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Die Gartenlaube (1880)/Heft 9

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[137]

No. 9.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Der Weg zum Herzen.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Mit den skeptischen Schlußworten, denen nichts weiter folgte, stand auch das Bild, dem sie gewissermaßen als Unterschrift gedient, wieder lebendig vor der Seele der Baronin: ihr eigenes Bild, wie sie am Abend ihres Hochzeitstages mit gebanntem Fuße auf der Schwelle zu ihres Gatten Zimmer gestanden.

Dem rauschenden Festmahle vor Schluß entflohen, waren sie Seite an Seite der Heimath zugefahren, die er ihr damals im Frühling am Straßenrain angeboten, und mit einem herzlichen Kusse, so warm, wie sie noch keinen gefühlt, hatte er sie auf der Vortreppe, nachdem er sie mit kräftigem Arme aus dem Wagen und an seine Brust gehoben, willkommen geheißen.

Dem Wittwer stand ein großartiger Empfang nicht an; ohne Ansprache, ohne Böllerschüsse, ohne feierliche Vorstellung der Dienerschaft führte er sie ein durch die nur schlicht mit Epheu verzierte Pforte in das kleine Haus, in dem sie von nun an herrschen sollte, in ihre Gemächer, von denen sie über den Garten hinweg nach den blauen Bergen sah. Sie aber hatte alledem nur ein flüchtiges Auge geschenkt und sich darnach gesehnt, ihr Mutteramt anzutreten. Die Kleine auf dem Arme, war sie bald wieder die Treppe hinabgeeilt; mit seinem Kinde, frischrosig, wie es aus dem Schlafe erwacht, wollte sie den Vater überraschen und schlich sich sachte durch den Speisesaal und das anstoßende Bücherzimmer; kannte sie doch das ganze Haus nach seiner Zeichnung und Beschreibung längst so genau, daß sie sich darin heimisch fühlte, als hätte sie immer da gelebt.

Und jetzt stand sie an der Portière, das liebliche Krausköpfchen zärtlich an ihre rosig erglühende Wange gedrückt, damit kein Laut von des Kindes Lippen den geglückten Ueberfall vorzeitig verrathe. Der Ton einer ihr fremden Frauenstimme hatte sie stutzen gemacht. Die alternde Dame, welche sie durch den nur lose zugezogenen Vorhang deutlich sehen konnte, war wohl die Mutter von Witold's erster Frau, und das große Bild dort über dem Schreibtische, dessen Züge sich auf diese Entfernung und bei dem dämmerigen Abendlichte nicht mehr genau unterscheiden ließen, stellte ohne Zweifel diese Letztere selbst vor.

„O, daß sie Dein Haus nicht weiter beschützen konnte!“ sagte die Dame mit einem Seufzer zu dem Bilde hinaus, und auch Witold sah auf dasselbe hin.

„Sie war sein guter Engel, und ich werde sie nie vergessen,“ sagte er, fügte aber fast unmittelbar hinzu: „Nun aber, Mama, thu mir die Liebe und begrüße Lisa!“

„Es wird mir schwer fallen. Aber freilich, Du konntest nicht anders. Die Mitgift kommt Deinem Besitzthume zugute, dem Erbe Deines Kindes. Ohne diese Hülfe hättest Du nie vermocht, die politische Laufbahn einzuschlagen. Du hast ihr eben dafür Rang, Namen und Stellung gegeben. Es war ein Tausch.“

„Ein ungleicher, Mama. Es wäre besser gewesen, ich hätte ihr mein Herz gegeben.“

Er brach ab; denn er glaubte einen Laut wie Kindeslallen, ein leises Geräusch wie das Knittern eines Frauenkleides zu vernehmen; als sie nachsahen, war nichts zu finden, was die Störung hätte erklären können.

Steif und eisig kalt war darauf oben im Salon die Begegnung der beiden Frauen vor sich gegangen, die wegen vorgeschützter Kränklichkeit der Gräfin bis zu diesem Augenblicke verschoben worden war. Der Besuch hatte nur Minuten gewährt, und als unmittelbar darauf der Gatte bei seiner jungen Frau erschien, sie vor dem Thee noch zu einem kurzen Spaziergang durch den Park aufzufordern, erklärte sie sich zu müde dafür und sprach den Wunsch aus, allein zu bleiben.

„Zuvor jedoch wollen wir uns noch in Kürze klar zu einander stellen,“ sagte sie, und wies Witold, wie einem fremden Besucher, einen Platz gegenüber dem Sopha an, in dem sie selber saß. Ein böser Zauber schien sie in der kurzen Frist, seit sie sein war, vollkommen verwandelt zu haben. Dem kalten, apathisch klingenden Ton ihrer Stimme widersprachen die brennenden Flecke auf ihren Wangen unter den halbgeschlossenen Augen, die ihn für ihre Gesundheit erbangen machten; dennoch konnte er sich nur an ihre Aeußerungen halten.

„Mir scheint es nothwendig,“ begann sie nachdrücklich, „daß wir einander verstehen, damit keines von uns beiden späterhin Ursache habe, sich zu beklagen, daß unser gemeinsames Haus von allem Anfang an auf einer falschen Basis aufgebaut worden. Ich entbinde Dich meinerseits allen Zwanges, den Du Dir mir gegenüber vielleicht aufzuerlegen willens warst. Ich wüßte ihn nicht zu würdigen und Dich müßte er mit der Zeit bedrücken. Wir wollen uns als Compagnons betrachten, mit gleichwerthigen Einlagen, die sich ohne Zank in den Ertrag theilen, im Uebrigen aber sich so wenig wie möglich Störung verursachen. Es bedarf keiner Betheuerung der Freundschaft, wie sich jeder Zwiespalt von selber ausschließt. Wenn ich mich kaufmännischer Ausdrücke bediene, so geschieht das, weil sie die nöthige Klarheit geben und das Verhältniß, in das wir zu einander getreten sind, ja [138] eigentlich nichts weiter ist als ein – geschäftliches. Dir ist die politische Laufbahn eröffnet; ich habe dafür Rang, Namen und Stellung empfangen. Ich weiß es wohl, es war eben – ein Tausch.“

Sie hatte sich nicht enthalten können, mit scharfem ironischem Hervorheben dieselben Worte zu gebrauchen, die sie vor Kurzem erst mit angehört und die noch immer in ihrem Innern nachklangen.

Sie trafen auch ihn, denn daß sie nur seine eigenen Worte wiederhole, wollte ihm nicht zu Kopfe. Sprachlos, mit wachsender Bestürzung hatte er ihr zugehört. Er traute seinen Ohren nicht, und unenträthselbar erschien ihm, was vorgegangen und diese häßliche Veränderung hervorgebracht. Bei ihren letzten Worten aber war er aufgesprungen und hatte ihre Hand erfaßt, die Hand seiner Braut, des hülflosen armen Kindes, das vor wenigen Monaten noch weinend an seiner Schulter gelehnt. Halb zürnend, halb beschwörend wollte er sie umfassen.

„Aber Lisa,“ rief er, „so darf man nicht scherzen. Sprichst Du in Phantasien? Besinne Dich, komm zu Dir! Was hast Du?“

Vor dem eisigen Blick der sich steif und zurückweisend Aufrichtenden erstarrte jede Vertraulichkeit.

„Ich bin vollkommen bei Besinnung, Herr Baron. Es bleibt so.“

Und es war so geblieben von dem Moment an, Wochen, Monate, Jahre hindurch.

Fremd und kalt waren sie neben einander hergegangen, jedes seine eigenen Pläne und Ziele verfolgend, nur äußerlich mit einander verbunden, eine „durchaus glückliche Menage“ in den Augen der Menschen, indeß sie sich innerlich immer kälter und in ausgeprägter Gleichgültigkeit von einander abwandten.

Es war ein Tausch. Gut oder schlecht – er war geschlossen, und man mußte sich hineinfinden.

O nein, sie war auch diesmal nicht gestorben; sie hatte sich kein Leid angethan, und selbst ihre Gesundheit that ihr nicht, wie bei dem ersten Verlust, den Gefallen, in's Schwanken zu gerathen. Doch diesmal sperrte sie sich auch nicht ab. Im Gegentheil, sie nahm das Leben, wie es war. Nicht wieder in träumerischen Ueberschwänglichkeiten hatte sie sich verloren, sich nicht mit sentimentalen Tagebuchblättern abgefunden. Das waren die Kinderjahre des „zugeklappten Märchenbuches“.

Nicht eben glücklich, wie sie gehofft – wem war das wohl beschieden? – nur eine Weltdame war sie geworden.

Und eben darum, weil die Dinge so lagen, stand es ihr ja frei, spielend zurückzublättern in dem lange vergessenen, aus einem verstaubten Fache des Schreibtisches hervorgeholten abgeblaßten Maroquinband, Briefe und auch Besuche anzunehmen von dem, der einst zu jenem Bilde da gesessen. Was für ein thörichtes Bedenken hatte sich in ihr gesträubt? Durfte da nicht ein trotzig bitteres Lächeln ihre Lippen kräuseln?

Jawohl: was lag daran? Wem lag daran?




3.

Das wüthende Gebell, mit dem Frip plötzlich von dem Polster unter dem Schreibtische, auf welchem er bisher geschlafen hatte, emporfuhr, war nicht blos die Ankündigung eines Besuches, sondern galt vielmehr einem sich nahenden Gegner, und seine Herrin hätte einzig aus dem leidenschaftlichen Gebahren des streitbaren Thierchens auf die Person des demnächst vor ihr Erscheinenden rathen können, auch wenn das Säbelklirren, die raschen Schritte auf dem Parquette des Salons nebenan und die laut nach ihr fragende Stimme ihres Bruders eine solche Schlußfolgerung nicht unentbehrlich gemacht hätten.

Von seiner bevorrechteten Stellung in diesem Hause Gebrauch machend, wartete der junge Ulanenofficier nicht auf das Ergebniß einer langweiligen Anmeldung; in gewohnter Rücksichtslosigkeit erzwang er sich ohne Weiteres den Zutritt, zugleich aber auch für seinen Begleiter. Da stand dieser nun mit einem Male und, für diesen Moment wenigstens, unerwartet vor Lisa, die, so lebhaft sie sich auch eben in dieser Minute mit ihm beschäftigt hatte, nunmehr doch überrascht von ihrem Sitze auffuhr, das Tagebuch, als hätte es zum Verräther werden können, zuschlug, und im ersten Augenblicke kein Wort der Begrüßung fand, ja sogar den Blick unruhig und befangen von seinen fest auf sie gerichteten Augen abwandte.

Glücklicher Weise half ihr der Bruder mit seinem geräuschvollen Wesen plaudernd über diese seltsame stumme Begrüßung hinweg.

„Bin ich nicht ein guter Kerl, daß ich Dir Steinweg selber daher bringe, statt mich ein wenig auf's Ohr zu legen und den versäumten Schlaf nachzuholen?“ rief er munter, indem er sich in einen tiefen Lehnstuhl warf und seinen Begleiter ungenirt zum Sitzen einlud. Mit einem geschickten Griffe hatte er Frip beim Genicke erhascht, trotz allen Sträubens zu sich heraufgezogen und gezwungen, in dieser keineswegs ruhigen Kriegsgefangenschaft auszuharren und die zweifelhaften Zärtlichkeiten des frischen Soldaten entgegenzunehmen.

