Die Gartenlaube (1881)/Heft 48
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No. 48. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
(Fortsetzung.)
Der folgende Tag war ein Sonntag.
Curt war frühzeitig von Demmin aufgebrochen. Vor ihm lagen verschiedene Einkäufe, in Kisten verpackt oder umwickelt und verschnürt; dazu sein Reisekoffer. Er selbst hatte sich der Morgenkühle halber in ein gewürfeltes Plaid gehüllt und eine Reisedecke um die Füße geschlagen.
Inzwischen war die Sonne höher gestiegen; der gefallene Nebel glitzerte als Thau auf den dürren Blättern am Boden, der welkenden Grasnarbe, dem Gespinnst zwischen den Stoppeln – ein echter Herbstmorgen! Hoch oben kreisten zwei Bussarde, die Curt mit den Augen verfolgte. Er hatte die angenehmsten Empfindungen, etwa wie Einer, der mehrere Jahre auf Reisen im Auslande zugebracht und nur noch zwei Stunden von der Heimath entfernt ist. Zuweilen fielen ihm auch merkwürdige Gedanken ein, in diesem Augenblick zum Beispiel der: was wohl Cousine Lebzow heute für Toilette gemacht haben möchte? Es war ja Sonntag, und ein junges Mädchen ist in jedem anderen Kleide eine Andere, auch in jeder anderen Umgebung eine Andere. Die Einen sind nur hübsch im Salon, in Prunk, in künstlicher Beleuchtung, Andere im Freien, im Hauskleide, am hellen Tage. Wieder Andere sind immer hübsch; sie erhalten nur in jeder Lage und jeder veränderten Attrape einen neuen Reiz.
Bisher hatte er sich freilich nicht für diese Thatsache interessirt; sie fiel ihm nur eben als eine gelegentlich gemachte Beobachtung ein. Große Toilette vertrug Cousine Lebzow wohl eigentlich nicht; vielleicht bei Lampenlicht, das ihre Farben milderte. Leonore von Pannewitz sah gewiß in Sammet und Schleppe am besten aus. Hedwig war wieder zarter gegliedert als Anne-Marie, aber viel unbedeutender, bei aller Lebhaftigkeit und selbst einem leisen pikanten Reiz; sie brauchte duftige Kleidung, Spitzen, feingekrausten Besatz. Für Anne-Marie waren einfache Wirkungen das Beste – nichts Majestätisches, nichts Allzulebendiges, große Farbenflächen, Weiß mit Schwanbesatz zum Beispiel, Blau, aber ganz hell oder ganz dunkel, auch Prüne –
Die Glocken läuteten vor Curt; er sah empor und zog die Uhr; sie zeigte auf Neun.
„Ist das Langsdorf, Jochen?“
„Jawohl, Herr; sie läuten zur Kirche.“
„So fahren wir über Langsdorf.“
Wie, wenn er in die Kirche ginge und nachher gleich dem Pastor einen Besuch machte? Vielleicht waren auch die Pelchower in der Kirche, das heißt der Baron und Anne-Marie von Lebzow. Jochen bog vom Wege ab, und sie näherten sich rasch dem Orte.
„Geht mein Onkel oft zur Kirche?“
„O ja, Herr; wenn das Wetter gut war, sind wir immer hingefahren. Dann bleiben sie wohl noch eine Stunde bei Pastors.“
Aber – der Tausend! Sie hatten ja keinen Wagen, und zu Fuß sind es immerhin anderthalb Stunden bis Langsdorf.
„Giebt es keinen Herrschaftswagen in Pelchow als diesen?“
„Nein, Herr. Die Art ist dem alten Herrn Baron am liebsten; denn er läßt sich gern durchschütteln. Wenn er viel gegessen hat, dann legt er sich lang auf eine Matratze, die mit Häcksel ausgestopft ist, und dann muß ich auf den schlechtesten Wegen fahren. Das hat er gern.“
„Ich weiß schon; Herr von Pannewitz hat ihm neulich die Matratze aufgeschnitten.“
„Ja wohl, Herr!“
Hm! Da war es freilich nicht anzunehmen, daß man heute die Kirche aufgesucht hatte. Der Wagen hier mußte übrigens dem Baron verbleiben und die Pferde dazu. Curt wollte sich einen hübschen Einspänner anschaffen. Es wäre grausam gewesen, dem Onkel das gewohnte Fuhrwerk vor der Nase wegzunehmen. Und im Grunde war es doch ein Marterkarren. Auch sein Reitpferd sollte dem alten Herrn verbleiben. Sie fuhren durch neugierige Kirchgänger.
„Das ist er. Das ist der neue Pelchower.“
An der Kirchmauer stand ein Leiterwagen; hinten, durch den Schutz gehalten, vier ausgestopfte Säcke, zu zweien auf und neben einander placirt, und darüber eine Pferdedecke gebreitet.
„Herr, das ist Pelchower Fuhrwerk,“ sagte Jochen, „unsere Herrschaft ist in der Kirche.“
Curt hatte eine Empfindung, als durchzittere ihn die Meldung seines Kutschers wie eine Depesche einen Draht.
„Und sie bleiben gewöhnlich nach dem Gottesdienste bei Pastors?“
„Ja, Herr!“
„So halten wir an. Ich werde in die Kirche und nach dem Gottesdienst zu Pastors gehen, und wir werden dann erst weiter fahren.“
Jochen hielt an; Curt sprang vom Wagen und betrat den Kirchhof. Welke Kastanienblätter wehten um ihn von halb kahlen Bäumen zur Erde nieder. Er kannte diese kleinen Kirchen der Gegend; sie waren so ziemlich alle nach derselben Schablone gebaut. So suchte er sich den Eingang zur Empore und stieg hinauf. Die
[794] Orgel spielte; man sang. Als er oben erschien, war die Andacht gestört, so weit man ihn sehen konnte. Vom Chor her stürzte ein hagerer Schulmeister auf ihn zu: Mederow, von dem er einen Augenblick beinahe nur die Stelle des Rückens erblickte, wo das Kreuz sich bog.
„Der gnädige Herr weiß natürlich hier noch nicht Bescheid; ich erlaube mir unterthänigst, Sie zu dem Pelchower Herrnstuhl zu fuhren“
Curt wies ihn kühl ab:
„Ich werde hier oben einen leeren Platz benutzen.“
Der Schulmeister entfernte sich mit sorgenvollem Gesicht. Diese Abweisung dünkte ihm ein böses Omen.
Curt saß ruhig. Er warf nur einen flüchtigen Blick nach der Kanzel, als der Geistliche erschien: ein hochgewachsener Mann in mittleren Jahren mit blondem Lockenkopf, verständig aussehend. Es war ein Mißgriff, daß er diesen Platz gewählt hatte; das herrschaftliche Chor war auf der nämlichen Seite. Der Gottesdienst fesselte ihn nicht. Er überlegte seine Einrichtung. Wie würde es mit dem Eßsaal werden? Wenn Onkel sich beschwichtigen und gewinnen ließ, dann war alles gut. Sie aßen dann zusammen und lebten ganz gemüthlich. Warum sollte der alte Herr so hartnäckig sein? Nur ein paar Wochen Gewöhnung.
„Amen!“ sagte der Pastor. Man rührte sich in der Kirche, und in Kurzem durfte Curt hinausgehen. Die Gemeinde sang noch, als er sich bereits auf dem Kirchhofe befand. Es gehörte wirklich Muth dazu, hier auf- und abzugehen und den grimmigen Onkel und die grollende Cousine Lebzow zu erwarten; nein – nur eine gleichmütige Cousine. Er setzte den Zwicker auf.
Erst kamen Leute, die ihn anstarrten und weitergingen, dann Kinder, die ihn anstarrten und nur bei Seite traten. Endlich erschien Anne-Marie, hinter ihr der Geistliche, der Baron und ein anderer Herr, vermuthlich der Besitzer des Langsdorfer Gutes, ein junger Mann noch. Die Blicke der Kinder lenkten Anne-Marie’s Augen zur Seite, und sie glaubte, sie müsse in die Kniee sinken, als sie Curt erblickte. Aber sie verneigte sich blos steif und flüsterte dem Onkel etwas zu. Es war zum Verzweifeln, wie diese Kriegsstellung sie nervös machte, sie, eine Natur für Frieden und Sonnenschein. Sie mußte eine Rolle spielen, zu der sie durchaus nicht paßte, und das war qualvoll. Aber sie mußte – das stand außer Zweifel; es war das einzige Mittel, um ihre Würde zu behaupten.
Der alte Baron hatte kaum den Neffen erblickt, als er ein Gesicht schnitt, wie wenn er in eine unreife Pflaume gebissen.
„Na Adschüs, Herr Pastor! Adschüs, Kapnist! Ich hab’ eilig.“
„Wollen Sie mir nicht die Ehre schenken –“
„Anne-Marie, sag’ dem Herrn Pastor Adschüs –“
Anne-Marie bestellte hastig einen Gruß an die Frau Pastorin, und sie käme in der Woche einmal herüber – der Alte war schon bei dem Kirchhofthore. Sie trug wirklich ein grünfarbenes Kleid, aber Curt sah es nicht, Er zog finster die Brauen zusammen, biß sich auf die Lippen und wollte mit dem Fuße aufstampfen – da fielen die verwundert Umschau haltenden Blicke der Herren auf ihn; er mußte näher treten.
„Ich bin das Gespenst, welches Ihnen heute Ihren Sonntagsbesuch vertreibt, Herr Pastor,“ sagte er, gezwungen auflachend. „Ich heiße Curt von Boddin und werde Pelchow administriren.“
„Ach, sehr angenehm; mein Name ist Pastor Zehmen – Herr von Kapnist, mein Herr Patron – – aber sagen Sie, was war das, Herr von Boddin? Ihr lieber Onkel –“
„Ich will Ihnen kurz das Räthsel lösen; ich bin der Störenfried der Idylle mit der Ueberschrift ‚Pelchower Zustände‘ und stehe bei meinem Herrn Onkel wie bei meiner liebenswürdigen Cousine in allerhöchster Ungnade.“ Nun berichtete er von der Veranlassung seines Hierseins und dem Einfalle, die Vorüberfahrt zu einem kurzen Besuche im Pfarrhause zu benutzen.
Und er mußte richtig mit in’s Pfarrhaus und die Frau Pastorin kennen lernen; er mußte auch Herrn von Kapnist, der ihm sehr gefiel, versprechen, ihn zu besuchen. Er konnte sogar nicht umhin, Pflaumenkuchen zu essen und Bordeaux zu trinken von der Firma Schultz, die einen Verwandten in der Nachbarschaft hatte, und außerdem sich trösten zu lassen: der Groll des Barons werde, wie gewöhnlich, bald verrauchen, und was Anne-Marie von Lebzow bestreffe, das sei ein so reizendes Geschöpf, daß er wohl zu schwarz sehe, wenn er sie für seine Gegnerin halte.
Er konnte doch nicht eingestehen, daß er sie mit beiden Armen von der Kleebrache getragen und wie einen erziehungsbedürftigen Backfisch gescholten habe!
Der Boden brannte ihm unter den Füßen; er hatte den Leiterwagen vor Augen, in dem die Beiden fuhren – mitten im Gespräch brach er ab, sprang auf und verabschiedete sich. Er war die Dankbarkeit selber; er versprach, was man von ihm haben wollte, aber plötzlich befand er sich draußen und auf dem Wege zum Kirchhofe, wo Jochen hielt.
Als der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, machte Curt sich selbst die bittersten Vorwürfe. Weshalb war er auch so sorglos nachlässig, so – täppisch ungezogen in die neuen Verhältnisse eingetreten! Alles hatte er beleidigt, den Onkel zwar nicht direct aber gewiß hatte Cousine Lebzow demselben erzählt, wie er ihn beurteilte, wie er ihn zu behandeln gedachte. Er hätte sich sachlicher einführen sollen, auch pietätvoller. Schließlich war der Onkel zwar ein verdrehtes Original, ein Verschwender, aber doch sein Verwandter und ein älter Mann. Und die Cousine? Nun –
Es geschah ihm recht, daß er vor offener Feindschaft stand. Allein jetzt die Hand bieten? Um Vergebung bitten? Brr! Er war so starrköpfig wie irgend ein Boddin. Vielleicht fand sich später ein gefälliger Nachbar, der die Sache „arrangirte“, am Ende der Pastor. Eine Weile mußte er die Lage schon nehmen, wie sie war, und sie war fast unerträglich.
Er fuhr durch den Wald und weiter, den wohlbekannten Weg. Erst als er auf dem Hofe war, fiel ihm ein: ob er wohl ein Mittagsessen bekommen würde? Aber er bekam zu essen.
Das gnädige Fräulein hätte gesagt, daß er kommen würde, wenn er nicht etwa bei Pastors bliebe – erklärte Dürten Schoritz.
Das gab ihm plötzlich bessere Laune: man will den Feind wenigstens nicht aushungern, dachte er heiter.
Nach Tische schrieb er. Zuerst nach Teterow: man möge ihm einen leichten Kutschwagen und zwei hübsche Pferde besorgen, auch sein Reitpferd schicken, und zwar möglichst bald. Dann einen kurzen Brief an den Onkel: er überlasse ihm Reitpferd, Kutschpferde nebst Wagen und Jochen dazu für seinen ausschließlichen Gebrauch.
„Schafskopf! Das ist mein Recht!“ sagte der Alte, als er das Schriftstück gelesen, das Dürten ihm überbracht. Er zerriß es – und zündete mit der gefalteten Hälfte seine Pfeife an.
Dann ging Curt zum Radmacher, um die Herrichtung der Zimmer mit ihm zu besprechen. Die Dielen wollte der Radmacher schon legen und streichen; auch tapeziren wollte er, wenn er Tapeten bekäme, Die hatte nun Curt bereits in Demmin ausgesucht. Auch der Maurer stünde zur Verfügung, und man könnte bald anfangen; nur müßten dann erst in den Ställen Bettverschläge hergerichtet sein für die Knechte; das halte sehr auf. Die Mägde müßten doch wohl auf den Boden hinauf; da sei aber zuvor Dachausbesserung und neue Dielung nöthig. Er thue, da der Winter so nahe vor der Thür stehe, am besten, einen Baumeister zu rascher Herstellung zu verpflichten Er solle an Neumayer in Demmin schreiben und ihn kommen lassen Und nun – so und so stünde es in Pelchow um die Arbeiterfrage,
Curt hörte mit wachsender Aufregung zu, Er war bleich geworden und die grünen Handschuhe spielten krampfhaft mit dem Kneifer, den sie hielten
„Da hat man mir ja eine schöne Suppe eingebrockt,“ sagte er. „Aber die Komödie kann unmöglich lange dauern.“
„Das ist recht,“ rief der Radmacher erfreut, „daß Sie die Sache so ruhig ausnehmen, Herr! Lassen Sie unsern alten Herrn nur! Er kann das nicht ausführen; dazu hat er ja das Geld nicht. Sie kommen Ihnen schon wieder: und andere Leute kriegen, ist schwer.“
Curt kaute an seinem Bärtchen
„Sie kennen die Verhältnisse hier, Radmacher; fertigen Sie mir eine Liste der arbeitsfähigen Leute an, auf welche ich mich verlassen darf, und eine zweite mit den Namen der Renitenten! Ich muß erst genau wissen, wie ich dran bin, Wo wohnt der Statthalter?“
„Das will ich Ihnen zeigen, Herr, und die Listen sollen Sie auch haben.“
Er band sein Schurzfell ab, Draußen stand die Radmacherin und knixte. Sie hatte Jehann auf dem Arme, der heute sauber aussah, und Curt streifte mit dem Finger die Wange des Jungen.
„Das ist Fräulein von Lebzow’s Pathenkind,“ sagte die Radmacherin [795] mit Mutterstolz. „Sie kommt oft und besieht ihn sich, wie er gewachsen ist.“
„So?“ meinte Curt aufmerksam und blieb stehen. „Meine Cousine ist öfter bei Ihnen?“
„Ja, junger Herr; ich bin mit ihr hierher gezogen. Ich habe sie als Kind immer abgewartet.“
Diese Frau erschien Curt plötzlich sehr merkwürdig, und er nickte ihr lächelnd zu, als er mit dem Radmacher ging.
