicht recht nach Menschen aus.“

„Viel ist nicht dahinter, aber ein Mann, der sich auf’s Fischen versteht, kann auf einem Felsen hausen, nicht größer, als ein guter Klapptisch, ohne dabei in Noth zu gerathen. Und hat der Olaf es wegen des Alters aufgegeben, mit der Langeleike[1] seine Fahrten zu machen, so ist er doch nicht zu alt, um im Boot zu sitzen und Angeln auszuwerfen. Mir Eins aufzuspielen zum Gedächtniß an die alten Zeiten – das wird er ebenfalls wohl noch verstehen.“

„Weiter willst Du nichts, Knut? Nun, deswegen brauchtest Du den Umweg nicht zu machen; komm mit nach Bergen hinunter, rath’ ich Dir. Ist Dir d’rum zu thun, setz’ ich Dich im Sogne-Fjord ab.“

„Nein, Olsen, ich muß den Olaf sprechen. Hab’ nämlich vor meiner Flucht ein Wort mit ihm gewechselt – aber damit Du’s weißt, ich gab ihm den Schlüssel zu meinem Hause im Lyster-Fjord und eine Vollmacht, ein paar hundert Kronen für mich einzucassiren, weil ich selber keine Zeit dazu hatte. Nur seinetwegen nahm ich in New-York auf einem Schiffe Heuer, das auf Trondhjem fuhr. Von Bergen aus wär’s mir näher nach dem Lyster-Fjord gewesen.“

„Wie’s auch mit dem Olaf steht,“ lautete die Antwort des Schiffers, „etwas Schriftliches hast Du Dir von ihm d’rüber geben lassen?“

„Der Olaf ist treu und ehrlich wie Gold.“

„Ich meine von wegen Leben und Sterben. Als ich ihn das letzte Mal sah, und das ist eine Reihe von Jahren her, da erschien er mir recht hinfällig.“

„Nein, Schriftliches habe ich nicht. Gestorben wird er auch wohl nicht sein; denn vor zehn Jahren war er trotz seiner Sechszig noch rüstig genug. Sollte er aber dennoch todt sein, nun so starb er als ein ehrlicher Mann, und übergab er das Geld Jemand, der’s veruntreuen möchte, so ist’s nicht seine Schuld, und mich macht’s nicht unglücklich. Eine Kleinigkeit hab’ ich mir erworben und erspart; das genügt, um mein Heimwesen wieder in einen ordentlichen Gang zu bringen.“

„Und zu heirathen, Knut, und ein geruhiges Leben zu führen.“

„Das müßte wunderbar kommen. Denn erstens war ich gezwungen, um’s Weibervolk aus dem Lande zu gehen, und dann, Olsen, steh’ ich in einem Alter, in welchem man durch ein glattes Gesicht nicht leicht mehr aus dem Schick gebracht wird. Hätt’ ich übrigens wirklich Lust, mein Eigenthum mit einer Frau zu theilen, dann müßt’ ich ihr zugethan sein; denn ein Weib zu nehmen, wie man ein Stück Hausgeräth anschafft, ist wider meine Natur.“

„Ansehnliche Mädchen genug im Lyster-Fjord, Knut, und wirthschaftlich obenein! Als Du fortgingst, waren’s Kinder; die sind zur Zeit herangewachsen.“

„Für mich sind es immer noch Kinder und bleiben es. Die damals zum Tanz gingen, sind längst Frauen, und keine Einzige war darunter, die mir’s Herz schwer gemacht hätte.“

„Und doch war Eine d’runter, für die Du auf einen ernsten Streit eingingst. Verdammt, Knut, ich hörte davon, wenn heute auch kaum noch Jemand d’rüber spricht oder viel d’ran denkt.“

„So wird man auch mich vergessen haben und sich schier wundern, wenn eines Morgens meine Hausthür offen steht.“

„Wundern freilich, aber auch eine Freude d’ran haben; denn ich hörte nie, daß Jemand einen Groll gegen Dich gehabt hätte. Selbst die Verwandten des Jansen tragen’s Dir nicht nach. Und wie sollten sie, da er wieder auscurirt wurde? Als er ein Jahr d’rauf starb, da stellten die Doctors fest, daß es eine Lungenentzündung gewesen, die ihn umbrachte, weil er in der Trunkenheit draußen geschlafen hatte. Sie sollen gesagt haben, wegen des Messerstiches hätte er so alt werden können, wie die Bergzacken da drüben. Um ihn getrauert hat überhaupt Niemand. Er war von Hause aus streitsüchtig, und um seine Rechtschaffenheit soll’s nicht sonderlich bestellt gewesen sein. Doch er ist längst todt, und einem Verstorbenen soll man keine schlechte Nachrede halten.“

„Hätt’ ich’s gewußt, wie es mit ihm ablaufen würde, wer weiß, ob ich außer Landes gegangen wäre. Aber die Entscheidung abzuwarten, hatte ich damals keine Zeit. Ich hielt’s für ein großes Glück, daß ich in Bergen Heuer auf einem Engländer fand und an Bord schlüpfte, bevor mir die Polizei auf die Spuren kam. Jetzt weiß ich freilich, daß sie überhaupt nicht viel nach mir suchte.“

„Nun ja, weil es hieß, Du seiest über’s Meer gegangen, und einen Mord hattest Du nicht ausgeführt.“

„Das konnte in den ersten Tagen Niemand wissen. Hätten sie mich gefaßt, wär’ mir’s Gefängniß nicht erspart geblieben. Das aber galt mir als eine Schmach. Mich nicht frei bewegen zu können und durch eiserne Vergitterung hindurch andere Menschen ihrer Wege gehen zu sehen – Olsen, lange hätte ich das nicht ertragen. In meinem Rechte war ich ebenfalls. Freilich, darnach fragen die Herren vom Gerichte nicht viel. Nur etwas ist zu beklagen, nämlich, daß ich diese langen Jahre mich mit dem Gedanken herumtrug, um eine Sache, die so wenig werth, eine Blutschuld auf mich geladen zu haben. Nie wurde mir ordentlich leicht um’s Herz, und als ich im vorigen Jahre von einem Manne aus dieser Gegend zufällig – darnach gefragt hätt’ ich nimmermehr – die Wahrheit erfuhr, da kam es über mich wie eine mächtige Sehnsucht nach unserer Schärenküste. Aber es ist erstaunlich: jetzt, da ich wieder da bin, ist die Freude nicht halb so groß, wie ich sie mir vorstellte. Ich merke, daß ich zehn Jahre älter und mürrisch geworden bin, und das treibt mir Keiner mehr aus.“

„Frohsinn kommt mit der Zeit, Knut, wenn Du erst wieder bekannter hier herum geworden. Doch wie war’s mit dem Jansen? Den richtigen Grund erfuhr ich nie. Der Eine sprach so, der Andere so – das heißt, wenn’s Dir nicht zuwider ist, über alte Geschichten zu reden.“

„Warum sollt’ ich nicht d’rüber reden jetzt? Denn von meiner Seite lag am wenigsten eine Unehrlichkeit in dem Handel. Gab ein Mädchen die erste Veranlassung, so konnte das immerhin in Güte ausgeglichen werden, hätte der Jansen mit seinen giftigen Reden mir das Blut nicht zum Sieden gebracht. Der Olaf war nämlich gekommen, und der spielte zum Tanze auf, und ich leugne nicht, daß die Engelid das schmuckste Ding auf dem Platze war. That ich aber schön bei ihr, so verschuldete das mein junges Blut und weil’s mir gefiel, daß sie zu mir hielt und mit mir am liebsten tanzte. Das nun mochte dem Jansen zuwider sein. Ich sah’s ihm an, und das erfreute mich doppelt, weil ich nie sonderlich gut auf ihn zu sprechen gewesen. So hatte die Engelid mir wieder einen Tanz zugesagt. Sie stand neben mir, und ich hatte meine Lust daran, zu hören, was die Weiber sprachen – und sie sprachen laut genug, und die Engelid hatten sie gern, weil sie eine Waise war und Jedem zum Wohlgefallen lebte – ‚der Knut und die Engelid passen zusammen.‘ und ‚ein schmuckes Paar ist’s,‘ – das alles hörte ich, und wer weiß, was sonst noch. Solche Schmeichelreden mochten der Engelid ebenfalls in’s Blut gehen; denn als ich ihr die Hand drückte und ihr ein paar Liebesworte zuraunte – verdammt! ich möcht’ einen fünfundzwanzigjährigen gesunden Burschen sehen, der nicht einen Funken von Eitelkeit besäße – nun ja, da fühlte ich auch ihren Händedruck, und der war nicht anders gemeint, als der meinige, das heißt, er kam, wie’s die Gelegenheit gerade mit sich brachte, und hatte nicht mehr zu bedeuten, als ein Uebermaß von Lust und Lebensfreude. Die Lust aber mußte sich regen bei jungem Volke; denn stockte der Tanz, so ging das Bier oder ein kräftiger Wachholder herum. Olaf gab noch ein besonderes Stückchen auf der Langeleike zum Besten und das spielte er, daß es Einem durch’s Mark ging. Wer ihm auf die Finger sah, meinte, daß die Saiten springen müßten, und doch tönte es hell und rein wie silberne Schlittenglocken. Sang er aber gar mit seiner heiseren Stimme das Lied vom Asgardreigen dazu, dann war Alles still, und Jeder glaubte, daß die wilde Jagd auf ihren schwarzen, feuerschnaubenden Gäulen um’s Haus herumsumme und der alte Heidengott mit seinem Hammer das ganze Dach einschlagen müsse. Nun ja, Olsen, freilich zum Erstaunen war’s nicht, daß den jungen Männern der Muth schwoll und kein einziger gescheut hätte, sich mit einem Riesen, wie sie tief unten im Jotungebirge hausen, im Ringkampf zu messen. Und als dann der Jansen mit einer Art Wildheit herantrat, die Engelid um den Leib packte und mit in den Reigen hineinziehen wollte, da that ich das, was jeder Andere an meiner Stelle gethan hätte: Ich [359] ergriff ihn an der Schulter, daß er nicht von dannen konnte, und erklärte ihm, daß die Engelid mir gehöre für den ganzen Abend. Noch war ich friedfertig gestimmt; ich rieth ihm, das Mädchen selbst zu fragen, damit’s entscheide zwischen ihm und mir.

Er sah Engelid in die Augen, fragte sie aber nicht; denn er mochte die Antwort darin lesen, sondern kehrte sich mir zu und meinte, daß ich gut reden habe und er mir kein Wort glaube.

Ich hielt ihn noch immer, und weil der Tanz stockte und alle Augen sich auf mich richteten, um zu erfahren, wie ich die sträfliche Beleidigung hinnehmen würde, stieg mir das Blut in den Kopf. Ich sagte ihm, daß, um zu lügen, ich zuvor bei ihm in die Lehre gegangen sein müsse, und da lachten sie ringsum in dem Gedränge; denn sie gönnten dem Jansen die Schande. Er aber ließ die Engelid fahren und schlug mit der Faust nach mir und rief, ich möchte den Hieb hinunterwürgen und daran ersticken. Ich hatte den Angriff vorgesehen, und so traf er mich nur auf den Arm. Dagegen schlug ich ihn mit der Hand in’s Gesicht, daß es laut durch den Raum schallte, und im nächsten Augenblick standen wir, das Messer in der Faust, einander gegenüber. Nun schritten die älteren Männer ein und brachten uns aus einander. Da sie aber einsahen, daß es ein Unglück gäbe, wenn die Sache nicht gleich geschlichtet werde, kamen sie überein, daß wir den Streit sofort unter ihren Augen ausfechten sollten, und zwar, damit’s Keinem an’s Leben gehe, mit dem Daumennagel in der ersten Kerbe des Messerrückens.

Ich selber war damit zufrieden; denn ein paar gute Schnitte hätten das Blut bald genug abgekühlt, wie nach einem Aderlaß. Doch der Jansen schrie in seiner Wuth:

‚Bis an die dritte Kerbe! anders thu’ ich’s nicht, und Jedem, der mich daran hindert, gehe ich auf den Leib!‘

Um die Sache kurz zu machen – denn in mir kochte es jetzt ebenfalls – erklärte ich mich damit einverstanden, und ein wenig später war Raum geschafft, hatten wir die Hemden bis auf die Hüften herunter gestreift und lag ein Riemen um uns Beide geschnallt, daß wir nicht einen halben Schritt weit aus einander konnten. Das Messer hielt Jeder in der Faust, den Daumennagel in der dritten Kerbe. Nun wurde das Zeichen gegeben; wir stießen zu, und ebenso schnell fing ich sein rechtes Faustgelenk in meiner linken Hand auf, während er es mit mir nicht anders machte. Jetzt begann das Ringen – ein schweres, mannhaftes Ringen. Der Riemen schnitt in unsere Weichen – mit solcher Gewalt drängte Einer den Andern, indem wir mit dem vorgestreckten rechten Knie uns gegenseitig zu Fall zu bringen suchten.

Ich sage Dir, Olsen, die Zuschauer ringsum wagten kaum zu athmen – so hatte ängstliche Spannung sie gepackt; bei der Stille hörte man das Knacken der Sehnen und Gelenke, und in die Augen schauten wir uns mit einer Feindschaft, die nur durch Blut gemäßigt werden konnte.

Plötzlich trat ich mit dem linken Fuß auf eine Beere oder ein Stückchen Lichttalg – was weiß ich’s? Ich glitt aus und sank auf’s Knie, und obwohl ich Jansen’s Hand hielt, gelang es ihm, mir mit dem Messer von oben nach unten über die Rippen zu fahren, und zwar, wie ich’s wohl merkte, mit gänzlich zurückgezogenem Daumen. Kam der Stoß, den er mir nun versetzte, mehr von der Seite, so zerschnitt er mir die Brust bis in’s Herz hinein, wogegen jetzt die spitze Schneide über vier Rippen hinglitt und ebenso viele Schrammen riß, die nicht des Ansehens werth waren. In mir aber war über die Verrätherei eine Wuth erwacht, die meine Kräfte verdoppelte; der erste Blutstropfen war kaum zu Tage, da stand ich wieder aufrecht und trotz Jansen’s festem Griff und seiner Gegenwehr führte ich einen Schlag nach ihm, der ihm zwischen zwei Rippen die Brust einen guten Finger lang aufschlitzte. Mein Daumennagel hatte die Kerbe nicht verlassen. Trotzdem mußte ich ihn schwer getroffen haben; denn seine Hände öffneten sich und bevor Jemand zusprang, um den Riemen zu lösen, sank er mit wildem Blick, ohne einen Laut auszustoßen, zu Boden, im Fallen mich mit sich reißend.