„Nun,“ fuhr er zur Schwester gewendet fort, „Du sagst einem nicht einmal Dank für so viel Aufopferung? So ist es, nichts wird anerkannt. Ruhig, Frip, kaffeebrauner Köter! Auch Dir steckt der Undank im Blute, und thue ich nicht mein Möglichstes, Dich aus einem verschlammten Wohlleben aufzurütteln? Pfui, schäme Dich! Wir müssen uns trainiren. Sieh, nimm Dir ein Beispiel! Die ganze Nacht tanzen, den Kopf in's Wasser und darauf den ganzen Morgen reiten, Nachmittags Pionierdienst, Taktik, Waffenlehre, Befestigungskunst. Hast Du Respect? Man ist nicht umsonst in die Centralschule commandirt. – Ja, was hast Du eigentlich zu der Toilette der Silberbach gesagt? Brillant, was? Sie sticht Euch alle aus. Aber wie sie tanzt! Wer es zuwege bringt, ihr nicht auf die Füße zu treten, der ist ein Meister in der Zauberei. Sie schiebt sie einem eigens unter nach einem nicht kunstvollen, aber bewährten Recepte. Die kleine Seltheim – ein netter Käfer, aber ein heillos böser Schlingel – meint, sie thue es nur, um ihr Gewissen zu beruhigen und an den unglücklichen Zehen ihre vielen kleinen Sünden abzubüßen, die sie bis zum großen Versöhnungstage vergessen würde. Für den behält sie aber wohl nur die großen auf – Festungsgeschützkaliber. Wahrhaftig, ich könnte für die kleine nette Kröte schwach werden, wenn ihre Mama nicht jeder Begeisterung im Wege stände. Himmel, solch eine Schwiegermutter! Wenn sie täglich decolletirt zu Tische käme, würde ich den ganzen Appetit verlieren. Apropos, hast Du nicht ein Schnäpschen und ein Stück Pastete oder dergleichen? Schade, daß man bei Dir keine Cigarre findet! Aber Witold könnte mir aushelfen. Schläft er noch, oder vernichtet er schon wieder irgend ein Ministerium?“

Die Antwort, daß derselbe nach Sternberg geeilt sei, ging in dem Gequieke des kleinen Märtyrers beinahe verloren, den Richard zur Abwechselung einmal bei dem Stummel seines der Mode zum Opfer gefallenen Appendixes kopfunterwärts emporhob. Zu den Klagelauten wie zu dem lebhaften Einspruche seiner Schwester lachte er nur.

„Schlechte Rasse! Da solltest Du einmal meinen Pinscher sehen und mit welch stoischer Ruhe er diese Prüfung über sich ergehen läßt. – Frip, nichtswürdige Bestie, versuche Deine Zähne nicht an dem kostbaren Rehleder meiner Handschuhe! Es sind ganz neue dreiknöpfige. Du hast es verscherzt, jemals die Bekanntschaft meines Pinschers zu machen. Nur einem Gentleman wird solche Ehre zu Theil. – So, nach Sternberg? Was will er denn bei Hilma? Was glaubst Du, wer von ihnen die Hagerere ist, sie oder die alte Seltheim? Man könnte an ihnen vergleichende Anatomie betreiben. Brrr! Da laß Dir von Steinweg einmal von den Polakinnen erzählen! Das muß ein Schlag sein, den man sich gefallen lassen könnte. Halt da, Frip, nicht ausgerissen! Wir haben noch ein Wörtchen mit einander zu sprechen. Gestatten Sie, mein Herr, daß ich mich Ihrer Erziehung noch weiter annehme! Sie ist sehr vernachlässigt. – Was soll ich damit?“

„Lesen!“

Es war die Depesche, welche Lisa aus ihrer Tasche gezogen und ihm gereicht hatte, da sie sich eben erst derselben erinnerte. Indem sie die Pause benutzte, suchte sie ein Gespräch mit Rittmeister Steinweg anzuknüpfen, aber noch war sie nicht über die ersten gezwungenen Worte hinaus gekommen, als sie ein Ausruf ihres Bruders wieder unterbrach.

„Oho! was ist da los?“ fragte er.

Seine Schwester zuckte mit den Achseln; sie nahm den gequälten Flüchtling auf, der den Moment der Ueberraschung benutzt hatte, seinem Peiniger zu entrinnen, und der nun bei seiner Herrin Schutz suchte.

[139] „Richard entwickelt eine eigene Grausamkeit gegen Thiere,“ sagte sie zu Steinweg, der ihr stumm gegenübersaß und dessen fest auf sie gerichteter Blick beunruhigend wirkte. „Deshalb muß er auch so häufig mit seinem Stalle wechseln. Er überanstrengt seine Pferde. Haben Sie noch den scheuen Schimmel?“

„Nun, das scheint denn doch über den Spaß zu gehen!“ fiel hier Richard ein, der, nur mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, eine Weile an seinem kleinen braunen Schnurrbart gedreht hatte. „Und Witold ist also wirklich abgereist? Ja, was sagt denn er dazu?“

„Ich meine, wir können das später noch besprechen.“

Der junge Officier war jedoch zu sehr aufgeregt, um auf dies Ausweichen einzugehen.

„So ist es also thatsächlich etwas Bedrohliches?“ sagte er. „Es hat mich gleich so eigenthümlich gefaßt. Ei was! Steinweg ist ja mit unseren Verhältnissen genugsam bekannt; vor ihm habe ich keine Geheimnisse. Er wird auch nicht sofort an die Börse laufen und aus der Neuigkeit Capital schlagen. Wir sind keine Jobber und speculiren nicht. Man kann aber auch nicht fordern, daß ich mir mit einer solchen Nachricht in der Tasche ruhig die Zähne stochere. Das sieht ja wie eine partielle Explosion aus. Was sagt Dein Mann?“

„Fatalitäten könne es wohl geben,“ gestand sie mit dem Ausdrucke des Widerwillens.

„Fatalitäten, ja, das glaube ich!“ rief Richard ungestüm aufspringend aus. „Aber ich will nicht darunter leiden, ich wahrlich nicht, alle Teufel! Sagte ich's nicht schon Papa immer, er solle mich unabhängig stellen? Aber da hieß es: Richard ist leichtsinnig, Richard versteht nichts vom Gelde, Richard ließe sich in einem halben Jahre ausplündern und fiele dann nur der Familie zur Last. Mit einem Wort, Richard war ein Windelkind. Mich bis zur Volljährigkeit unter die Vormundschaft Heinrich's stellen – Heinrich's, der selber eines Vormunds bedürfte; mich mit halbjährigen Interessen an die Masse verweisen; mich damit zu allerlei Kunststücken zwingen, die mich über Wasser erhalten müssen, bis ich endlich in Besitz meines Vermögens gelange – das scheint allerdings eine meisterhafte Einrichtung gewesen zu sein. Nun kann ich zusehen, wie ich zu meinem Rechte komme.“

„Es wird ja nicht so schlimm sein, Freund,“ suchte Steinweg beruhigend einzuwerfen. „Ein Haus Mildner!“

„Es sind noch ganz andere in die Brüche gegangen. Du kannst freilich die Dinge leicht nehmen, hast eben eine hübsche Erbschaft eingesackt; aber mir lebt kein so liebenswürdiger Onkel, dessen Tod mir den Verlust ersetzen würde. Ich kann keinen Heller verschmerzen von dem, was mir rechtmäßig zugefallen.“

„Ich begreife Dich nicht, Richard,“ ließ sich seine Schwester mit ernstem Tadel vernehmen. „Zu solchem Lärm ist ja die Sache doch nicht angethan. Du bist jedenfalls sichergestellt.“

„Nach Frauenansicht,“ fiel er heftig ein. „Ist es nicht schon merkwürdig, daß Witold herbeigerufen wird? Was kann Alles ohne mein Beisein abgemacht werden!“

Die Brauen der jungen Frau zogen sich etwas zusammen, und mit zurückweisender Hoheit entgegnete sie nachdrucksvoll:

„Zu Deinem Nachtheil sicherlich nichts, wo er mitspricht.“

Die knappe, doch von der Ueberzeugung geführte Vertheidigung, zu der das Rechtsgefühl sie unwillkürlich gedrängt, blieb nicht ohne Eindruck auf den Erregten; dennoch vermochte sie ihn nicht ganz zu beschwichtigen.

„Immerhin ist es sonderbar, daß ich keiner Mittheilung gewürdigt wurde,“ sagte er. „Ich sollte doch meinen, mich gingen die Dinge draußen in Selikau und Sternberg ebenfalls an. Es mag Heinrich passen, mich in Ungewißheit zu erhalten, nicht so aber mir. Ich werde sofort Urlaub verlangen und mir erlauben, meine eigene Nase hineinzustecken. Ich habe keine Minute zu verlieren – –

Nachdem er spornstreichs davongestürmt, trat eine unangenehme Pause zwischen den Zurückgebliebenen ein. Die von Steinweg zustimmend aufgenommene Bemerkung, daß sich solch ein sanguinisches Temperament leicht übertriebenen Befürchtungen hingebe, war nicht der Ausdruck von Lisa's eigenthümlicher Empfindung; dieselbe verriet sich deutlicher in dem fast verächtlichen Ausdruck um den Mund, welcher bezeugte, daß sie des Gefühls, welches die haltungslose, egoistische Art ihres Bruders hinterlassen, nicht so unmittelbar Herr zu werden vermochte. Dann aber kam ihr das peinigende Bewußtsein ihrer Lage; dieses unvorbereitete Alleinsein mit dem Manne, der ihre Phantasie seit Stunden beschäftigte, verursachte ihr Unbehagen. Sie war noch nicht einmal angekleidet, ihr Haar noch ungeordnet; vielleicht sah man noch die Spuren der durchwachten Nacht an ihren Lidern, und sie hatte sich doch so schön wie möglich machen wollen, um ihn bei sich zu empfangen; nun war das Alles anders – ganz anders gekommen. Welchen Eindruck mußte sie auf ihn machen?

Für die Rathlosigkeit des Moments mußte Frip den Ableiter bieten. Im wurden Liebkosungen zu Theil, die ihn für alle erlittenen Torturen reichlich und auf ein ganzes Lebensalter hinaus entschädigen mußten. So, den Kopf über ihn geneigt, die zarten, weißen, halb von Spitzen verhüllten Finger tief in dem braunen Fell des Lieblings vergraben, fing sie nur ein einziges Mal flüchtig einen Blick aus Steinweg's Augen auf, und dieser Blick bewirkte, daß sie den Kopf noch tiefer senkte.

Eine Weile sah der Officier dem Spiele dieser schönen kleinen Hände zu, deren Kunstfertigkeit dort die angefangene Aquarellskizze auf der kleinen Ebenholzstaffelei am Fenster, hier gegen die Ecke das Pianino verrieth; dann sagte er lächelnd, jedoch mit gespanntem Blicke:

„Sie haben mich zuvor um meinen Kiaffar gefragt, so erinnern Sie sich doch noch dessen?“

Rasch, wie wenn es ihr darum zu thun wäre, sich von einer Anschuldigung frei zu reden, fiel sie ein:

„Ich habe mich immer für schöne Pferde interessirt, und hätte ihn gar zu gerne selbst geritten, statt des geduldigen Ponys, den mir Papa damals hielt.“

Warum lenkte sie so ängstlich auf Kiaffar ein? Fürchtete sie den Antheil zu verrathen, den ihr der Reiter eingeflößt? Aber der war ihm ja damals nicht verborgen geblieben.

Sie folgte der seltsamen Bangigkeit, die sie befallen, weiter und spielte das Gespräch mit fast nervösem Eifer auf ein allgemeines neutrales Gebiet hinüber. Jedes Wort sorglich vermeidend, das auf die Ursache ihrer damaligen gezwungenen Entfernung aus dem Stationsorte des abgewiesenen Bewerbers Beziehung hatte, fragte sie ihn um sein Verweilen während der letzten Jahre, seinen Aufenthalt in Galizien, sein Avancement, die von Richard erwähnte Erbschaft, über alles, was sich daran knüpfen ließ und ihr in den Sinn kam, und in heiterem Tone und scheinbar leichtherziger Freimüthigkeit ging er auf Alles ein. Mit Laune schilderte er seine Stationen und manches Erlebniß, das vielleicht kaum der Erwähnung werth sein mochte, ihm aber sichtlich den Eindruck der Wichtigkeit gemacht hatte – kleine Ereignisse aus engem Kreise, hauptsächlich aus seiner militärischen Welt, kunterbunt genug zusammengemengt, aber genügend, um ein halbes Stündchen angenehm mit dem Beschauen dieser Genrebildchen zu verbringen.