Der Statthalter war zu Hause. Er solle noch heute Abend alle Gutsangehörigen in der Knechtestube versammeln. Um sechs Uhr werde Curt dort erscheinen.
Curt von Boddin behandelte den Mann kurz, aber nicht unfreundlich. Dann verabschiedete er den Radmacher, ging nach Hause und nahm die Acten vor. Seine Stimmung war bereits so umgeschlagen, daß er den ganzen Streich, den ihm der Onkel gespielt, von der humoristischen Seite nahm. Als er die sauberen Aufschriften bemerkte, lächelte er fast glücklich. „Das hat sicher Anne-Marie von Lebzow geschrieben,“ dachte er, „eine klare, feste und zugleich anmuthige, ein wenig kindliche Hand.“ Wie zierlich und accurat das alles geordnet war, und wie anständig! Sie könnte einem Manne tüchtig an die Hand gehen. Hauswesen, Milchwirtschaft, Federvieh – das gab eine Perspective.
Er richtete sich auf dem großen Eßtische ein, machte Auszüge und Notizen und stellte zusammen. Aber hier war wohl alles unvollständig. Er hatte eine tüchtige Arbeit vor sich, wenn er über die gesammte Lage der Verhältnisse klar werden wollte. Das Schlimmste war, daß keine Karte des Gutes vorlag. Er schrieb sofort an einen bekannten Feldmesser; eine flüchtige Skizze des Terrains wollte er selber morgen herzustellen anfangen, aber bevor das nicht gethan war, hingen auch die genaueste Angaben des Statthalters für ihn in der Luft. Er schrieb auch an den Demminer Baumeister.
Als er, von dem Geräusch im Hause aufmerksam gemacht, die Uhr zog, war es schon über sechs. Er fand die Leute versammelt, bezeichnete ihnen kurz seine Stellung und nahm sie auf Handschlag in Pflicht. Sein kurzes, festes, ruhiges Wesen schien diesmal zu imponiren; er war nun schon der „Herr“, und man betrachtete ihn mit anderen Augen.
Sie mußten warten, während er den Statthalter mit in die Eßstube nahm, die er nun doch vorläufig bewohnen mußte. Er ließ die Leute einzeln kommen und notirte die Viehbestände, die Vorräthe an Scheunen und Futterställen. Morgen wollte er revidiren; es sollte nicht eher ausgetrieben, eingefahren, gearbeitet werden. Als er sich spät niederlegte, war er herzlich müde. Was den Leuten auffiel, war, daß er von der Arbeitseinstellung schwieg.
„Das wird wohl morgen kommen.“
Aber es kam nicht. Die Revision ging vor sich, mit einer scharfen Lection über Reinhaltung der Ställe. Die Hauptsache war hier freilich eine gründliche Reparatur; der Baumeister von Demmin bekam in Curt’s Notizbuch immer mehr Arbeit. Dann mußte der Statthalter die Feldarbeit fortsetzen, einstweilen nach seinem Ermessen und „mit allen irgend verfügbaren Kräften“.
Das war ein Wink, welcher außer Zweifel ließ, daß der „junge Herr“, wie Curt fortan hieß, um das Geschehene wußte.
Zum Glück blieb das Wetter für die nächsten Tage beständig. Am Tag zeichnete Curt; am Abend revidirte er die Aufnahmen mit dem Statthalter, welcher schlau genug war, sich für alle Fälle auch nach dieser Seite hin seine Stellung zu sichern. Curt durchschaute ihn, sah aber, daß er brauchbar war; vor allem war sein guter Wille im Augenblick unentbehrlich. Inzwischen kam der Baumeister; Curt mußte ihn wohl oder übel für eine Nacht in seinem Zimmer einlogiren. Nach wenig Tagen erschienen Leute von Demmin, welche Bretter, Balken, Ziegel und sonstiges Erforderliche brachte. Die Knechte waren umquartiert; die Baucompagnie nistete sich an ihrer Stelle ein.
In dieser Zeit bekam Curt den Baron und Anne-Marie selten zu Gesicht; er war auch so überhastet und überlastet, daß er nicht viel Empfindung für sie übrig hatte. Uebrigens wichen ihm beide nach Möglichkeit aus. Der alte Herr wechselte in seiner Laune; bald war er vergnügt, wenn er an „seine“ Arbeiter dachte, bald wüthend, daß man so gewaltthätig in seinem Eigenthum schaltete. Anne-Macke ging still herum und fühlte sich sehr unglücklich. Manchmal, wenn sie im Garten bei der Arbeit saß, passirte es wohl, daß sie nachdenklich lange in das herbstliche Land hinaus sah und daß sich ihre Augen dann plötzlich mit Thränen füllten. Beim Radmacher horchte sie eifrig, wenn dieser von Curt’s Plänen erzählte und von dem Geschick, mit dem er die Dinge angriff. Der kluge Mann merkte bald, wie gern er gehört wurde.
„Schlag doch mal auf den Busch!“ meinte die Radmacherin einmal zu ihrem Manne.
„Nicht stören, sagte der Hahn, als er Eier legen wollte,“ war die schelmische Antwort.
Am Ende der Woche kamen zwei Abgesandte seiner Arbeiter zum Baron.
„Wir müssen nun was Tagelohn ausbezahlt kriegen, Herr,“ sagten sie. „Wir haben uns das auf’s Aeußerste berechnet: mit fünfzig Thaler die Woche kommen wir aus.“
„Sollt Ihr haben, Kinnings,“ nickte der alte Herr und ging zum Schreibsecretär. Plötzlich aber besann er sich. „Nein, das gehört ja meinem Anne-Marieken. Das ist nicht mein.“ Und dann fuhr er laut fort: „Kommt mal auf den Abend wieder!“
Als sie am Abend wiederkamen, überreichte er ihnen fünfzig Anweisungen auf seine Person, je zu einem Thaler. Anne-Marie hatte sie schreiben und siegeln müssen; er hatte sie unterzeichnet.
„Das ist Papiergeld, so gut wie die Thalerscheine. Ich will mich jetzt nicht ausgeben. Daß ich das harte Geld habe, das sollt Ihr sehen. Kukt mal her!“
Er ließ die Leute in die Casse blicken, welche Anne-Marie’s zweihundert Thaler barg.
„Wenn mir Einer das Geld in acht Tagen bringt, Lüchting oder wer das sonst thut, kriegt er jeden Thaler baar ausbezahlt.“ Lüchting hieß der Krämer und Schenkwirth des Ortes.
Die Leute waren etwas verdutzt, gingen aber, und der Krämer nahm das Geld auf ihre Erzählung hin und berechnete nur etliche Procente mehr Aufschlug auf die Waare. Dem alten Herrn aber war ein paar Stunden schwül; er rauchte viel und griff sich oft in die Haare.
„Ich muß mal sehen, wo ich Geld her kriege.“
Am nächsten Tage dachte er nicht mehr darum aber als der Zahlungstermin näher rückte, erinnerte ihn Anne-Marie.
„Die Kerls faullenzen aber dafür, „murrte er ganz zornig. „Morgen müssen sie mir nachexerciren, daß sie doch was thun.“
„Wenn Du nur mit ihnen etwas verdienen könntest, Onkel. Vielleicht könntest Du selber sie an Vetter Curt vermieten.“
„Ich werde ihm was Anderes thun!“ rief er ganz aufgebracht, sodaß Anne-Marie erschrak. So hatte er seit lange nicht zu ihr gesprochen. Er merkte den Eindruck und streichelte und besänftigte sie sofort. Und der angeregte Gedanke ging ihm im Kopfe herum. – – –
Am folgenden Tage in den Nachmittagsstunden fuhr die Branitzer Kutsche die Landstraße am Walde entlang. Herr von Pannewitz saß darin, und was ihn nach Pelchow führte, war die Neugier, zu wissen, wie die Verhältnisse sich dort gestaltet hatten; denn weder Jemand von der alten Bewohnerschaft, noch Curt hatten sich seither in Branitz blicken lassen. Nur ganz verworrene Gerüchte von der Pelchower „Revolution“ waren unter den Branitzer Leuten verbreitet.
Bei einer Waldecke horchte Herr von Pannewitz auf.
„Was Teufel, ist das nicht der Baron Boddin?“ fragte er zum Kutscher hinauf.
„Das ist wohl seine Stimme, Herr!“ war die Antwort.
„Ganze Compagnie – kehrt!“ erscholl es jenseits der Ecke.
Als der Wagen um die Büsche kam, bot sich dem Auge des Herrn von Pannewitz ein erstaunlicher Anblick dar. Der alte Baron saß auf seinem Pferde, wie gewöhnlich im grünen Rocke, in Lederhosen und Stulpstiefeln, die Jockeymütze auf dem Kopf. Dazu holte er aber einen Reitersäbel umgeschnallt, dessen Klinge er in der Hand hielt. Hinter ihm marschirten ein paar Dutzend Männer und Weiber, Heugabeln, Aexte, Harken, Sensen und anderes Gerät schulternd, zu drei und drei hinter einander. Die Gesellschaft kehrte dem Wagen den Rücken zu: sie war im Abmarsch begriffen.
Herr von Pannewitz brach in ein schallendes Gelächter aus. Sofort wandten sich die Köpfe zu ihm herum – lachende Gesichter. Auch der alte Baron.
„Ganze Compagnie – halt!“ rief es aus dem Wagen, der rasch bei der seltsamen Truppe anlangte. „Was ist denn das, Boddin?“
Der Alte saß seelenvergnügt auf seinem Rappen.
„Wir arbeiten spazieren, Fritz,“ sagte er.
[796] „Ja, was bedeutet denn das? Wollt Ihr Pelchow erobern?“
„Das bedeutet, daß dies hier meine Arbeiter sind; über die hat die Pogge aus Teterow nichts zu commandiren. Und weil wir nun weiter nichts zu thun haben, betreiben wir hier unsern Spaß – wir wollen mal ein Hoch auf Fritz Pannewitz aus Branitz ausbringen, Leute.“
„Der Heer von Pannewitz soll leben – hoch! hoch! hoch!“
„Na, das ist ein Leben wie auf dem Kirschbaume,“ sagte Herr von Pannewitz. „Das ist mal wieder ’n richtiges Stück von Dir, Franz. Aber sag’ mal – –!“
„Wenn ich nach Hause komme, Pannewitz; jetzt habe ich keine Zeit dazu. Fahr’ nur ab jetzt!“
Herr von Pannewitz lachte bis auf den Hof von Pelchow. Dort suchte er sofort Curt auf, welcher eben mit dem Feldmesser conferirte: er sollte im Herbst wenigstens noch so viel wie möglich vermessen, während er die Arbeit lieber auf das nächste Frühjahr verschoben hätte. Mit erneutem Ausbruch von Heiterkeit trat der Branitzer ein und sprudelte sein Erlebniß heraus, für das er eine Erklärung verlangte. Der erstaunte Curt gab ihm einen Wink; nachher stehe er mit der gewünschten Aufklärung zu Diensten; erst wolle er aber den Feldmesser abfertigen, der heute noch zurückfahre. Der Mann gab denn endlich, da Curt auf seinem Willen bestand, nach, und dieser reichte ihm nun die Hand.
Dann führte er Herrn von Pannewitz in den Garten und erzählte von den seltsamen Zuständen, welche jetzt hier herrschten.
„Wenn man Ihnen nur helfen könnte!“ warf Herr von Pannewitz hin. „Manches grenzt ja an meine Felder, aber wenn ich da auch eingreifen wollte, viel würde es Ihnen nicht nützen, und Ihr Onkel ist mir ein zu langjähriger Freund, als daß ich ihn direct vor den Kopf stoßen möchte.“
Curt von Boddin hielt plötzlich an.
„Ich habe eine Idee, welche vielleicht einen Ausweg bietet. Wenn meine Nachbarn mir das, was an den Grenzgebieten noch steht, zu ermäßigten Preisen abkauften mit der Verpflichtung, es selbst zu ernten? Vielleicht auch das Getreide in Diemen?“
„Ganz gut, aber wir haben keinen Arbeiterüberfluß.“
„Nun kommt die Hauptsache: wie, wenn diese Nachbarn die Arbeitercompagnie meines Onkels für den Zweck der Ernte von ihm erwürben? Die Leute hätten Arbeit, mein Onkel keine Verlegenheit wegen ihrer Bezahlung; er hätte die Genugthuung, die Leute als „seine“ Arbeiter zu behalten; ich verwerthete meine Kartoffeln, Rüben, mein Kraut und Heu und brauchte das Zeug nicht draußen verkommen zu lassen. Was meinen Sie dazu?“
„Der Einfall ist kostbar. Sie sind ein ausgezeichneter Schachspieler, Herr von Boddin! Stellen Sie mir meinen Posten aus – ich verhandle nachher sofort mit dem Alten; da können wir ja gleich die Probe machen, ob er seine Compagnie dazu hergeben wird. Warten Sie nur! Er wird Sie schätzen lernen und sich versöhnen lassen.“
„Es wäre mir lieb,“ seufzte Curt.
Alles ging auf’s Beste.
„Wir wollen blos nicht für den Teterower arbeiten,“ sagte der Baron.
Auch den Leuten war das Faullenzen zuwider. Herr von Pannewitz versprach Curt, mit ihm die Rundfahrt auf die Nachbargüter zu unternehmen, sobald er sich über die Verkaufsobjecte klar geworden, und ihm zu helfen, die befreundeten Besitzer zu überreden.
Am Abend, als er fort war, kam der Radmacher zu Curt. Ob er denn nicht einmal in die Schule gehen wolle? Der Schulmeister hätte ein Anliegen wegen eines Schweinestalles und kränkte sich und hätte nicht die Courage, auf den Hof zu gehen. Der junge Herr wäre ja nun auch Schulvorstand, und der Schulmeister wolle ihm einen feierlichen Empfang bereiten.
Curt war verwundert. „Er hätte viel zu thun, aber er wolle morgen Vormittag einmal hinkommen. Nur den Empfang solle der Mann sich ersparen.“
„Das Vergnügen müssen Sie ihm lassen, junger Herr; er hält höllisch viel auf so was, hat sich das so schön ausgedacht.“
Aus Teterow hatte man das Reitpferd geschickt; wegen des Kutschwagens und der Pferde schwebten noch Verhandlungen, sagte der Begleitbrief. So saß denn Curt am andern Morgen hoch zu Roß, als er des dem Radmacher gegebenen Versprechens gedachte, und es war die höchste Zeit, wenn er dasselbe noch einhalten wollte. Der englische Vollblutfuchs bekam die Sporen und griff tüchtig aus. Dort lag die Residenz des Schulmonarchen von Pelchow.
Ausgestellte Kinderposten huschten in das einstöckige, strohgedeckte, unansehnliche Haus; „ein Neubau könnte da nichts schaden,“ dachte Curt im Nähergaloppiren. Dann lächelte er: um die Thür war Grün gehäuft, und zwei bekränzte Stangen trugen ein „Willkommen!“ Als er vom Pferde sprang, stürzten zwei Jungen heraus, um die Zügel zu halten.
„Laßt Euch nicht schlagen, Jungens! So faßt an!“
Bei der Thür prallte Curt zurück. Da stand eine Deputation von drei Mädchen im Feststaate, die mittelste ein winziges, possirliches Ding, das ihn aus zwei großen blauen Augen furchtsam anblickte und ein beschriebenes Blatt in den runden Fingerchen hielt, hinter ihnen Herr Mederow nebst Ehehälfte. Er war im Frack und in schwarzen Handschuhen und hielt den Cylinderhut.
Das eine ältere Mädchen begann mit einem schüchternen Knix:
„Tritt ein in unsere niedere Hütte,
Die ernstem Streben nur geweiht!
Und Segen folge Deinem Schritte,
Der stets dem Edlen giebt Geleit.
Mit Gnade uns erfreue!