Da gab’s denn freilich groß Geschrei unter den Weibern. Die Männer hingegen, die uns aus einander brachten, auch wohl des Jansen Hinterlist entdeckt hatten, die raunten mir zu, daß es vorbei mit ihm sei und ich mich davon machen möge, bevor es zu spät. Dem Olaf gab ich nur noch einen Wink; dann schlüpfte ich hinaus und wartete vor dem Dorf auf ihn. Er kam auch und erklärte, daß es mit dem Jansen schnell zu Ende gehe, und wenn der ein Wort sagte, verdiente es Glauben. Ich gab ihm daher meinen Hausschlüssel und Anweisungen von wegen meiner Forderungen, und bald darauf befand ich mich auf dem Wege nach Bergen.“

„Ich trau’ dem Jausen zu,“ versetzte Olsen, nachdem Knut geendigt hatte, „daß es überhaupt nicht so arg mit ihm stand und er sich das Ansehen von einem Todten nur gab, um auf gute Art Deine Nachbarschaft los zu werden.“

„War ein Stück Heuchelei im Spiel,“ erwiderte Knut sorglos, „so ist ihm die List geglückt. Mag es darum sein! Er lebt nicht mehr; hätte ich ihn wieder gesehen, so wär’s auch nicht viel anders gewesen. Die zehn Jahre, die ich draußen verbrachte, hätte er mir nicht ersetzen können.“

„Wie hatte sich Engelid, als Ihr Euch in den Haaren lagt?“

„Wer weiß! Ich kümmerte mich nicht d’rum. Der Anblick des strömenden Blutes hatte mich merkwürdig abgekühlt. Ein halbes Dutzend von ihrer Sorte hätte mit den größten Zärtlichkeiten nicht einen Pulsschlag über’s alte Maß aus meinem Herzen herausgeholt.“

Hier lachte Knut spöttisch auf und fügte gleichmüthig hinzu:

„Ich vermuthe, die Engelid hat sogut, wie die anderen Weiber, über Mord geschrieen; wär’ ich vor sie hingetreten, hätte sie mir wohl’s Tanzen für das ganze Leben abgeschworen.“

„Ein oder zwei Jahre später begegnete ich ihr einmal,“ bemerkte Olsen, „ein verwettert hübsches Ding war sie geworden.“

„Wo die wohl ihr Ende genommen haben mag?“ fragte Knut, um das Gespräch überhaupt im Gange zu erhalten, indem er mit den Blicken die Entfernung bis zu der Insel maß, auf die ihn zu landen der Schiffer versprochen hatte.

„Genau weiß ich’s nicht,“ antwortete dieser ebenso sorglos, „komm’ ich doch nur selten in den Lyster-Fjord, und dann giebt’s Anderes zu verhandeln. Nur einmal war sie in der Leute Mäuler. Da hatte nämlich ein Corporal um sie angehalten, und den wollte sie nicht. Dann hatte wieder ein Sägemüller aus dem Lärdal sich in den Kopf gesetzt, sie zu heirathen, und den schlug sie trotz seines erstaunlichen Reichthums aus, und das war in der Ordnung; denn der hätte ihr Großvater sein können. Darauf verschwand sie eines Tages spurlos, und nie wieder hörte Jemand von ihr. Manche wollten behaupten, sie sei dem Corporal nach Christiania oder Stavanger nachgelaufen; Andere wieder, sie habe sich ein Leid angethan. Genug, sie ist verschwunden und verschollen.“

„Schade d’rum!“ bemerkte Knut gedehnt. „Ich bin übrigens neugierig, wie’s in meinem Hause aussieht. Es mag zerfallen sein und im Inneren wird wohl der Staub Fäuste hoch liegen. Das Wollenzeug haben die Motten sicher bis auf den letzten Faden verzehrt, und ist der Regen durch’s Dach gegangen, wird alles Andere verfault sein.“

„Wer weiß,“ entgegnete der Schiffer, „ich hatte einst eine Fracht nach dem Lyster-Fjord und blieb drei Tage dort. Das Gerede kam auch auf Dich, und da hieß es, daß Du noch gute Freunde im Lande haben müßtest. Denn in jedem Sommer sei drei- oder viermal des Abends ein junger Bursche in einer Segeljolle gekommen; der habe, ohne Jemand zu begrüßen oder mit ihm zu reden, das Haus aufgeschlossen und drinnen gesäubert und gearbeitet, sei aber mit Tagesanbruch wieder davongesegelt.“

„Den kann nur der Olaf geschickt haben, um ein wenig zum Rechten zu sehen, und das ist schwerlich viel geworden. Was bringt Jemand in einer einzigen Nacht zu Wege, wenn’s nicht gerade eine Arbeit zum eigenen Vortheil ist? Immerhin bleibt’s eine große Gefälligkeit von dem alten Mann. Er wäre wohl selber gekommen, hätt’s Alter nicht zu schwer auf ihm gelegen. Ich werd’s ja noch erfahren heut.“

„In welcher Richtung liegt seine Hütte?“

„Dort um die Südseite herum in einem stillen Winkel, wo die schlimmen Böen sie nicht fassen. Brauchst mich nicht so weit herumzufahren, sondern magst mich landen, wo’s Dich keinen großen Umweg kostet. In einer Stunde oder zwei gehe ich bequem hin, und das Gehen soll mir gut thun obenein. Auch kenne ich’s Fahrwasser nicht genau da hinter den Felsen, und Deine Jacht hat einen gehörigen Tiefgang.“

„Den hat sie, sonst sollte mich der Umweg nicht gereuen, Dich gerade vor des Olaf’s Thür abzusetzen. Ich hätte selber den Alten gern mal wiedergesehen nach den vielen Jahren. Er wird seine Noth gehabt haben, mit Makrelenangeln genug zu schaffen, [360] um ohne Sorge durch den Winter zu kommen. Die Langeleike ist ein dankbarer Ding, als Leim und Haare. Doch wie lange wirst Du bei ihm bleiben?“

„Wer kann’s wissen? Mich drängt die Zeit nicht. Nach dem Lyster-Fjord komme ich immer früh genug. Ob die Leute sich morgen oder übermorgen über meine Heimkehr wundern, verschlägt nichts. Machen sie mir zu viele Reden, so verkaufe ich das Haus zu jedem Preise und such’ mir eine andere Heimstätte. Vielleicht glückt’s, daß ich eine Stelle bei einem Handelsherrn oder in einem Fischereigeschäft finde. Mir ist Alles einerlei. Nur auf’s Meer hinaus will ich nicht mehr, so lange die alten Berge da drüben noch stehen.“

„Wenn ich wieder von unten heraufkomme,“ sagte der Andere, „bist Du wohl fort, sonst möcht’s mir in den Kopf fahren, Dich sammt dem alten Olaf zu besuchen. Einen guten Trunk wollt’ ich mitbringen, der ihm die Stimme löste. Hoffentlich hat er’s Spiel nicht ganz d’ran gegeben. Ich möchte was d’rum missen, wieder einmal ein ordentliches Nordlandslied von ihm zu hören.“

„Komm immerhin! Bin ich fort, so erfreust Du den Olaf damit. Freilich, die Menschen ändern sich oft. Mancher von den alten Bekannten ist zur Grube gefahren, und die übrigen kenne ich kaum wieder. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Die Berge ringsum und ’s Wasser sehen dagegen noch genau so aus, wie damals, und so haben sie auch wohl vor hundert und tausend Jahren ausgesehen. Vieler Herren Länder hab’ ich gesehen, aber kein’s, das unserer Felsenheimath gleichkäme. Ich krankte förmlich darnach, und jetzt, da ich hier bin, macht’s mich nicht gesund.“

Träumerisch spähte Knut über die den grauen Himmel zurückstrahlende Wasserfläche. Den alten Schiffer befremdete des jüngeren Gefährten Schweigen nicht. Wie um ihn in seinen schwermüthigen Betrachtungen nicht zu stören, blickte er nach den vegetationslosen Abhängen der Hornelen-Insel hinüber, deren bizarre Höhen sich wie eine aus Zinkplatten geschnittene Silhouette von dem düsteren Hintergrunde abzeichneten. Eine stärkere Luftströmung, welche um die Südküste der gewaltigen Felseninsel herum ihren Weg suchte, füllte das Segel etwas straffer, und schneller schob sich der runde Bug der Jacht durch die leicht gekräuselten Fluthen, die, wie liebkosend, ihn mit einem weißen Schaumkranze umgaben. Die melancholische Stimmung der nordischen Natur schien sich sogar auf den Knecht am Steuer übertragen zu haben, denn er unterschied sich in seiner Haltung kaum von dem Schnabelbalken, der zwischen den beiden Männern auf dem Vorderdeck emporragte. Der Cours war ihm vorgeschrieben worden; Dünungen gab es nicht zu bekämpfen, und so rührte die Hand am Steuer sich nur selten und dann kaum merklich. Erst als die Insel, auf welcher Knut zu landen wünschte, dicht vor ihnen lag, belebten die drei schweigsamen Gestalten sich wieder. Knut trat neben den Knecht hin und unterwies ihn, wohin er in dem ihm selbst bekannteren Fahrwasser zu steuern habe, während Olsen die Leine löste, um im entscheidenden Augenblick das Segel fallen zu lassen. So trieb die Jacht auf einen etwas weiter in’s Wasser hinausragenden Vorsprung zu, dessen äußere Form für große Tiefe zeugte und ein hartes Anlegen ermöglichte. Eine kurze Strecke vor demselben sank das Segel, und mit einer scharfen Wendung gelangte das Fahrzeug neben dem Felsen zum Stillstand. Knut’s Zeugsack lag zur Hand. Einen freundschaftlichen Scheidegruß tauschte er mit Olsen, dem Knecht nickte er zu und sprang, seine Habseligkeiten unter dem Arme, auf den Felsen. Fast gleichzeitig schob sich unter Olsen’s und seines Gehülfen Händen die Raae nach dem Maste hinauf, und sobald das Segel sich zu füllen begann, trat der Knecht wieder neben das Steuer.

„Noch einmal vielen Dank und auf Wiedersehen!“ rief Knut dem Schiffer nach.

„Auf ein lustiges Wiedersehen!“ antwortete dieser, und schnell glitt die Jacht aus dem Bereich ihrer Stimmen.

Ein Weilchen blickte Knut ihr träumerisch nach.

Wenn ihn die Berge, die Schärenfelsen, das Wasser und die Beleuchtung rings um ihn daran erinnerten, daß er nunmehr wirklich in seinem Heimathlande, so erschien ihm die alte Nordlandsjacht wie ein vertrauter Freund früherer Tage. Und dennoch, wie lag die Zeit, in welcher dies alles seine tägliche, wenn auch wenig beachtete Augenweide gewesen, in so unabsehbarer Ferne! Sinnend kehrte er sich der Insel zu. Eine kurze Strecke auf dem nur wenig über den Wasserspiegel emporragenden Plateau hinwandelnd, erreichte er das eigentliche Eiland, wo auf dem festen Gestein ein nothdürftig erkennbarer Pfad in wechselnder Höhe sich nach dem südlichen Ufer herumschlängelte.




2.

Eine Stunde und länger war Knut an den schroffen, nur stellenweise mit grünem und silbergrauem Renthiermoos bewachsenen Abhängen hingeschritten, als sich in einiger Entfernung vor ihm eine Schlucht öffnete, die vom Meere aus in den Inselfelsen einschnitt. Dort, wo eine tiefeinschneidende Spalte kleineren Böten eine sichere Zufluchtsstätte gewährte, lag hart am Fuße einer steil aufstrebenden Felswand eine aus kienreichen, mäßig starken Balken errichtete Hütte. Sechs hohe schwere Klötze von etwa drei Fuß Höhe trugen dieselbe, wodurch unterhalb des aus Planken zusammengefügten Fußbodens ein niedriger Schuppen für Fischereigeräthschaften und ein Stall für einige Ziegen hergestellt wurde. Das Dach bestand aus einer dichten Erdschicht, welcher Gras und Kraut üppig entwucherten. Andere grüne Flächen, nur weniger umfangreich als das Dach, wiederholten sich auf den nahen Abhängen, wo die Felsgestaltung das mühsame Auftragen einer Humusschicht und das Anpflanzen von Kartoffeln, Hafer und etwas Gartenvegetabilien ermöglichte.

Als Knut den ersten Anblick der Schlucht gewann, lag bereits der Schleier abendlicher Dunkelheit darüber. Seinem Geiste schwebte indessen Alles noch vor, wie er es zum letzten Male gesehen hatte, und daß seitdem sich dort irgend etwas geändert haben sollte, das nahm er nicht an. War der Pfad doch zunächst derselbe geblieben, sogar das Licht, welches ihm aus dem schwarz beschatteten Felsenwinkel entgegen leuchtete, rief ihm den Eindruck hervor, als sei es in den letzten zehn Jahren kein einziges Mal erloschen, als müßten heute, wie damals, dieselben alten Augen in die Gluth des Herdfeuers starren, aus den lebhaft züngelnden Flammen die geheimnißvollen Lieder herauslohen, mit welchen der greise Olaf sein Spiel auf der Langeleike zu begleiten pflegte.

Als er sich der offen stehenden Thür bis auf etwa hundert Schritte genähert hatte, tönte ihm das durchdringende häßliche Geheul zweier Robben entgegen. Gleich darauf trat, wie er von dem erhellten Hintergrunde leicht unterschied, eine hohe Frauengestalt in die Thür, um die Ursache der ungewöhnlichen Störung zu erkunden. Ihren Zuruf beachteten die beiden Seehunde, die auf dem Vorplatz der Hütte lagen, nicht. Ihre Stimmen wurden vielmehr noch durchdringender, bis sie plötzlich von selbst verstummten und mürrisch grunzend und knurrend in den Raum unterhalb der Hütte krochen.

„Ist dies die Heimstätte des alten Olaf, des Spielmanns?“ fragte Knut, sobald die Robben es ihm ermöglichten, sich verständlich zu machen.

Keine Antwort! Die Gestalt in der Thür lehnte sich an den einen Pfosten und sah durch das Dunkel regungslos zu dem Fremden hinüber. Erst nach längerem Zögern und nachdem Knut sich den zur Thür hinaufführenden Stufen genähert hatte, antwortete sie mit tiefem, melodischem Organ:

„Es ist die Hütte, welche Olaf, der Spielmann, einst eigenhändig errichtete und länger als dreißig Jahre bewohnte.“

„Das hört sich an, als fände ich ihn nicht zu Hause,“ fuhr Knut fort und blieb auf der untersten Stufe stehen. „Vielleicht zu einem Nachbarn gewandert mit seinem Saitenspiele – das erfordert in diesem Theile der Welt Zeit.“

„Zu vielen Nachbarn,“ hieß es mit eigenthümlich bewegter Stimme zurück, „nämlich zu denen, die einst seine Nachbarn gewesen weit und breit und die ihm längst vorausgingen.“

„Mit anderen Worten, der ehrliche Olaf ist todt?“ fragte Knut, durch die unerwartete Kunde augenscheinlich betrübt.

„Ja, er ist todt, gestorben schon vor Jahren. Drüben in Florö auf dem Kirchhofe schläft er. Das hindert indessen nicht, daß Du in seinem Hause willkommen bist für die Nacht, für morgen und auf so lange, wie’s Dir gefällt.“

(Fortsetzung folgt.)




[361]

Märchenerzählerin.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz von J. Adam.

[362]

Ein Besuch im Staatsgefängnisse zu Kilmainham.

Zur Beleuchtung der Zustände in Irland.
Von Paul d’Abrest.
(Schluß)


Unter den im Vorhergehenden erwähnten irischen Volkstribunen war Parnell der Erste, den der Lord-Lieutenant im October 1881 verhaften ließ. Er ist bekanntlich der Führer der Landliga, ein unermüdlicher Meetingsredner, dessen glühende Beredsamkeit den Funken O’Connell’s in sich trägt und daher bereits dieselbe Wirkung auszuüben begann, wie die Reden des Agitators aus den vierziger Jahren. Es genügt, wie es bei Schreiber dieser Zeilen der Fall gewesen, wenige Minuten mit Parnell selbst im Gefängniß, wenn auch unter der Aufsicht zweier argwöhnischer Wächter, zu conversiren, um überzeugt zu sein, daß man es hier mit einer hochinteressanten Persönlichkeit zu thun hat, die einen hervorragenden Platz in der Geschichte eines nach Freiheit ringenden Volkes verdient, einer Persönlichkeit, die eine bezaubernde und bannende Wirkung auf die Umgebung auszuüben vermag – bei einem Agitator eine unerläßliche Bedingung des Erfolges.