Er hatte eine so fröhliche Art, über dies oder jenes zu lachen, während er, behaglich in den Fauteuil zurückgelehnt, den Schnurrbart zwischen den wohlgepflegten Fingern ausstrich, daß man dem Reiz, mit einzustimmen, nicht zu widerstehen vermochte, wenn es auch ein Nichts war, über das man lachte. Ueber Pferde wußte er mit Sachkenntniß zu sprechen, Jagden, Wettrennen, Distanceritte, Schlittenpartien mit farbenreicher Anschaulichkeit zu schildern. Im Ganzen mußte es ihm die Jahre her nicht schlimm ergangen sein, wenn er sich auch bemühte, durchschimmern zu lassen wie er bei all diesem unausstehlichen Leben und Treiben doch eigentlich ein tiefes unstillbares Weh mit sich umhergetragen. Im Grunde sei er mit seinem Schicksale zerfallen gewesen; erst die letzte Zeit habe mit einem Male des Glückes Füllhorn über ihn geleert, aber – zu spät!

Er, der Unbemittelte, sei nun wohlhabend geworden. Das Avancement habe ihm zugleich die Versetzung zu einem andern Regiment gebracht, das seine Cantonnements nahe bei Sternberg und Riefling habe, aber – aber es war doch nicht Alles, wie es sein sollte.

„Und so sind Sie denn zu dem Entschlusse gekommen, sich Urlaub zu nehmen und den Carneval hier zu verbringen?“

„Was soll man machen! – Das heißt,“ verbesserte er sich schnell, „ich war in den letzten Jahren angenehmen gesellschaftlichen Umganges so sehr entwöhnt, daß ich eine Art Heißhunger verspürte, mich wieder unter großstädtischen Menschen zu bewegen.“

[140] „Unter großstädtischen – Sie haben Recht. Es ist eine ganz andere Welt, die ihren unwiderstehlichen Reiz hat. Man geht in ihr unter; man löst sich in ihr auf; man fühlt sich hinweggetragen, mitgerissen, betäubt und kommt in dem Brausen des Katarakts nicht zur Besinnung.“

„Ganz, was ich immer sage, Baronin. Ein Traum, ein Rausch, ein Wirbel! Eine ganz andere Luft umgiebt einen hier; es geht in alle Nerven; das Blut fließt lebhafter. Man ist so heiter, so unternehmend, so aufgelegt zu allen Tollheiten, als ob man moussirenden Nektar getrunken hätte. Man lebt nur hier!“

Das war es nun freilich nicht, was sie gemeint. Ob sie ihn aber aus seinem Irrthum reißen sollte, in welchem er so freudig ihr zugestimmt? Verlohnte es der Mühe? Sie war des Sprechens müde – einzig und allein aus dem Grunde, wie sie meinte, weil sie ja doch Beide von so verschiedener, unvereinbarer Auffassung ausgingen.

„Sie haben allerdings da manches versäumte Jahr nachzuholen. Und das muß in Wochen nun geschehen,“ äußerte sie matt.

„Um so rascher muß ich darangehen,“ lachte er.

„Sie haben sich eine günstige Zeit dazu gewählt. Die Gallerien bieten jetzt die hübschesten Ausstellungen; die Saison der Concerte rückt heran; die Theater –“

„Um Bilder kümmere ich mich nicht; ich verstehe nichts davon,“ erklärte er offen. „Von Theater und Musik auch nicht viel. Ein lustiges Stück ist mir am liebsten, und über Tanzmusik geht mir nichts. Aber dafür giebt's Bälle im Carneval.“

„Richtig, Sie tanzen gern.“

„Und Sie, Baronin, nicht mehr?“

„O ja – ja doch!“

Noch versicherte er, wie schade es wäre, wenn sie es aufgäbe. Sie wäre eine so ausgezeichnete Tänzerin gewesen. Ihre Antworten wurden immer einsilbiger; das Gespräch schlief allmählich ein. Sie war in Gedanken schon lange nicht mehr dabei. Kein Wunder, daß sie den Faden verlor. Ihr Sinnen hatte eine ganz andere Richtung angenommen.

Wie seltsam! War denn das derselbe Held und Halbgott, für den sie einst so schwärmerische Leidenschaft empfunden? Noch waren es dieselben hübschen, ansprechenden Züge, die weißen zierlichen Zähne zwischen den frischlachenden Lippen; noch war es dieselbe elegante Gestalt in der goldglänzenden, ihm so wohl zu Gesicht stehenden knappen Uniform, dasselbe tadellos gescheitelte Haar, der wohlgepflegte Schnurrbart, mit dem sich die Hand so gern zu schaffen machte. Noch war er derselbe kühne Reiter und passionirte Tänzer mit denselben Lebensanschauungen, und doch dünkte er ihr wieder ein ganz Anderer. Oder was war es sonst, das ihr so kühle, gleichgültige Worte soufflirte gegen ihn, den sie in stürmisch auflebender Empfindung – noch war es keine Stunde her – mit den hochklingenden, inbrünstigen Geständnissen ihres wiedergelesenen Tagebuchs „ihre Seele, ihren Gedanken, ihren Geliebten“ genannt? Wo waren all die glühenden Worte geblieben, die sie ihm zugerufen? Selbst das rührende Bild von der rothen und weißen Rose, die der Mond bescheint, das ihr bei aller Uebertreibung doch nicht so ganz poesielos erschienen, zerfloß jetzt, sechszig Minuten später, in recht reale Alltäglichkeit. Die rothe und weiße Rose lagen nicht auf einem Schlachtfelde; sie saßen in wohldurchwärmtem, behaglichem Plauderwinkel auf modernen Sammtpolstern in gesellschaftsüblicher Visite einander stets und wortarm gegenüber. Ach, die Welt ist eine große Lüge!

Auch bei ihm waren neben der fließenden Rede Gedanken anderer Art hergelaufen und hatten, seit das Gespräch stockte, noch mehr an Bestimmtheit gewonnen, nur in entgegengesetzter Richtung zu den ihrigen.

Sein Blick hing an den Schönheitslinien dieses blassen Angesichtes, und als die Lider sich endlich wieder hoben und ihr Auge dem seinen begegnete, da schwand das blitzgleich um seinen Mund zuckende siegesmuthige Lächeln.

„Nein,“ sagte er, sich rasch erhebend. „Wir können nicht so weiter Komödie spielen, als hätten wir einander vergessen und müßten uns erst darauf besinnen, wo wir uns denn schon früher einmal gesehen. Wir täuschen uns gegenseitig nicht, Elise.“

Nun war sie doch erschrocken. Wie der Klang ihres Namens, von ihm gesprochen, sie durchzuckte! Ihre Füße glitten von der Chaiselongue auf den Teppich herab, eine flüchtige Blutwelle trat ihr in die Wangen, und die Hand führte in augenblicklicher Rathlosigkeit das Spitzentuch an die Lippen. Doch war sie sogleich wieder ihrer Bewegung Herr und fragte mit leiser Mißbilligung:

„Muß das sein?“

„Haben Sie denn erwartet, ich würde hier eine halbe Stunde mit dem gewöhnlichen Salongeplauder verbringen und, nachdem ich um den nächsten Cotillon gebeten, mich höflich empfehlen? Sie haben sich mir gestern auf dem Balle in so geschickter Weise entzogen, daß ich kein einziges Wort unbelauscht mit Ihnen sprechen konnte. Fast die ganze Zeit verblieben Sie in Ihrer Loge, und an einen Tanz war nicht zu denken. Aber in Ihren Augen hatte ich gelesen, als Sie mich so unvorbereitet vor sich stehen sahen. Absichtlich hatte ich es vermieden, selbst Richard früher zu begegnen, damit er meine Ankunft nicht verrathe, weil ich mir die Ueberraschung nicht nehmen lassen wollte. Ich mußte erfahren, ob die Vergangenheit bei Ihnen denn ganz ausgelöscht sei. – Sie ist es nicht.“

„Nein. Aber die Vergangenheit ist doch nicht die Gegenwart,“ versetzte sie mit sanftem Kopfschütteln. Warum vermochte sie jetzt nicht zu ihm aufzublicken, warum schlug ihr Herz so unruhig?

Er stand unmittelbar vor ihr; seine Hand lag auf der hohen Rücklehne der Chaiselongue. Leicht zu ihr niedergebeugt und in bewegtem Tone, den er nicht ganz zu beherrschen vermochte, sagte er:

„Sollte sie nicht wieder heraufzuzaubern sein? Was haben Sie für eine Antwort auf meine gestrige Frage?“

Sie neigte sich weiter auf Frip herab, um ihr Antlitz zu verbergen.

„Ihre Frage?“ wiederholte sie, nur um Zeit zu gewinnen.

Er aber vermeinte den Ton der Verwunderung zu hören, und seine Stimme, so zuversichtlich sie bisher bei aller Gedämpftheit geklungen, verrieth nun seine Bestürzung.

„Nun ja, das Bouquet,“ erklärte er hastig. „Das Billet vielmehr, das ich in Ihrem Bouquet verbarg. Mein Gott, Sie haben es doch gefunden?“

Ernst und tadelnd erhob Baronin Lisa jetzt ihr Auge, dennoch blitzte es beim Anblicke seiner verlegen besorgten Miene fast schelmisch in demselben auf.

„Wenn ich es nun nicht gefunden hätte?“ fragte sie strafend entgegen.

„Gottlob! Sie haben es. Es ist nicht in unrechte Hände gekommen.“ Er athmete hoch auf.

„Wie, wenn Sie zur Verantwortung gezogen worden wären?“

„Bah!“ warf er sich mit trotzigem Lächeln in die Brust. „Vor einem Rencontre erschrecke ich nicht. Mir war es einzig Ihretwegen.“

„Jedenfalls ist das leichtsinnige Heraufbeschwören der Gefahr eines Skandals eine sehr fragliche Art, mir Ihre Freundschaft zu erweisen. Was verdienen Sie dafür?“

„Ihre Verzeihung,“ antwortete er auf die ironisch klingende Frage, wobei jedoch die Reue des Bußfertigen nicht sonderlich tief ging, wie der übermüthige Beisatz zeigte. „Ja, wer immer an die Folgen denken wollte, käme nie zu einer frischen Attake.“

„Und für eine solche sehen Sie wohl die meisten Unternehmungen im Leben an?“

„Dafür bin ich Husar.“

Sie konnte sich einer bitteren Empfindung nicht erwehren. Die leichtfertige bramarbasirende Antwort auf ihre sarkastische Bemerkung hatte etwas tief Demüthigendes für sie, das er seinerseits nicht einmal bemerkte. Auch jene Brautwerbung war wohl nur „eine frische Attake“ gewesen, die, zufällig abgeschlagen, bei günstigerer Gelegenheit vielleicht wieder einmal erneuert werden konnte. Wie beschämend! Und dennoch war etwas in diesem jugendfrischen verwegenen Lebensmuthe, in dieser gutmüthig offenen Art, was der Dreistigkeit den Stachel benahm, bestechend wirkte und die Zürnende entwaffnete. Es geschah daher auch mehr im Tone wohlwollender Mahnung, als scharfer Zurechtweisung, da sie mißbilligend sagte:

„Sie vergessen, daß ich verheirathet bin.“

„Aber keineswegs!“ fiel er lebhaft ein. „Das ist es ja eben, was ich nicht vergessen kann, was mich wurmt und mich zeitweise zum Tollwerden hätte bringen können. 'Ich habe sie

[141]

Album der Poesien.