Wir schwören jetzt Dir Treue
Von nun an bis in Ewigkeit.“
Jetzt knixte die Zweite drüben:
„Betrachte huldreich auch die Schäden,
Die hier der Zahn der Zeit genagt.
Bewurf, auch Dielen, Fensterläden
Sind schon seit Jahren tief beklagt;
Des Borstenviehs Cabine
Liegt gänzlich als Ruine;
Die Hülfe steht in Deiner Macht.“
Nun stießen die Mädchen ihre kleine Gefährtin in der Mitte an.
„Ich soll Dir das auch geben!“ platzte diese heraus, Curt das Papier überreichend.
„Aber Frieding, Du sollst ja noch sagen, was Du gelernt hast,“ erscholl die Stimme des Herrn Mederow.
„Das hab’ ich all vergessen,“ sagte die Kleine plötzlich.
Curt bückte sich und streichelte dem Kinde die Bäckchen.
„Ist Dein Vater nicht der Radmacher?“
„Ja!“
„Ei, ei, und Fräulein von Lebzow hatten die Gnade, Dir Dein Verschen so schön einzustudiren!“ sagte Herr Mederow.
„Wer? Meine Cousine?“
Herr Mederow knickte förmlich in sich zusammen.
„O Gott, welch ein schwaches Geschöpf ist der Mensch! Mein Mund hatte ja feierlich gelobt, davon nichts zu äußern. Ich hatte respectvollst gewagt, es noch auf speciellen Wunsch des gnädigen Fräuleins zu dichten. Es steht mit auf dem Papiere da, das ich unterthänigst mir erlaubt habe, überreichen zu lassen.“
Curt’s Verlangen, das Verschen zu hören, war plötzlich erkaltet. Aber er nahm Frieding auf den Arm und küßte die Zappelnde auf den rothen Kindermund. Dann reichte er den beiden andern Mädchen mit freundlichem Dankeswort die Hand und begrüßte nun erst das Ehepaar.
Um die Erde.
Dort, wo der East-River zwischen den Schwesterstädten New-York und Brooklyn seine salzigen Fluthen wälzt, schwebt in gigantischer Höhe zwischen zwei kolossalen Thürmen ein riesiges Netz aus eisernen und stählernen Fäden, auf welchem, gleich emsigen Spinnen, heute Hunderte von Arbeitern rastlos hämmern und zimmern. Dieses kühne, hoch über dem Häusermeer von Long-Island und Manhattan aufgehängte Werk, unter welchem stündlich hundert Schiffe aller Art, Dampfer und hochmastige Segler, unbehindert
[797][798] hin und her schnellen, bildet die mächtigen Contouren eines seiner Vollendung entgegengehenden Riesenbaues, der weit berühmten East-River-Brücke.
Mit Recht wird dieser Bau schon heute unter die Wunder der Welt gezählt; er gereicht Amerika zu einer seiner stolzesten Zierden. Aber wir haben auf unserer Wanderung um die Erde noch eine besondere Veranlassung, hier, an dem Ufer des East-River etwas länger zu weilen und dem großen Werke die vollste Beachtung zu schenken; denn wohl haben amerikanisches Capital und amerikanische Hände vom Meeresgrund auf die beiden hohen Säulen aufgethürmt und zwischen ihnen die eisernen Netze gezogen, aber ein deutscher Mann war es, der in schwieriger Gedankenarbeit den Plan zu diesem Werke entworfen hat – darum: welche Flagge von den Zinnen des stolzen Baues auch jemals wehen wird, er selbst wird der Menschheit dienen als ein Kind des deutschen Geistes, er wird die brandenden Fluthen überragen als ein Zeuge des deutschen Genius.
Die Wiege des Schöpfers der East-River-Brücke stand in dem waldigen Thüringen, wo Johann Roebling am 12. Juni des Jahres 1806 in Mühlhausen das Licht der Welt erblickte. Schon im Jahre 1831 wanderte der junge Ingenieur, nachdem er die Stelle des Inspectors der öffentlichen Bauten in Westfalen bekleidet hatte, nach Amerika aus, und hier, in seiner neuen Heimath, gelang es ihm bald, die Hängebrücken, die man in Europa als wenig sichere Verkehrsmittel geringschätzte, in der Construction zu verbessern und im großartigsten Maßstabe auszuführen. Zunächst lebte er bei Pittsburg, später, seit 1850, in Trenton im Staate New-Jersey und wurde hier bald als Wasserbaumeister berühmt; denn er leitete die Uferbauten am Beaver-River und die Canalbauten zwischen dem Ohio und Eriesee. Nachdem er aber die letzteren beendigt hatte, wandte er sich ausschließlich der Construction der Hängebrücken zu und erbaute, von den kleineren Brücken bei Pittsburg abgesehen, in den Jahren 1851 bis 1855 die Hängebrücke von Niagara, die einzige dieser Art, welche von Eisenbahnzügen befahren wird und unter allen Eisenbahnbrücken und Viaducten der Welt durch ihre früher niemals erreichte Brückenöffnung von 244 Meter Länge einen besonderen Platz einnimmt. Ermuthigt durch diese ersten großen Erfolge, wurde Roebling in seinen Plänen immer kühner, und die 1867 in Cincinnati von ihm erbaute Hängebrücke hatte bereits eine freischwebende Länge von 322 Meter. Bei allen diesen Bauten hat er von der früher üblichen Verwendung eiserner Ketten abgesehen und als Träger der Brückenbahn stets Kabeln aus Eisen- oder Stahldraht verwendet, weil er richtig erkannte, daß die Tragfähigkeit des zum Drahte ausgezogenen Eisens diejenige der gewöhnlichen Ketten weit übertreffe.
Nach solchen Proben seiner Tüchtigkeit ward der Ruf Roebling’s so groß, daß er sich an die Ausführung eines Projectes wagen durfte, an dem bis dahin die Pläne vieler tüchtiger Ingenieure gescheitert waren, an die Herstellung einer festen Verbindung zwischen den mächtig aufgeblühten Städten New-York und Brooklyn.
Wir müssen zum besseren Verständnisse des Unternehmens für die mit den amerikanischen Verhältnissen nicht genau Vertrauten vorausschicken, daß die New-Yorker Städtegruppe, welche nach London und Paris die drittgrößte Einwohnerzahl aufweist, aus vier neben einander liegenden Städten gebildet wird. Es sind dies New-York, Brooklyn, Hoboken und Jersey-City. Die beiden bedeutendsten dieser Städte, New-York, welches mit mehr als einer Million Einwohner sich auf der Manhattan-Insel erhebt, und Brooklyn, das auf „Long-Island“ ungefähr eine halbe Million Seelen birgt, sind von einander durch einen Meeresarm getrennt, welcher den Namen East-River trägt.
Der äußerst rege Verkehr zwischen den beiden belebten Handelsplätzen wird bis jetzt einzig und allein durch Dampffähren und Boote bewerkstelligt, und diese Art der Personen- und Waarenbeförderung ist, wie leicht erklärlich, mit vielen Uebelständen verbunden. Einerseits stören die quer durch den Canal von Brooklyn nach New-York und in umgekehrter Richtung fahrenden Transportboote die zahllosen Schiffe, welche ihren Lauf den East-River entlang nehmen müssen; andererseits wird im Winter die Communication zwischen den beiden Städten durch die Eisschollen, welche auf dem East-River treiben, oft stundenlang unterbrochen. Es galt daher, alle diese Uebelstände durch die Erbauung einer Brücke zu beseitigen, welche, sozusagen, New-York und Brooklyn in zwei Quartiere einer und derselben Stadt verwandeln und dabei den tausend Schiffen, die täglich den East-River passiren, gestatten würde, unter dem Brückenkörper mit vollen Segeln ihren Lauf fortzusetzen.
Die Lösung dieser schwierigen Aufgabe ist thatsächlich Johann Roebling gelungen, welcher im Jahre 1867 den genauen Plan der gegenwärtig ihrer Vollendung entgegengehenden East-River-Suspension-Bridge ausarbeitete. Aber dem berühmten Ingenieur war es nicht vergönnt, die Verwirklichung seines stolzesten Gedankens mit eigenen Augen zu schauen.
Wie Riquet, der Erbauer des französischen Südcanals, Borel, der Leiter des Durchstiches der Landenge von Suez, Sommeiller, der Ingenieur des Mont-Cenis-Tunnels, Meiggs, der Schöpfer der wunderbaren Bahn über die Anden, und Favre, der Unternehmer des Gotthard-Tunnels – wie alle diese Männer von dem Tode ereilt wurden, bevor ihre Schöpfungen vollendet waren, so starb auch Johann Roebling am 22. Juli 1869 in Brooklyn, bevor der erste Spatenstich zu seinem Werke gethan wurde, welches in genauen Zeichnungen und langen Ziffernreihen von ihm bis auf die kleinste Einzelheit auf den Plankarten ausgeführt war. Wir erinnern uns dabei der Worte, welche bei ähnlicher Gelegenheit der Franzose Ch. Boissay niederschrieb: „Die Sorgen nutzen ab – das ist verständlich; die Erfinder und Forscher opfern ihr Leben für ihre Idee und sterben, bevor sie ihr Ziel erreicht haben; seit Moses mußten die Menschen sich diesem gewöhnlichen Lauf der Dinge unterwerfen.“
Kurz nach dem Tode Johann Roebling’s ging sein Sohn, Washington Roebling, an die Ausführung des Projectes, welche nunmehr soweit gediehen ist, daß wir in der Lage sind, eine genaue Beschreibung der East-River-Brücke, wie sie voraussichtlich binnen Jahresfrist vollendet sein wird, im Nachstehenden zu liefern.
Die Gesammtlänge derselben beträgt 1053 Meter, also eine Siebentel deutsche Meile, welche gewaltige Entfernung nur von drei Brückenbogen überspannt wird. Die beiden seitlichen Bogen haben eine Länge von je 283 Meter, während der mittlere Bogen in einer fast unerhörten Spannung von 486 Meter frei über dem Wasser schwebt. Es ist dies die größte Brückenöffnung der Welt, und sie ist beiläufig zweimal so groß, wie der ganze Pont-Neuf in Paris, der eine Gesammtlänge von 233 Meter hat und aus 12 Brückenbogen gebildet wird.
Der Brückenkörper ist auf vier Kabeln aufgehängt, von denen jedes einen Durchmesser von 39 Centimeter hat und aus 6224 parallel neben einander zusammengelegten Stahldrähten besteht. Jedes dieser stählernen Drahtgebinde, deren Dicke derjenigen eines erwachsenen Mannes gleichkommt, ist 1090 Meter lang, vermag allein 11,380,000 Kilogramm zu tragen und wiegt selbst gegen 88,000 Kilogramm.
Diese vier Kabel sind nun an den Spitzen zweier gewaltiger, auf dem Meeresgrunde erbauter Säulen aufgehängt und tragen den eigentlichen Brückenkörper, unterstützt durch sechs eiserne Balken und 280 Ketten, die an den Säulen befestigt wurden.
Der Bau des Werkes begann am 26. December des Jahres 1869 mit der Construction dieser kolossalen Thürme. Es mag erwähnt werden, daß die Spitzen derselben den Meeresspiegel zur Zeit der höchsten Fluth um 84 Meter überragen, ihre Fundamente aber sich noch tief in den Meeresgrund hinein versenken, sodaß z. B. die Gesammthöhe der am New-Yorker Ufer stehenden Säule vom Fundamente bis zur Spitze die pyramidale Höhe von 114 Meter erreicht. Zu dem Bau dieser einen Säule wurden allein 36,160 Cubikmeter Mauerwerk in einem Gesammtgewichte von circa 100 Millionen Kilogramm verwendet.
Schon diese wenigen Zahlen genügen, um selbst den Laien ahnen zu lassen, daß bei der Errichtung eines derartigen Werkes mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten gekämpft werden mußte, und es verlohnt sich wohl, den Gang der Arbeiten bei der East-River-Brücke, wenn auch flüchtig, zu verfolgen.
Sie sind in der That bewunderungswürdiger, als die Erzählungen von dem Bau der Pyramiden, der hängenden Gärten der Semiramis und anderer ähnlicher Weltwunder, die in der Schule unser Staunen erregten; denn diese mühevollen Arbeiten zeugen beredt von dem ungeahnten Fortschritt der modernen Technik, welche, mit der Zaubermacht der exacten Wissenschaften ausgerüstet, den Grund des Oceans und den Schooß der Berge der Cultur zu erschließen und dem Menschen dienstbar zu machen vermag.
[799] Zur Fundamentlegung der beiden Granitthürme wurde das unseren Lesern bereits bekannte System der Taucherglocke angewandt (vergleiche Jahrgang 1880 , Nr. 18, den Artikel „Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?“). Man baute zunächst an den Ufern des East-River zwei mächtige eiserne Glocken, welche an den Stellen, wo die Brückenthürme sich erheben sollten, versenkt wurden. Sechs Dampfmaschinen comprimirten unaufhörlich in denselben die atmosphärische Luft, welche das Wasser verdrängte und am Boden der Glocken den Meeresgrund trocken legte. Während nunmehr auf den oberen Theilen derselben, welche gleich Inseln aus dem Strome hervorragten, die Maurer Steine und Mörtel zubereiteten, gruben auf dem Boden Erdarbeiter, um den Meeresgrund zu nivelliren und ihn für die Legung der ersten Winkelsteine geeignet zu machen.
Es waren dies die größten Taucherglocken, welche jemals erbaut wurden. Jede derselben war 63 Meter lang und 31 Meter breit, und jede legte auf dem Meeresgrund 1,626 Quadratmeter Boden trocken, auf welchem geräumigen Platze tagtäglich 236 Menschen unter dem Luftdrucke von vier Atmosphären arbeiteten.
Diese gewaltige unterseeische Arbeitskammer wurde von 56 Gasflammen erleuchtet, und da das gewöhnliche Leuchtgas in der comprimirten Luft nicht gut brannte, so wurde den Brennern eine Mischung des Kohlenleuchtgases und reinen Sauerstoffs unter einem Luftdrucke von fünf Atmosphären zugeführt. Auch gab es in diesem künstlich mit Luft erfüllten Raume, in dem sonst die Fische des Oceans hin und her schwammen, sinnreich construirte Wasserleitungen, welche die Arbeiter mit trinkbarem Süßwasser versorgten, und selbst Waterclosets fehlten nicht.
Leider war es unmöglich, in diesem complicirten Bau jeden Unfall zu verhüten, und einmal entstand sogar ein Schadenfeuer in der Brooklyner Taucherglocke – ein Brand unter den Wellen des Atlantischen Oceans!
Endlich, im Monat August des Jahres 1876, ward der Bau der beiden Thürme fertig gestellt, und es begann der zweite Theil der mühseligen Arbeit, die Befestigung der vier Kabel an den beiden Thurmspitzen.
Ein eisernes Kabel, welches über ein Kilometer lang und eineinviertel Meter stark ist, würde man schwerlich vom Ufer auf die Thurmspitze heben können, und man sah sich daher genöthigt, die etwa 25,000 Stahldrähte, aus welchen die vier Kabel gebildet werden, einen nach dem andern an der ihm zugewiesenen Stelle zu befestigen.
Den ersten Draht versenkte man zunächst an dem einen Ufer auf den Meeresgrund und leitete ihn also vermittelst eines Fahrzeuges auf die gegenüberliegende Insel. Da bot sich wiederum eine unverhoffte Schwierigkeit, als man den Draht in die Höhe ziehen wollte. Der Schiffsverkehr auf dem East-River ist nämlich so belebt, daß die Stelle, an welcher man die eiserne Sehne, welche zum ersten Male New-York mit der „Stadt der Kirchen“ vereinigen sollte, heben wollte, zu keiner Zeit des Tages oder der Nacht nur wenige Augenblicke von Schiffen und Fähren frei ist. Erst am 14. August 1876 verkündete ein Kanonenschuß, daß kein Schiff für die nächsten Minuten zu erwarten sei; rasch wurde der Stahldraht in die Höhe gezogen, und nun schwebte frei in der Luft der erste Faden, um welchen das vielverschlungene Netz der eisernen Brücke gewoben werden sollte. Bald wurde mit Hülfe dieses ersten Drahtes ein zweiter von New-York nach Brooklyn hinübergezogen, und beide wurden zu einer Schnur ohne Ende zusammengebunden und auf Rollen gelegt. Jetzt zogen an diesen hochschwebenden Drähten die Arbeiter eine Menge Schnuren und Stahldrähte hinüber, welche an verschiedenen Punkten der Thürme befestigt wurden.