Herr Parnell zählt heute ungefähr siebenunddreißig Jahre. Er ist von Statur ziemlich hoch gewachsen und schlank; seine ganze Physiognomie hat etwas Zartes, Delicates, fast möchte ich sagen Weibliches, und letztere Merkmale hat das Gefängnißregime noch gesteigert. Vor seiner Inhaftirung trug Parnell den Bart kurz gestutzt und hatte so ziemlich das Aussehen eines modernen Londoner Gentlemans, wie auch sein elegantes Benehmen und der Schnitt seiner Kleider vollständig zu diesem erwähnten Eindruck paßten. Der perlgraue Ueberzieher, den er am Tage seiner Verhaftung trug, ist bereits beinahe historisch geworden. Im Gefängnisse aber hat er seinen Bart wachsen lassen und das elegante Costüm durch einen ganz anspruchslosen Morgenanzug ersetzt.

Die agitatorische Thätigkeit Parnell’s dauert bereits über zehn Jahre. Er war damals mit den sehr angesehenen Functionen eines High-Sheriff in jener Grafschaft betraut, wo sich seine Familiengüter befinden; denn der Nachfolger des großen O’Connell ist selbst Landlord und noch dazu Protestant. Seine Familie hatte sich im irischen Staatsleben einen großen Namen erworben.

Die englische Regierung suchte sich dem vielversprechenden jungen Manne zu nähern und ernannte ihn deshalb zum Sheriff, was einer großen Auszeichnung gleichkommt und von den ehrgeizigen jungen Aristokraten sehr geschätzt wird. Aber damit war der Eifer des jungen Parnell nicht gestillt. Er ließ sich in die Gesellschaft der Home-Rulers (d. h. derjenigen irischen Partei, welche die Aufhebung der Union mit England oder wenigstens die Errichtung eines selbstständigen irischen Parlamentes fordert) aufnehmen, welche damals der sehr gemäßigte, ehrwürdige Mr. Bukx von allen Ausschweifungen und Attentaten fern hielt. Der Maiden Speech, den Parnell, um sich für seine Aufnahme zu bedanken, im Club der Autonomisten hielt, war gerade keine besondere oratorische Leistung und ließ nicht den zukünftigen Demosthenes errathen. Bald darauf vereinigte sich Parnell mit einigen hitzigeren Parteigängern des Home-Rule-Club, die bestrebt waren, den bedächtigen und besonnenen Patriarchen Bukx auszustechen und eine rüstige Agitation in’s Leben zu rufen.

Wie höchst gelegen kam damals Parnell eine Vacanz in der parlamentarischen Vertretung Irlands. Er stellte seine Candidatur auf, die sich großen Erfolges erfreute, und im Herbst 1875 betrat er zum ersten Male den kleinen, capellartigen Saal in Westminster. Sofort machte sich sein Einfluß bemerkbar. Die Haltung der irländischen Deputirten war damals eine wenig ausgeprägte; denn die große Bewegung auf der Insel war in’s Stocken gerathen, und in den Fragen, welche das britische Reich berührten und die zu den längsten und leidenschaftlichsten Debatten führten, zählten die Iren gar nicht mit. Parnell überredete mehrere seiner Collegen, gerade bei diesen Fragen zu interveniren, und ging mit gutem Beispiel voran. Von nun an wurde nie eine internationale oder innere britische Frage angeregt, ohne daß wenigstens drei oder vier Mitglieder sich für Irland erhoben, um die Angelegenheit mit einer Beredsamkeit zu erörtern (die Irländer sind geborene Redekünstler), die den Collegen Disraeli’s manchmal Schwulitäten bereitete.

Auf diese Weise erfocht sich die irische Vertretung in Westminster eine geachtete, manchmal sogar gefürchtete Stellung, und bereitete andererseits die Bahnen zu jener Opposition im Parlament, die mehrere Jahre später der englischen Volksvertretung so große Verlegenheiten bereitete. Gleichzeitig hatte die irische Sonderagitation wieder ein Steckenpferd, ein erfolgreiches Schlagwort, die Befreiung der in Folge der Ereignisse von 1867 bis 1868 verurtheilten Hochverräther. Die meisten allerdings waren bereits freigelassen, aber drei oder vier, darunter der bekannte Schriftsteller John Davitt, schmachteten noch im Kerker. Parnell veranstaltete Massenmeetings, ließ Sturmpetitionen unterzeichnen und gab so den Anstoß zu der Bewegung, die von Jahr zu Jahr wuchs und trotz der Abwehr des alten Bukx, der sich über diese „Exasperationspolitik“ bitter beklagte, einen immer mehr und mehr revolutionären Anstrich nahm. Bald kam es innerhalb der Home-Rule-Partei zur offenen Spaltung; Parnell kämpfte an der Spitze des jüngeren Elements gegen den gemäßigten Patriarchen Bukx, und der Einfluß der Revolutionäre behielt schließlich die Oberhand.

Der stolze Disraeli gab endlich nach; die drei letzten Fenier-Sträflinge wurden entlassen und mit ungeheurem Jubel in Dublin empfangen, und namentlich war es John Davitt, ein wegen seiner Energie und Selbstlosigkeit gefeierter Volksmann, der von seinen Landsleuten mit echt irischem Enthusiasmus begrüßt wurde. Unter den politischen Schutz dieses nach zwölfjähriger Kerkerhaft entlassenen Märtyrers begab sich nun klugerweise Parnell. Er stellte sich sogleich an die Spitze der Organisatoren der Festlichkeiten zu Ehren des Befreiten und gab diesem ein Diner im Hôtel Morrisson, dem Absteigequartier der Home-Rulers in Dublin, bei dem sehr scharfe Reden gehalten wurden.

Diesmal war Parnell nicht mehr der schüchterne Redner, wie man ihn bei seinem ersten Auftreten in der Home-Rule-Gesellschaft kennen gelernt; er war der ungestüme, flammende Volkstribun, dessen Worte von dem uralten Haß sprühten, der in Irlands Herzen seit Jahrhunderten glimmte. Da war von keiner Concession mehr die Rede; es wurde vielmehr Alt-England der Krieg bis auf’s Messer erklärt, und noch toller ging es wenige Tage später zu, als zwei der Häftlinge in Folge der ausgestandenen Mühsale starben und unter ungeheurem Zulauf des Volkes bestattet wurden.

Der Patriarch der Gemäßigten, der biedere Bukx, durfte sich zu seinen Vätern versammeln; seine Rolle war ausgespielt; denn das Wort führten nunmehr die Desperados, wie er dieselben nannte, und deren anerkannter, bald von ganz Irland bejubelter Chef war Herr Parnell. Von nun an entfaltete dieser eine unerhörte agitatorische Thätigkeit. Ein Meeting jagte das andere, und nirgends versammelten sich Irländer, ohne daß Parnell eine mehrstündige Brandrede hielt, im Parlamente gab es keine Frage, keine Interpellation, keine Bill, ohne daß Mr. Parnell einige Amendements einbrachte, die er vertheidigte. Dann gab es eine Pause, aber sie währte nur die Spanne Zeit, die zur Ueberfahrt nöthig war.

Plötzlich tauchte der Agitator jenseits des Meeres auf, sammelte Gelder und erhielt mit Tausenden von Pfund Sterling die Weihe der Irisch-Amerikaner, die ihn ebenfalls zum Leiter der Home-Rule-Bewegung ausriefen. Mit diesem doppelten Viaticum ausgerüstet, kehrte Parnell nach Irland zurück und gründete die Landliga.

Es ist nicht nöthig, hier auszuführen, welch eminente Thätigkeit er an der Spitze dieser Vereinigung entwickelte, durch die nach und nach ganz Irland in Wallung gerieth. Das Coercitionsgesetz war speciell gegen diese gerichtet, und man mußte, um zu wirken, das Haupt derselben treffen.

An einem Octobermorgen des vorigen Jahres hielt ein Cab vor der Thür desselben Morrisson-Hôtels, wo vor Jahr und Tag das Fest zu Ehren John Davitt’s stattgefunden hatte. Polizisten saßen auf und in dem Wagen, während andere Detectives vor dem Eingange patrouillirten. Ein Polizeicommissar ging die Treppe hinauf und ließ sich vom „Waiter“ ein Zimmer im ersten Stockwerk zeigen. Er klopfte an die Thür; Parnell, halb angekleidet und mit Schreiben beschäftigt, öffnete. Der gerichtliche Beamte

[363] zog aus seiner Brieftasche einen Haftbefehl und erklärte im Namen des Lord-Lieutenants Parnell für gefangen. Dieser schien sehr gefaßt – wußte er doch durch seine Gegenpolizei, daß seine Inhaftirung beschlossene Sache war. Nach wenigen Minuten rollte der Wagen die steile Anhöhe nach Kilmainham hinan.

An demselben Tage brachte die Polizei zwei parlamentarische Collegen – es waren die Herren O’Kelly und Dillon. O’Kelly ist eine der merkwürdigsten und ich möchte sagen saftigsten Erscheinungen der irischen Agitation. Sein Körperbau ist derb, fast athletisch; sein Kopf ruht auf breiten Schultern, und sein Gesicht, von einem röthlichen Bart umrahmt, hat einen grob leidenschaftlichen Ausdruck. Der energische Revolutionär spricht aus allen Zügen O’Kelly’s, und seine physische Ausstattung deutet darauf hin, daß der Mann fähig wäre, von der revolutionären Theorie zur revolutionären Praxis überzugehen. O’Kelly ist seines Berufes Journalist, ein Reporter vom Schlage Russell’s, Forbes’ und Stanley’s, wie ihn nur englische und amerikanische Zeitungen brauchen können, der stets bereit ist, heute eine Weltumsegelung mitzumachen; über’s Jahr einem Krieg in Afghanistan beizuwohnen und zu beschreiben und darauf eine Tigerjagd zu unternehmen. O’Kelly wirkte für den „New-York Herald“ und wurde von diesem Blatte nach der Insel Cuba gesandt, während die Insurrection gegen die spanischen Machthaber wüthete. Die Amerikaner waren ohnedies auf Cuba ziemlich verhaßt, und man hatte auf jener Insel für den Vertreter des großen New-Yorker Journals keine besonderen Sympathien. Als man erfuhr, daß O’Kelly sich in das Lager der Insurgenten begeben hatte, um dort authentische Nachrichten einzuziehen, wurde er verhaftet, malträtirt, vor ein Kriegsgericht gestellt, zum Tode verurtheilt und beinahe erschossen. Durch diplomatische Intervention wurde er gerettet, und nun begab er sich nach seiner Heimathinsel Irland, von wo er über die irische Bewegung nach New-York referirte, bald aber sich mit Leib und Seele in den Strudel der dortigen Wirren stürzte. Während Parnell in seinen Meetings-Vorträgen, in der Form und in seinem äußeren Auftreten wenigstens, noch immer Parlamentarier blieb und sogar manchmal den Staatsmann herausblicken ließ, war O’Kelly der in seiner ganzen Wildheit entfesselte Volkstribun. Er ertrug auch mit Unmuth das Gefängnißregime, während sein Freund Parnell die Zeit als eine Ruhepause betrachtete, die ihm gönnte, für künftige Kämpfe neue Kräfte zu sammeln, und in welcher er gegen die Gefahr, in einer äußerst schwierigen Situation Dummheiten zu begehen, geschützt war.

Der dritte Abgeordnete, der die Schärfe des Coercitionsgesetzes empfinden mußte, war Mr. Dillon. Dieser ist der richtige Irisch-Amerikaner. Jenseits des Ocean’s aufgewachsen und erzogen, hatte er sich zu einem der besten und gefeiertsten Redner in den Congressen aufgeschwungen, welche die Fenier bald in Cincinnati, bald in Chicago abhielten, und merkwürdiger Weise war er nicht einmal in Irland, als die allgemeinen Wahlen von 1879 stattfanden. Der Kabeltelegraph brachte ihm die Nachricht von seiner Wahl zum Abgeordneten. Er hatte sich gar nicht um die Ehre eines Mandats beworben, aber Dillon war bei den Amerikanern gut angeschrieben, und diese Empfehlung war die beste in den Augen der irischen Wähler. Kaum im Gefängnisse angelangt, erkrankte Dillon nicht unbedenklich, und mußte in das Krankenhaus wandern. Im Parlament von Westminster wurde sein Zustand öfters von seinen irischen Freunden zur Sprache gebracht; man interpellirte Forster, den bisherigen Staatssecretär für Irland. Dieser antwortete beständig, wenn der Kranke sich auf den Continent begeben wollte, so wären die Thore von Kilmainham ihm geöffnet, allein wolle der Gefangene Irland nicht verlassen, so könne er (der Staatssecretär) Dillon nicht freilassen, da er fürchten müsse, er werde dann im Lande weiter agitiren. Obwohl sehr leidend, wollte Dillon von einer solchen Entlassung nichts wissen und blieb lieber im Gefängniß. Es paßte ja vortrefflich in den Rahmen der nationalen Agitation, einen zum Skelet abgehärmten und von der Gefängnißluft verwelkten Märtyrer anfweisen zu können.

Der Gouverneur von Kilmainham zeigte sich anfangs den Herren aus dem Parlamente gegenüber sehr streng. Sie durften ihre Zellen nur sechs Stunden am Tage verlassen, und es wurde dafür gesorgt, daß sie nicht die Köpfe zusammensteckten, ohne daß gleich ein paar Aushorcherohren dazwischen kamen. Punkt acht Uhr wurde in den Zellen das Gas abgedreht; Zeitungen und Bücher wurden der strengsten Censur unterworfen; jedes Journal in fremder Sprache blieb ausgeschlossen, und wenn der „Freeman“, das Blatt der gemäßigten Land-Liga, etwas Scharfes gegen England enthielt, wurde es nicht ausgetheilt.

Noch drakonischer wurde die Correspondenz überwacht. In jedem ein- und ausgehenden Briefe witterte man irgend ein gefährliches Staatsgeheimniß, und der Gouverneur eröffnete oft den „vornehmen“ Gefangenen, daß er im Punkte der geheimen Correspondenz keinen Spaß verstehe. Und wirklich war die Aufsicht über die Correspondenz eine sehr strenge.

In Folge der zahllosen Reclamationen, welche die irischen Deputirten im Parlament Tag für Tag erhoben, lockerte sich nach und nach das Regime, dem die politischen Gefangenen unterworfen waren. Der alte Gouverneur wurde durch einen andern ersetzt, welcher milderen Anschauungen huldigte. So wurden die Erholungsstunden, welche die Gefangenen gemeinsam zubringen durften, von sechs auf acht erhöht; es wurde ihnen gestattet, sich mit Kartenspiel, Schach, Domino etc. die Zeit zu vertreiben, und das Gas durfte in den Zellen zwei Stunden länger brennen; nur in einer einzigen Beziehung wurde das starre Regiment aufrecht erhalten, wofern es sich um den Verkehr mit der Außenwelt handelte. Da verstand auch der neue Gouverneur keinen Spaß.