Der Schmied. Gedicht von Ludwig Uhland.
Originalzeichnung von C. Röhling.

Ich hör meinen Schatz
Den Hammer er schwingt
Das rauschet, das klingt
Das klingt in die Weite
Wie Glockengeläute
Durch Gassen und Platz.

Am schwarzen Kamin,
Da sitzet mein Lieber,
Doch geh’ ich vorüber,
Die Bälge dann sausen
Die Flammen aufbrausen
Und lodern um ihn.

L. UHLAND.

[142] verloren, ich habe sie verloren!' Das habe ich mir so oft vorgesagt, daß ich verlernte, dabei mit den Zähnen zu knirschen. Wir waren damals Beide Kinder; wäre ich ein Mann gewesen, wie heute, ich hätte Sie mir nicht entreißen lassen, Elise – bei meiner Ehre nicht!“

„Davon merkte man freilich damals wenig,“ entschlüpfte es ihr vorwurfsvoll, während ihr Blick das Teppichmuster eifrig verfolgte. „Sie gingen so ruhig, so heiter, ohne auch nur ein Wort zu sagen.“

„Konnte ich denn glauben, daß Ihr Vater so rasch handeln und Sie schon am nächsten Tage aus meinem Bereiche bringen werde? Ich fühlte mich verletzt, tief elend, aber ich wollte es nicht zeigen. Niemand sollte merken, daß ich mir eine Abweisung geholt, Niemand mich verspotten dürfen. Erfuhr man's doch, so galt es für einen kecken Scherz meinerseits, über dessen Mißlingen ich mir kein graues Haar wachsen ließ. Die falsche Scham hat mich zum Lächeln gebracht, wo ich mit aller Welt hätte Händel anfangen mögen. Mein erster Gedanke, als ich von Ihrem Verschwinden hörte, war auch: 'Ihr nach!' Aber mit welchen Mitteln? Ich war damals ein armer Teufel. Mein Vormund hatte mir mein bischen Vermögen so geschickt verwaltet, daß ich am Tage meiner Volljährigkeit sehr lange Rechnungen, weiter aber nichts erhielt. Haarklein war mir bewiesen worden, daß ich es schon vorher allmählich verbraucht. Nun setzen Sie sich in meine Lage! 'Knapp, sattle mir mein Dänenroß!' Damit wäre ich Ihnen kaum sehr weit nachgekommen. Und ein wenig Gekränktheit war doch auch in mir rege. Konnten Sie so leicht dazu gebracht werden, zu gehen, nun, dann – mochten Sie gehen. Ach, wie redet man sich in Unmuth und Groll hinein gegen die, welche man liebt! Da bekamen wir noch obendrein Marschbefehl; einerseits wollte es mir die Seele zerreißen, andererseits war's mir recht – nur fort, recht weit fort! Ich wußte damals nicht, daß die Sehnsucht im quadratischen Verhältnisse zur Entfernung wächst. Und nun empfange ich in meinem Polakenneste plötzlich noch die Kunde von Ihrer Heirath! Doch[WS 1] lassen wir das! Es sind vergangene Dinge.“

Träumerisch hatte sie zugehört. Es umspann sie wie mit Fäden aus jener Märchenwelt, die sie in ihrem Tagebuche verschlossen und begraben wähnte. Ein kaum vernehmbarer Seufzer stahl sich von ihren Lippen. Ja, es waren vergangene Dinge.

„Warum rütteln Sie daran?“ sagte sie mit schmerzlich zuckendem Lächeln, ohne aufzusehen.

„O, das ist ein Anderes!“ entgegnete er mit feurigem Trotze und doch dabei seine Stimme zu sanftem einschmeichelndem Geflüster dämpfend. „Soll ich zum zweiten Male verloren geben, was ich mir einmal schon, vielleicht zu sehr ergeben in das Schicksal, thatlos entreißen ließ? Nein Elise, diesmal erringe ich mir den Preis, und dazu mußte es klar zwischen uns über die Vergangenheit werden. Auf sie baut sich unsere Zukunft auf. Heute werbe ich zum zweiten Male um meine Braut.“

Ein Zittern durchlief sie; fast hörbar athmete sie, ehe es leise, aber mit eigenthümlicher Betonung von ihren Lippen kam:

„Ich bin verheirathet.“

„Halten Sie mir Ihre Ehe nicht wie einen Schild entgegen,“ sagte er dringend. „Sehen Sie mir in's Auge, legen Sie die Hand auf's Herz und sagen Sie dann, daß Sie sich glücklich fühlen in dieser Ehe, und ich verlange keinen Schwur, ich will schweigend gehen. Können Sie es, Elise?“

Sie schwieg und regte sich nicht.

„Sie können es nicht!“ fuhr er mit triumphirendem, freudig leisem Lachen fort. „Sie können es nicht! Ich habe es gewußt. Warum sollte denn auch gerade Ihre Ehe eine Ausnahme machen, eine, wie es deren zu Hunderten giebt? Was die Convenienz geschlossen, darf die Liebe mit gutem Fug zerreißen.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Experimente mit dem sogenannten thierischen Magnetismus.
Von Professor Dr. Richard Rühlmann.
(Schluß.)


Einer meiner Schüler, ein intelligenter, höchst gewissenhafter junger Mann, der sich für Anstellung der Experimente über Starre einzelner Muskeln geeignet erwiesen hatte, glaubte, daß vorzugsweise ein magnetisches Streichen auf ihn einwirke und ihm die Fähigkeit raube, die behandelten Glieder zu bewegen. Bei geschlossenen, oder noch besser bei dicht verbundenen Augen trat jedoch die Muskelstarre mit heftigem Starrkrampfe in der ausgestreckten Hand nicht blos ein, wenn irgend ein Anderer der Anwesenden die Hand strich, sondern schließlich auch, wenn absolut gar nichts mit der Hand vorgenommen, sondern nur ein Geräusch hervorgebracht wurde, als führe einer von uns in der Nähe der Hand magnetische Striche mit den Fingerspitzen. Ja, schließlich trat die Muskelstarre und Unfähigkeit, Arm und Hand zu bewegen, und sogar Starrkrampf jedes Mal ein, wenn Dr. Fränkel hinter dem Rücken des jungen Mannes mit einem um ein Streichholzbüchschen geschlungenen Gummibande regelmäßig in einem gewissen Tacte schnippte.

Ein Anderer, ein Mann in den besten Jahren, der uns bei unseren Versuchen durch seine Willfährigkeit, sich Allem auszusetzen, und durch die Correctheit seiner Angaben sehr nützlich gewesen ist, glaubte, daß blos Professor Weinhold, nicht aber ich, merklich auf ihn einzuwirken im Stande sei. Wir hatten wiederholt Versuche über Muskelstarre mit ihm angestellt; da veranlaßten wir ihn, in das benachbarte physikalische Lehrzimmer einzutreten und von dort aus durch ein rundes in der Thür befindliches Loch, welches sonst zur Anstellung optischer Versuche diente und gerade der Hand bis zum halben Unterarm den Durchgang gestattete, die Hand zu uns in's Nachbarzimmer hereinzustrecken. Nunmehr, nachdem eine Unterscheidung der Person durch Gesicht, Gehör etc. ausgeschlossen war, versetzte mein Vorüberstreichen die Hand in den Zustand der Starre, während Professor Weinhold, vor dessen energischer Einwirkung er sich so sehr fürchtete, durch die gleiche Operation nichts erreichte.

Bei einer dritten Person trat sogar unter gleichen Umständen blos dadurch Muskelstarre ein, daß durch Zuruf die Aufmerksamkeit in hohem Grade auf die Hand gelenkt und die lebhafte Vorstellung hervorgerufen worden war, es geschähe im andern Zimmer etwas Besonderes mit derselben.

Solche Personen, welche einmal an eine besondere magnetische Einwirkung meinerseits glaubten, habe ich wiederholt durch die geschlossene Thür hindurch in den eigenthümlichen Zustand der Starrsucht und Willenlosigkeit dadurch versetzt, daß ich ihnen zurief: „Ich magnetisire Sie, fühlen Sie etwas?“ Dasselbe Resultat wurde sogar häufig erzielt, ohne daß meinerseits eine Anrede erfolgte, falls die Betreffenden nur wußten, was geschehen sollte, nachdem ich das Zimmer verlassen hatte. Die bloße Ueberzeugung, ich wirke durch die Thür hindurch auf sie, genügte, um alles das hervorzurufen, was sonst durch die mit einer geheimnißvollen Feierlichkeit ausgeführten Proceduren erreicht wurde.

Solche, welche auch nach dem hier Erzählten noch immer geneigt sind, an einen magnetischen Rapport zwischen dem, der die Versuche anstellt, und seinem Versuchsobjecte zu glauben, lassen sich vielleicht durch die Mittheilung von ihrer Ansicht bekehren, daß der in solchen Zustand Versetzte, sofern er nicht bewußtlos ist, dem zuversichtlich scharf und laut ausgesprochen Befehle eines Jeden willig Folge leistet, nicht blos demjenigen des Experimentators, welcher ihn in diesen Zustand versetzte.

Man erkennt aus alledem deutlich, daß bei geeigneten Personen die gewünschte Erfolge erzielt werden, sobald das Versuchsobject im gegebenen Moment die feste Ueberzeugung hat, es geschieht etwas Außerordentliches mit ihm. Alle Versuche, welche ohne Wissen des Objectes oder bei abgelenkter Aufmerksamkeit gemacht werden, bleiben erfolglos.

Unsere Versuche, ebenso wie die, welche seiner Zeit Braid und ganz neuerdings Dr. Grützner und Professor Haidenhain in Breslau angestellt haben, beweisen unzweifelhaft, daß man keine [143] körperliche und psychische Fernwirkung vom Experimentator zum Versuchsobject als Ursache dieser Erscheinungen anzunehmen genöthigt ist; wohl aber zeigt sich bei manchen Menschen die Eigenthümlichkeit, daß dieselben nach vorhergehender Concentration aller Aufmerksamkeit auf eine monotone Erscheinung durch eine übermächtige Vorstellung – „du kannst dies oder jenes nicht thun“ – in einen dem Schlafe oder dem Traume ähnlichen Zustand versetzt werden und hierdurch zeitweise die Fähigkeit zum Theil oder ganz verlieren, Vorstellungen, Gedanken, Nerventhätigkeit willkürlich zu lenken oder Eindrücke, welche diese oder jene Sinne vermitteln, bewußt wahrzunehmen.[1]

Die Brücke, welche den geheimnißvollen Uebergang des menschlichen Willens in die Thätigkeit der Nerven und Muskeln einerseits und die bewußte Wahrnehmung der Sinneseindrücke andererseits vermittelt, wird durch ein derartiges Verfahren entweder gänzlich oder nach einzelnen Partien des Nervensystems vorübergehend abgebrochen. Im Zustande der Muskelstarre sind die Betreffenden bei scheinbar sonst ziemlich klarem Bewußtsein thatsächlich nicht im Stande, ihren Willen auf die betreffenden Bewegungsnerven, durch welche die entsprechenden Muskelbewegungen veranlaßt werden, in gewohnter Weise zu übertragen; sie fühlen aber auch nicht, wie sonst, Reizungen der dort gelegenen Empfindungsnerven als Schmerz. Gelingt es durch energische und zumal plötzliche Anregung, die Empfindungsnerven zu neuer Thätigkeit anzuregen, so wird meist auch alsbald die vollkommene Herrschaft des Willens über das Nervensystem und die Muskeln wieder hergestellt, der normale Zustand wieder herbeigeführt.