Nun bot sich dem Auge des Beschauers ein neues eigenartiges Schauspiel, grundverschieden von demjenigen, welches er früher unter den Wellen des East-River in den Taucherglocken beobachtet hatte. Nun sah man Arbeiter in kleinen Käfigen, die an den Stahldrähten in einer Höhe von 60 bis 80 Meter über dem Wasserspiegel hingen, sich hin und her bewegen und die Kabel zusammenlegen.
Die Befestigung des ersten Drahtes jedes Kabels mußte, den Plänen des Ingenieurs gemäß, mit mathematischer Genauigkeit erfolgen; man hatte nicht allein auf die Befestigungspunkte an den Thürmen, sondern auch auf die Spannung des Drahtes, auf die Krümmung des Bogens, welchen er in der Luft beschrieb, die sorgfältigste Rücksicht zu nehmen. Aber über dem East-River brausen in der Regel ziemlich starke Winde, deren Druck genügte, die Richtung des hängenden Drahtes zu verschieben, und wiederum mußte man wochenlang auf den windstillen Tag warten, an dem es möglich wäre, den ersten Kabeldraht regelrecht zu befestigen und die Curve, die er bilden sollte, genau auszumessen. Dies geschah erst am 29. Mai des Jahres 1877, und nachdem die Lage der Kabel einmal festgestellt worden, ging ihre endgültige Zusammenlegung rasch von Statten.
Wenden wir uns nunmehr der noch nicht vollendeten Brückenbahn zu, welche durch eiserne Träger an den Kabeln befestigt wird! Dieselbe schwebt in einer Höhe, welche in der Nähe der Thürme 36 Meter beträgt, gegen ihre Mitte dagegen den Wasserspiegel um 41 Meter überragt und auf diese Weise selbst den höchsten Schiffen freie Durchfahrt gewährt.
Die Zahl der Personen, welche jährlich zwischen Brooklyn und New-York verkehren, ist schon früher auf 70 Millionen veranschlagt worden, und diesem gewaltigen Menschenverkehre, zu dem noch der bedeutende Waarentransport hinzutritt, entsprechen auch die Dimensionen der Brücke. Ihre Breite steht der einer großstädtischen Hauptstraße nicht im Geringsten nach; denn sie beträgt 26 Meter. In ihrer Mitte läuft ein 4½ Meter breiter Trottoirweg für Fußgänger, welcher über die eigentliche Brückenbahn um 3 Meter erhöht ist. Zu beiden Seiten dieses Fußgängerdammes befinden sich je zwei Fahrwege für Fuhrwerke und je ein Eisenbahngleis.
Die beiden Brückenthürme sind, wie die stimmungsvolle Abbildung Cronau’s uns zeigt, auf der Höhe des Brückenbogens durchstochen, sodaß dort je zwei mächtige Hallen entstehen, durch welche unten die Fuhrwerke und Eisenbahnwaggons die Thürme passiren, während der Fußgängersteg an dem die Vorhalle trennenden Pfeiler sich so zu sagen spaltet und zu beiden Seiten desselben über dem unteren Fahrwege fortläuft.
Der Zugang zu dieser hohen Brücke wird an beiden Ufern durch massiv gemauerte Viaducte ermöglicht, die sich allmählich gegen das Land senken und in den Centren von Brooklyn und New-York münden.
Die Länge des New-Yorker Viaductes beträgt 470 Meter und die des Brooklyner nahe an 300 Meter, sodaß die Gesammtlänge des Brückenbaues mit seinen Zugängen sich auf 1825 Meter beläuft.
An den Mündungen der beiden Viaducte werden zwei Bahnhöfe errichtet, aber es sind keine gewöhnlichen Eisenbahnzüge mit Locomotiven, welche von hier aus die Brücke passiren sollen. Long-Island bleibt noch vorläufig dem Dampfroß unzugänglich, und erst, wenn die inzwischen projectirte feste Brücke mit eisernen Bogen von 224 Meter Spannung zwischen Brooklyn und New-York erbaut wird, erst dann wird die Locomotive vom Festlande aus in Brooklyn ihren siegreichen Einzug halten. Für den Verkehr auf der East-River-Hängebrücke hat man einstweilen eine Drahtseilbahn in Vorschlag gebracht. Durch eine feststehende Dampfmaschine sollen an einem Doppelkabel stets zwei Züge von je zehn Waggons auf der Brücke bewegt werden, von denen der eine von New-York nach Brooklyn, der andere in umgekehrter Richtung Passagiere befördern wird. Wir wissen augenblicklich nicht, ob man dieses Project fallen ließ und an die Stelle der Drahtseilbahn die viel praktischere, in Deutschland erfundene elektrische Eisenbahn zu bauen gedenkt. Ueber kurz oder lang dürfte dies jedoch der Fall sein; denn die East-River-Brücke eignet sich vorzüglich für diese neue Errungenschaft des Fortschritts.
Das ist nun in allgemeinen Zügen ein Bild des großartigen Baues, welcher voraussichtlich im nächsten Jahre dem öffentlichen Verkehre übergeben werden wird und dessen Errichtung nach unserer Währung über 60 Millionen Mark kosten soll. Aber nicht nur gerechtfertigtes Staunen ruft der Anblick dieses Riesenwerkes hervor, es zeugt auch in imposanter Weise von den bewunderungswürdigen Erfolgen, welche in unserm Jahrhundert die Energie der Forscher und Erfinder zu erringen wußte.
Eine schwankende Liane, deren Ranken der Sturmwind von dem Stamme eines Waldriesen an das gegenüberliegende Ufer eines tropischen Gewässers schleuderte, bildete die erste einfache, natürliche Hängebrücke.
Bald versuchte der Mensch dieses Vorbild der Natur nachzuahmen und fand in der Spinne seine Lehrmeisterin. So entstanden die primitiven Hängebrücken, welche wilde Völker aus [800] Lianenseilen formten. Ein Fortschritt war es schon, da die Menschen, wie es noch heute in Indien und China der Fall ist, auf diese schaukelnden Seile eine Brückenbahn aus leichtem Bambusrohr oder aus Brettern legten. Da kam das Zeitalter des harten Eisens und des brausenden Dampfes, und nun – es war im Jahre 1796 – erbaute der Amerikaner Finlay über den Jakobs-Creek in den Vereinigten Staaten die erste Hängebrücke mit ebener von freihängenden Ketten getragener Fahrbahn. Als das letzte Glied all dieser Versuche aber, als die Krone all dieser scharfsinnigen Bestrebungen schwebt heute in majestätischer Ruhe die East-River-Brücke zwischen zwei großen Städten, die höchsten Schiffsmaste überragend, gewaltige Lasten willig tragend und den Stürmen ihre eiserne unverwüstliche Stirn trotzig bietend. Wohl stolzer schlägt unser Herz bei der Betrachtung dieses Werkes der Menschenhand; kein Schwindel erfaßt uns, wenn wir von diesem Bau, wie von einer hohen Culturstufe, herniederblicken; denn es erwacht hier in unserm Busen in voller Kraft das Bewußtsein: das ist lange nicht das letzte Wunder, welches der menschliche Geist verrichtet hat; es wird vielmehr der Menschheit beschieden sein, noch Großartigeres und Kühneres zu vollbringen.
Die Zuckertanne.
Die Uebersiedelung der schönen Douglastanne (vergleiche „Gartenlaube“ Jahrgang 1880 Nr. 1) nach Deutschland erscheint gesichert[1], da die Theilnahme für den „deutschen Waldbaum der Zukunft“ immer weitere Kreise zieht. Heute kann ich nicht umhin, die Aufmerksamkeit auf einen zweiten Californier, die Pinus Lambertiana oder Zuckertanne, hinzulenken, einen Baum welcher der Douglastanne wohl kaum in irgend einer Beziehung nachsteht und mit dessen Samenproben schon einzelne vielversprechende Versuche auf deutschem Boden unternommen wurden.
Wie die Douglastanne, beobachtete ich auch die Zuckertanne im südlichen Californien, am Fuße der Abhänge der Küstengebirge und in den Schluchten der Sierra Nevada, doch soll sie, zuverlässigen Angaben zufolge, über das ganze Territorium zwischen den Rocky-Mountains und dem Stillen Ocean, von der mexicanischen Grenze bis nördlich tief im Oregon hinein, verbreitet sein, wo nicht eben in den gewaltigen Sand-, Kies- und Felsenwüsten ihr die letzten Bedingungen zum Fortkommen fehlen. Es geht daraus hervor, daß ihr schnelles Wachsthum und ihre Widerstandskraft gegen winterliche Kälte nicht ausschließlich von den landwärts wehenden, feuchten Seewinden abhängig sind, ein Urtheil, welches hin und wieder der Douglastanne gegenüber ohne triftigen Grund gefällt wurde. Selten findet man, daß die Zuckertanne Waldungen bildet; sie liebt es dagegen, sich mit anderen Coniferen zu vereinen, welche sie weit überragt, sodaß man die einzelnen Bäume mit stolzen Häuptlingen vergleichen möchte, umringt von ihren Untergebenen.
Nach den Mittheilungen meines Freundes Newberry nähert die Zuckertanne in ihrem botanischen Charakter sich den Weißtannen der östlichen Staaten. Wie alle Coniferen in den Küstengebieten des Stillen Oceans, zeigt auch sie in erhöhtem Grade eine Symmetrie und Vollendung in ihrer Erscheinung, und eine Gesundheit und Kraft im Wuchs, wie kaum irgend ein anderer Baum der Erde. Selbst die Bäume, die noch nicht lange ihr vielhundertjähriges Leben begonnen, erwecken den Eindruck junger Riesen. Der ausgewachsene Baum erreicht eine Höhe bis zu neunzig Meter bei sechs Meter Durchmesser an seiner Basis. Diese Größenverhältnisse gehören indessen zu den Seltenheiten. Wo die Zuckertannen dichter beisammen stehen, beträgt die gewöhnliche Höhe sechszig Meter bei drei Meter Durchmesser.
Eine ihrer auffallenden Eigenthümlichkeiten ist die gewaltige Ausdehnung des Stammes auf Kosten der Zweige; denn die Wurzeln scheinen ihre ganze Kraft der mächtigen Säule zuzutragen, deren wenige Zweige, von unten gesehen, an eine dürftige Ueberwucherung durch Epheuranken erinnern. Auch die Nadeln stehen weniger dicht und zu fünf bei einander; sie sind von dunkelblaugrüner Farbe und erreichen eine Länge von drei Zoll. Nähe dem äußersten Wipfel sind die Zweige häufig länger, als die unteren, und an ihnen hängen einzeln oder in Bündeln die Zapfen nieder. Dieselben entsprechen in ihrem Umfange der Größe des Baumes, und man findet sie bis zu einer Länge von achtzehn Zoll bei vier Zoll Durchmesser, doch dürften die Zahlen vierzehn Zoll bei drei Zoll am häufigsten vorkommen. Ein wenig gewunden, bestehen sie aus dicht aufeinander liegenden Schuppen mit leicht geschweiftem Rande ohne Stacheln oder Spitzen und mit geringer Harzausschwitzung. Das Holz der Zuckertanne ist weiß, gleichmäßig und geädert, und in ganz Californien ist es für Zimmer- und für Tischlerarbeiten sehr gesucht.
Eine weitere Eigenthümlichkeit dieses Baumes ist, daß das Harz, welches an schadhaften, namentlich angebrannten Stellen dem Holze entquillt, den Terpentingeruch und Geschmack verliert und eine Süßigkeit annimmt, welche der des Zuckers fast gleichkommt. Es erinnert in jeder Beziehung an Manna und würde ohne den schwachen Terpentingeruch kaum von solchem zu unterscheiden sein. Von den Grenzbewohnern wird dieses Zuckerharz zuweilen zum Würzen der Speisen benutzt, häufiger jedoch, um bei leichten Erkrankungen eine medicinische Wirkung auf die Verdauungswerkzeuge hervorzurufen. Einen erhöhten Werth für uns gewinnt die hier besprochene Zuckertanne indessen ebenso wenig durch ihr Harz, wie durch die wohlschmeckenden Samenkörner. Der einzige Zweck ihrer Uebersiedelung nach Deutschland kann nur sein, für unsere Forsten einen schnell wachsenden und sehr schönen Baum zu gewinnen, kommenden Geschlechtern dagegen eine neue, reichen Vortheil versprechende Holzart zu sichern.[2]
Das war, fürwahr! ein Spielmann brav
Bei Düppel auf dem Rasen;
Der hub, als ihn die Kugel traf,
Noch einmal an zu blasen.
Er stieß in’s Horn, so voll und stark –
Das klang wie Siegeswonne;
Sein Vorwärts drang in Blut und Mark
Der preußischen Sturmcolonne.
Nun weht der Fähnlein Siegespracht,
Wo die zehn Schanzen ragen –
Sie sehen’s nicht, die still und sacht
Auf Sänften fortgetragen.
Nun tönt der Siegesweisen Schall
Hinaus zum Alsensunde –
Sie hören’s nicht, die im Spital
Still ruh’n mit blut’ger Wunde.
Und überall im Vaterland
Auf stiegen Ehrenbogen –
Schön Gretchen stand am Brunnenrand,
Als heim die Sieger zogen.
Und spähte bang’ und suchte lang’,
Bis ihr die Augen flimmern,
Und wachte noch und weinte bang’,
Als hoch die Sterne schimmern.
Da weht die Post ein welkes Blatt:
„Lieb Gretchen, Du mußt wissen,
Die Kugel, die mich traf, sie hat
Auch Deinen Kranz zerrissen.
Nun suchst Du mich umsonst vielleicht
Bei Siegesfest und Tanze –
Hab’ nur ein Bein, das and’re bleicht
Bei Düppel auf der Schanze.
Kann Dir nicht Halt und Stütze sein,
Wie ich gehofft mit Stolze,
Brauch’ selber Stütze auf einem Bein;
Das and’re ist von Holze.
Drum nimm zurück Dein Ringelein,
Und nicht in Thränen schmelze!
Du sollst einen tüchtigen Burschen frei’n,
Doch nimmer eine Stelze!“
Und Gretchen las und weint und lacht,
Wohl beides um die Wette;
Dann hat sie flugs sich aufgemacht
Und saß an Traugott’s Bette:
„Ach Traugott, großes Herzeleid
Hat mir Dein Brief bekundet;
Nun weich’ ich nicht von Deiner Seit’,
Bis Dir das Herz gesundet.
Was Dir der dumme Feind gethan,
Laß nicht Dein Gretchen büßen!
Ich traut’ mich Deinem Herzen an,
Doch nimmer Deinen Füßen.
Mein Ringlein bleibt nur Dir geweiht,
Und willst Du’s nicht mehr haben,
Dann soll man mich an Deiner Seit’
Altjüngferlich begraben.“
Da war der Traugott bald gesund;
Er ließ das Horn sich bringen
Und stieß hinein von Herzengrund –
Die Wände wollten springen.
„Gott lob, daß ich noch blasen kann!
Nun blas’ ich fort die Sorgen;
Auf einem Bein ein ganzer Mann
Führt Dich am Hochzeitsmorgen.“
Fedor von Köppen.*
* Aus dem soeben zur Ausgabe gelangenden Balladenbuche „Männer und Thaten“ (Leipzig, Alfons Dürr). Unser langjähriger Mitarbeiter bewährt in diesen poetischen Gemälden und Schilderungen aus Preußenland seine in der volksthümlichen Darstellung patriotischer Stoffe vielgewandte Feder auf das Glänzendste. Wir ergreifen mit Vergnügen die sich hier bietende Gelegenheit, um das von den ersten Künstlern Deutschlands illustrirte und geschmackvoll ausgestattete Köppen’sche Buch der allgemeinen Beachtung für den Weihnachtsfesttisch schon heute zu empfehlen.