Die Besuche fanden in einem rund gebauten Badezimmer statt (wenigstens befanden sich in demselben ein Waschapparat und eine Badewanne) und wurden auf das Strengste controllirt. Der Besucher mußte sich verpflichten, in seinem Gespräche die Politik nicht zu berühren, und damit er sein gegebenes Wort nicht brechen könne, blieb ein Gefängnißwärter während des Gespräches dicht an der Seite des Conversirenden. Uebrigens durfte kein Besuch länger als fünf bis zehn Minuten dauern. Viele unter den Gefangenen protestirten gegen diese Einschränkungen, indem sie überhaupt keinen Besuch empfangen zu wollen erklärten, was dem Gouverneur das Liebste war.

Vergessen wir nicht die Kostfrage! Sie wurde unzähligemal im Parlament von Westminster angeregt, und es ging aus den Menage-Aufzählungen des betreffenden Ministers hervor, daß die den Gefangenen gebotene Nahrung hinreichend und kräftig war, wie denn von mehreren Seiten versichert wurde, daß die einfachen Pächter es oft bei Weitem nicht so gut in ihren Hütten hatten, als in Kilmainham. Nun, das Compliment verdammt eher die irländischen Verhältnisse, als daß es der Gefängnißverwaltung schmeichelt. Hungersnoth konnte man bei den zu fassenden Quantums Fleisch, Gemüse und Brod nicht leiden, aber es war doch immer ein – Gefängniß. Desto rühmenswerther ist der Beschluß der „vornehmeren“ Suspects, obgleich sie das Recht hatten, ihre Beköstigungen von draußen zu beziehen, sich mit dem gewöhnlichen vom Staate verabreichten Essen zu begnügen.

Sofort, nachdem die ersten Verhaftungen stattgefunden hatten, bildeten eifrige Patrioten, und namentlich Damen, einen Unterstützungsfonds für die Gefangenen. Mit den so aufgebrachten Geldern sollten die Familien der Inhaftirten unterstützt und die Gefangenen selbst vor Entbehrungen geschützt werden. Da diese jedoch auf die Douceurs verzichteten, wurden die Gelder für Agitationszwecke verwendet.

Während dieser Aufsatz verfaßt wurde, hat die Windrichtung in England sich plötzlich geändert. Parnell, O’Kelly und Dillon, die vierzehn Tage vor ihrer Freilassung dem Schreiber dieses mit einem tiefen Seufzer erwiderten, sie hätten keine Veranlassung eine baldige Befreiung zu erhoffen, sind heute bekanntlich in London auf ihren Sitzen im Parlamente. Herr Forster, der so viele Verhaftungswarrants unterzeichnete und der mit wüthendem Eifer den Fenianismus bekämpfte, bekam den Stuhl vor die Thür gesetzt.

Allein weder in Dublin, noch in Dundalk, noch in Galway waren damals die Bastillen geleert. Noch schien man abzuwarten, ob wirklich die „vornehmen“ Gefangenen von Kilmainham im Stande sein würden, durch ihr directes persönliches Auftreten die Wiederholung der gräßlichen Mordthaten zu verhüten. Da – schon nach wenigen Tagen – trug der elektrische Funken die erschütternde Nachricht von der Ermordung Cavendish’s und Bourke’s über Länder und Meere, und wiederum trat die irische Frage in ein neues gefährliches Stadium. So überstürzen einander die folgenschwersten Ereignisse auf dem blutgetränkten Boden Irlands, und unabsehbar bleibt noch immer das Ende des tödtlichen Ringens zwischen den Iren und den Briten.

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Um die Erde.

Von Rudolf Cronau.
Zehnter Brief: Unter den Dacotahs.

Weiß der geneigte Leser, was man „im fernen Westen“ der Vereinigten Staaten unter einer „Agentur“ versteht? Wenn nicht, so sei hier vorausgeschickt, daß „Agenturen“ im hier gedachten Sinne jene längs der gesammten Grenze der Civilisation sich hinziehenden, in der Regel mit einem Fort verbundenen Etappen bezeichnen, von denen aus die Regierung mit den halb oder ganz unterworfenen Indianerstämmen vorsichtige Fühlung unterhält, die erforderlichen Verhandlungen leitet, etwaige Bedürfnisse ihrer rothhäutigen Unterthanen bereitwillig befriedigt, nöthigenfalls aber auch eine plötzlich wieder hervorbrechende Thatenlust dieser zum Theile noch immer unverläßlichen Naturkinder in die gebührenden Schranken zurückweist. Einen jener Plätze hatte ich mir für mehrere Wochen zum Haupt- und Standquartier erkoren, und bildet derselbe somit den localen Hintergrund meiner diesmaligen Darstellung.

Der Scalp.  Die „große Medicin“.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Die „Standing Rock Agentur“, eng verbunden mit dem „Fort Yates“, liegt auf dem westlichen Ufer des Missouri und etwa sechszig Meilen südlich von der Stadt Bismarck auf einer Hochebene, die sich ungefähr siebenzig Fuß über den Fluß erhebt, eine freie Umschau über das umliegende Land gestattet und zu beiden Seiten des Stromes, der in gewaltigen Schlangenwindungen dem Süden zueilt, prächtige und malerische Scenerien bietet. Ein ziemlich hoher isolirter Bergkopf mit breitem Rücken steigt nördlich vom Fort empor; von seiner Höhe aus schweifen die Blicke bis zu jenen leicht gewellten und tafelförmigen Hügeln, die sich im Westen und Süden etwa fünf- bis siebenhundert Fuß hoch über den Spiegel des Flusses erheben. In der Entfernung weniger Meilen erblicken wir ringsum viele Hunderte von Indianerhütten, zu großen Lagern vereinigt. Im Norden liegen die Wigwams der schon länger der Agentur zugetheilten Stämme, im Süden und Südwesten aber leuchten die Zelte, in denen die erst vor Kurzem vom Kriegspfade heimgekehrten „hostiles“, die feindlichen Dacotahs, hausen. Zur Zeit meines Besuches im Fort Yates (September 1881) waren gegen sechstausend Indianer hier versammelt, sämmtlich jener mächtigen und kriegerischen Nation angehörig, die bis vor wenigen Jahren noch über ein ungeheures, das deutsche Reich an Größe übertreffendes Gebiet sich verbreitete, ein Gebiet, welches ganz Dacotah, Nordnebraska, Ostwyoming, Westminnesota und einen Theil der britischen Besitzungen umfaßte. Heute sieht sich dieses Volk nach langen und blutigen Kriegen größtentheils auf sogenannte „Reservationen“ beschränkt, von denen neun in Dacotah, eine in Montana und wiederum eine in Nebraska liegen. Diese Reservationen bezeichnen nämlich Länderstriche, die von der amerikanischen Regierung den Indianern als alleiniges und ausschließliches Eigenthum zuerkannt worden sind, während den Weißen die Ansiedelung auf diesen Gebieten verboten ist.

Die Dacotahs, zu Deutsch die „freundlich zu einander Gesinnten“, die „Verbündeten“ oder die „Sprachverwandten“ – bekannter sind sie unter dem bedeutungslosen französischen Namen der „Sioux“ – bilden eine Völkerschaft, deren Geschichte, Sitten, Ueberlieferungen und Gebräuche nur wenig und in keineswegs verläßlicher Weise erforscht worden sind. Abgeschreckt durch den kriegerisch-wilden Charakter und den üblen Ruf dieser Indianer, traten amerikanische und europäische Ethnographen nur in sehr vereinzelten Fällen mit ihnen in nähere Berührung, und diese Wenigen wiederum lernten zumeist nur kleinere Bruchtheile des einst so mächtigen Volkes kennen. So kam es, daß lange Zeit hindurch auch die Kopfzahl der Dacotahs stark unterschätzt wurde; man bezifferte dieselbe auf höchstens 10,000 Individuen, während sie sich in Wirklichkeit den neuesten Erhebungen zufolge noch gegenwärtig fast auf das Vierfache beläuft. Gleichzeitig repräsentirt das Volk einen außerordentlich stattlichen und wohlgebildeten Menschenschlag. Die äußere Erscheinung der Dacotahkrieger ist eine geradezu imponirende; kräftig gebaute Männergestalten von sechs Fuß Höhe und darüber sind durchaus keine Seltenheit, und ihre Bewegungen sind ungleich elastischer und graziöser, als die der meisten übrigen Indianerrassen. Gehoben werden diese körperlichen Vorzüge noch durch ein buntfarbiges und höchst malerisches Costüm; die grauen oder dunkelblauen „Blankets“ (wollene Decken) oder zur Winterszeit die prächtig bemalten Büffelfelle verleihen diesen ernsten und schweigsamen, an altrömische Senatoren erinnernden Gestalten einen Zug selbstbewußter, ich möchte sagen heroischer Würde. Energisch ist der Schnitt der Gesichter. Kühn springt die hochrückige Nase hervor; kräftig und breit sind Backenknochen und Kinn angelegt; das schwarze Haupthaar ist straff und lang und die Hautfarbe ein ausgesprochenes Kupferroth. Anstatt des immer seltener werdenden Rockes aus Thierfellen verhüllt ein baumwollenes Hemde, gestreift, carrirt, gewürfelt oder buntgeblümt, den Oberkörper der Männer, während die untere Bekleidung in einer den Leib umschließenden Binde besteht, durch welche ein vorn und hinten bis zur Erde niederfallender, häufig mit Stickereien verzierter, fußbreiter, rother oder blauer Tuchstreifen hindurchgezogen ist, der, frei zwischen den Füßen flatternd, einen ganz merkwürdigen Anblick gewährt. Die Beine sind mit engen, blauen oder rothen „Leggins“ (Beinkleider) bekleidet, die aber nur bis zur Mitte der Oberschenkel reichen und [365] den Sitz freilassen; an der Außennaht dieser Leggins steht noch ein breiter Streifen über, der mit Schellen, Kettchen, Perlen, Hermelinschwänzen oder erbeuteten Scalplocken reich verziert ist. Buntgestickte Mocassins und allerhand seltsame Verzierungen in mitunter sehr geschmackvoller Farbenzusammenstellung umschließen die Füße.

Das Haupthaar der Dacotahs ist in der Mitte des meist unbedeckten Kopfes getheilt, fällt glatt herunter und wird in dicke, durch Pelz- oder rothe Tuchstreifen zusammengehaltene Zöpfe gefaßt, die über die Brust herniederhängen. Die Scalplocke – das heißt die ebenfalls zu einem langen, aber dünneren Zopfe zusammengeflochtenen Wirbelhaare – wird von dem übrigen Haarwuchse scharf getrennt gehalten und außerdem noch durch Perlen- oder Roßhaarschmuck markirt; in ihr steckt auch die mächtige Feder des Kriegsadlers, von der weiter unten noch die Rede sein wird. Scheitel und Grenzlinie der Scalplocke sind mit Zinnober oder Oker gefärbt, und Ohrgehänge, aus Muschelstücken oder Ringen bestehend, Halsbänder und Brustschilde aus Knochen und Bärenklauen, blitzende Armspangen, prächtig gestickte Tabaksbeutel, der unerläßliche Pfeifensack, Scalpirmesser, Spiegel- und Farbentäschchen vervollständigen die Ausrüstung der Dacotahs.

Selbstverständlich jedoch unterliegt das hier geschilderte Costüm mannigfachen Variationen, namentlich insofern, als in Folge der Berührung mit den Bleichgesichtern allerhand hierherverschlagene Theile von Civilanzügen und Uniformen etc. bereitwillige Verwendung finden.

Weniger verschiedenartig und überhaupt einfacher als die der Männer ist die Bekleidung der Frauen. Sie besteht der Regel nach in einem langen, bunten Hemde mit kurzen, sehr weiten und offenen Aermeln. Die Beine der Schönen im Dacotahlande sind ebenfalls in kurze, nur bis zum Knie reichende, meistens reichgestickte Leggins von Leder, rothem oder blauem Tuche eingehüllt, während ein handbreiter mit Kupfernägeln beschlagener Ledergürtel, von dem die unvermeidlichen Farbentäschchen, Messer und ähnliches Ziergeräth herunterhängen, die Taille umschließt. Die Bemalung des Gesichts wie des Scheitels ist dieselbe wie bei den Männern, und ebenso tragen auch die Weiber jene oben erwähnten bunten Blankets oder Decken. Ihre Ohren aber werden leider nicht selten durch fußlange Gehänge aus Knochen, Ringen oder Muschelschalen verunstaltet, deren Gewicht die Ohrläppchen oft bis auf die Schultern herabzieht.

Bemalte Büffelhaut des Dacotah-Indianers „Langer Hund“, ihn selbst auf dem Frauen- und Pferdediebstahl darstellend.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Hiervon abgesehen, begegnet man wie unter den Indianerinnen überhaupt, so auch unter den Dacotahweibern, und vornehmlich unter den jungen Mädchen zwischen zehn und achtzehn Jahren, vielen hübschen und interessanten Gesichtern, und sehr wohl vermag eine solche wilde Schönheit, angethan mit ihrem vollen, eigenthümlichen Schmuck, das Wohlgefallen des Europäers, ja selbst die Bewunderung eines künstlerisch geschulten Auges zu erregen; denn das blitzende dunkle Auge, die blendend weißen Zähne, das volle tief schwarze Haar, die stolz gebogene Nase, die üppigen und doch anmuthigen Formen bedeuten ebenso viele gefährliche Reize, um so gefährlicher, wenn dieselben durch ein bestechendes Costüm gehoben werden, das ja einer wirksamen und pikanten Farbenzusammenstellung meistens nicht ermangelt.

Vornehmlich an den sogenannten „Rationstagen“, welche vom Vorstande der Agentur je nach Bedürfniß wöchentlich, zweiwöchentlich, mitunter auch wohl täglich abgehalten werden, ist vollauf Gelegenheit geboten, das Leben und Treiben der Indianer zu studiren, da an solchen Tagen die gesammte Bevölkerung der Lager in Schaaren herbeiströmt, um aus der Hand des Agenten die Gaben in Empfang zu nehmen, die „der große Vater in Washington“, das heißt die Regierung der Vereinigten Staaten, zu ihrem Unterhalte gespendet.

Vom frühen Morgen bis zum sinkenden Abend ist dann die Umgebung der Agentur der Schauplatz des buntesten Gewühles; ganze Wagenburgen, viele Hunderte von Karren umlagern die Zugänge zu den Gebäuden, und überall ertönt Geklingel, Geschwätz, Gelächter und Pferdegewieher. In malerischen Gruppen hocken die Rothhäute, die Pfeifen kreisen lassend, rings auf den Hügeln; hier sprengt ein Häuptling, roth wie ein Pandur, und seine reich geschmückte „Squaw“ (Gattin) vor sich im Sattel, auf flinkem Pony heran; dort kichern und schäkern dichtgedrängte Mädchengruppen; dazwischen schreiten würdevoll indianische Redner durch die Menge, mit weithin hallender Stimme Gott weiß welches Thema behandelnd. [366] Wohin man blickt, überall buntes, farbenprächtiges Leben und kindliche Fröhlichkeit der Rothhäute, und während Männer wie Weiber sich geschäftig mit Säcken und Fässern, Kisten und Kasten schleppen, bewachen sogenannte Indianerpolizisten die Zugänge zu dem Ausgaberaum, in welchen die Wilden truppweise nach einander eingelassen werden, um hier von den mit geladenen Revolvern ausgerüsteten Beamten ihr Zukömmliches zu empfangen. Diese Indianerpolizei, welche im Dienste der Regierung steht, rekrutirt sich aus den verschiedensten Indianerstämmen und bildet den Schrecken aller roth- und weißhäutigen Uebelthäter; ihre erfolgreich bewährte Einführung verdankt sie unserem deutschen Landsmanne Karl Schurz.