Ist die Brücke zwischen geistiger Thätigkeit und Nervensystem nach gewissen Sinnesorganen hin aber zum Theil abgebrochen, so kommen die Reizungen dieser Sinne im Geiste des Menschen nicht zum Bewußtsein. Redet man einem solchen Menschen, dessen Willenskraft durch eine übermächtige Vorstellung die Möglichkeit, den Verlauf seiner Gedanken zu steuern, verloren hat, nunmehr vor: „Dies ist ein Apfel; verzehre ihn!“ während man ihm eine rohe Kartoffel bietet, so werden mit der Vorstellung: „dies ist ein Apfel“ die Geschmacks- oder sonstigen Eigenschaften des Apfels im Geiste des Menschen erzeugt; nicht wie gewöhnlich, durch Eindrücke, welche die entsprechenden Sinne empfangen, sondern die gehörten Worte rufen im Geiste dieses Versuchsobjectes die betreffenden Vorstellungen hervor; es ist also der geistige, nicht der körperliche Eindruck, welcher die Vorstellung: Apfel, Apfelgeschmack im Bewußtsein hervorbringt; der gar nicht oder mangelhaft functionirende Gesichts- und Geschmackssinn sind nicht in der Lage, diese Vorstellung Lügen zu strafen.

Ist die Umnachtung, welche Geist und Sinne eines in diesem traumwachen Zustande befindlichen Menschen umfängt, so tief, daß alle Sinne, auch das Gehör, welches häufig noch am längsten functionirt, ihre Dienste versagen, so hört jede Möglichkeit, durch Befehle auf diese Menschen zu wirken, auf, und die Glieder bleiben in jeder noch so unnatürlichen Stellung stehen, bis Ermattung oder wirkliche Krampfzustände den Versuch zum Abschluß bringen.

Diese Unmöglichkeit, die Aufmerksamkeit des Geistes willkürlich von der einen Vorstellung auf eine andere zu lenken, nachdem dieselbe durch einen monotonen Sinneseindruck oder eine übermächtige Idee einmal brach gelegt ist, giebt den Schlüssel zur Erklärung all der so geheimnißvoll erscheinenden Versuche, die man mit den geeigneten Personen anstellen kann. Dies macht es erklärlich, warum solche Personen, auch wenn sie sonst ganz unbefangen erscheinen, nicht im Stande sind, ein Glied, welches sie beeinflußt glauben, durch ihren Willen zu bewegen. Sie können ihre geistige Aufmerksamkeit, ihren Willen eben nicht auf diese Nervenpartie lenken. Sie empfinden dann in diesem Gliede auch nicht.

Es ist z. B. eine in den medicinischen Kreisen bekannte Thatsache, daß Velpeau und Broca im Jahre 1860 an Solchen, welche nach dem Braid'schen Verfahren hypnotisirt worden waren, chirurgische Operationen vollzogen haben, ohne daß die Patienten Schmerz empfanden.

In diesem Zustande wissen solche Leute, wenn man ihnen dies versichert, nicht den ersten Buchstaben des Alphabets; sie können sich auf ihren eigenen Namen nicht besinnen; sie können nicht zählen etc., weil sie nicht im Stande sind, von dem Gedanken, von dem man sie eben beherrschen läßt, den Weg zu dem anderen Gedanken zu finden, auf den sie ihre geistige Aufmerksamkeit richten müßten, um A sagen, ihren Namen nennen, 1, 2, 3 zählen zu können.

Der Zustand ist, wenn auch unvergleichlich viel stärker entwickelt, derselbe, den wir alle gelegentlich so peinlich empfinden, wenn wir uns plötzlich auf den wohlbekannten Namen einer Person oder eines Gegenstandes trotz aller Anstrengung nicht besinnen können.

Deshalb kann man auch einer in solcher geistigen Befangenheit befindlichen Person die Ueberzeugung beibringen, sie sei Jemand anders, und kann sie auf Befehl gewissermaßen als diese Person handeln lassen; denn auch das Bewußtsein davon, wer man ist, beruht auf Gedächtniß, also willkürlicher Richtung der geistigen Aufmerksamkeit auf verschiedene Vorstellungen, und diese eben ist gehindert, wenn der energisch ausgesprochene Wille des Experimentators die feste Ueberzeugung hervorgerufen hat, daß es nicht möglich sei, die Aufmerksamkeit nach dieser Richtung hin zu lenken.

Wenn die Einwirkung auf die Empfindungsnerven durch ihre Plötzlichkeit oder Heftigkeit so unwiderstehlich wird, daß das Hemmniß, welches den Uebergang des Eindruckes in das Bewußtsein verhinderte, dadurch überwunden und somit beseitigt wird, ist der Bann gelöst.

Man ersieht leicht, daß sich auf diese Weise alle sicher beobachteten Erscheinungen auf diesem Gebiete ungezwungen erklären lassen. Wie es freilich zugeht, daß bei manchen Menschen die Brücke, welche Geist und Körper, Wille, Vorstellung und Nerventhätigkeit verbindet, ganz oder nach gewissen Gebieten hin durch so geringfügige Ursachen abgebrochen werden kann, das wissen wir zur Zeit noch nicht.

Bis heute ist jeder Versuch, eine Naturgeschichte des Menschengeistes aufzustellen, vor dem Probleme hülflos stehen geblieben, die Umsetzung der geistigen Thätigkeit des Willens in die Nerventhätigkeit und die Ueberführung der materiellen Vorgänge des Reizes unserer Sinnesorgane in die geistige bewußte Wahrnehmung in einer irgendwie befriedigenden Weise zu erklären. Da diese von uns besprochenen Vorgänge, wie wir zeigten, gerade an dieser Uebergangsstelle ihren Sitz haben, bleibt das Wesentliche an denselben unerklärt.

Dr. Grützner ist der Ansicht, daß durch die monotonen Sinnesreize, seien diese nun: Fixiren, Streichen der Oberhaut oder Gehörseindrücke, gewisse Partien des Großhirns, in denen die klare bewußte Vorstellung und der Wille zu Stande kommen, außer Thätigkeit gesetzt würden. Ist dies richtig, so wäre es wahrscheinlich, daß diese in Betracht kommenden Theile vorzugsweise gewisse Partien der grauen Hirnrinde, nicht aber weiter nach hinten gelegene Theile des Gehirns sind, sonst müßte man Störungen des Körpergleichgewichtes an solchen Hypnotisirten beobachten, und auch die Pupille würde aufhören, in normaler Weise gegen Lichteindrücke zu reagiren. Gleichgewichtsstörungen habe ich jedoch niemals deutlich bemerkt, und schwache Zusammenziehungen der Pupille bei Einführung heller Lichtstrahlen konnten in den meisten Fällen erkannt werden.

Es würde falsch sein, wollte man nach der oben gegebenen Erklärung sagen: die Leute bilden sich also das, was sie auf Grund des Befehles oder des Einredens des Experimentators wahrzunehmen oder nicht thun zu können meinen, nur ein. Die Einbildung, daß etwas so beschaffen sei, wie es thatsächlich nicht beschaffen ist, bedingt immer eine gewisse Absichtlichkeit, einen gewissen Willen; das Charakteristische dieses traumwachen Zustandes beruht aber gerade darin, daß eine willkürliche Richtung des Willens aufgehoben ist. Man muß vielmehr annehmen, und die Ueberzeugungstreue, welche meist Miene und Haltung der Versuchspersonen zeigt, bestätigt dies, daß diese Leute in solchem Zustande thatsächlich wahrnehmen, was man ihnen vorredet; sie sehen, um mit Carpenter zu reden, gewissermaßen mit ihrem Geiste, nicht mit dem Auge; sie schmecken mit ihrem Geiste und nicht mit ihrer Zunge; sie fühlen Kälte, Wärme, Form und Größe mit ihrem Geiste, nicht mit ihrem Tastsinn.

Selbstverständlich gelingen derartige Versuche vorzugsweise mit solchen Menschen, welche mit lebhafter Phantasie begabt, zu Träumerei geneigt, oder großer Abstraction, also weitgehender Loslösung ihrer geistigen Thätigkeit von körperlichen Vorstellungen [144] fähig sind. Ueberhaupt werden Erfolge vorzugsweise bei solchen Leuten erzielt, denen es leicht wird, sich recht vollkommen in Verhältnisse und Umstände zu versetzen, die von denen verschieden sind, in welchen sie sich thatsächlich befinden.

Bei Männern scheinen sich ungefähr zehn Procent zu solchen Experimenten zu qualificiren; daß bei Frauen der Procentsatz ungleich größer ist, und daß die Jugend und zumal das Entwickelungsalter bei beiden Geschlechtern sich besonders gut zu diesen Versuchen eignet, wird nach dem oben Gesagten nicht überraschen.

Jedenfalls ist in Deutschland durch das Auftreten des Magnetiseur Hansen die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf ein dunkles Gebiet des körperlichen und geistigen Lebens gelenkt worden, dessen Betrachtung uns den Schlüssel zum Verständniß mancher früher constatirten Thatsache giebt.

Brauchen wir uns jetzt noch zu wundern, daß es den Yogi, Schamanen, Fakiren des Orients gelingt , sich in einen Zustand zu versetzen, in dem sie gefühllos sind und die tollsten Mißhandlungen ihres Körpers zur größeren Ehre ihrer Götter ohne jedes Zeichen von Schmerz ertragen? Muß man an übernatürliche Einwirkung oder jedesmal an Betrug denken, wenn ein durch Askese und monotone geistliche Exercitien systematisch mißhandelter Mönch oder Klosterschüler in eine den hier beschriebenen Zuständen ähnliche Verzückung geräth und in dieser thatsächlich Dinge sieht, hört und fühlt, die dem tollsten Wunderglauben Thür und Thor öffnen? Sind unsere Vorfahren immer so sehr zu verurtheilen, weil sie Einzelne, wegen zufällig oder absichtlich an Anderen hervorgerufener Wirkungen, welche den hier beschriebenen ähnlich sind, für Hexen und Zauberer hielten?

Bis heute war es selbst den meisten Aerzten und Psychologen von Fach unbekannt, daß die Zahl der zu solchen hypnotischen Versuchen geeigneten Personen so groß ist, daß Leute wie Hansen getrost öffentliche Vorstellungen daraufhin veranstalten können.

Nicht ohne Absicht habe ich übrigens manche für das Gelingen solcher hypnotischen Versuche erhebliche, für das Verständniß derselben jedoch unwesentliche Umstände unerwähnt gelassen, weil es überaus bedenklich wäre, wenn Unberufene derartige Experimente nach dieser Beschreibung nachmachen wollten. Es ist leicht verständlich, daß eine andauernde oder wiederholte Aufhebung der Fähigkeit, die Richtung seiner geistigen Aufmerksamkeit beliebig zu lenken, schließlich zu bleibenden oder wenigstens länger anhaltenden geistigen Störungen führen kann. Vielfach bleiben die, welche solchen Versuchen unterworfen wurden, tagelang geistig befangen, leiden hinterher noch lange an Kopfschmerz, Schlafsucht und allgemeiner Mattigkeit. Es erstrecken sich bei sehr Empfindlichen die Lähmungserscheinungen gelegentlich sogar bis auf die Athmungs- und Herzbewegungen, sodaß Blutandrang nach dem Kopf und Erstickungsanfälle eintreten, bei welchen die Gefahr des schlimmsten Ausganges nicht ausgeschlossen ist.

Da die zuversichtliche Erwartung des Resultates den Eintritt desselben rasch herbeiführt und die immer übermächtiger werdende Vorstellung, ganz unter dem Einflusse des Experimentators zu stehen, jeden Widerstand immer erfolgloser erscheinen läßt, so ist es auch nicht wunderbar, daß sich die Empfindlichkeit fast mit jedem neuen Versuche merklich steigert; selbst die, welche anfänglich kräftig, zumal gegen das Eintreten falscher Vorstellungen, sich wehrten, sanken bei neuen Versuchen bald ebenfalls zu willenlosen Automaten herab. Die Empfindlichkeit kann sich schließlich sogar zu einer solchen krankhaften Höhe steigern, daß derartige Zustände ohne jede äußere Veranlassung von selbst eintreten, in Krämpfe übergehen und damit diese Leute für die Arbeiten ihres Berufes längere Zeit hindurch, wenn nicht dauernd, unbrauchbar werden.