Der nunmehrige Leiter der Gewandhaus-Concerte, Christian (Johann Philipp) Schulz, war zu Langensalza in Thüringen im Jahre 1773 geboren und zog als zehnjähriger Knabe mit seinen Eltern nach Leipzig. Auf der Thomas-Schule, die er bis zu seinem neunzehnten Lebensjahre besuchte, fand er Gelegenheit zur Ausbildung in der Musik, namentlich im Gesange. Er ward ein ausgezeichneter Sänger, und nachdem er die Universität bezogen, faßte er den Entschluß, sich ganz der Musik zu widmen. Schicht wurde sein Lehrer. Seit 1800 war Schulz Musikdirector der Seconda’schen Schauspielergesellschaft, und für sie schrieb er manche Chor- und Bühnenmusik. Wenn es die Verhältnisse gestattet hätten, würde er sicherlich auch als Componist Bleibendes geschaffen haben; denn was von ihm an Musikwerken vorhanden ist, zeigt ihn auch für diese Seite der Tonkunst hochbegabt und tüchtig; namentlich seine Chorlieder, die er für die mittlerweile entstandene und von ihm dirigirte Singakademie verfaßte, befriedigen noch heute das musikalisch gebildete Ohr. Schulz war streng gegen sich und Andere, aber durchaus bescheiden.
Während seiner Direction der Gewandhaus-Concerte mehrte sich die Aufführung von Opernfragmenten und Opern, einem Genre, dem heute die Concertinstitute ziemlich aus dem Wege gehen. In jenen Tagen lagen die Verhältnisse anders: mit den Theatern war es damals bekanntlich schwach bestellt, und man hörte viele der berühmtesten Opern von der Bühne herab entweder sehr spät oder gar nicht – meistens aber mangelhaft. Da verlangte man sie denn vom Concerte. Schulz führte auch einmal an einem Abende [802] eine vollständige Oper auf: Naumann’s dreiactigen „Amphion“. Für das Concert selbst schrieb er wenig. Bemerkenswerth ist aber seine Instrumentation der Zelter’schen Ballade „Joh. Sebus“. In dieser Form wurde der alte verdiente Professor und Dirigent der Berliner Singakademie für das Gewandhaus möglich.
In die Schulz’sche Zeit fällt die einzige längere Unterbrechung, welche die Gewandhaus-Concerte erfahren haben; sie trat im October 1813 nach der großen Völkerschlacht bei Leipzig ein, und wurde durch die Nothwendigkeit der Verwendung der Gewandhaussäle zu Lazarethzwecken herbeigeführt; die einzigen öffentlichen Musikaufführungen, welche damals stattfanden, bestanden in zwei Wohlthätigkeits-Concerten, welche im Theater und in der Nicolai-Kirche im April und Mai 1814 unter der ausschließlichen Mitwirkung von Dilettanten abgehalten wurden. Im Jahre 1806 hatte man – nebenbei bemerkt – nach der Schlacht von Jena die Concerte ebenfalls fallen lassen, aber nach zwei Monaten schon wurden sie auf ausdrücklichen Wunsch des französischen Gouverneurs wieder eröffnet. Auch im October 1814 begann man sie wieder mit einer Erinnerungsfeier an die große Schlacht. Der Krieg zeigte seine Wirkungen auf das Institut dadurch, daß ein Theil der besten Orchestermitglieder weggezogen war und das Publicum nicht mehr die alte Theilnahme zeigte. Bald aber richtete sich Alles wieder ein, und schon im nächsten Jahre, wo der König das Concert besuchte, mußten Maßregeln gegen zu großen Andrang des Publicums getroffen werden. In diese Zeit fällt eine Aufführung vom ersten Finale der Zauberflöte mit italienischem Text. Man darf sich über diesen Mangel an deutschen Sängern nicht wundern; hatte man doch in Dresden sogar die „Jahreszeiten“ von Haydn in’s Italienische übersetzen müssen. Auch Mozart’s Sohn präsentirte sich in dieser Periode im Gewandhause durch ein Extraconcert. „Der Vater“ – wird berichtet, „spielte bei leerem Saale – der Sohn hatte ihn voll.“
Im Jahre 1825 spielte ein Knabe vor dem Publicum, der zehn Jahre später schon eine Stütze des Instituts wurde. Dies war der junge Ferdinand David aus Hamburg, der mit seiner Schwester Louise – der späteren Frau Dulken – zweimal im Extraconcert und dann im Neujahrsconcert auftrat.
Schicht starb im Jahre 1823, und schon vier Jahre später folgte ihm Schulz. Nun wählte man zum Dirigenten Christian August Pohlenz (geb. 1790 zu Sallgast in der Niederlausitz), der, wie Schulz, vom Studium, dem er in Leipzig oblag, zur Musik übergetreten war. Er war einer der Ersten, der mit Dilettanten in Leipzig Choraufführungen veranstaltete. Bei dem ersten Debut der Aufführung der „Schöpfung“ sang sein Freund, der berühmte Tenorist Gerstäcker, Vater des bekannten Reisenden, der Wachtel seiner Zeit und nebenbei ein gründlich musikalischer Sänger, die Tenorsoli. Pohlenz, der ganz besonders als Gesanglehrer geschätzt und dessen berühmte Schülerin Livia Gerhard war, sah sich am Gewandhause nur wenig vom Glück begünstigt, und schon 1835 wurde er durch einen Anderen ersetzt. Bevor wir uns aber zu diesem Nachfolger wenden, ist noch einiger kleinen Ereignisse zu gedenken, welche unter seiner Direction vorfielen. Da ist zunächst das erste Auftreten einer neunjährigen Pianistin zu erwähnen, welche „große Hoffnungen erregte“. Ihr Name war Clara Wieck – nachmals Clara Schumann. Sie spielte im Jahre 1828 zum ersten Male, und fünfzig Jahre später bereitete das Gewandhaus-Directorium ihr eine erhebende Jubiläumsfeier. – In einem Extraconcert jener Zeit begegnen wir allem Anscheine nach zum ersten Male einem großen Meister, der damals schon todt war: Franz Schubert’s Forellenquintett. Trauernd registriren wir, daß es „nicht gefiel“.
Das Jahr 1831 war das Jubiläumsjahr des fünfzigjährigen Bestehens der Gewandhaus-Concerte. Dasselbe wurde auch in aller Form gefeiert durch ein Festprogramm, welches der hochverdiente Rochlitz aus den nach seiner Meinung beliebtesten Compositionen der verschiedenen Perioden zusammengesetzt hatte. Dieses Jubiläumsjahr brachte auch einen wichtigen Geburtstag – nämlich den einer Ouverture von Richard Wagner. Letzterer, bekanntlich ein geborener Leipziger, war damals achtzehn Jahre alt und machte seine Studien beim Thomascantor Weinlig. Die Ouverture gefiel. Noch mehr aber eine Symphonie Wagner’s, welche im nächstfolgenden Jahre zur Aufführung kam und laut und mit verdientem Beifall begrüßt wurde. Der Redacteur, Magister Fink, schrieb über den später so berühmt gewordenen jungen Künstler: „Etwas Eigenes lebt in seiner Seele.“ Wagner’s Wege führten in der Folge vom Concertsaale weitab. Soweit möglich, ist aber auch dem Gewandhaus-Publicum immer Gelegenheit gegeben worden, dieselben zu verfolgen. Nach jener Symphonie vergehen allerdings zehn Jahre, ehe wir dem großen Componisten wieder in diesem Saale begegnen; denn erst im Jahre 1842 sangen in einem Extraconcerte Tichatschek und Frau Schröder-Devrient Nummern aus dem für Leipzig neuen „Rienzi“. Später sind mehrfach die Ouvertüren der Wagner’schen Musikdramen im Gewandhause aufgeführt worden. Die freundlichste Aufnahme aber von allen Compositionen des Meisters fanden die Fragmente aus „Lohengrin“, welche Rietz im Jahre 1853 vorführte.
Der Ersatzmann für Pohlenz in der Direction, auf welchen wir hindeuteten, war Felix Mendelssohn-Bartholdy, damals schon ein Liebling des Gewandhaus-Publicums; denn unter all den Arbeiten neuer junger Talente, welche in diesem Saale debütirten, von denen wir Wilhelm Taubert, Fr. Lachner – der allerdings etwas früher einzuschalten ist –, Otto Nicolai nennen wollen, machten die Mendelssohn’schen Werke den reinsten und gewinnendsten Eindruck. Seine „Sommernachtstraum“-Ouvertüre, die bald nach der Wagner’schen Symphonie im Armenconcert 1832 gegeben wurde, hatte geradezu bezaubert, wie man auch fand, daß die „Hebriden“-Ouvertüre, welche bald folgte, ein „herrliches Werk“ sei. Die künstlerischen Tonangeber in Leipzig hatten wohl erkannt, daß der gebildetste Kunstgeist jener Zeit in diesen Werken lebte, und waren von dem Wunsche beseelt, diese phänomenale Kraft an Leipzig zu fesseln. Ein Arrangement mit der Universität kam nicht zu Stande, aber das bereits so blühende Gewandhaus bot Mendelssohn einen Boden für seine Neigungen, und so folgte er denn einem Rufe an dieses Institut. Mit Mendelssohn-Bartholdy’s Antritt im Herbste 1835 beginnt die eigentliche Glanzepoche des Leipziger Gewandhauses. Die Leipziger hielten schon längst sehr viel von ihrem Gewandhaus-Orchester, aber seit Mendelssohn an der Spitze desselben stand, war es doch noch ein ganz anderes. Er brachte einen neuen Geist mit und – was wir nicht vergessen wollen – eine neue Directionsmethode. Bisher nämlich hatte der nominelle Musikdirector der Gewandhaus-Concerte, hatten die Hiller, Schicht, Schulz, Pohlenz mit den eigentlichen Hauptwerken der Programme, mit den reinen Orchestercompositionen gar nichts zu thun gehabt. Diese dirigirte der Concertmeister an seinem Pulte ungefähr so, wie wir es jetzt noch in Gartenconcerten, bei Tanzmusiken sehen, wo der Führer der Capelle mitgeigt und nur beim Wechsel des Tempo, bei schwierigen Einsätzen einzelner Instrumente mit dem Bogen vorübergehend einige Winke giebt. Dieses Verfahren war sogar schon in London seit fünfzehn Jahren abgeschaftt worden, und wie es sich in Leipzig so lange erhalten konnte, ist schwer zu begreifen; ja, durchaus erstaunlich liest es sich, daß das Leipziger Gewandhaus-Orchester unter solcher Direction auch ganz neue und schwere Werke wie Beethoven’s Chorphantasie mit einer einzigen Probe erledigen konnte. Selbst unter einem geringeren Künstler als Mendelssohn hätte die neue Directionsweise auf die Leistungen des Orchesters Wunder wirken müssen. Und sie that es augenscheinlich. Das Orchester folgte Mendelssohn’s Worten, als wären es Orakelsprüche. Unbedingt war seine Autorität und noch größer seine Liebenswürdigkeit. Er gewann Jeden, der ihm nahe trat, und er gewann ihn für’s Leben. Als Mendelssohn todt war, schon lange Jahre todt, kam es vor, daß Einer aus der Gesellschaft aufstand und fortging, weil er es nicht hören mochte, daß von Mendelssohn so schlecht gesprochen wurde.
Bald nachdem Mendelssohn seine Stellung angetreten hatte, starb Matthäi, der langjährige Concertmeister des Instituts, dem hauptsächlich das Verdienst zugeschrieben werden muß, die Quartettunterhaltungen der Gesellschaft in’s Leben gerufen zu haben, welche im Jahre 1809 begannen und im kleinen Saale abgehalten wurden – zwölf im Jahre. Ihre Zahl unterlag im Laufe der Zeit mancherlei Modificationen, bestanden haben sie aber ohne Unterbrechung, und ihre Gemeinde ist mehr und mehr gewachsen, sodaß sie in den großen Saal übersiedeln mußten, wo seit einer Reihe von Jahren nun schon allwinterlich acht abgehalten werden.
Matthäi’s Nachfolger wurde Mendelssohn’s Freund, der junge Ferdinand David, den man später mit Recht den „Musterconcertmeister“ nannte. Die unvergleichliche Elasticität, die Einheit und Genauigkeit des Streichorchesters im Leipziger Gewandhaus ist hauptsächlich sein Verdienst, ein Verdienst, welches er sich Mühe [803] genug kosten ließ. Dieser feingebildete, auch in den höchsten Formen der Composition selbstgeübte und gewandte Musiker wurde Mendelssohn’s treuester Helfer. Schumann nannte ihn „die rechte Hand des Orchesters, einen Musiker, der über Berge hinüber hört.“ Neben ihm standen an den Pulten noch Queißer, Grenser, Ulrich, der Componist C. G. Müller, später Director der „Euterpe“, und eine andere Reihe außerordentlicher Musiker.
Auch den Programmen verstand Mendelssohn neues Leben einzuhauchen. Er veranstaltete historische Concerte, und dabei griff er auf den alten Johann Sebastian Bach zurück, dessen D-dur-Suite wie ein Riese unter die moderne Gesellschaft trat. „Bach wiegt uns sammt und sonders auf dem kleinen Finger,“ rief Robert Schumann aus. Damals war es, daß bei Gelegenheit des von Mendelssohn gespielten D-moll-Clavierconcerts von Bach derselbe Schumann eine Gesammtausgabe von Bach’s Werken in Anregung brachte, eine Idee, welche der Musikverleger Peters schon im Jahre 1800 – zur großen Freude Beethoven’s – gehegt hatte, welche aber erst in den fünfziger Jahren durch die „Bach-Gesellschaft“ zur Verwirklichung gelangte.
Es war, als sei mit Mendelssohn ein neuer Frühling in’s Gewandhaus gezogen; denn eine ganze Reihe neuer Componisten trat plötzlich auf. In allen Ländern begann es auf Mendelssohn’s Wink zu singen. Aus Holland kam Verhulst, aus Skandinavien Gade, aus England Bennett, und Alle mit frischen, blühenden Compositionen. Nennen wir bei dieser Gelegenheit auch gleich Berlioz mit, der in der Zeit von Mendelssohn’s Direction Frankreich im Gewandhaussaale vertrat und mit seinen phantastischen Werken die Meinungen lebhaft entfachte. Leipzig wurde jetzt zum Mekka aller Musiker.
Von den Mitstrebenden deutscher Nation, die ihre Opfer im Gewandhaussaale brachten, sei besonders Norbert Bergmüller genannt, der geniale Freund des unglücklichen Grabbe. Leider starb er, erst sechsundzwanzigjährig, im Jahre 1836. Seine Symphonie, die Mendelssohn im Winter von 1837 zu 1838 aufführte, war vielleicht das bedeutendste Werk, welches jene Zeit im Symphonienfache hervorgebracht; sie sollte nicht vergessen sein. Auch der den Lesern der „Gartenlaube“ speciell bekannte J. C. Lobe erschien in der Zeit von Mendelssohn’s Direction vor dem Leipziger Gewandhaus-Publicum als Componist; als Flötenvirtuos hatte er sich hier schon in seinem dreizehnten Lebensjahre vorgestellt, und es hieß damals: „er spielt wie ein Mann.“ Auf Gegenwart und Vergangenheit erstreckte sich Mendelssohn’s Macht, wie den alten Bach, so rief er einen anderen großen Unbekannten aus dem Grabe vor das Gewandhaus-Publicum. Das war Franz Schubert mit seiner C-dur-Symphonie, die Robert Schumann in Wien entdeckt und eingesandt hatte. Auch die vier „Leonoren“-Ouvertüren mit einander zu hören, glückte dem Gewandhaus-Publicum zum ersten Mal durch Mendelssohn, und unter seiner Direction wurde auch Robert Schumann, der große Zeitgenosse Mendelssohn’s, nun dem Publicum endlich bekannt. Wie man ihn in Wien blos als den „Mann der Clara Wieck“ ansah, so war er auch in Leipzig in seinem eigentlichen Werthe unbeachtet geblieben. Einzelne seiner Claviercompositionen waren vorgetragen worden und „gingen still vorüber“. Jetzt zeigte ihn Mendelssohn als den Symphoniker, und von da an war seine Position fertig. Heute zählt er, dank namentlich den Bemühungen des jetzigen Dirigenten, zu den erklärtesten Lieblingen des Gewandhauses, das er selbst liebte und zu preisen wußte, wie kein Zweiter. Auch der eben erwähnte gegenwärtige Dirigent des Gewandhauses, Karl Reinecke, allen musikalischen Lesern der „Gartenlaube“ eine liebe und vertraute Persönlichkeit, debütirte noch in der Mendelssohn’schen Zeit im Gewandhause als Pianist.