Ein anderes, im Sommer allmonatlich zweimal wiederkehrendes freudiges Ereigniß ist der „Schlachttag“ oder, wie man in Leipzig sagen würde, das „Schlachtfest“. Bringt ein solches schon unter civilisirten Völkern eine gewisse frohbewegte Stimmung mit sich, so ist dies in ungleich stärkerem Maße bei diesen Naturkindern der Fall; alles ist an solchem Tage in rosigster Laune, und Männer wie Weiber prangen in festtäglichem Schmuck.

Als ich zu dem einige Meilen vom Fort entfernten Schlachtplatze hinausfuhr, fand ich den Agenten und seine Beamten noch mit dem Wiegen des Viehes beschäftigt. Gegen zweihundert Stück Kühe und Ochsen befanden sich in einem weiten, aus schweren Holzstämmen gezimmerten Kraale eingepfercht und gleich Hyänen hockten die Indianer rings um die Plankenzäune, ruhig, ich möchte sagen: teuflisch ruhig der Dinge harrend, die da kommen sollten. Nur in ihren zuckenden Muskeln und funkelnden Augen spiegelte sich die gierige Erwartung des Momentes, da man ihnen die Thiere überantworten würde. Endlich – nach mehrstündigem Wiegen der Thiere – nahte der große Augenblick heran; die indianischen Polizisten stellten sich rings an der Außenseite des Kraales auf, um gleichzeitig von allen Seiten in die zitternde, zusammengedrängte Heerde hineinfeuern zu können. Zuerst ertönte ein einzelner Schuß, und in dumpfem Falle stürzte ein mächtiger Ochse, sich in seinem Blute wälzend, lautlos zusammen; bald aber knatterten von links und rechts, von hüben und drüben ganze Salven, die stöhnenden und zusammenbrechenden Thierleiber häuften sich mehr und mehr, und binnen Kurzem war der ganze Raum mit um sich schlagenden, blutenden, zuckenden, röchelnden Körpern bedeckt.

Endlich war Alles vorüber; die zweihundert Stück todten Viehes lagen in großen Lachen Blutes neben, über, quer durch einander hingestreckt, und jetzt kletterten allenthalben dunkle Gestalten wie Panther an den Plankenzäunen des Kraales empor und sprangen auf der andern Seite in den Innenraum hinunter. Mit großer Geschicklichkeit wurden zunächst vermittelst weniger Schnitte die Zungen der Thiere aus den Hälsen gelöst und an Stäben aufgereiht; dann ging es an das Zerlegen der leblosen Körper selbst. Eine halbe Stunde lang hörte man nichts als das Krachen der zerschlagenen Knochen, sah man nichts als tausend rührige Hände, blanke Messer und geschwungene Beile; dann war die wilde Metzgerei beendigt, das Fleisch in Stücke zerschnitten und den Ponys und Squaws aufgeladen. Alles wurde fortgeschleppt, nichts, gar nichts blieb übrig außer den Knochen und den nicht verwendbaren Eingeweiden. Schwer beladen mit der bluttriefenden Last keuchte Jung und Alt den Zelten zu, um dort einen Theil des Fleisches in lange, dünne Streifen zu zerlegen und diese, über Stäbe gehängt, an der Sonne zu dörren; die Häute der Thiere aber wurden von den Indianern zum Preise von 3½ Dollars pro Stück an amerikanische Händler losgeschlagen.

Binnen Kurzem lag die Stätte, die soeben noch ein Bild wildbewegten Treibens dargeboten, wieder öde und leer da, und in den Nachmittagsstunden sammelten sich in den Lüften Schaaren von Aas- und Raubvögeln, um an den spärlichen blutigen Ueberresten ihren Hunger zu stillen; in den indianischen Lagern aber herrschte für die nächsten Tage heller Jubel; die Schmausereien währten vom Morgen bis zum Abend, und das Dröhnen der zum Tanze rufenden großen Trommeln drang zu uns herüber bis nach Mitternacht.

Was übrigens so ein indianischer Tanz, oder besser so ein ganzes rothhäutiges Ballfest zu bedeuten hat, das muß man gesehen haben – beschreiben läßt es sich nicht. Hier hört der Begriff des Phantastischen auf, und der des Fratzenhaften, des Satanischen tritt an seine Stelle. Scheußlich bemalte Körper, dämonisches Geschrei, verzerrte Gesichter, unheimlich sprühende Augen, weitgeöffnete Nüstern, fletschende Zähne, tobsüchtige Gesticulationen der Glieder – es ist ein Bild, als hätten tausend Höllen ihre Insassen ausgespieen, und schaudernd begreifen wir, warum Soldaten und Officiere der amerikanischen Armee im entscheidenden Augenblicke sich lieber selbst den Tod geben, als daß sie sich lebendig den Händen solcher bemalten Teufel überantworten.

Frühzeitig schon spielen Liebe und Heirath ihre Rolle im Leben der Indianer. Hat ein Dacotah-Jüngling sein Herz an eine der Schönen seines Stammes verloren, so hält er sich nicht viel mit überflüssigen Redensarten auf; die bei civilisirten Völkern so beliebte Sitte des „Süßholzgeraspels“ ist noch nicht bis hierher vorgedrungen. Schweigend betritt der Dacotah den Wigwam seiner Angebeteten; schweigend läßt er sich, kleine Geschenke bietend, neben ihr nieder; schweigend geht er von dannen. Nur von Zeit zu Zeit läßt er sich herbei, in stiller Nacht vor ihrem Zelte die „chotunka“ (eine Art Flöte) zu blasen oder einen selbstcomponirten Singsang zum Besten zu geben, durch welchen, mag der Vortrag auch noch so mangelhaft sein, die Schöne zumeist derartig gerührt wird, daß sie sich vom Feuer ihres Wigwams hinwegstiehlt, um in den Armen des Geliebten ein Schäferstündchen zu verträumen.

[„]Jung gefreit, hat nie gereut“ – dieser Spruch gilt, wie bei uns, so auch bei den Kindern der amerikanischen Steppe. Das junge Volk schließt seine Ehebündnisse schon bald nach dem zwölften und bis zum zwanzigsten Lebensjahre; Hagestolze und alte Jungfern existiren nicht, und Wittwer und Wittwen suchen so bald als möglich in eine neue Ehe einzutreten. Vielweiberei ist gang und gäbe, und zwar heirathen die Männer in der Regel ein Weib nach dem andern, mitunter aber auch zwei, drei oder vier auf einmal, wobei es den schon vorhandenen oder überzähligen passiren kann, von ihrem Herrn und Gebieter ausrangirt, das heißt anderweit veräußert zu werden.

Da der Weiberdiebstahl zu den erlaubten noblen Passionen gehört, so bringen es manche Krieger zu einer Frauenliste, welche diejenige weiland Don Juan’s beinahe erreicht. So hatte z. B. mein Freund Sunka Wanjila („der lange Hund“) laut der auf einer Büffelhaut von ihm selbst abconterfeiten Lebensgeschichte (vergl. Abbildung, S. 365) im Laufe der Zeit nicht weniger denn dreiundzwanzig Weiber zusammengestohlen, deren Namen freilich dem Gedächtnisse des Wackeren entfallen waren und deren Persönlichkeiten er sich nur noch je nach der verschiedenen Farbe ihrer Blankets zu erinnern vermochte.

Hat sich der Dacotah nicht durch Raub eines Weibes von einem Nachbarstamme zu helfen gewußt, so bleibt ihm nichts übrig, als ein solches zu kaufen. Der Preis eines Mädchens beträgt durchschnittlich ein bis drei Ponys, in baarem Gelde zwanzig bis fünfzig Dollars. Ein Weißer in Fort Randall erstand seine rothhäutige Ehehälfte sogar für ein Bund Heu.

Sonderbar ist übrigens die bei den Yanktonnai-Sioux herrschende Sitte, wonach zunächst nicht dem Vater, sondern dem ältesten Sohne das Recht des Verkaufes der „Töchter des Hauses“ zusteht. Erst, wo ein solcher nicht existirt, tritt das Veräußerungsrecht des Vaters in Kraft. Priester haben in Heirathssachen absolut Nichts zu sagen; denn die Einwilligung zur Eheschließung wird einfach durch Uebersendung des Preises der Frau eingeholt, und wird letzterer angenommen, so gilt damit der Handel und zugleich ohne weitere Ceremonie die Heirath für abgeschlossen; wenn nicht, so werden die dargebotenen Gegenstände zurück gesandt.

Entschieden falsch oder wenigstens sehr übertrieben scheint mir die in Reisebeschreibungen häufig wiederkehrende Behauptung, als sei das Weib des Indianers nur das Lastthier des Mannes; denn den Männern liegt nicht nur die Vertheidigung des Lagers, die Versorgung der Familie mit Nahrung und Wild, die Anfertigung der Waffen und häuslichen Geräthe ob, sondern bisweilen helfen sie auch den Frauen bei der Einbringung der Feldfrüchte. Andere häusliche Arbeit zu verrichten, wird, in Gemäßheit der Tradition: „Der große Geist schuf die Männer, um zu jagen und die Weiber zu beschützen, alles Uebrige ist Frauenwerk“, allerdings als des freien Kriegers unwürdig betrachtet. Aber trotzdem giebt es in einer Indianerhütte nicht allzu Schweres für die Weiber zu thun; sie haben Holz und Wasser herbeizuschaffen, die Häute und das Fleisch zuzubereiten, die Kleider anzufertigen und die Hütte aufzuschlagen, daneben aber bleibt ihnen vollauf Zeit und Muße zur Herstellung ihrer schönen und eigenthümlichen Stickereien aus Perlen und Stachelschweinsborsten, welche im [367] Verkehr mit den Weißen einen lebhaft begehrten Handelsartikel bilden. Die Lage einer Dacotah-Gattin ist also keineswegs eine unerträgliche, und vielleicht wäre manche Europäerin, der die Erhaltung eines nichtsnutzigen oder arbeitsscheuen Eheherrn obliegt, herzlich froh, mit jenen besser situirten Indianerinnen tauschen zu können.

Befindet sich der Dacotah auf dem „Kriegspfade“, so ist er auf die Erbeutung feindlicher Scalpe versessen, wie der Gottseibeiuns auf eine arme Seele. Die verschlagensten Schliche, die wüthendsten Anfälle auf den Gegner setzt er in Scene, um sich dieses höchste, werthvollste Triumphzeichen des Siegers zu erringen. Wenn der Dacotah seinen zusammenbrechenden Feind erreicht hat, so setzt er ihm den Fuß auf die Brust, windet das Haar des Erlegten um die linke Faust, trennt mit dem Scalpmesser im Nu die ganze Kopf- und obere Gesichtshaut bis zu Nase und Augen herunter und reißt mit einem einzigen gewaltigen Ruck den ganzen Schopf vom Schädel. Ist die Gewinnung eines Scalpes mit großer Gefahr verbunden oder äußerste Eile geboten, so wird nur ein Theil der Kopfhaut abgeschnitten, unter Umständen sogar nur ein Büschel Haare ohne Haut.

Ich selbst besitze z. B. eine lange, geflochtene Scalplocke, die mit scharfem Schnitte dicht über der Haut abgetrennt worden ist. Der Häuptling, welcher mir dieselbe als höchstes Zeichen seiner persönlichen Gunst verehrte, berichtete mir, daß er bei ihrer Erbeutung nicht weniger als sieben Pfeilschüsse erhalten und nahezu selbst scalpirt worden sei.

Der eroberte Scalp wird zunächst sorgfältigst gegerbt und sodann während des nächtlichen Scalptanzes bei loderndem Feuer unter Beobachtung verschiedener Ceremonien feierlich geweiht. Wie unsere Abbildung zeigt, ist er bei dieser Gelegenheit auf einen an einem Stabe befestigten Reifen aufgespannt und mit allerhand Zierrathen und Curiositäten ausstaffirt. Ueberhaupt werden diese Scalpe als das höchste Heiligthum der Indianer betrachtet, und sie prangen, in viele einzelne Locken zerlegt, als Schmuck an den Säumen der Gewänder oder an den Kriegswaffen; bei besonderen Festlichkeiten erblickt man sie auch wohl am Gürtel der Tänzer, oder sie flattern, neben einander gereiht, an den langen Scalpstangen, die bisweilen auf Befehl des Häuptlings an schönen Tagen vor den Wigwams aufgepflanzt werden, um die Thaten und den Ruhm der siegreichen Geschlechter zu verkünden.

Ein fernerer, jedoch nur den Häuptlingen zukommender kriegerischer Schmuck sind die bekannten prächtigen Adlerfederkronen und die als Fächer benützten Adlerflügel. Beide Gegenstände bilden den köstlichsten und werthvollsten Bestandtheil ihres Costüms, und nur in den seltensten Fällen entschließt sich ihr Besitzer, sie Fremden als ein Zeichen ganz besonderer Hochachtung zum Geschenke zu machen. Wird eine einzelne Adlerfeder schon mit ein bis eineinhalb Dollar bezahlt, so steht ein vollständiger Kopfschmuck dem Werthe von zwei bis drei Pferden oder der Summe von zweihundert bis zweihundertfünfzig Mark, ein zu einem Fächer verarbeiteter Flügel aber dem eines Pferdes oder der Summe von hundert Mark gleich. Beide Stücke werden um deswillen so hoch geschätzt, weil erstens die Kriegsadler sehr selten geworden und zweitens die Jagd auf dieselben eine äußerst langwierige und beschwerliche ist.

Dem Umstande, daß ich auf Grund meiner Malerkünste von den Indianern für einen großen Wundermann gehalten wurde, verdanke ich eine ganze Reihe kostbarer Geschenke, unter denen eine prachtvoll bemalte Büffelhaut, zwei schöne Adlerflügel und zwei „Medicinbeutel“ die bemerkenswerthesten sind. Letztere stehen bei den Wilden derartig im Geruche der Heiligkeit, daß sie sich fast nie von ihnen trennen. Der Medicinsack ist nämlich eine Art Amulet, welches den Träger desselben vor bösem Blick und überhaupt vor allen bösen Geistern schützen und ihm im Gewühle des Kampfes Kraft und Stärke verleihen soll. Die Herstellung dieses Amulets bedeutet einen Markstein im Leben der Rothhaut; denn nur einmal darf die „Medicin“ angefertigt werden, und umfassende Vorbereitungen sind dazu erforderlich. Der junge Indianer verläßt zu diesem Zwecke den väterlichen Wigwam und verbringt vier bis fünf Tage, ohne seinen Durst zu löschen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, in der Einsamkeit der Wälder. Auf dem Erdboden ausgestreckt, richtet er seine Gebete zum großen Geiste, auf daß dieser ihm den wohlthätigen Genius zeige, der zum Schutzengel seines Lebens bestimmt sei. Das erste Thier nun, welches ihm in seinen Träumen erscheint, versinnbildlicht diesen guten Geist; wohlgemuth springt der Jüngling auf, kehrt in das Lager zurück, stillt Hunger und Durst und durchstreift dann die Wälder, um eines Exemplars der fraglichen Thierspecies habhaft zu werden. Früher oder später gelingt es ihm, den Biber, die Schlange, den Vogel, die Maus, oder welches Thier sonst er im Traume gesehen, aufzufinden und zu erlegen. Der glückliche Jäger streift ihm die Haut ab, füllt dieselbe mit Gras oder Moos, schmückt den Balg mit Perlen und Federn und trägt ihn bei sich für das ganze Leben. Niemals wird die „Medicin“ geöffnet, nie verkauft, nie verschenkt, und stirbt ein Indianer, so wird seine „Medicin“ mit ihm begraben; mit einem Worte: ein Medicinsack ist etwas Unbezahlbares, und wer ihn verliert, fällt in Unehre bei dem ganzen Stamme, weil er dasjenige nicht zu bewahren gewußt, was der große Geist selbst ihm gegeben. Einzig dadurch vermöchte er sein Ansehen wieder herzustellen, daß er die erbeutete „Medicin“ eines mit eigener Hand erschlagenen Feindes aufzuweisen im Stande wäre.