Selbst vor häufigem Betrachten solcher Experimente möchte ich leicht Erregbare, zumal Frauen und junge Leute, ernstlich warnen. Die Disposition zum Eintreten hypnotischer Zustände, die doch gewiß eine sehr fatale Zugabe zu den übrigen Unannehmlichkeiten des Lebens ist, kann durch eine Art von Ansteckung leicht auf Solche übertragen werden, die vorher vollkommen ungeeignet erschienen. Trotz allen Sträubens können sich dieselben des Eintrittes dieser Befangenheit nicht mehr erwehren, ähnlich wie Viele das Gähnen nicht mehr unterdrücken können, nachdem ihr Gegenüber ihnen dazu das böse Beispiel gegeben, und wie Lustigkeit, üble Laune, bei Frauen selbst hysterische Zufälle, und gelegentlich sogar Geistesstörungen notorisch ansteckend gewirkt haben.

Ein Glück ist es, daß die Meisten, welche empfindlich sind, dies nicht wissen, und Diejenigen, welche diese unangenehme Entdeckung einmal an sich gemacht haben, sich leicht vor Wiederholungen schützen können, wenn sie sich nur den nöthigen Vorbereitungen nicht unterwerfen und jeder Veranstaltung dazu sich sofort widersetzen.




Küstenfahrten auf dem Eise.
Ein Winterbild von O. von Riesenthal.


Wenn am Saaler Bodden, an der vorpommerschen Küste die Herbststürme ausgetobt und mit ihrem eisigen Hauch die letzte Spur des Pflanzenlebens bis auf bessere Zeiten vertagt haben, tritt momentan eine Zeit der Ruhe ein; eine zwar kalte, aber herrliche, krystallreine Luft strömt von der See herüber; der Strandbewohner athmet auf und bessert an seiner Hütte für den kommenden Winter aus, was die Stürme beschädigt haben.

Die Seeleute, welche vor Kurzem in die heimathlichen Winterquartiere einkehrten, manchmal von langer, langer Fahrt draußen von „der Japanischen See“ her, die Fischer und was sonst dem blauen Elemente zugethan ist, sieht man alsdann mit besonderem Interesse auf das große Binnenwasser auslugen und die dort beginnende Umwandlung beobachten; denn der stille Frost beginnt seinen „krystallenen Brückenbau“, auf dessen Vollendung diese breitschulterigen Gestalten in ihren dicken, wollenen Jacken, den Südwester auf dem Kopf, gespannt und ungeduldig harren.

Die Zwischenzeit, in welcher das Fahrwasser nicht mehr frei, die Eisdecke aber unbrauchbar ist, bringt den Strandbewohnern eine unerwünschte Ruhe; die Fischer können ihrem Gewerbe nicht nachgehen; die Heuer liegen still; die Post muß die Fahrt ihrer Yacht einstellen und die Poststücke auf dem langen Landwege befördern, so gut es eben gehen mag; der Schmuggler verdient Nichts, und der Herr Pastor kann nicht hinüber zur Predigt in seiner Filialgemeinde – das Alles ist verdrießlich.

Aber der Frost hält Stand und baut fleißig weiter; die Schwäne habe sich schon auf der Mitte der Binnensee mehr und mehr zusammengedrängt, und endlich hört man ihr Rufen gar nicht mehr, denn sie haben sich über Nacht auf und davon gemacht. „Die See steht.“

Man hat diesen Zeitpunkt nicht unvorbereitet erwartet, im Gegentheil allenthalben die verschiedenen Geräthschaften und Transportmittel zur Eisfahrt zurecht gehämmert und geklopft, in die Schlittschuhe frische Hanfschnuren gezogen, die Peekstange mit einer scharfen Spitze, den betreffenden Schlitten mit neuem Sitzbrette versehen; dem Stuhlschlitten des Lehrers hat der Tischler eine neue Lehne besorgt, und dem des jungen Steuermannes durch erneuten Anstrich ein so verlockendes Aeußere verliehen, daß Fieken Voß, die hübsche Capitainstochter, sich gewiß nicht lange zieren wird, von dem kräftigen, schmucken Manne sich zur Kirche schieben zu lassen; er will sich ja doch schon im nächsten Jahre ein eigenes Schiff bauen; die Eltern sehen ihn nicht ungern – wer weiß?!

Die Dorfstraße schlendert ein Seemann gemächlich daher, die Hände in den weiten Hosentaschen.

„Klas!“ ruft ihm ein altes verwettertes Gesicht aus dem halb geöffneten Fenster zu, „wo steit et? Ik hew kenn Solt!“

Der Seemann schiebt den Prieem auf die andere Seite seines breiten Mundes, spritzt den braunen Saft mit kräftigem Strahle von sich – und zuckt einfach die Achseln. „Es ist noch Nichts los.“

Der Mann ist nämlich eine Person von Gewicht, ein Bootsmann im Dienste der Regierung und hat zu bestimmen, wann das Eis befahren werden darf. Will ein Wagehals sich nicht so lange gedulden, so steht es ihm natürlich frei, eine Fahrt auf eigene Rechnung und Gefahr vorher zu unternehmen und dabei gelegentlich einzubrechen und zu ertrinken – [145] das geht den Bootsmann nichts an, wohl aber ist er für Unglück verantwortlich, welches durch Einbrechen des Eises auf der „ausgesteekten“ Fläche geschieht, nachdem er das Eis freigegeben hat.

Dies geschieht nicht durch umständliche Circulare oder andere Schriftstücke, vielmehr durch kolossale Runenschrift, wunderliche, auf das Eis eingekratzte Zeichen, welche zugleich die Richtung der Bahn andeuten, und – nun geht es los.


Eine Begegnung auf vorpommerschem Küsteneise.
Originalzeichnung von Johannes Gehrts.


Ich stand auf einer Düne bei Ahrenshoop, auf dem Dars, jener durch Sturmfluth so hart heimgesuchten Halbinsel; dort im Forsthause hatte ich im Kreise einer braven und ehrenwerthen Familie gastliche Aufnahme gefunden. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen; links die Ostsee mit ihren tiefblauen Fluthen, vor mir der Dars mit seinem wildreichen Forstrevier, zur Rechten die fest zugefrorene, wie ein Krystallspiegel blitzende und glitzernde Binnensee, an deren weit entferntem Ende der Kirchthurm des mecklenburgischen Städtchens Ribnitz auftauchte, hinter mir das Fischland, jene schmale Landenge, welche den Dars und Mecklenburg verbindet, mit seinem Kirchdorf Wustrow und der Navigationsschule. Aus den Schornsteinen der Stranddörfchen kräuselte sich der Rauch in die reine, blaue Luft empor; von der See her erscholl der helle Ruf des „Klashahns“, der fischenden Eisente; hier und da tönte durch die feierliche Sabbathstille eine Glocke, Alles um mich her Friede und Schweigen; selbst die See lag ruhig, nur daß sie über die Riffe in monotonem Brausen ihre Wogen wälzte – es war eine Sonntagsstimmung, daß man in stummer Ehrfurcht Alles um sich her und sich selbst dazu vergaß.

Ein Ruf aus dem Forsthause weckte mich aus meiner [146] Träumerei; in der Thür stand die Hünengestalt des Försters B., sechs Fuß hoch, halb so breit.

„Wollen Sie mit nach Ribnitz?“ fragte er.

„Gewiß, gern!“

„Dann machen Sie sich bald fertig! Ich lasse inzwischen anspannen.“

Daß der Alte etwas vorhatte, konnte ich schon aus dem gestern erfolgten scharfen Beschlagen der Pferde entnehmen.

„Soll es auf dem Eise nach Ribnitz gehen?“ fragte ich zehn Minuten später, nicht ohne heimliche Beklemmung, als wir lustig der „Hundebeck“, einer tiefen Einbuchtung der Binnensee, zutrabten.

„Na, gewiß!“ lachte der Förster, „Sie haben doch nicht Bange?“

„Unter Ihrer Obhut wohl nicht; Sie wollen freilich bedenken, daß mir dieses Leben und Treiben gänzlich neu ist. Den Kukuk auch, das Wasser hat keine Balken.“

„Aber das Eis! Nur keine Sorge – es hält.“

Die Pferde scheuten schnaubend mit zurückgelegten Ohren vor der spiegelblanken Fläche und waren erst nach vieler Mühe und begütigendem Zureden hinauf zu bringen, und ängstlich und widerstrebend trippelten sie vorwärts; als sie der Förster aber kurz in die Leinen nahm und mit der Peitsche energisch bedrohte, faßten sie Muth, und kaum hatten sie sich von der durch die scharfen Eisen bewirkten Sicherheit ihres Trittes überzeugt, als sie selbst Freude über die spiegelblanke Bahn empfanden und munter lostrabten. Freilich zuckten sie zusammen, und, offen gestanden, ich zuckte auch zusammen, als das Eis wie einzelne Kanonenschläge knallte, aber die Pferde beruhigten sich bald wieder, und mein Führer belehrte mich, daß gerade in diesem Krachen der Eisdecke die sicherste Bürgschaft für ihre Haltbarkeit läge.

Wir waren eine gute Strecke gefahren, wobei der von unserm Ziele her uns entgegen wehende Wind, geschärft durch die schnelle Fahrt, wie mit Messern uns in's Gesicht schnitt, als ich in der Ferne Segel gewahrte, welche sich uns mit reißender Schnelligkeit näherten. Ich sah und sah – aber es war richtig und blieb dabei; ich dachte an eine Fata Morgana, eine Vision, an den fliegenden Holländer – überall Eis und dazu ein Segelboot?!

„Herr Förster, um Alles in der Welt, erklären Sie mir jenes Phänomen! Ich sehe doch keine Wasserstraße. Wer oder was treibt mit so rasender Schnelligkeit jenes Segelfahrzeug uns entgegen?“

Er sah mich mit fast mitleidigen Augen an.

„Mein Gott, Herr Forstcandidat, das ist ein Segelschlitten, und zwar der Postschlitten – doch nachher davon! Jetzt heißt es, scharf aufpassen, damit er uns nicht überfährt.“

Wie ein Sturmwind brauste es heran.

„Goden Morgen ok, Herr Förster!“ grüßte der Steuermann.

„Goden Morgen, Niemann!“ dankte der Förster, „bringt mi doch –

Eitles Unternehmen, diese Bestellung! Niemann war auf dem Fahrzeuge nur noch als Punkt zu erkennen.