Es war eine herrliche Zeit für das Gewandhaus – die Zeit Mendelssohn’s, und noch heutigen Tages leuchten den alten Leipziger Musikfreunden die Augen, wenn sie von dieser Zeit sprechen. Die Stadt Leipzig machte Mendelssohn zum Ehrenbürger; die Universität verlieh im den Doctortitel honoris causa, aber leider wurde der geniale Mann seinem geliebten Wirkungskreise schon im Jahre 1847 entrissen. Das war eine große Trauer weit über die Mauern der Pleißenstadt hinaus.
Mendelssohn’s Freund, David, blieb dem Institut noch bis zum Jahre 1873 erhalten. Auch während Mendelssohn’s Lebzeit hat er diesen zeitweilig in der Direction vertreten. Ferdinand Hiller (geboren 1811 zu Frankfurt, Capellmeister in Köln) und Niels Gade (geboren 1817 zu Kopenhagen, daselbst Capellmeister) wurden substituirt.
Letzterer übernahm die Direction auch noch einmal auf anderthalb Jahre in der Periode 1848 bis 1860, als deren Repräsentant Julius Rietz anzuführen ist. In Berlin im Jahre 1812 geboren, also wenig jünger als Mendelssohn, war Rietz mit diesem von Jugend auf befreundet. Von ihm wurde er nach Düsseldorf gezogen und folgte ihm dort später im Amte. Auch in Leipzig wurde er Mendelssohn’s Nachfolger. Ein feiner Musiker, wie Rietz war, dazu ein geborener Dirigent, schon durch den Jupiter-Kopf, den scharfen Blick und das kurze Wort imponirend, hielt er das Institut mit leichter Mühe auf der Höhe, auf welche es sein großer Freund und Vorgänger gestellt. Zum allgemeinen Bedauern wurde er im Jahre 1860 als Hofcapellmeister nach Dresden berufen, wo er im Jahre 1877 als königlich sächsischer Generalmusikdirector starb. Ihm war es vergönnt, lange Zeit die Musikfreunde des Gewandhauses mit verborgenen Schätzen aus dem Nachlasse Mendelssohn’s zu erfreuen. Unter seiner Direction debütirten die Pauliner, seit länger als zwanzig Jahren nun Stützen des dem Institute zuständigen Chors und Lieblinge des Publicums. Unter den Virtuosen von Distinction, denen wir in der Rietz’schen Periode im Gewandhause begegnen, seien die Pianistin Wilhelmine Clauß-Szarvady und der Sänger Stockhausen genannt, unter den Componisten H. Ulrich, Reinthaler, Bargiel, Bruch, Reinecke, Veit, Wuerst, A. Dietrich und vor Allem Johannes Brahms.
Mit der neuesten Periode, der verdienstvollen Direction Karl Reinecke’s (geboren am 12. Juni 1824 zu Altona), betreten wir ein Terrain, das allen musikalischen Lesern der „Gartenlaube“ zu gut bekannt ist, als daß wir uns die weitere Fortsetzung des Ciceronenamtes gestatten dürften. Wir nehmen von dem Jubilar mit dem Bewußtsein Abschied, daß er trotz seiner hundert Jahre kein Greis ist. Wie bekannt, denken die Gewandhaus-Concerte an einen neuen Umzug; ihr zukünftiges Heim, welches ihnen Räumlichkeiten bieten soll, die den veränderten Größenverhältnissen der Stadt, den hochgesteigerten Ansprüchen der Chorbesetzung entsprechen, wird hoffentlich in nicht zu langer Zeit geschaffen sein. Die großen Mittel, welche die Errichtung fordert, zeichneten Leipzigs Musikfreunde hochherzig und schnell. Möge derselbe gute Sinn, dem das Gewandhaus seine Blüthe verdankt, immer fortleben, möge das Institut weiter und weiter gedeihen zum Heil der Kunst, zum Heil der Menschheit!
- Motto: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“
Der Versuch, dem Leserkreise der „Gartenlaube“ die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments in großen Zügen vorzuführen, bedarf kaum einer besonderen Rechtfertigung. Wer nur halbwegs mit der Entwickelung unserer Zeit gleichen Schritt gehalten hat, der ist sich darüber vollständig klar, daß der Anspruch der orthodoxen Kirche, in der Bibel einen unfehlbaren Glaubenscodex, eine unbedingte göttliche Autorität zu besitzen, vor der fortschreitenden Wissenschaft in nichts zusammenfällt. Fast bis zum Ueberdruß oft ist auf die Widersprüche, die zwischen den einzelnen Büchern der Bibel bestehen, auf die historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Irrthümer, selbst auf die einseitigen sittlichen und religiösen Anschauungen, die sich in der Bibel finden, hingewiesen worden.
[804] Wohl überschwemmt die Orthodoxie jahraus jahrein das Land mit Colporteuren, um der Bibel neuen Eingang in die Häuser zu verschaffen, und es ist allein den preußischen Bibelgesellschaften gelungen, im vergangenen Jahre 52,741 Bibeln und 14,786 Neue Testamente abzusetzen. Aber trotzdem ist die Bibel kein Volksbuch mehr. Sie ist vorwiegend Decoration für Familienbibliotheken und wird wohl noch gekauft und verschenkt, aber wenig gelesen.
Die wissenschaftliche Theologie hat längst einen richtigeren Maßstab für die Würdigung der biblischen Schriften gewonnen, als ihn die altkirchliche Orthodoxie in ihrem Dogma von. der göttlichen Eingebung der Bibel besaß. Die Wissenschaft vergöttert und betet die Bibel nicht mehr an, sondern sucht dieselbe als ein Glied in dem gesammten Entwickelungsgange der Religions- und Kirchengeschichte zu begreifen; sie leugnet die Entstehung der Bibel durch directe göttliche Eingebung und übernatürliche Mittel und erklärt sie für ein Werk von Menschenhand, für ein Buch wie andere Bücher. Bei dieser Betrachtungsweise hat die Bibel wahrlich nicht verloren, sondern nur gewonnen. Wenn dagegen in der Mehrzahl unserer Schulen die alte traditionelle Auffassung der Bibel auf hohen obrigkeitlichen Befehl ruhig weiter gelehrt wird, als ob eine wissenschaftliche Theologie überhaupt nicht existire, so ist das ein Verhängniß, das weder dem Volke noch der Bibel zum Segen ausschlägt.
Die Bibel, insbesondere das Neue Testament, ist unleugbar mit der Geschichte der civilisirten Welt auf's Engste verbunden. Die Entstehung des Neuen Testaments bezeichnet immerhin, wie man auch sonst über dasselbe denken mag, einen der epochemachendsten Punkte in der gesammten Menschheitsgeschichte. Um so bedeutsamer erscheint deshalb die Frage, was es denn mit diesem Buche eigentlich auf sich habe.
Der geschichtliche Proceß, dem das Neue Testament seine Entstehung verdankt, ist keineswegs so einfach, wie die vulgäre kirchliche Anschauung anzunehmen pflegt. Ursprünglich hatten die christlichen Gemeinden, die in ihren Gottesdiensten einfach zunächst die heiligen Schriften der Juden gebrauchten, überhaupt keine eigenen heiligen Schriften. Die älteste Art und Weise, das Christenthum zu verbreiten, war ohne Zweifel die der mündlichen Predigt. Jesus selber hatte bekanntlich keinerlei schriftliche Aufzeichnungen über seine Lehre hinterlassen, und seine Jünger, die nach seinem Tode den Zusammenbruch dieser Welt erwarteten, konnten zunächst gar kein Bedürfniß haben, ihre Predigt für nachkommende Geschlechter sicher zu stellen, zumal so lange sie mit derselben nicht über den Kreis der sie umgebenden Gemeinde hinausgingen. Nur von dem Apostel Matthäus haben wir die verbürgte Nachricht, daß er schriftliche Aufzeichnungen über die Reden Jesu hinterlassen habe. Papias, der Bischof von Hierapolis, gestorben um 163, ist hierfür Gewährsmann, und außerdem begegnet uns auch in der ältesten Kirche die Kunde von einem sogenannten Hebräer-Evangelium, welches, wenn nicht gar mit jenem Evangelium des Matthäus identisch, doch mit demselben nahe verwandt war. Dieses Matthäus-Evangelium ist indeß in seiner ursprünglichen Gestalt verloren gegangen. Es war hebräisch geschrieben und wird neben den hauptsächlichsten Reden Jesu einzelne kurze biographische Daten aus dessen Leben enthalten haben. Daneben vertrat es den judenchristlichen, an dem alten mosaischen Gesetz festhaltenden Standpunkt. Unser griechisches Matthäus-Evangelium, das uns im Neuen Testamente aufbewahrt ist, kann keine Uebersetzung des ursprünglichen Evangeliums sein, wen es Bestandtheile enthält, welche in dem Ur-Matthäus nicht gestanden haben, und weil es sich in der freien Behandlung alttestamentlicher Citate als ein griechisches Original, nicht aber als eine Uebersetzung aus dem Hebräischen bekundet.
Welch weiter Weg ist nun von jener in engen Grenzen sich bewegenden mündlichen Predigt der Jünger und jenem einfachem nur noch in einzelnen Bruchstücken mühsam erkennbaren hebräische Matthäus-Evangelium bis zu dem so reich und mannigfaltig gestalteten Inhalte unseres Neuen Testaments! Ein Weg, der durch die Geschichte von Jahrhunderten hindurchführte und erst am Anfang des fünften Jahrhunderts, im Zeitalter Augustin’s, durch den definitiven Abschluß des neutestamentlichen Canons sein letztes Ziel erreicht. Dieser Weg war durchaus nicht glatt und eben. Das Neue Testament hat sich nicht so gebildet, daß uns einem vorhandenen Grundstock sich die einzelnen Zweige organisch heraus entwickelten. Es ist vielmehr das Resultat heftiger Strömungen und Gegenströmungen, die ihre Spuren deutlich in der Geschichte zurückgelassen haben.
Schon als die einzelnen Schriften des Neuen Testaments sämmtlich vorhanden waren, wurde immer noch um ihre offizielle Anerkennung und Aufnahme in die kirchlich autorisirte Sammlung gekämpft. So theilt noch der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius von Cäsarea, gestorben 340, die Bücher des Neuen Testaments in solche, die allgemein anerkannt waren, und in solche, denen widersprochen wurde. Zu der ersten Gruppe rechnet er die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Paulusbriefe, den ersten Petrus- und den ersten Johannesbrief zu der zweiten dagegen den Brief des Jacobus, des Judas, den zweiten Brief des Petrus und den zweiten und dritten Brief des Johannes, während die Offenbarung Johannis bald zur ersten, bald zur zweiten Gruppe gerechnet wurde. Von Hause aus giebt es aber im Neuen Testament keine einzige Schrift, deren Berechtigung nicht angefochten wurde, und je weiter wir in die ältesten Zeiten der Kirche hinausgehen, desto schwankender wird der Inhalt der neutestamentlichen Sammlung. Eine Anzahl Schriften, welche die Kirche später gar nicht in ihre Sammlung aufgenommen hat, stand früher bei vielen Gemeinden in hohem Ansehen, so z. B. das Hebräer-Evangelium, die Thaten und die Predigten des Petrus, die Offenbarung des Petrus und andere. So waren auch Schriften, die bei dem einen Theil der Christen in Gebrauch waren, bei dem andern entweder völlig unbekannt oder geradezu verworfen.
Sobald man nun diese verschiedenen, zum Theil sogar einander ausschließende Schriftsammlungen näher betrachtet, entdeckt man, daß denselben ein bestimmtes System zu Grunde liegt. Diese Verschiedenheiten erscheinen nämlich bedingt durch die verschieden Stellung, welche die einzelnen Parteien der christlichen Kirche zu der Person des Paulus und der durch ihn vertretenen heidenfreundlichen Richtung einnahmen. Noch der Bischof Papias erkennt als heilige Schriften nur zwei Evangelien, das hebräische des Matthäus und das des Marcus, den ersten Petrus- und den ersten Johannesbrief, sowie die Offenbarung Johannis, an; der Kanon des gleichzeitig lebenden Häretikers Marcion enthält dagegen nur eine unserem Lucas-Evangelium verwandte Evangelienschrift und zehn Briefe des Paulus. Und doch war zur Zeit des Papias dem Widerspruch gegen Paulus in der officiellen Kirche schon die Spitze abgebrochen, wie die Ausführung des ersten Petrusbriefes, einer entschieden vermittelnden Schrift beweist. Nichtsdestoweniger fuhren die Heißsporne aus dem Judenchristenthum immer noch fort, ihre Bannstrahlen gegen den bestgehaßten der christlichen Prediger zu schleudern. Wie fanatisch diese Polemik gegen den Paulinismus geführt wurde, ist besonders aus den Homilien des falschen Clemens und den älteren Apostelgeschichten, den Thaten und Reden des Petrus, zu ersehen. Dort ist Paulus der Typus des Erzketzers. Er wird als Magier Simon hingestellt, der im Gegensatz zu dem wirklichen Simon, dem Petrus, die Gabe des heiligen Geistes mit Geld habe erschleichen wollen. Er wird geschildert als der feindliche Mensch, der Unkraut unter den Weizen säte, der in den Tempel eingebrochen sei, um den Feuerbrand vom Altar zu reißen und das Zeichen zur Verfolgung zu geben, als der, der gekommen sei, die Seele zu täuschen, indem er den Juden heuchelte und vorgab, das Gesetz Gottes zu lehren.
Wen am Anfange und in der Mitte des zweiten Jahrhunderts solch erbitterten Gegensatz gegen den großen Heidenapostel noch bestand, so geht die neuere Kritik sicherlich nicht fehl, wenn sie annimmt daß Paulus überhaupt der Mittelpunkt war, um den sich die Bewegung in der ältesten christlichen Kirche drehte. In der That ist es Paulus gewesen, der zu jener im alten Matthäus-Evangelium zum Ausdruck gekommenen judenchristlichen Strömung die Gegenströmung erzeugt und dadurch die literarische Thätigkeit der alten Kirche erst in Fluß gebracht hat. Da wir das hebräische Urevangelium nicht mehr besitzen, so sind wir also für die Kenntniß des urchristlichen Lebens an die Briefe des Paulus als an die ältesten Quellen des Christenthums gewiesen.
Unter den Briefen, welche den Namen des Paulus tragen, müssen wir aber wieder diejenige vorläufig ausscheiden, welche offenbar den Stempel einer späteren Zeit an sich tragen, sodaß als unzweifelhaft echt paulinisch nur vier Briefe übrig bleiben: die beiden an die Corinthier, der an die Galater und der an die Römer,
[805]zu denen als wahrscheinlich paulinisch noch der Brief an die Philipper, der an die Ephesier und der an dem Philemon, vielleicht auch der erste Thessalonicherbrief kommen. Beschränken wir uns indeß, um theologische Details zu vermeiden, auf die vier zuerst angeführten! Aus denselben tritt uns zunächst das Charakterbild des Verfassers in scharf geschnittenen Umrissen entgegen.