Nicht zu verwechseln mit dem soeben besprochenen Medicinbeutel ist übrigens die sogenannte „große Medicin“, die an einer vor jedem Wigwam aufgerichteten Stange befestigt ist. Letztere besteht aus allerhand Lappen, Otterfellen etc., oder sie stellt auch ein aus Büffelleder gefertigtes köcherartiges Behältniß dar, in welchem seltsamer Krimskrams, wie Wolfsknochen, mit sonderbaren Hieroglyphen bemalte Tuchfetzen etc., aufbewahrt wird. Auch diese „große Medicin“ soll durch ihren wohlthätigen Zauber alle bösen Einflüsse vom Zelte fern halten.

Sind sonach die Dacotahs keineswegs frei von abergläubigen Vorstellungen, so erscheinen sie doch unverkennbar zugleich auch als ein Volk von zwar naivem, aber immerhin lebhaftem religiösem Bewußtsein. Sie glauben an Wakan-tanka, den Herrn des Lebens, den allmächtigen Erhalter und Beschützer aller Dinge, der zu gut ist, um ihnen irgend welchen Schaden zuzufügen, zu dem jeden Morgen und jeden Abend als Opfer der Rauch der Pfeife emporsteigt. Gleichwohl opfern sie freilich auch dem bösen Geiste, Wakan-schecha, um ihn milde für sich zu stimmen; sie fürchten ihn, da er ihnen Unheil verursacht, ihren Weibern die Köpfe verdreht, das Wild verscheucht und die Pfeile ihrer Feinde lenkt. Sie fürchten auch seine Abgesandten, die Dämonen, die auf allen Wegen sie umschweben. Wasser, Wälder, Felsen, Luft und Gras sind angefüllt mit solchen unheimlichen Mächten, deren Waffen die Blitze sind, mit denen sie rings um die Erde schießen können. Sie glauben ferner an einen Riesen, Ha-o-kuh, welcher tödten kann mit einem Zucken seiner Augenwimpern. Hoch in den Lüften, weit außerhalb des menschlichen Gesichtskreises, schwebt der Donnervogel, und auf seinem Rücken trägt er einen See frischen Wassers. Ist der Vogel zornig, so verursacht das Schlagen seiner Flügel den Donner und die Stürme; zuckt er mit den Augen, so fährt ein Blitzstrahl hernieder, und bewegt er gleichzeitig Schwanz und Flügel, so fließt der See über und es regnet auf der Erde. In der kalten Jahreszeit ist der Wald bedeckt mit den von der Federbekleidung abgetröpfelten Eiszapfen, und wenn der Himmel klar und heiter ist, so weilt der Vogel in weiter Ferne, um seinen Jungen Nahrung zu bringen.

Gegen die Lehren der christlichen Religion haben die Dacotahs bisher entschiedene Abneigung an den Tag gelegt. Ein alter Häuptling drückte mir seine Ansicht über das Christenthum in folgenden Worten aus:

„Eure Schwarzröcke sagen: daß nur ein Weg sei, den großen Geist zu verehren und ihm zu dienen. Sie sagen, Euer Glaube sei der wahre, wir aber wandelten auf falschen Wegen. Wir hörten, daß Euer Glaube geschrieben sei in einem Buche, und daß alle Bleichgesichter dieses Buch lesen könnten. Wenn nun aber nur ein Glaube der richtige sein soll, wie kommt es, daß die Bleichgesichter, die doch Alle jenes Buch lesen, unter sich uneins sind? Warum streiten sie wider einander? Und wenn Euer Glaube auch für uns bestimmt sein soll, warum gab der große Geist jenes Buch nicht auch uns oder unseren Vorfahren? Wakan-tanka thut recht: er lehrte unsere Väter dankbar zu sein für die Gaben, welche wir empfangen; er lehrte uns, einig zu sein und einander zu lieben, aber er gab uns nicht Euer Buch. Wir streiten uns niemals um unseren Glauben; wir sind zufrieden. Es wäre albern und schändlich zugleich, wollte ich einen Glauben wechseln, den ich von meinen Vorfahren ererbt habe. Die Religion der Weißen ist nicht gut. Als Gott auf Erden kam, hing ihn der [368] weiße Mann an einen Baum und tödtete ihn. Wir thun das nicht. Wir ehren den großen Geist, und wir sehen ihn in der Sonne, welche niemals stirbt.“ –

Ein günstiger Zufall wollte, daß ich dem großartigen Pau-wau, das heißt dem Friedensconcile beiwohnen durfte, in welchem Mac Laughlin, der an Stelle des abgehenden bisherigen Agenten neu eintretende Beamte, sich den versammelten Dacotahhäuptlingen vorstellte.

Auf den 6. October 1881 anberaumt, war dieses Concil das weitaus zahlreichste und wichtigste von allen, die seit Jahren abgehalten worden. Um ein Uhr Mittags war fast die gesammte Bevölkerung der benachbarten Indianerlager auf dem Berathungsplatze versammelt; denn mehr als tausend Krieger saßen hinter ihren Häuptlingen rings im Kreise, während eine noch weit größere Anzahl von Weibern und Kindern außerhalb des Ringes stand.

Die wilde Größe des nun beginnenden Schauspiels ist kaum zu beschreiben. Da saßen sie, die unheimlichen Gebieter der Prairie, dieselben, die einst den tapfern General Custer zu Boden geworfen. Jedes Gesicht war bedeckt mit bunten Farben; jede Gestalt prangte im vollen Kriegerschmuck; von allen Köpfen ragten die mächtigen Adlerfedern empor; jeder Arm hielt die todbringenden Waffen, den Tomahawk, die Kriegskeule, den Speer oder das Scalpirmesser, fest umschlungen. Alles verharrte in tiefstem Schweigen; keine Miene verziehend, bronzenen Statuen gleich, standen oder saßen die Rothhäute auf den ihnen angewiesenen Plätzen.

Alle Großen waren versammelt. Nur Einer grollte und hielt sich fern. Seitab von der Versammlung hielt Ite-o-magayu („Regen im Gesicht“), in eine blaue Decke gehüllt, unbeweglich auf seinem Gaule. Er galt allgemein für den am meisten verrätherisch und kriegerisch gesinnten aller Häuptlinge, und man sagte ihm nach, er habe nach Beendigung des furchtbaren Custer-Massacres am Little Horn River das Herz und die Leber Thomas Custer’s, eines Bruders des Generals, gekocht und gegessen.

Als ich in Begleitung eines Dolmetschers und eines New-Yorker Zeitungscorrespondenten mich dem wilden Krieger näherte, beantwortete er die Frage, ob er sich nicht an der Berathung betheiligen wolle, mürrisch und finster mit folgenden Worten: „Die Narrenspossen (‚the joke‘), die der Große Vater in Washington mit uns treibt, sind entwürdigend. Ich bin ein Häuptling und Krieger. Wakan-tanka, der Große Geist, wird sorgen und wachen über mein Volk. Ich mag nicht behandelt werden gleich einem Ochsen oder einem Kinde. Das Land, in welchem meine Väter lebten und in dem ich geboren ward, ist angefüllt mit Büffeln und vielem andern jagdbaren Wild, ich aber bin gezwungen, hier zu leben gleich einem Weibe, während die Bleichgesichter jagen dürfen nach Herzenslust. Ich bin ein Krieger und werde nicht auf eine Farm gehen, so lange ich eine Möglichkeit sehe, durch die Jagd mein Leben zu fristen. Ich liebe nicht die Männer, die der Große Vater zu uns sendet; ihre Zungen sind krumm; sie sind meine Feinde. Blumen entsprießen ihrem Munde, während ihre Herzen angefüllt sind mit Haß und sie mein Volk um sein Recht betrügen. Sie versprachen mir, ich solle ein Gespann Pferde, Vieh und Wagen bekommen, aber sie haben mich zum Narren gehalten.“

Mit diesen Worten stieß er seinem Pony die Fersen in die Rippen und sprengte davon, den Tomahawk mit der nervigen Faust fester umschließend. Mittlerweile hatte sich der neue Agent eingefunden und die Verhandlungen des Pau-wau konnten beginnen. Dreißig mit scharfgeladenen Büchsen bewaffnete Indianerpolizisten waren vorsichtshalber an verschiedenen Punkten des Kreises postirt, und wirklich ließen die mehrere Stunden währenden Verhandlungen, bald von beifälligem „Hau, hau“ („Bravo“), bald von unwilligem Murren unterbrochen, mitunter an Erregtheit Nichts zu wünschen übrig. Endlich aber war alles glücklich vorüber; der Agent versprach, die Wünsche der Häuptlinge betreffs Ländereien, Jagden, Häusern, Waffen, Pferden, Kleidern etc. dem Großen Vater in Washington „zu unterbreiten“, und als er hieran die Mittheilung knüpfte, er werde zur Feier des Tages eine Extra-Ausgabe von Rationen vertheilen lassen, da waren alle wenn auch noch so begründeten Beschwerden der Indianer plötzlich vergessen, und der wilde Jubel der Naturkinder kannte schier keine Grenzen.

Und die Zukunft der Dacotahs? Vielleicht sind die vorstehenden Zeilen die letzten, welche das interessante Volk in seinen nur noch mühsam bewahrten Eigenthümlichkeiten darstellen. Mit rapider Schnelligkeit geht es mit ihnen, wie mit allen schon früher erloschenen Indianerstämmen, zu Ende; auch ihnen, den tapfersten, zähesten und widerstandsfähigsten von allen, bringt die unaufhaltsam vorschreitende Civilisation den unvermeidlichen Tod. Schon verlernen die Dacotahs den Gebrauch von Schild, Speer und Lanze; schon haben sie viele ihrer althergebrachten Gebräuche aufgegeben. Ihre malerischen Costüme aus Hirschhaut werden vertauscht mit Gewändern, welche die Regierung ihnen liefert; ihre an poetischer Schönheit so reichen Sagen und Ueberlieferungen vermischen sich mehr und mehr mit den Historien der Bleichgesichter oder den Erzählungen der Bibel und gehen, unaufgezeichnet, ewiger Vergessenheit entgegen. Ist das jetzt noch lebende Geschlecht in’s Grab gestiegen, so wird die Fluth der Civilisation auch über dieses Volk hinweggerauscht und hiermit die Menschheit abermals um eine ethnographische Specialität ärmer geworden sein. So will es die Geschichte.




Etwas von dem Heermännchen.

In gewisser Beziehung ist es jetzt ganz gemüthlich in dem civilisirten Europa. Mit Menschen muß sich zwar der Mensch noch immer herumplagen und Steuerzettel und böse Kriegszeiten über sich ergehen lassen. Aber mit wilden Bestien brauchen wir modernen Europäer gottlob! nicht mehr zu kämpfen, wie dies einst das Loos unserer Vorfahren war. Ausgerottet oder nach den russischen Steppen, in entlegene Schlupfwinkel rauher Gebirge zurückgedrängt sind heutzutage die bösen Sippschaften der Wölfe und der Bären, und wenn die Parlamente in diesen Zeiten fortgeschrittener Cultur aufgefordert werden, gewisse Thierarten für vogelfrei zu erklären, so sind es meistens nicht gerade besonders gefährliche Geschöpfe, gegen die der Vernichtungskreuzzug gepredigt wird.

Erst vor Kurzem zog man in einem der deutschen Staaten gegen den Straßenjungen der Vogelwelt, den berüchtigten Sperling, zu Felde, aber in der öffentlichen Meinung wurden Stimmen genug laut, die den angeblichen Missethäter in Schutz nahmen, und man kann wohl behaupten, daß die Proceßacten in Sachen des „weisen Menschen“ gegen den „geräucherten Spitzbuben“ noch lange nicht abgeschlossen sind.

Nicht anders verhält es sich mit der Existenzfrage eines durch seinen Körperbau und seine Lebensweise zum Raubthier gestempelten Vierfüßlers, welchen die heutige Abbildung der „Gartenlaube“ den Lesern in einer Situation vorführt, die als echt räuberisch und durchaus nichtswürdig bezeichnet werden muß. Wir meinen das kleine Wiesel, vom Volke das Heermännchen genannt, dessen naturgeschichtliche Beschreibung schon in einem der früheren Jahrgänge der „Gartenlaube“ (1870, S. 148) gegeben wurde. Es ist staunenswerth, welche Raublust dieses winzige, einschließlich des Schwanzes nur etwa zwanzig Centimeter lange Geschöpf beseelt. Daß es von Zeit zu Zeit unsere Hühnerställe und Taubenschläge plündert, indem es seinen Opfern das Blut aussaugt und alsdann den Cadaver liegen läßt, ist allgemein bekannt. In der freien Natur greift es Hasen, Rehkälbchen, Auerhühner etc. an und schont nicht der kleinen Vögel des Waldes; Eier sind ihm ein Leckerbissen, und auf Fische macht es Jagd; ja, selbst das Reich der Amphibien wird im Nothfalle von seinen Raubzügen nicht verschont. Mit wahren Meisterstrichen hat der vortreffliche Thiermaler F. Specht auf seinem diesem Artikel beigegebenen Bilde ein Wieselpaar dargestellt, wie es auf einem ähnlichen Raubzuge vor dem Neste einer Kohlmeisenfamilie anlangt und eben im Begriffe steht, dasselbe zu plündern. Die Elternliebe verleiht dem zierlichen, sonst scheuen Vöglein ungewöhnlichen Muth; es will den Räuber abschrecken, und fast geht es zum Angriff über. Schier überrascht erhebt sich das eine Wiesel auf seinen Hinterpfoten und betrachtet spöttisch den merkwürdigen Gegner. Aermstes Ding, du! Noch eine Weile, und blutend wirst du unter den scharfen Zähnen der Räuber verenden.

Ueberhaupt kennt die echte Raubritternatur des kleinen Schwerenöthers

[369] 

Kohlmeise und Wiesel.
Originalzeichnung von F. Specht.

[370] keine Feigheit; mit tollkühnem Muthe greift das Wiesel selbst wehrhafte und ihm an Kraft bedeutend überlegene Thiere an; es kämpft mit Wasserratten und mit Hamstern, und oft hat es Pferde, ja sogar Menschen angefallen.