„Haben Sie denn noch nie von einem Segelschlitten gehört?“ fragte verwundert der Förster, „sie sind doch allgemein im Gebrauch.“

„Hier und in ähnlichen Gegenden mag das wohl sein, im Binnenlande aber – und Sie müssen bedenken, daß ich schnurstracks vom Thüringerwalde komme – kennt kaum Jemand diese herrliche Erfindung auch nur dem Namen nach; bitte, erklären Sie mir die Construction dieses Segelschlittens!“

„Das ist bald geschehen; auch werden Sie noch Gelegenheit genug haben, ihn selbst zu betrachten und zu benutzen. – Der Segelschlitten ist fast wie ein Boot gebaut, nur etwas rundlicher, mit niedrigeren, weniger ausgeschweiften Wänden, und dieser Bau, fast einer 'Waschbütte' ähnlich, steht auf zwei starken eisernen Schlittenkufen. Die Takelage besteht, wie bei einem Segelboot, aus einem, manchmal sogar aus zwei Masten nebst den nothwendigen Segeln; der merkwürdigste und unentbehrlichste Theil desselben ist aber das Steuer, welches aus einem drei bis vier Fuß langen, etwa handbreiten und fingerdicken, mit scharfen Zähnen versehenen, in einem Charnier laufenden Eisen besteht und durch Eindrücken in das Eis theils zum Anhalten, theils zu Wendungen dient; denn Sie müssen wissen, daß man mit einem solchen Schlitten sogar windan kreuzen kann, wie mit einem Segelboot; liefe er nur vor dem Winde, so wäre seine Benutzung natürlich eine sehr bedingte. So einfach die ganze Vorrichtung aussieht, so viel Umsicht und Erfahrung erfordert ihre Bedienung; namentlich während des Kreuzens, beim Wenden der Segel ist die größte Vorsicht nöthig, ebenso in geradem Lauf bei unruhigem Winde, denn gar leicht schlägt der Schlitten um, und wehe dann den Insassen! Herr Candidat, in meinem Leben vergesse ich eine Fahrt auf solchem Schlitten nicht, den ein noch junger, unerfahrener Steuermann führte. Sehen Sie dort den Vorsprung des Strandes? Da war es. Wir kamen vor dem Winde dahergesaust und mußten dort aufkreuzen, um nach Ahrenshoop zu kommen; 'Steffen,' sage ich, 'nehmt Euch auf der Ecke in Acht und hemmt rechtzeitig den Schlitten!' Aber er wollte es besser wissen und blieb in voller Fahrt; nur noch wenige Minuten – da lag die Bescheerung um, und, ich sage Ihnen, hundert Schritt und weiter glitschten wir sitzlings dahin; mir waren alle Glieder lahm, und doch – Thränen habe ich geweint – nein – gelacht. Im Schlitten hatten vier Matrosenweiber mit ihrem Marktkauf gesessen: hätten Sie die Fahrt dieser Weiber über das Eis und ihre Posituren gesehen, das Geschrei angehört und hinterher das Schimpfen – es war zum Todtlachen. Jede behauptete einen Arm oder Fuß gebrochen oder wenigstens verstaucht zu haben, und Jede mußte an den wieder aufgerichteten Schlitten wie ein eigensinniges Kind gegängelt werden. Zum Glück hatte sich Keine ernstlich Schaden gethan. Als wir glücklich die Weibsleute geborgen, lag noch hier ein Beutel mit Salz, dort ein Stück Fleisch; eine Büchse mit Kaffee war mindestens fünfhundert Schritt dahingerollt und wurde nach langer Umschau in dieser Entfernung nur zufällig entdeckt.“

„Ich dachte mir das Eis aber belebter; bei mir zu Hause würden Hunderte von Schlittschuhläufern die herrliche Bahn benutzen.“

„Sie müssen bedenken, daß man hier zu Lande das Schlittschuhlaufen nicht als Vergnügen, sondern zur Arbeit betreibt, zum Erwerbe; in der Woche werden Sie daher mehr Leben hier finden, als heut, am Tage des Herrn, wo Jeder gern nach schwerer Wochenarbeit ruht; allerdings macht man auch am Sonntage Vergnügungsreisen über das Eis, wenngleich die kleinen Gesellschaften auf der großen Fläche weniger in's Auge fallen – irre ich nicht, so kommt dort gleich eine Gruppe uns entgegen, die sich nicht arbeitshalber auf's Eis gewagt hat.“

Vorn auf einem kleinen länglichen Schlitten saßen nach rückwärts gewendet zwei Personen, so eingemummt, daß man einen Mann und eine Frau nur vermuthen konnte, auf dem hintern Ende des Schlittens aber stand, der Fahrt zugewendet, ein langer Mensch, der mit einer noch längeren Stange, die er zwischen den Beinen durchgesteckt hatte, ihn sehr schnell vorwärts trieb.

„Das nennt man 'Peeken',“ erläuterte der Förster, „es ist eine sehr beliebte Art Schlittenfahrt.“

„Und eine jedenfalls sehr einfache und leichte?“

„Ja und nein. Wer es ordentlich versteht, dem ist das Abstoßen der langen Peekstange freilich nicht schwer; wer es nicht versteht, mag sich seine Rückseite verstählen lassen; denn glauben Sie mir – man fällt eben nicht sanft, wenn man mit der Stange abgleitet, und das passirt Anfängern öfter, als ihnen lieb ist. Ein Uebelstand, ja eine lebensgefährliche Sache ist das schwierige Anhalten des Schlittens bei voller Fahrt, besonders wenn das Eis nicht überall mehr dicht ist und der Peeker gefährliche Stellen zu spät gewahr wird. Im vorigen Jahre fuhr ein armer Teufel auf dem Peekschlitten einen Hammel nach der Stadt, um ihn zu verkaufen; das Eis war schon von offenen Stellen durchbrochen; hatte der Mann nun nicht ordentlich aufgepaßt – kurz, plötzlich sieht er kaum fünfzig Schritt vor sich das offene Wasser; er hatte noch die Geistesgegenwart, sich schnell vom Schlitten herabzuwerfen, doch über diesen mitsammt dem armen Hammel schlug einen Augenblick später die Fluth auf Nimmerwiedersehen zusammen.“

Noch wenige Minuten, und wir waren an Ort und Stelle, wo ein heißer Grog unsere etwas starr gewordenen Lebensgeister wohlthätig erwärmte.

Förster B. hatte Recht: an den Wochentagen war das Eis stets belebt, freilich nicht Kopf an Kopf wie auf der Eisbahn einer großen Stadt, aber geschäftige Menschen sah man stets, [147] die meisten auf Schlittschuhen; Lasten wurden gepeekt, auf Segelschlitten transportirt; Frauen ließen sich auf Stuhlschlitten an ihr Ziel schieben; mit Pferden bespannte Schlitten brachten größere Vorräthe von Brod, Mehl, Salz u. dergl. m. in die Stranddörfer – kurz: Alles hastete auf eisernem Schuh bunt durch einander. Daneben gehörten Schlittenscenen wie die vom Maler auf der beigegebenen Illustration dargestellte Begegnung, nicht zu den Seltenheiten.

Daß dieses rege Leben und Treiben auf dem Eise mein ganzes Interesse gewann, war selbstverständlich; deshalb lugte ich umher, so viel ich Muße hatte, und so fielen mir eines Nachmittags zwei mit Säcken bepackte, in rapider Hast daher stürmende Schlittschuhläufer auf, welche ein Segelschlitten in voller Fahrt offenbar verfolgte. Die Männer leisteten unter ihrer schweren Last das Aeußerste; es waren, wie ich nicht mit Unrecht vermuthete, Salzschmuggler, auf welche das durch die Regierungsflagge als Zollschlitten gekennzeichnete Fahrzeug scharfe Jagd machte; mehr und mehr näherte es sich ihnen; schon schienen sie dem Arm der Zöllner verfallen, als sie nach verschiedenen Seiten aus einander stoben, und der Schlitten zwischen ihnen durchbrauste; schnell wurden dessen Segel gestellt, und die Hatze begann von Neuem; wieder war der Schlitten dicht hinter ihnen; wiederum retteten sie sich durch dieselbe Finte. Da fiel der Eine – ob von der Last niedergedrückt, ob von lose gewordenem Schlittschuh gefällt, konnte ich nicht sehen; im Nu waren die Beamten hinter ihm drein, natürlich auch auf Schlittschuhen, plötzlich aber raffte er sich wieder auf und rannte, seinen Sack zurücklassend, spornstreichs davon. Der Andere hatte den Strand erreicht, die Schlittschuhe abgeknüpft und verschwand in der Dunkelheit – ebenso, in der Richtung nach seiner Station, der Zollschlitten mit dem erbeuteten Sack.

In dieser Zeit hatten, wie ich erfuhr, die Zollbeamten einen harten Dienst, denn es wurde viel das in Preußen so theure Salz von Mecklenburg eingeschmuggelt, wo es erheblich billiger war. Nicht minder aber fanden holzbedürftige Bewohner entfernter Dörfer, daß gestohlenes Holz sich ebenso leicht, ja noch leichter, weil billiger, als gekauftes peeken ließ, und so glitt denn unter dem Deckmantel der Nacht manches Stößchen trockener Reiser, trotz der Wachsamkeit der Forstbeamten, schleunigem Verbrennungsproceß entgegen.

Der Winter hatte sein überaus hartes Regiment Mensch und Thier zur übervollen Genüge empfinden lassen, und obgleich der März schon in's Land gekommen war, schienen alle Frühlingshoffnungen eitel Illusionen bleiben zu sollen. – Deshalb war auch die von der Försterfamilie längst geplante Reise zu Segelschlitten nach Ribnitz von Woche zu Woche verschoben worden; bald kam die Wäsche dazwischen, bald Schweine- und Gänseschlachten, und wenn die nächste Woche auch ganz bestimmt zu der Reise ausersehen war, da gewisse Einkäufe sich immer dringender nothwendig machten – stets kam Etwas in die Quere.

Da stieg auf einmal das Thermometer; der Wind schlug um, und sein hohles, „ahnungsvolles Brausen“ kündigte dem Eisthyrannen ernste Fehde an; ein warmer Regen fiel; Schnee und Eis überzogen sich mit grauer Farbe, dem sicheren Vorboten ihres baldigen Endes, und wer noch die Eisbahn benutzen wollte, hatte sich zu beeilen. Nun war wieder ein Stein des Anstoßes da: die Frau Försterin fürchtete sich vor dem morschen Eise, und es wäre vor allen „Wenn“ und „Aber“ sicherlich nicht zur Fahrt gekommen, wenn nicht eine dringende, kaum abzulehnende Einladung nach Ribnitz, die sich auch auf mich erstreckte, allem Zaudern ein glückliches Ende gemacht hätte. Klaassen, der sicherste aller Segelschlittenlenker, wurde zur Berathung bestellt, und nachdem er wohl zehnmal der Frau Försterin eidlich versichert hatte, das Eis hielte noch, wurde die Fahrt unabänderlich festgesetzt.

Unsere Reisegesellschaft bestand aus acht Personen, außer Klaassen, dem Steuermanne, und seinen beiden Söhnen als Gehülfen; nicht ohne Hin- und Herreden, wo und wie man am geschütztesten säße, kam man endlich zum Sitzen, die Damen glücklich in die langen Fußsäcke, der Förster zu seinem vergessenen Tabaksbeutel, den Jochem, der Knecht, schleunigst holen mußte; endlich war der Schlitten zum Ablaufen „klar“; die Segel füllten sich und – dahin glitt das Fahrzeug.

Aber der Wind war nicht nur ziemlich flau, sondern wehte uns auch fast in's Gesicht, sodaß gekreuzt werden mußte; dazu fing der Regen an energisch zu sprühen – kurz die Fahrt war nicht sehr erbaulich; die jungen Damen, die Töchter vom Hause, saßen stumm und in sich gekehrt; Klaassen versah seine Kauwerkzeuge mit immer größeren Primen, ja, es entspann sich sogar zwischen Vater und Mutter ein sanftes Scharmützel, daß Letztere mit der Fahrt auch gar zu lange „getöwt“ (gezaudert) hätte u. dergl.

Doch auch diese Fahrt hatte ein Ende, und bald war in den behaglichen Räumen des gastlichen Hauses in Ribnitz alle Beschwerde vergessen. Die Frauen plauderten; die Männer stritten sich über Politik oder besprachen die Aussichten auf Frachten, da sie Alle „Schiffsparten“ hatten, und was sonst zu den kleinen Leiden und Freuden des menschlichen Lebens gehört. Ich hielt mich an den guten „Rothspohn“ und die importirten Cigarren und machte meine Betrachtungen über die offenbar heftige Steigerung des Windes, welche den in lebhaftester Unterhaltung Begriffenen gänzlich zu entgehen schien.

Da klopfte es an die Thür, und das verwitterte Gesicht Klaassen's wurde sichtbar. Er mahnte dringend zur Heimfahrt; der Wind blase beinahe schon zu grob, und das Eis hätte bei Nienhagen eine „Borst“ (Riß) bekommen.