Es ist ein Charakter, der die größten Gegensätze in sich vereinigt. Die alte ungestüme Leidenschaft, mit welcher der junge Tarser einst die Mitglieder der neuen Secte aufgespürt hatte, um sie dem Henker zu überliefern, hat zwar reinere und edlere Ziele gefunden, aber sie ist nicht gebrochen. Was sich ihm in den Weg wirft, wird schonungslos niedergetreten. „Mögen sie ausgerottet werden, [806] die euch zerstören!“ sagt er und ferner: „Wer ein anderes Evangelium predigt, als ich gepredigt habe, der sei verflucht!“
Solche Worte lassen noch wieder den alten Zeloten von früher erkennen. Er wird in diesem Eifer für seine Sache selbst ungerecht gegen den Gegner. Er sieht Heuchelei und böse Absicht, wo doch nur Schwäche oder irrige Ueberzeugung zu finden ist. Daneben ist das Herz dieses stürmischen Eiferers wieder der weichsten und innigsten Empfindungen fähig. Paulus ist es ja, der die Liebe höher stellt als alles Reden mit Menschen- und Engelzungen, höher als alle Weisheit, ja höher als den Glauben und die Hoffnung.
So wechselt in seinen Briefen oft plötzlich die Stimmung. Nachdem er eben noch heftig gedroht, verfällt er kurz darauf in den rührendsten Ton der Bitte und der Ermahnung. Seine unverwüstliche Arbeitskraft, die ihn rastlos in zwei Welttheilen umhertreibt, indem er den Tag über zu seinem Lebensunterhalte Teppiche webt und Abends und Nachts über die höchsten Probleme der Menschheit predigt und discutirt – diese Arbeitskraft wird getragen von einem schwachen, gebrechlichen Körper, der ihm oft viel zu schaffen macht und nach Momenten höchster geistiger Erregung oft den Dienst versagt. Das hohe Selbstbewußtsein, das ihn im Blick auf die heilige Sache, der er dient, über sich selbst erhebt, hat zu seiner Kehrseite die Erinnerung an die große Verirrung seiner Jugend, der er zum Opfer gefallen ist, und diese Erinnerung legt über sein ganzes Wesen einen tiefen melancholischen Schatten, der nach den Augenblicken höchsten Jubels und höchster Seligkeit doch wieder zum Vorschein kommt. Bald ist er schwärmerisch entzückt, daß er nicht mehr weiß, ob er im Leibe ist oder außerhalb des Leibes; er schaut Visionen, die kein sterblich Auge gesehen; er hört unaussprechliche Töne. Und doch sieht sein nüchterner praktischer Blick, daß ein vernünftiger, der Belehrung und Besserung dienender Gedanke mehr werth ist, als alle diese Zustände verzückter Erregung.
Widerspruchsvoll wie der Charakter, ist auch die Theologie, die in den Briefen des Paulus vertreten ist. Diese Theologie ist in ihrer Grundlage durchaus pharisäisch geblieben. Die Cardinalfrage des Pharisäismus, wie der Mensch gerecht werde vor Gott, ist auch die Cardinalfrage der paulinischen Theologie. Diese Frage ist aber nur möglich, wo das Verhältniß von Gott und Mensch noch als ein äußerliches, juristisches aufgefaßt wird. Sie setzt voraus, daß ein Rechtshandel zwischen Gott und Mensch bestehst und es kommt nur darauf an, diejenige Rechtsnorm zu finden, nach welcher der Handel zum Austrag gebracht werden muß. Die Pharisäer sagten: „Das Gesetz ist diese Rechtsnorm; wer dasselbe erfüllt, der ist gerecht.“ Paulus sagte: „Der Glaube ist diese Rechtsnorm; denn der Glaube wird dem Menschen kraft eines alten, schon vor Einführung des Gesetzes mit Abraham abgeschlossen Vertrages als Gerechtigkeit angerechnet.“
Auch in der Form verrathen die paulinischen Briese noch durchweg den früheren Pharisäer. Um einen Gedanken zu beweisen, geht er nicht auf die innere Logik und Wahrheit der Sache ein, sondern er geht auf das Alte Testament zurück, das er in echt rabbinischer Weise verwendet. Er hängt nach Art der Rabbiner einen ganzen Berg an ein Haar; das heißt: er zieht aus einem an sich ganz geringfügigen Umstande die schwerwiegendsten Folgerungen. Diese Art rabbinischer Beweisführung macht viele Stellen der paulinischen Briefe für den Laien unverständlich, ja geradezu ungenießbar.
Und doch ist dieser Paulus, der mit dem einen Fuße im Pharisäismus stecken geblieben ist, zugleich auch wieder der kühnste Vertreter der christlichen Freiheit. Ihm ist das Christenthum gleichbedeutend mit der Religion der Freiheit. „Ihr seid zur Freiheit berufen, Bestehet in der Freiheit!“ So ruft er den Galatern in's Gewissen. „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist, einen Geist der Flucht, sondern einen kindlichen Geist empfangen,“ so schreibt er an die Römer, und: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“ das ist das große Thema des ersten Corintherbriefes.
Auf diesem freien religiösen Standpunkte ist die Scheidewand zwischen den Nationen und Confessionen gefallen. Die äußeren Ceremonien, welche die Menschen trennten, haben da ihre absolute Bedeutung verloren. Deshalb gilt nun nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Mann noch Weib, Knecht noch Freier – sie sind allzumal Eins. Wenn Jemand noch Tage hält, Neumonde und Jahreszeiten feiert, so mag er das um des schwachen Gewissens willen thun. Aber er kehrt damit zurück zu den dürftigen und überwundenen Anfängen der Gottesverehrung. In allen religiösen und sittlichen Dingen bleibt das Gewissen die letzte Instanz.
Niemand darf sich zum Richter eines fremden Gewissens aufwecken, und auch die Apostel sind nicht Herren über den Glauben der Gemeinde. Für den Standpunkt höchster sittlicher Freiheit gilt eben das Wort: „Alles ist euer! Alles ist erlaubt, was wir vor unserem Gewissen rechtfertigen und mit der Pflicht der Nächstenliebe vereinigen können!“ Alle äußeren Satzungen und Ceremonien der Religion sind nur für die Kinder und Unmündigen, die unter dem Zuchtmeister stehen. Die mündig gewordene Menschheit bedarf ihrer nicht mehr. Wer versucht, die Christen wieder unter ein knechtisches Joch zu fangen, versündigt sich an dem innersten Wesen des Christenthums.
Frei wie zu allem historischen Inhalt der Religion steht Paulus auch zur geschichtlichen Person Jesu. Wohl mag Paulus die Einzelnheiten aus Jesu Leben erkundet haben, wie er ja in Betreff der Einsetzung des Nachtmahls der entscheidende Zeuge ist. Aber der geschichtliche Jesus ist ja der „Christus nach dem Fleisch“, von dem Paulus mit einem gewissen Nachdruck behauptet, daß er ihn nicht mehr kenne, ob er ihn schon früher einmal gekannt habe. Als Quelle für die Geschichte Jesu bietet deshalb Paulus, die Einsetzung des Abendmahls abgenommen, wenig oder gar nichts. Sein Christus ist der ideale, der vergeistigte Christus, der aufgehört hat, sterblich zu sein. Christus ist ihm ein weltgeschichtliches Princip, das Princip der Erlösungsreligion, das schon seit Anbeginn der Geschichte wirksam, aber erst im Christenthum zu voller Entfaltung gekommen ist. Er ist ihm der andere Adam, das Urbild der Menschheit im Sinne der platonischen Idee, das, vom Anfang an in der Idee Gottes vorhanden, „als die Zeit erfüllet war“, im Fleische erschien.
Es ist von ganz außerordentlicher Bedeutung für die weitere Entwickelung des Christenthums, daß Paulus gerade diese Auffassung des Christenthums vertritt. Hatte die ursprüngliche, im Ur-Matthäus zur schriftlichen Darstellung gekommene jerusalemische Tradition sich hauptsächlich an die Lehre Jesu und überhaupt an die geschichtliche Wirklichkeit des Lebens Jesu gehalten, so liegt nun in dem paulinischen Christenthum das Hauptgewicht auf einer bestimmten speculativen Ansicht über die ideale Bedeutung der Person Jesu. Dort haben wir den realen, hier den idealen Christus, und dieser Gegensatz führte mit innerer Nothwendigkeit zu der späteren kirchlichen Lehre vom Gottmenschen.
Daß eine solche Predigt im Munde eines Mannes, der mit seiner ganzen Persönlichkeit für dieselbe in den Riß trat, eine zauberische Wirkung auf die Gemüther ausübte, läßt sich leicht begreifen. Die Predigt, daß die Menschen zur Freiheit berufen seien, schien dem innersten Verlangen der Menschen zu entsprechen, und gerade in der hellenischen Welt mußte Paulus für seine an die platonische Philosophie sich anlehnende theologische Vorstellungsweise günstigen Boden finden. Und doch läßt es sich ebenso leicht begreifen, daß diese Predigt auf der anderen Seite den heftigsten Widerspruch hervorrief. Eine solche absolute Freiheit, wie sie Paulus verkündigte, erschien den Meisten als alle Sittlichkeit und Religion untergrabend. Man muß gegen die Gegner des Paulus gerecht sein. Möglich, daß beleidigter hierarchischer. Ehrgeiz bei ihnen mitspielte. Hatte doch Paulus dem Petrus in Antiochien in höchst unehrerbietiger Weise nackt und unverhüllt den Vorwurf der Heuchelei in’s Gesicht geschlendert. Hatte er. sich doch um die angesehenen Jünger in Jerusalem gar nicht gekümmert, sondern auf eigene Faust, ohne ihre apostolische Bestätigung abzuwarten, das Amt eines Apostels angetreten. Doch werden persönliche Motive hier schwerlich den Ausschlag gegeben haben. Die jerusalemitischen Christen meinten eben wirklich, daß das Heiligthum der Religion gefährdet sei, wenn der scheinbar grundstürzende Liberalismus des Paulus um sich greife. Sie meinten, daß der, welcher so stark sich über alle historische Tradition hinwegsetze, unmöglich das wahre Christenthum haben könne. So ist es ein erbitterter Principienkampf, dem wir auf Schritt und Tritt in den Schriften des Paulus begegnen, ein Kampf, der sich aber der Natur der Sache nach auch bald persönlich zuspitzte. Man suchte den Paulus zu verdächtigen, er sei gar kein Apostel, er predige, um den Menschen zu gefallen, er suche seinen Vortheil, und wir sehen aus den Briefen des Paulus, daß diese Machinationen und Verdächtigungen nicht ohne Erfolg blieben.
[807] Doch war bis jetzt der Kampf nur im Geheimen, durch namenlose Abgesandte aus Jerusalem geführt worden, und das Uebergewicht der Persönlichkeit des Paulus hielt die Gegner noch einigermaßen im Zaume. Als aber Paulus von dem tragischen Geschick ereilt wurde, daß er zum Dank für die Geldunterstützung, die er der unter der Hungersnoth leidenden Gemeinde zu Jerusalem überbringen wollte, von seinen eigenen Glaubensgenossen, denen er zu helfen gekommen war, der Gefangenschaft überliefert wurde, war die Gelegenheit zu einer officiellen Bekämpfung des Paulinismus gekommen. Die älteste und bedeutendste dieser der Bekämpfung des Paulus gewidmeten Schriften ist die in das Neue Testament ebenfalls aufgenommene Offenbarung Johannis.
Bekanntlich hat dieses räthselhafte Buch den Theologen zu allen Zeiten viel Kopfzerbrechens gemacht, und noch heute sind die Acten, über dasselbe nicht vollständig geschlossen. Man hielt die Offenbarung lange Zeit für eine Weissagung auf eine mehr oder weniger ferne Zukunft und machte dadurch das Verständniß des Buches unmöglich, bis die neuere Kritik entdeckte, daß man es hier mit einer prophetischen Behandlung der Zeit, in der das Buch geschrieben war, zu thun habe. Von jeher war es im Alten Testamente beliebt, den Inhalt aller nationalen Hoffnungen durch prophetische Bilder auszudrücken. Je schroffer nun seit den Tagen der Verbannung der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und den nationalen Wünschen hervortrat, desto gewaltsamer suchte man sich durch eine prophetische Behandlung der jeweiligen Gegenwart über die Misere der Zeit hinwegzusetzen. So entstanden künstliche Nachbildungen der alten Prophetien, welche den Zweck hatten, die dunklen Nachtseiten der politischen Lage der Juden mit dem Lichte des nationalen Glaubens zu erhellen. Das älteste Denkmal dieser Art „Offenbarungen“ ist das Buch Daniel (um 163 vor Christo), dem noch mehrere ähnliche Erzeugnisse folgten. Da diese „Offenbarungen“ nur für die Eingeweihten bestimmt waren, so hüllten sie sich mehr und mehr in ein mystisches Gewand, indem man eine Geheimlehre erfand, in der nach dem Vorgange der Neupythagoräer der Zahl eine tiefere symbolische Bedeutung beigelegt wurde. Eine christliche Nachbildung dieser Art „Apokalypsen“ ist die Offenbarung Johannis.
Was zunächst die Zeit, in der das Buch abgefaßt ist, betrifft, so scheint dasselbe aus der nächsten Zeit nach dem Tode des Kaisers Nero (gestorben 9. Juni 68) zu stammen. Die neronische Christenverfolgung hat schon ihre Opfer gefordert. Das ehebrecherische Weib, die stolze Roma, ist trunken vom Blute der Heiligen. Der Seher sieht unter dem Altare die Seelen Derer, die um ihres Glaubens willen erwürgt sind, angethan mit dem weißen Kleide des Martyriums. Der jüdische Krieg ist entbrannt. Auf dem rothen Pferde sitzt ein Reiter, ein großes Schwert in der Hand, und ihm ist gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde. Andererseits ist der Tempel in Jerusalem noch nicht zerstört. Aber die Gemüther sind erfüllt von der Erwartung, daß Nero, das satanische Gegenbild Christi, mit neuen Heerschaaren wiederkehren und nicht nur Rom, sondern auch Jerusalem einnehmen werde. So wird die Zeit der Abfassung der „Offenbarung Johannis“ in den Anfang des Jahres 69, kurz vor die Ermordung Galba’s, zu setzen sein. Wir haben also hier ebenfalls eine der ältesten Urkunden des Christenthums vor uns – aber welch anderer Geist weht in dieser Schrift als in den Briefen des Paulus! Auch sie ist im Großen und Ganzen für dasselbe Publicum bestimmt, für das Paulus geschrieben, für die Gemeinden des proconsularischen Asiens, ja sie richtet sich direct an Gemeinden, die Paulus gestiftet.
Man hat darüber gestritten, ob es wirklich der Apostel Johannes ist, der hier mit dem ganzen Gewichte seines Ansehens gegen den Paulus in die Schranken tritt. Aeußere Gründe gegen die Abfassung der Offenbarung durch Johannes liegen nicht vor – im Gegentheile spricht die alte Ueberlieferung entschieden für Johannes. Und die Züge, die wir aus dem Inhalte der Offenbarung für den Charakter des Verfassers zu entnehmen vermögen, stimmen durchaus mit dem Charakterbilde des Johannes, das uns anderweitig überliefert worden ist. Wir dürfen allerdings bei diesem Johannes nicht an den Verfasser des vierten Evangeliums, an den Jünger, den „Jesus lieb hatte“, der „an der Brust Jesu“ lag, nicht an den Verfasser der Johanneischen Briefe, der als höchsten Inhalt des christlichen Gottesbewußtseins die Liebe hinstellt, denken; denn der geschichtliche Johannes ist ganz anders geartet. Er ist aus härterem Stoffe. Er ist einer der Donnersöhne, die Feuer vom Himmel auf die samaritanischen Städte herniederbeten möchten, als dieselben einmal den Meister nicht aufnehmen wollen. Er gehört zu den Säulenaposteln in Jerusalem, zu den gesetzeseifrigen Judenchristen, und diesem Geiste des Donnersohnes entspricht die Offenbarung. Auch hier wird Feuer vom Himmel auf Alle herniedergeholt, die nicht zu der Fahne des Apostels schwören.