Ebenso geschickt wie im Angriffe, ist es in der Vertheidigung seines Lebens gegen seine nicht sehr zahlreichen Feinde. Hauskatzen, die sich an ihm manchmal vergreifen, müssen fast immer mit blutender Schnauze abziehen, Raubvögel, welche auf das Wiesel stoßen, um es fortzutragen, haben oft noch hoch in den Lüften mit ihm einen harten Strauß zu bestehen. So erzählen Naturforscher und Jäger von Fällen, wo Eulen und Habichte, die ein Wiesel forttrugen, todt mit ihm zur Erde stürzten, da der Angegriffene dem Angreifer die Halsader durchbissen hatte, und die Thiermaler haben ähnliche Scenen mehrmals dargestellt. Schwieriger hält dagegen das Wiesel gegen die Natter Stand; denn hier unterliegt der Muth nur allzu oft der tödtlichen Wirkung der Giftzähne.

Das kleine Pelzwerk unseres Thieres hat keinen besonderen Werth, und um seines Balges willen würde dem Thiere kein Jäger nachstellen. Da haben ja die Pelze der allernächsten Verwandten des kleinen Raubgeschöpfes, der Hermeline, eine ganz andere Bedeutung. Doch die Ehre, zum Pelzlieferanten für Fürstenmäntel erkoren zu sein, blieb unserem kleinen Wiesel glücklich erspart.

In den Waldrevieren des Jägers und in der Nähe des Bauernhofes ist es kein gern gesehener Gast, und schon seit undenklichen Zeiten lebt es daher mit dem Menschen auf dem entschiedensten Kriegsfuße. Uebrigens ist es nicht so thöricht, sich vor die Mündung des Schießrohres zu stellen; um dem Schützen zu entschlüpfen, dazu ist es ja eben so „flink wie ein Wiesel“. Dagegen geht das muthige Geschöpf um so leichter in die Falle, und man hat zahlreiche mehr oder weniger zierliche Kästchen oder Eisen construirt, mit welcher es in großer Anzahl gefangen wird.

So ohne Weiteres erledigt ist die Ausrottungsfrage in Betreff des Wiesels indeß noch nicht. Unter den Naturforschern und Landwirthen hat es namhafte Freunde, welche die Art als eine den Menschen nützliche erhalten möchten. Der Nutzen des Wiesels soll ihrer Meinung nach in der massenhaften Vertilgung von Feldmäusen bestehen, und sie dringen darauf, daß der Raub einiger Hühner und Tauben dem Wiesel ein- für allemal verziehen werde und daß man sogar auf Feldern Steinhaufen liegen lasse, damit das Wiesel in denselben bequem wohnen könne.

Ob die Ankläger oder die Anwälte des „Heermännchens“ Recht haben, darüber wollen wir an dieser Stelle nicht entscheiden. Besonders warmer Sympathien des Menschengeschlechtes wird es sich aber schwerlich jemals zu erfreuen haben.




Recht und Liebe.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Und nun willst Du also gehen?“ hub der alte Herr nach einer Pause wieder an. „Du willst gehen? Weshalb? Weshalb denn jetzt gehen?“

„Sehen Sie denn nicht ein, daß meines Bleibens hier nicht länger ist? Ich hätte ja gar nicht hierher kommen dürfen – ich handelte damit gegen den Willen, den ausgesprochenen Willen meiner entschlafenen Eltern. Wie sollte ich mich nun noch länger Denen gegenüber hier behaupten, welche Sie umgeben und Ihr Haus füllen?“

„Aber sie werden ja sicherlich sofort gehen, sobald Du da bist, Du, meiner Schwester Kind, Du, mein nächstes Blut, Du, die einzige Erbin von Allem, was ich besitze.“

„Ich Ihre Erbin? Nein, das eben will ich ja nun und nimmer sein. Das eben will ich nicht.“

„Du willst es nicht? Auch das gut! Alles wie Du willst! Mir ist es recht. Was geht’s mich an, was nach meinem Tode wird! Wenn nur Alles geschieht, was Du willst! Alles, was Dich bewegen kann, zu bleiben!“

Regine sah stumm auf ihren Oheim nieder. Ihr Herz wallte von einem Mitgefühl mit dem kranken Manne über, das es ihr nun doch schwer machte, bei ihrem Willen zu verharren.

„Wenn,“ sagte sie endlich zögernd, „wenn Sie so völlig einverstanden mit meinem Entschlusse sind …“

„Dann, dann … wirst Du bleiben?“ fiel ihr Oheim eifrig ein.

Sie erschrak nun schon über ihr Zugeständniß. Sie wollte ja Leonhard nie, nie wiedersehen. Er hatte ihr das Bleiben ja unmöglich gemacht.

„Lassen Sie mir Zeit, mich zu fassen!“ antwortete sie rasch. „Sie dürfen sich auch nicht länger durch ein Gespräch wie dieses aufregen. Versprechen Sie mir, daß Sie den Kutscher heraufkommen lassen und ihm selbst einschärfen wollen, er habe unbedingt und augenblicklich zu gehorchen, wenn ich einen Wagen verlange – wollen Sie das?“

„Gewiß, gewiß, wie Du willst! Zieh die Klingel, damit Andreas den Kutscher herauf holt! Du magst selbst hören, wie ich’s ihm befehle, Kind. Was Du nur willst, soll geschehen.“

Regine ging, die Klingel zu ziehen. Aber noch bevor sie die Schnur erreicht hatte, ward die Thür aufgerissen und angst- und schreckensbleich stürzte Dora herein.

„O Fräulein, Fräulein – ich weiß mir nicht zu helfen – mein Bruder Damian stirbt, wenn Sie uns nicht beispringen – mein Bruder ist wie todt, ganz wie todt, und Niemand von uns weiß, was wir beginnen sollen.“

„Damian – Ihr Bruder? Was ist denn geschehen?“

„Er ist schwer verwundet; sie haben sich geschlagen, und nun ist er wie todt, und die Mutter hat den Kopf verloren und steht da und wehklagt und jammert, und ich weiß nicht, was ich anfangen soll … und so bin ich zu Ihnen gestürzt – o, bitte, bitte, kommen Sie! Sie wissen uns gewiß einen Rath zu geben.“

Regine besann sich nicht einen Augenblick. Sie war freilich kein Arzt, nicht einmal das, was sie hier vorgestellt hatte, eine Krankenpflegerin – aber sie war die Tochter eines Arztes und war sicher eher im Stande, etwas Hülfreiches zu thun, als diese kopflosen Frauenzimmer. So folgte sie augenblicklich Dora, die vor ihr her eilte, in die Wohnung der Frau von Ramsfeld; im Wohnzimmer seiner Mutter lag Damian auf den Sopha, regungslos, die auf der Brust aufgerissenen Kleider mit Blut überströmt, das Haupt über der Lehne des Sophas zurückgesunken. Hinter ihm saß Frau von Ramsfeld mit thränenüberströmtem Gesicht, während Andreas daneben stand und dem Verwundeten die Stirn mit Kölnischem Wasser rieb – Frau von Ramsfeld schien wie gelähmt und nichts thun zu können, als zu jammern und zu schluchzen.

„O wie gut, daß Sie kommen – wie gut Sie sind!“ rief Frau von Ramsfeld beim Anblick Reginens. „Sagen Sie mir, ob er todt ist, sagen Sie es mir!“

Andreas sah mit einem mitleidigen Blick zu Reginen auf.

„Es ist nicht so arg,“ sagte er mit merkwürdiger Ruhe, „aber die gnädige Frau will mir nicht glauben. Es ist nur eine Ohnmacht, gewißlich nur eine tiefe Ohnmacht; er wird schon wieder zu sich kommen – der Athem wird schon stärker, merklich stärker –“

Regine nahm rasch Andreas das Kölnische Wasser und das Tuch ab, mit dem er dem Ohnmächtigen die Stirn wusch, und übernahm diese Hülfleistung selbst, um Andreas nach kaltem Wasser auszusenden; die Wunde, welche sich an der Schulter befand, blutete noch – das Blut mußte gestillt werden. Regine nahm sich eifrig des Verwundeten an, und als Andreas zurückkam, war Damian bereits wieder zur Besinnung gekommen und starrte mit irren Blicken um sich her.

„Es scheint, die jungen Herren haben sich geschlagen,“ nahm nun Andreas das Wort, „im Walde auf Pistolen geschlagen – wenigstens sagt Herr Edwin Klingholt so, der dabei wohl den Secundanten gemacht hat. Herr Edwin Klingholt hat ihn denn auch mit Mühe hergeschleppt; ich traute meinen Augen nicht, als ich, eben unten durch den Flur gehend, die Beiden herangeschlichen und herangewankt kommen sehe. Wie wir ihn dann erst hier oben hatten, und wie er nun erst hier im Zimmer auf das Sopha sank, überkam ihn die Ohnmacht; Herr Klingholt ist dann fortgestürzt, um seinen Bruder zu holen – der Herr Doctor [371] wird ja bald hier sein und uns sagen, was es mit der Verwundung auf sich hat.“

Regine gab Andreas den Rath, jetzt fortwährend nasse Tücher auf die Wunde zu legen. Dann sprach sie einige beruhigende Worte zu Frau von Ramsfeld, die endlich wieder zur Vernunft zu kommen schien und zu jammern aufhörte, und sagte ihr, daß sie weiter nichts zu thun und zu rathen wisse, daß der Doctor ja wohl bald da sein würde, um zu helfen; dann ging sie rasch wieder, in der Angst, Leonhard zu begegnen, der also jeden Augenblick hier eintreten konnte. Sie ging, um , wie sie sagte, dem alten Herrn zu berichten und seiner Spannung ein Ende zu machen.

Der schreckhafte Anblick des blutüberströmten Damian’s hatte sie heftig erschüttert. Halb Mitleiden, halb Empörung fühlte sie wider diese wüsten und dabei so thörichten Menschen. Es war offenbar, Damian hatte an Sergius den begangenen Verrath rächen wollen; sie waren sich mit Mordwaffen entgegengetreten – Alles nur in der Gier nach ihrem, nach Reginens Erbe, einem Erbe, das sie ja gar nicht wollte. Es war so verächtlich und doch so schrecklich! Dennoch dankte Regine fast dem Himmel dafür, daß diese häßliche Episode ihres Aufenthalts auf Dortenbach, wenn sie einmal eintreten sollte, gerade in diesem Augenblick eingetreten war, wo sie nahe daran gewesen, aus Rührung über ihres Oheims flehentliches Bitten und um des alten Mannes willen, der in ihrem Gehen ein solches Unglück für sich zu erblicken schien, ihrem festen Entschlusse untreu zu werden. Tief und stürmisch aufathmend, sagte sie sich: Nun ist’s genug. Was meine Eltern hier erlebt haben, das weiß ich ja – und nun habe auch ich genug erlebt in dem alten stolzen Hause meiner Väter. In diesem hochmüthig mit seinen Thürmen aufragenden wappengeschmückten Ahnenschloß! Welch Friedensasyl für seine Angehörigen es ist, welcher Geist der Eintracht an seinem Herde waltet, habe ich nun selbst gesehen. Freilich, Blut ist darin schon seit Jahren nicht mehr geflossen. Es wurde Zeit – es mußte einmal wieder fließen; fast könnte ich sagen um meinetwillen, damit das alte Schloß mir noch im rechten Augenblick zurufe, daß ich ihm fern bleiben solle, fern allen den Menschen, die mit ihm zusammenhängen und daher gekommen!

Daher gekommen! Daher gekommen war ja vor Jahren auch Leonhard. Sie hatte es anfangs nicht gewußt. Hätte sie es gewußt, vielleicht hätte sie dann eine innere Warnung empfunden wider diesen Mann und ihr Herz behütet. Aber sie hatte es erst erfahren aus seinem Munde, als es zu spät gewesen, als sie ihr Vertrauen, ihr Herz, ihr ganzes Seelenleben schon an ihn weggegeben hatte. Und nun war das Unglück geschehen, das fürchterliche Unglück; dieser wühlende, zur Verzweiflung treibende Schmerz in ihr mahnte sie, daß ein fortgegebenes Seelenleben sich nicht zurücknehmen läßt – das Gefühl beherrschte sie, daß es für immer an ihn fortgegeben blieb, an einen Mann, den sie doch hätte hassen, verabscheuen, tief, tief verachten müssen.

War es denn möglich – konnte ein Herz denn lieben, wo es nicht achtete? Half denn das Recht, das helle sonnenklare Recht, zu verurtheilen und zu verdammen, gegen eine solche verächtliche Liebe nicht? Selbst bei einem Wesen wie dem ihrigen nicht? Hatte sie doch immer ein starkes, ausgeprägtes Gefühl für das Recht empfunden; hatte er selbst sie doch oft neckend eine „rechtwinkelige Natur“ genannt! Es war so empörend, daß man sich selbst verachten könnte – – aber Regine riß sich gewaltsam von diesem Gedanken los, sie mußte ja eilen, dem Oheim ihr letztes Adieu zu sagen – auch das, fühlte sie, würde ihr trotz des Rechtes, das sie hatte, schwer und schmerzlich werden; auch an den schwachen, willenlosen alten Mann schon fühlte sie sich gebunden; auch für ihn schon empfand sie etwas von einer Liebe, welche sie neben ihm festhielt – aber sie mußte zu ihm hinüber, damit sie bei ihm nicht Leonhard begegnete, wenn dieser von Damian kommend zu ihm hinaufgehen würde.




13.

Als sie bei ihrem Onkel eintrat, fand sie diesen wie in einem Halbschlummer in seinem Sessel liegend. Er schlug müde sein mattes Auge zu ihr auf.

„Du kommst, Kind,“ sagte er, „mir zu melden, daß Damian’s Verwundung nicht so arg ist, wie sie aussah – nicht gefährlich – mir hat es schon Andreas hinterbracht, Gottlob … obwohl die Alteration für mich die gleiche bleibt – ich bin sehr, sehr angegriffen.“

„Ich bedauere es um so mehr,“ versetzte Regine, „als ich zu Ihrer Pflege nun nichts mehr beitragen kann, lieber Onkel. Aber Sie werden mir nicht zürnen, wenn ich nun gehe, werden mir glauben, wenn ich Ihnen sage: ich kann auf Dortenbach nicht bleiben, kann es nun einmal nach allem, was in mir ist, nicht; es ist in mir etwas Unwiderstehliches, was mich forttreibt.“

Der alte Herr seufzte tief auf.

„Ja, ja,“ sagte er matt, „ich glaube Dir. Weshalb sollte ich Dir nicht glauben, Kind, wenn Du so zu mir sprichst? Wenn Du bleiben könntest, es wäre so schön gewesen! Ich hätte Jemand neben mir gehabt, der mir gehörte, der mich liebte, mein Blut, fast meine Tochter. Ich habe nie Jemanden gehabt, der mir gehörte, nie. Als ich verheirathet war, gehörte ich einer Frau, die mich so lange glücklich machte, bis wir’s Beide nicht mehr ertrugen. Und nun finde ich eine Nichte, eine Tochter, ein schönes, liebes Geschöpf, das aber nur zu mir kommt, um mir zu sagen: Oheim, ich gehe wieder! Also Du gehst wieder und läßt den alten Onkel so einsam, so verlassen, wie er war. Du willst nicht bleiben, ihm seine wenigen letzten Tage zu verschönern? Du willst Dir nicht von ihm erzählen lassen, wie farblos trübe sein Leben dahinfloß? Nun ja, Du bist jung, und was geht’s Dich an! Du willst Dir auch nicht von ihm erzählen lassen von Deiner Mutter, von der armen Sabine, wie sie als Kind war, als heranwachsendes Mädchen – ach, sie war so reizend damals! – willst nicht hören, wie sie spielte und sich tummelte, wo sie ihren kleinen Garten angelegt hatte, wo ihr Pony im Stalle stand, und dann – aber Du willst es ja nicht, Du willst auch dem alten Onkel, wenn nun seine letzte Stunde kommt, nicht den Schweiß von der Stirn trocknen –“

„O, hören Sie auf, hören Sie auf,“ rief in Thränen ausbrechend Regine, „ich kann, ich kann ja nicht hier bleiben, wo … Gott ist mein Zeuge, daß ich es nicht kann.“

„Nein, nein,“ fiel der alte Mann, leise mit dem Kopfe nickend, ein, „Du kannst es nicht – Du hast Recht, o so Recht, daß Du gehst. Was solltest Du hier Deine schönen Tage vertrauern in diesem Hause des Unglücks unter hadernden Menschen? Dortenbach! Du hast Recht, daß Du nichts davon wissen willst. Ich wollte, mein Bruder wäre am Leben geblieben und ich nie an dieses Haus gefesselt worden. Dortenbach hat mir das Leben traurig verödet, trauriger als Du Dir ausdenken kannst … Geh, geh, und bleibe fest bei Deinem Willen, nie wieder mit Deiner unglückseligen Verwandtschaft zu schaffen haben zu wollen! Beim Himmel, könnte ich mit Dir gehen …“

„Mit mir gehen?“ fragte Regine, „mein Gott, welche Eingebung! Gewiß könnten Sie zu uns kommen, zu der Tante und mir in die Stadt – die sorgsamste Pflege würde Sie umgeben; die Tante ist so gut, und das Leben in der Stadt so erleichtert – aber Eins, Eins freilich …“

„Was stockst Du, Kind?“

Regine athmete schwer auf, ehe sie antworte:

„Es ist nur … daß Sie auf die Behandlung durch Leonhard Klingholt, als Ihren Arzt, verzichten müßten …“

„Verzichten? Weshalb? Er wohnt ja in Eurer Stadt?“

„Und dennoch … sehen Sie … ich muß es Ihnen gestehen … und warum sollte ich es nicht, warum sollte ich nicht ganz offen gegen Sie sein? … ich war Klingholt’s Braut … und Klingholt hat mich getäuscht … bitter, bitter getäuscht … ich habe hier sehen müssen, daß er nur um mich warb, weil er die Erbin von Dortenbach in mir sah.“

Der alte Herr sah sie höchst betroffen an.

„Klingholt war – er war Dein Bräutigam?“ fragte er, als ob er Mühe habe, sich in das Gehörte zu finden. Dann schüttelte er den schwankenden Kopf. „Und er hat Dich getäuscht? Darin irrst Du, Kind,“ sagte er. „Du irrst. Leonhard Klingholt? Nein, Leonhard Klingholt betrügt nicht.“

„Sind Sie dessen so sicher?“ antwortete Regine mit bitterem Lächeln. „Ich habe es aus seiner eigenen Mutter Munde, daß er sich mir genähert, mich aufgesucht hat, nur weil er wußte, wie nahe ich Ihnen stand … während ich nach gar nicht ahnte, daß er von hier, von Dortenbach gekommen.“

„Siehst Du darin ein Verbrechen? Wenn ein Mädchen entdeckt, daß ihr Bräutigam sie nicht blos ihrer Schönheit willen [372] liebt, sondern auch ihres Herzens willen nicht blos ihres guten Herzens willen, sondern auch ihres Geistes willen, nicht blos ihres Geistes willen, sondern auch ihres hohen Ranges, ihres stolzen Namens, ihres glänzenden Erbes willen – mein Gott, was thut das? Wenn er Dich nur liebt! Was thut’s dann.

„Aber das ist’s ja eben. er liebt mich nicht, weil er nur …“

„Ein Mann ist anderer Natur, als Ihr schönen Frauen,“ fuhr der alte Herr, ohne auf sie zu hören, fort. „Ihr Frauen wollt durchaus nur durch Euch, Euch allein beglücken … ich weiß, ich hab’ es erfahren, wie Ihr uns beglücken wollt; nur durch Euch selbst, durch Euer bloßes Dasein – der Mann soll daneben nicht eine Cigarre rauchen, nicht einen Blick in seine Bücher werfen, nicht sich hinter einen Becher Wein setzen dürfen, sondern nur sein Glück in Euch finden. Der Mann denkt anders, mein Kind; er denkt und fühlt anders; das ist seine Natur. Er legt nebenbei auch noch auf das Nichtätherische Werth. Er wählt nicht um des Erbes willen – das wäre gemein; er lügt Euch nicht Liebe, wo er nur den Mammon liebte aber wenn Ihr ihm nun einmal ein Erbe mitbringt, weshalb sollte er das verschmähen? Wenn Ihr den Mammon habt – weshalb soll er ihn von sich stoßen? Er muß in die Zukunft blicken; er hat die Sorgen – er wäre ein Narr, wenn er ihn verschmähte."

„O Gott, Oheim,“ unterbrach ihn Regine, „was hilft mir das Alles, wo ich doch weiß …“

„Was weißt Du, Kind? Du weißt nichts Schlechtes von Leonhard Klingholt.“

„Ich weiß, daß er nur mich aufgesucht, sich mir nur genähert hat – ich sagte es Ihnen ja.“

„Und ich glaube nicht daran; ich – aber da ist er ja – da ist der Angeklagte – wie Sie im rechten Augenblick kommen, Klingholt!"

Leonhard war eben erregt eingetreten. Er hatte bei der Verwundung Damian’s das Nöthige rasch gethan, und kam in der Sorge um seinen Patienten und die Folgen, welche für diesen die Aufregung haben konnte.

„Sind Sie wohl?“ fragte er zu ihm tretend, während Regine, nun es zu spät war, ihm auszuweichen, sich zwang, mit möglichster Ruhe aufzublicken und mit fester Stimme zu sagen:

„Adieu, Oheim, ich weiß Sie jetzt in besseren Händen als den meinen und gehe …“

„Nein, nein,“ rief der alte Herr erschrocken, „geh’ nicht – noch nicht! Ob ich wohl sei, Klingholt? Ich bin matt, Doctor, matt zum Sterben. Aber davon nachher! Ehe Sie den Arzt bei mir machen, muß ich ihn bei Ihnen machen – den Seelenarzt oder den Beichtvater, wenn Sie wollen. Sehen Sie, Regine – meine gute Nichte Regine hat mir Alles gestanden; in dem Augenblick, wo sie von mir gehen will, hat sie mich in ihr Herz blicken lassen – in ihr braves Herz, das so tapfer zu verachten weiß, worauf andere Menschen sich mit wilder Gier stürzen. Und Sie wissen das auch, nicht wahr, Klingholt, wenn es sein muß, wissen Sie es auch? Es war zwar nicht schön von Ihnen, daß Sie mir nicht die Wahrheit sagten, daß Sie meiner Schwester Kind als eine Fremde bei mir einführten. Aber um’s goldene Kalb tanzen … ah bah – lächerliche Vorstellung! Es ist nicht wahr, daß Sie Regine blos deshalb aufgesucht, blos deshalb um sie geworben haben, weil Sie wußten …“

„Nein, das ist nicht wahr,“ fiel mit dem Tone aufrichtigster Entrüstung Leonhard ein, „bei Gott nicht! Wer beschuldigt mich dessen? Es war der glücklichste Zufall meines Lebens, der mich die Bekanntschaft von Fräulein Regine Horstmar machen ließ …“

„Siehst Du, Kind, siehst Du, daß Du ihm Unrecht thatest!“ rief der alte Herr freudig aus. „Du wirst an seinem Wort nicht zweifeln."

„Nein,“ sagte nach einer Pause Regine bewegt. „Ich zweifle an seinem Worte nicht. Es wäre zu abscheulich … nein, nein, ich zweifle nicht! Aber …"


(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen



Das Geheimnis der hölzernen Musikinstrumente und ihres Baues schien jahrhundertelang völlig verloren. Kein Virtuos, der etwas an sich wagen konnte, wollte seinen Genius an einem neuen Instrumente erlahmen lassen und strebte zunächst nach einer Geige, der schon ein anderer berühmter Meister einen seelenvollen Ton eingehaucht hatte, gleich als werde das todte Holz von oftmaligen Hören selber musikalisch und lasse sich einüben wie die Hand oder die Kehlen. Andere munkelten, daß es ein Geheimniß in der Construction gäbe, welches die neueren Geigenbauer nicht kannten und welches am Ende gar, wie die Virtuosität Paganini’s, ursprünglich einem Teufelsbündniß entsprossen wäre. Im Besonderen bezahlte man ungeheure Preise für die Violinen von Amati, Stradivarius, Rainer und anderen Künstlern, weil Sie ihrer leichten Ansprache und ihres unnachahmlichen Wohlklanges wegen ganz unerreicht dastünden. Die neuere Wissenschaft, die in alle geheimen Dinge ihre Nase steckt, hat indessen gefunden, daß es nur auf ein vollkommenes Austrocknen der Holzfasern und eine möglichste Befreiung derselben von allen harzigen, öligen und sonst die Zwischenräume der Fasern verkittenden natürlichen Bestandtheilen des Holzes ankommt, um ihnen das höchste Vermögen der Mitschwingung oder Resonanz zu verleihen.

Wenn diese Lockerung des inneren Gefüges der oxydirenden Wirkung der Luft allein überlassen wird, so können bei aus frischem Holze verfertigten Geigen, Cellos und Bässen wohl an die fünfzig bis hundert Jahre vergehen, bis die höchste Klangfähigkeit des Holzes erreicht worden, ein Umstand, den der berühmte Geigenbauer Stradivarius in Cremona wohl gekannt zu haben scheint; denn man erzählt, daß er das Holz alter Kirchenstühle, Stützpfeiler und dergleichen für seine Fabrikate angekauft habe. In neuerer Zeit ist man indessen darauf gekommen, das Holz einem künstlichen Alterungsprocesse zu unterwerfen, und der Erste, der ein solches Verfahren vor sechs bis sieben Jahren angewandt hat, scheint ein Professor Tuzzi gewesen zu sein, dessen Fabrikate durch das Centralmusikmagazin von F. Hamma und Comp. in Stuttgart zu beziehen waren. Sein Verfahren ist, soviel bekannt, nicht der Oeffentlichkeit übergeben worden und soll in einer Behandlung des Holzes mit überhitzten Dämpfen bestehen. Ein anderes höchst erfolgreiches Verfahren, welches auf einer rationellen Beschleunigung des natürlichen Vorganges beruht, hat im vergangenen Jahre der Pianofortefabrikant E. René in Stettin patentirt erhalten und bekannt gemacht.

Was sonst der Sauerstoff der atmosphärischen Luft im Laufe langer Jahre vollbringt, wird hier im Verlaufe eines halben oder ganzen Tages durch die Einwirkung reinen ozonisirten Sauerstoffes auf das erwärmte Holz hervorgebracht. Die Holzbretter werden zu diesem Zwecke in einen großen eisernen Kessel gelegt, in welchem sie, ohne sich zu berühren, über einander so liegen, daß die Gase ihre gesammte Oberfläche frei umspülen. In diesem Kessel setzt man sie zunächst zwölf Stunden lang der Einwirkung heißer Luft aus, um die Feuchtigkeit aus ihnen zu entfernen; dann wird der Kessel verschlossen, nochmals durch die darunter befindliche Feuerungsanlage erwärmt und die Luft ausgepumpt. Hierauf wird der Kessel mit Sauerstoff gefüllt, der durch elektrische Funken ozonisirt wird: diese Funken springen in beständiger Folge zwischen zwei Platinspitzen über, welche die Endpole zweier durch Glasrohren in den Kessel geleiteten Drähte bilden. Der so erzeugte ozonisirte Sauerstoff wirkt so energisch auf das erwärmte Holz ein, daß er die Störenden Harz-, Oel- oder sonstigen Bestandtheile in zwölf bis vierundzwanzig Stunden, statt in ebenso vielen Jahrzehnten verzehrt.

Es leuchtet ein, daß mit dieser Erfindung ein ganz bedeutender Fortschritt im Bau der Musikinstrumente erzielt wurde, und daß man auf diese Weise nicht nur vorzügliche Streichinstrumente, sondern besonders auch ausgezeichnete Pianofortes herstellen kann.





Die Märchenerzählerin (Abbildung S. 361). Wir geben heute unseren Lesern das fünfte Bild von dem Münchener Künstler Julius Adam (nicht zu verwechseln mit dem bekannten Lithographen dieses Namens, der 1874 gestorben ist). Im Jahrgang 1875 brachten wir seine „Münchener Charakterköpfe“ und „Musikalische Studienköpfe“, im Jahrgang 1877 „Zillerthaler und Zillerthalerin“. Vier Jahre später (Jahrgang 1881) überraschte er uns mit seinem prächtigen „Pfingstreigen“, in welchem er uns das an Freuden so reiche Frühlingsvolksleben in Flur und Wald zeigt, zu welchem die Zeitgenossen Faust’s „aus der Gassen quetschender Enge“ herausströmen. Auch unser heutiges Bild führt uns zu einer Frühlingsfestfreude, nur daß nicht ein Stück Volk, sondern ein Stück Familie daran Theil nimmt. Die Großmutter hat sich ihren Ruhesessel in den Garten hinterm Hause tragen lassen, und da sitzt sie nun, von den Enkeln und anderen Kindern umringt, und erzählt. Die Großmutter erzählt! Das ist die Seligkeit der kleinen Herzen. Die Großmutter mag erzählen was sie will, es ist Alles herrlich – die Großmutter erzählt’s ja. Es muß etwas Gruseliges sein, das sie eben ausmalt; denn die Gesichter der gespannt Horchenden werden so ernsthaft. Nur das Mädel auf der Schwester Arm, der Bub’ im Korbwagen und der Spitz im Grase machen sich nichts daraus und freuen sich auf eigene Faust. Dem Bilde schadet das aber durchaus nichts, wie wir sehen.




Kleiner Briefkasten


Langjährige Abonnentin in Oldenburg. Es freut uns, Ihnen erwidern zu können, daß E. Marlitt eine Erzählung unter der Feder hat. Wurde übrigens bereits in unserer Quartalsanzeige (Nr. 13) mitgetheilt.

Schifkorn, Ungarlied. Lied des Esikos. Gedicht von J. N. Vogl, der ungarische Text von B. Kováts, Musik von Heinrich Proch. Op. 37. Bei Ant. Diabelli u. Comp., Graben, Wien.

Franz S. in Triest. Natürlich. Kaufmannes! Die Apposition hat die Flexion.

T. E. 1862 in Straßburg. Ihr Manuscript ist unter der angegebenen unvollständigen Adresse unbestellbar. Geben Sie gefälligst an, ob Sie es nach Straßburg im Elsaß oder nach welchem Straßburg sonst dirigirt haben wollen!

Neustadt a. d. H. Brodneid!


  1. Langeleike – ein im Norden gebräuchliches citherartiges Instrument.