Das Christusbild der Offenbarung ist nicht das des Weltenheilandes, des stillen sanften Menschenfreundes; es ist das Bild des jüdischen Messias, der in den Wolken des Himmels kommt, um alle seine Feinde zu zermalmen. Und zu diesen Feinden gehören in erster Linie alle Nichtjuden, gehört auch der falsche Apostel, der sich selbst für einen Apostel ausgiebt, aber als Lügner erfunden worden ist. Dieser falsche Apostel, der Paulus, hat ja das Essen des Götzenopferfleisches freigegeben. Jene Secte der Nikolaiten, welche die Offenbarung bekämpft, ist ja nichts Anderes, als eine mystische Bezeichnung der Anhänger des Paulus, denen der Apokalyptiker Schuld giebt, daß sie das Wort ihres Lehrers: „Alles ist mir erlaubt“, zum Deckmantel fleischlicher Ausschreitungen machen. Die Pauliner sagen wohl auch, sie seien Juden, aber sie sind die Synagoge des Satans. Hatte Paulus behauptet, daß der Geist alle Dinge erforsche, auch die Tiefen der Gottheit, so meint der Apokalyptiker, daß dieses gesetzesfreie Christenthum vielmehr die Tiefen des Satans erforsche. Es ist demnach der Standpunkt des extremsten Judaismus, auf dem die Offenbarung steht. Alles Heidenthum ist an sich Antichristenthum. Hier heißt es: kalt oder warm sein. Wer, wie die Pauliner, dem Heidenthum gegenüber lau ist, wer wohl gar für die Zulassung der Heiden zum Gottesreich eintritt, wird ausgespieen aus dem Munde Gottes.
Man kann es tief bedauern, daß die Kirche ein solches Buch, wie die „Offenbarung“, unter ihre „heiligen“ Schriften aufgenommen hat; denn aller Fanatismus späterer Jahrhunderte hat sich wesentlich an diesem Buche genährt. Die Blutgerichte der späteren Kirche, die Scheiterhaufen des Mittelalters sind nichts als die Erzeugnisse des apokalyptischen Geistes, und dieser Geist ist wahrlich nicht der Geist des Nazareners, der nicht gekommen war, der Menschen Seelen zu verderben.
Doch ist auch dieser fanatische Vorkämpfer eines engherzigen und unduldsamen Kirchenthums von der großen universellen Idee des Christenthums nicht völlig unberührt geblieben. Wohl kann sich der Apokalyptiker die religiöse Entwickelung nicht anders denken, als daß dieselbe über rauchende Trümmerhaufen und über die blutigen Gebeine der Heiden hinwegführt. Aber in der prophetischen Perspektive bleibt ihm doch die Ahnung, daß das Menschengeschlecht zu etwas Besserem, als zu Mord und Todtschlag berufen ist. Die arg mißhandelten und verzerrten Ideale flüchten sich in die Idee eines tausendjährigen Reiches, wo ein neuer Himmel über eine neue Erde sich wölbt, wo die Thränen abgewischt werden, kein Leid, kein Geschrei, keine Schmerzen mehr sein werden, sondern eine Hütte Gottes bei den Menschen.
So haben wir drei verschiedene Auffassungen des Christenthums in der ältesten Zeit vor uns. Erstens: die die historische Erscheinung Jesu einfach reproducirende, im verloren gegangenen Urevangelium des Matthäus niedergelegte Tradition; zweitens: das paulinische; drittens: das apokalyptische Christenthum.
Es wird in zwei ferneren Artikeln Aufgabe sein, zu zeigen, wie diese verschiedenen Auffassungen weiterhin auf einander eingewirkt haben und wie sie durch die geschichtliche Entwickelung mit einander vermittelt worden sind.
Blätter und Blüthen.
„Ein reizendes Buch“ nennt ein bekannter Naturforscher das Werkchen, in welchem der Ornitholog Dr. A. C. E. Baldamus eine Reihe von Forschungen und Belehrungen über das Leben der gefiederten Welt in einem entsprechenden Gewande darbietet. „Vogelmärchen“ betitelt der Verfasser sein Buch, gesteht aber im Vorwort selbst in scherzender Weise zu, daß es eigentlich keine Märchen seien. Er hat die Form der Thierfabel benutzt, um den Leser in das von ihm jahrelang beobachtete, dem Laienauge verborgene Familienleben und gesellige Treiben gerade derjenigen Vogel einzuführen, für welche er so gern den Ruf an alle fühlenden Herzen richtete: „Liebe auch du meine Lieblinge und trage, so [808] viel du vermagst, zu ihrem Schutze bei!“ – Es ist ein ungewöhnlicher, ganz außerordentlicher Genuß, den uns dieses Buch bereitet, und wir legen es nur aus der Hand, um, wie schon Viele gethan, Weib und Kinder herbeizurufen und die Freude an demselben mit ihnen zu theilen. Wir merken gar nicht, wie viel wir lernen, während wir dem Naturforscher, der hier mit vollster Beherrschung seines reichen Stoffes zum Dichter geworden ist, von Gruppe zu Gruppe seiner sechs Vogelschicksalsbilder folgen. Sie treten ja alle selbst vor uns auf, diese gefiederten Lieblinge der Kinder und aller guter Menschen; sie erzählen uns ihre Erlebnisse, und wir lauschen sowohl ihrem traulichen Geplauder, wie auch ihren bitteren Klagen über feindselige Begegnung von Seiten ihres eigenen Geschlechts und noch mehr über das Böse, das sie zu erdulden haben von dem „ungefiederten Zweibein“, dem Menschen. Bald erquickt uns dabei das Harmlose und Sinnige ihres geselligen Treibens; bald erfüllt uns der Anblick ihrer Verfolgungen, Mißhandlungen und Quälereien das Herz mit Wehmuth und mit Zorn. Und wie nahe die Parallele zwischen dem Menschen- und Vogelleben auch liegt, so verläßt den Verfasser doch keinen Augenblick der Ernst der Wahrheit; nie verfällt er in Spielerei, und kein einziger der oft sehr geschwätzigen Vögel spricht etwas anderes, als er in jedem bestimmten Fall sprechen würde, wenn er die menschliche Sprache reden könnte. Nirgends findet sich ein Verstoß gegen die Vogel-Logik, und jedes dieser gefiederten Thierchen spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Wir können hier auf die einzelnen Stücke nicht näher eingehen, sondern deuten nur kurz ihren Inhalt an. Im ersten Stück, im „Elfenprinzeßchen“, wird die Kukuksfrage, welche auf dem letzten internationalen Bachstelzentage am Menzalahsee auf der Tagesordnung stand, durch das Erlebniß in einer Bachstelzen-Wochenstube illustrirt. – Das zweite Stück, „Eine Künstlerlaufbahn“, wird trotz des heiteren Stieglitzenlebens mit dem lieblichen Spiel „Zweigleinvermiethens“ zu einem sehr düsteren Bilde durch die Erzählung des schicksalreichen Fritz Stieglitz, der uns erst die Abscheulichkeit des mörderischen Singvögelfangs mit dem Schlaggarn und dann die Peinigung der begabtesten Sänger durch die Dressur zum „Komödianten“ schildert. – Im dritten Stück, „Die Rache der Kleinen“, wird ein frecher Spatz in ein Schwalbennest eingemauert; die praktischen Lehren der Schwalbenschwiegermutter über den Nesterbau werden vom Schwalbenschwiegersohn nicht beachtet, und so stürzt sein zu naß geklebtes Nest auf den Boden, ein Beweis, daß auch die Vögel nur durch Schaden klug werden. – Das vierte Stück heißt: „Ein Winterkindelbier an der Roßtrappe“. Weil Frau Kreuzschnabel Krünitz schon um Neujahr das erste Mal ausbrütet, so kann Herr Krünitz zu einer Sylvester- und Kindtaufsfeier zugleich einladen und gewährt uns so den Genuß eines prachtvoll geschilderten Wintervergnügens der eingeladenen Vogelgesellschaft.
Im hellsten Glanze strahlt das fünfte Stück: „Eine Vogelsymphonie“, welche eine Vergleichung von Beethoven’s Pastoralsymphonie mit dem Gesange der schönstimmigsten Singvögel aufstellt und mit einem Lobe der berühmten Nachtigall im „Ring der Nibelungen“ schließt. – Von erschütternder Tragik ist das letzte Stück: „Eine Straußenjagd“. Vor unseren Augen wird der König der Wüste mit seinem Volke von der wilden Habgier zu Tode gehetzt. Man reißt aus den noch zuckenden Leibern die prächtigen Federn, welche einst von den Helmen der alten Römer und der Ritter des Mittelalters weheten – „die noch heute von Deinem Hute nicken, verehrte Leserin! – Bist Du nicht reizend – auch ohne den blutigen Schmuck?“ So schließt das Buch.
Sollen wir uns vielleicht entschuldigen, daß wir unseren Lesern mit Baldamus’ „Vogelmärchen“ keine sogenannte „Novität“ empfehlen, sondern ein Werk, das nicht mehr ganz neu ist? Wir halten dafür, daß es zur Pflicht der Presse gehört, das Publicum auch aus solche Werke aufmerksam zu machen, die es bei der Ueberfülle des Büchermarktes übersehen und deren wahren Werth es nicht erkannt hat. Das Neueste ist bekanntlich nicht immer das Beste. Außerdem können wir nur wünschen, daß Baldamus seine Märchenmappe, wie er es versprochen hat, recht bald noch einmal öffne.
Meyer’s Fach-Lexika. Mit jedem Jahre gewinnt im deutschen Publicum das Conversationslexikon an Terrain. Aus den Lesezimmern der Bibliotheken bahnte es sich den Weg in die nunmehr zahlreich vorhandenen Lesehallen verschiedenartigster Vereine, ja sogar in viele Restaurants der Großstädte ist es heute gedrungen, und es bildet hier neben guter Zeitungslectüre ein nicht zu unterschätzendes Zugmittel. Es wäre grundfalsch, zu behaupten, daß diese große Verbreitung der encyklopädischen Literatur in der Verfluchung der modernen Bildung ihre Stütze habe. Gerade die Tiefe des heutigen Wissens und die Vielseitigkeit des menschlichen Könnens zwingen selbst den Gelehrtesten, in vielem Fällen zu dem Conversationslexikon seine Zuflucht zu nehmen; denn ein Mann, der, wie einst Aristoteles, das gesammte Wissen seiner Zeit in sich vereinigte, wäre heutzutage eine unmögliche Erscheinung. Die bis jetzt erschienenen Conversationslexika sind aber sämmtlich viel zu theuer, um Volksbücher im weitesten Sinne des Wortes zu werden und somit die denkbar größte Verbreitung zu erlangen.
Diesem Uebelstande wußte nunmehr das bewährte „Bibliographische Institut in Leipzig wenigstens theilweise abzuhelfen, indem es die Herausgabe von „Meyer’s Fach-Lexika“ veranstaltete. Die Verlagshandlung dieser encyklopädischen Novität ging von der zutreffenden Annahme aus, daß der Berufsmensch außer seinem Fache noch Eins, meist seiner Pflichtthätigkeit Entgegengesetztes treibt, daß, um Beispiele anzuführen, der Jurist sich vielleicht mit der schönen Kunst beschäftigt, der Philolog dem Gartenbau als einer Liebhaberei obliegt und der Mechaniker philosophischen Studien nachgeht. Für diese, gewiß sehr zahlreiche Classe von Menschen werden Fach-Lexika des Gartenbaues und der Blumenzucht, der Philosophie oder der bildenden Künste willkommene Nachschlagebücher sein und thatsächlich den Mangel eines allgemeinen Conversationslerikons ersetzen. Außerdem aber giebt es Wissenschaften und Künste, welche in unseren Schulen nicht gelehrt werden und welche dennoch ein Gebildeter wenigstens in allgemeinen Umrissen kennen muß und mit denen er, sozusagen, tagtäglich in Berührung kommt, wie z. B.: die Volkswirthschaft, die moderne Zeitgeschichte, die öffentliche Gesundheitspflege, das Theaterwesen etc. Ueber alle diese Gebiete des Handels und Wandels, des privaten und staatlichen Lebens, der reinen und angewandten Wissenschaft sollen nun die obenerwähnten Fach-Lexika Belehrung und Auskunft ertheilen.
Es liegen uns bereits neun derartige Bände der Meyer’schen „Fach-Lexika“ vor, welche sämmtlich einzeln zu beziehen sind: das Staatslexikon von Dr. jur. Karl Baumbach, das Lexikon der Physik und Meteorologie von Dr. E. Lommel, das Militär-Lexikon von J. Castner, das Lexikon der deutschen Geschichte von Dr. H. Brosien, biographisches Künstler-Lexikon von Dr. H. A. Müller, Lexikon der angewandten Chemie von Dr. O. Dammer, Lexikon der Handelsgeographie von Dr. K. E. Jung, Lexikon der Geschichte des Alterthums von Dr. Z. Peter und das Lexikon der Allgemeinen Weltgeschichte von Dr. R. Hermann.
Hoffentlich werden sie sich alle einer günstigen Aufnahme von Seiten des Publikums zu erfreuen haben; wir wünschen dies der Verlagshandlung von Herzen; denn ihr redliches Bestreben hat eine derartige Aufnahme sicherlich verdient.
Aber, aber, kleiner Wicht!
Seine Strümpfchen ißt man nicht;
Die läßt ruhig man an seinen
Runden, kleinen Strampelbeinen.
Auch, mein lieber kleiner Wicht,
Hampelmänner ißt man nicht.
Freut sich nur, wenn ihre Glieder
Lustig zappeln auf und nieder.
Auch Papiere ißt man nicht.
Ueberhaupt, Du kleiner Wicht,
Giebt’s zwar mancherlei, indessen
Ist nicht alles da zum Essen.
Ei, was bei dem Lampenscheine
Ich da hinten seh’!
Stehn da nicht zwei kleine Beine
Grade in die Höh’?
Ja, es sind zwei kleine Beine,
Und, sieh doch nur an!
Das sind unserm Jungen seine,
Denn er hängt daran.
Aber Junge! Welcher kleine
Schalk und Schelm und Schuft
Streckt denn so zwei kleine Beine
Abends in die Luft?
A. Z. in Budapest. Zu spät! Sie finden denselben Stoff schon in Balduin Groller’s Novellenbuche: „Junges Blut“ (Leipzig, Ed. Wartig’s Verlag) behandelt. Lesen Sie gefälligst das lustige, elegant geschriebene Buch! Es dürfte Sie nicht gereuen.
Eine Rügianerin. Wiederholen Sie Ihre Anfrage unter Angabe Ihrer vollen Adresse sowie des Alters der von Ihnen als majorem bezeichneten Person.
Dr. B. D. in Kattowitz. Die in unserem Artikel „Die Wasserversorgung der schwäbischen Alb“ (vergl. Nr. 37 dieses Jahrganges!) erwähnte Denkschrift des königlich württembergischen Ministeriums des Innern: „Die öffentliche Wasserversorgung im Königreich Württemberg“ ist durch jede Buchhandlung zu dem Preise von 15 Mark zu beziehen. Das Werk ist im Verlage der E. Greiner’schen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart erschienen.
Edison’s elektrische Lampe. Vergleichen Sie unseren Artikel über die elektrische Ausstellung in Paris (Nr. 43 dieses Jahrganges!).
„Ein Hildesheimer Turner“. Jenny: „Buch der Reigen“ und „Deutsche Turnzeitung“.
Ein Alt-Elsässer. Nicht verwendbar!
- ↑ Die Försterei „Dreilinden“ bei Potsdam ist in der Lage, Pflanzen abzugeben.
- ↑ Den vielleicht, wie nach meinem Aufsatze über die Douglastanne, zahlreich eingehenden Anfragen begegne ich mit der Angabe der Quelle, aus welcher ich seit Jahresfrist schon mehrfach guten, keimfähigen Samen zur Anlage von Forstgärten bestellte und bezog: „Germantown Nurseries. Thomas Meehan. Philadelphia. Pen.“ Ueber größere Quantitäten des Samems der Douglastanne verfügt auch: J. Anton Müller. Post Box 44. Seattle. Wash. Territory. North America.