Das schien nun freilich Allen bedenklich, und man rüstete sich eiligst zum Aufbruch.

Die Kunde von dem Riß im Eise hatte der Steuermann eines nach uns eingelaufenen Schlittens unserem Klaassen gebracht und natürlich die Lage desselben genau angegeben; es handelte sich nun darum, mit dem Schlitten die Richtung des Risses rechtwinkelig zu durchschneiden, weshalb Klaassen einen etwas anderen Curs steuern mußte. Obgleich wir nur wenig mehr als halben Wind hatten, flog der Schlitten dennoch wie mit Adlersfittigen dahin, und bald war die Stelle erreicht, wo der Curs geändert werden mußte.

Klaassen hatte mit Genugthuung meine aufmerksame Beobachtung seiner Geschicklichkeit und meine Freude über solche Sturmfahrt bemerkt. Lächelnd bedeutete er mich, es solle erst recht losgehen; wenn wir vor den Wind kämen, dann wolle er mir zeigen, was ein guter Segelschlitten könne.

Auf seinen Zuruf wurden die Segel gewendet; kreischend drückte sich das Steuereisen in das Eis ein.

„Setten Se sick rittlings, Herr!“ rieth mir Klaassen; ich that es widerstrebend; da faßte der Wind die Segel, und mit rasender Eile jagte der Schlitten dahin.

„Min Gott! – Klaassen!“ stöhnte die gute Frau Försterin, „de Borst – de Borst!“

„Ach wat – de het nich Tid tau bräken.“

„Klaassen, hollen S' vor de Borst an, un unersöken S' dat Ihs!“

Ein pfiffiges Lächeln war seine Antwort.

„De Borst in Sicht!“ rief einer seiner Jungen.

„Treckt de Segels fast an!“ schrie Klaassen.

Wie ein Pfeil schoß der Schlitten heran; hochauf spritzte die Fluth aus dem Riß – wahrlich, das Eis hatte keine Zeit zum Brechen.

Die Frau Försterin athmete erleichtert auf. Klaassen lachte; der Förster zündete sich die ausgegangene Pfeife wieder an, und ich bedauerte das nahe Ende der Fahrt. Bald fiel das Hauptsegel; das Eisen kreischte im Eise, und wir waren an Ort und Stelle.

Dampf oder Wind? – Ein Courierzug neben dem Segelschlitten vor dem Winde – welcher überjagt den anderen? Ich zweifle keinen Augenblick: der letztere thut es.



[148]
Die Sparteriewaaren-Erzeugung
Von Otto Purfürst.[WS 2]


Im gewerbreichsten Theile der österreichischen Monarchie, im nördlichen Böhmen, streckt sich eine lange Reihe von Ortschaften hin, in denen Hunderttausende fleißiger Hände sich unablässig regen; Städte und Dörfer schließen sich eng an einander; viele Meilen weit geht man die Landstraße entlang immer zwischen Häusern; in den meist einstöckigen, aus Holz erbauten und mit Schindeln oder Stroh gedeckten Häusern klappert vom Morgengrauen an bis in die späte Nacht der Webstuhl. In den Städten wie Rumburg, besonders aber Warnsdorf, sieht der Wanderer die Schlote zahlreicher Fabriken zum Himmel emporragen; am Abend erglänzen die Fenster der zumeist großartigen Fabriken, als fände eine Illumination statt. So sieht es in der Gegend aus, wenn der Erwerb im flotten Gange ist. Geben aber an Werktagen die Schlote der Fabriken keine Rauchwolken von sich, sind deren Fenster ganz oder zum Theil dunkel, hört man nicht das rastlose Klappern des Webstuhles, dann – was zuweilen vorkommt – ist es um die Gegend und ihre Bewohner traurig bestellt, dann giebt es gar schmalen Erwerb, dessen Ertrag selbst für die bescheidensten Bedürfnisse nicht zureicht, dann klopft der Hunger erbarmungslos an die Thür Tausender von armen Leuten, die so gern von früh bis spät fleißig arbeiten möchten.

Eine dieser gewerbreichsten Ortschaften, hart an der sächsischen Grenze, im Leitmeritzer Kreise und nächst Rumburg liegend, trägt den Namen Ehrenberg, und der Ort ist aus einem ganz besonderen Grunde merkwürdig; denn einzig in ihm wird seit Jahren eine eigenthümliche Industrie betrieben, welche, wie sich zeigt, einer schönen Entwickelung fähig ist: die Sparteriewaaren-Erzeugung. Ehrenberg, in Ober-, Nieder-, Alt- und Neu-Ehrenberg zerfallend, zählt zusammen über sechstausend Seelen. Aeußerst freundlich liegt das langgestreckte Dorf in einem Thale, welches ein kleiner Fluß, die Mandau, die hier ihren Ursprung hat, durchfließt; freundlich lugen die Holzhäuser aus dem Grün der Obstbäume oder mächtiger Eichen und Linden hervor.

Die Sparterie oder Holzweberei ist in Ehrenberg durch einen Zimmermann Namens Anton Menzel, der sie in Rennersdorf, einem zwischen Kreibitz und Dittersbach liegenden Orte, kennen gelernt hatte, vor etwas über hundert Jahren eingeführt worden. Damals befand diese Industrie sich selbstverständlich auf ihrer untersten Stufe, nicht selbstverständlich aber ist, daß sie auf dieser bis vor kurzer Zeit stehen blieb, wodurch ein aussichtsvoller Erwerbszweig nahe daran war, zu erlöschen. Mit einem Wort: die Ehrenberger fabricirten bis in die jüngste Vergangenheit hinein nichts als ein einfaches Gewebe aus Holz, die sogenannten „Holzböden“.

Diese Böden werden aus feinen Fäden, nicht stärker als Briefpapier und je nach Bedarf ein bis fünf Millimeter breit, gewebt, und zwar bedarf es, um solche feine Fäden in der Länge von einem Meter bis zu einem Meter und dreißig Centimeter herzustellen, eines Holzes, das mit Zähigkeit Weichheit verbindet, welche Eigenschaften nur das Holz der Espe besitzt. Dieser früher auch in Böhmen heimische Baum ist dort nahezu völlig verschwunden; wenigstens sind keine Bestände desselben mehr vorhanden, welche dem Bedarf auch nur einigermaßen genügen könnten, weshalb letzterer heute aus Russisch-Polen gedeckt werden muß. Die Beschaffung des Rohmaterials für die Sparterie, des Espenholzes, ist darum ebenso mühselig wie kostspielig. Zu zwei Malen im Jahre, im Frühjahr und Herbst, reisen die Holzhändler nach Polen, dort die benöthigten Vorräthe zu beschaffen; es müssen zum Schlagen diese Jahreszeiten benutzt werden, da nur Holz von solchen Bäumen sofort zur Verwendung gelangen kann, in die der Saft noch nicht trat, oder aus denen er schon wieder ausgetreten ist; im Sommer geschlagenes Holz muß, ehe es verarbeitet werden kann, ein Jahr im Wasser liegen, weil es sonst roth und damit unbrauchbar wird. Auch ist nur solches Holz für die Sparterie geeignet, das ganz fehlerfrei ist; der geringste Fehler, ein für den Nichtkenner kaum bemerkbares Abweichen im Wachsthum, macht die aus solchem Holz gewonnenen Fäden für die Weberei unbrauchbar. Dies bedingt aber, daß mit der Holzgewinnung eine starke Abholzung verbunden ist; aus hundert Stämmen werden durchschnittlich nur sechs bis acht Klaftern Holz gewonnen. Hieran knüpfte man vielseitig die Befürchtung, es werde mit der Zeit gänzlicher Mangel an Rohmaterial eintreten; Fachmänner theilen diese Befürchtung indessen nicht, einestheils im Hinblick auf die riesenhaften Bestände, welche in Polen noch vorhanden sind, anderntheils, weil die Espe sehr rasch nachwächst und sich somit die abgeholzten Bestände bald von Neuem bewaldet haben. Und gerade dieses rasche Wachsthum der Espe ist es, was sie für die Sparterie verwendbar macht, denn durch dasselbe sind die Fasern gradliniger, als dies bei anderen Baumarten der Fall ist.

Der in Polen die Materialbestände auswählende Holzhändler hat an Ort und Stelle zunächst für ein Unterkommen in unwirthbarem Walde zu sorgen, welcher für sechs, acht, ja in einzelnen Fällen siebenzehn Wochen sein Heim ist. Er findet dieses Unterkommen zumeist in Forsthäusern. Dann gilt es, die wahrscheinlicherweise nutzbaren Stämme zum Schlagen zu bezeichnen; dieselben müssen eine Stärke von wenigstens 30 Centimeter besitzen, dürfen nicht windschief und müssen möglichst astfrei sein, auch kann nur weißes Holz benutzt werden; geschlagene Bäume, deren Holz roth ist, müssen ohne Weiteres liegen bleiben. Nun beginnt ein arbeitsvolles und doch monotones Leben für den Holzbeschaffer; Stamm auf Stamm fällt unter den Händen der gemietheten polnischen Holzfäller; die Stämme werden in Stücke von 1 Meter 30 Centimeter Länge geschnitten, geschält und ausgekernt. Jetzt muß der Holzhändler alle seine Aufmerksamkeit darauf verwenden, das fehlerhafte Holz, das heißt solches, dessen Faser nicht geradlinig, welches vielmehr astknollig ist oder Blasen hat, vom fehlerfreien zu sondern, denn während das Holz an Ort und Stelle fast nichts kostet, sind dessen Transportkosten enorm.

Ist ein genügender Vorrath an nutzbarem Holze geschlagen, so wird dasselbe zur nächsten Bahnstation, zumeist nach Rzeszow oder Brody, befördert; dies geschieht seitens der polnischen Bauern auf Holzwagen ursprünglichster Art, die aller Eisentheile vollständig entbehren, und so kommt es, daß zum Transport von 10 Klaftern Holz 46 mit je 4 Pferden bespannte Wagen erforderlich sind; jeder der Fuhrleute erhält auf eine Entfernung von 6 Meilen 6 Gulden österreichischer Währung. Der Bahntransport geschieht durch Deutschland, via Breslau; ein 4 bis 5 Klaftern Holz enthaltender Waggon kostet bis zum Bestimmungsorte 420 Gulden Fracht; trotzdem ist der weitere Weg durch Deutschland doch weit billiger, als der nähere Weg durch Oesterreich. In Ehrenberg kostet die Klafter nutzbares Holz circa 150 Gulden, und zur Verarbeitung kommen derzeit etwa 200 Klaftern.

Das Holz wird nun derart verarbeitet, daß die nach der Faser gespaltenen Stücke von, wie bereits erwähnt, 1 Meter bis 1 Meter 30 Centimeter Länge zu Gevierten von 6 Centimeter Breitenfläche abgehobelt werden; ist die Fläche ganz glatt, dann wird der sogenannte Theiler angesetzt. Der Theiler ist eine Art Hobel, der jedoch statt des glatten Hobeleisens eine Anzahl feiner Messerklingen, 20 bis 30, je nachdem der Faden 1 oder 5 Millimeter breit werden soll, besitzt. Die Handhabung erfordert große Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit seitens des Mannes, der sie ausübt; er muß genau die Lage der Holzfaser beobachten und ihr mit seinem Theiler folgen; dies ist einer der Gründe, weshalb diese Industrie stets durch die Hand ausgeübt werden muß, nie Maschinenindustrie werden kann. Die vom Theiler in's Holz gezogenen Längsschnitte sind etwa 5 Millimeter tief. Ist der Mann damit fertig, so legt er den Theiler zur Seite und nimmt den Hobel zur Hand, mit dem er von der Holzfläche feine Streifen abhobelt, welche von einer am Fußende der Hobelbank stehenden weiblichen Person aufgefangen und geschwenkt werden, um etwa schadhafte Fäden abzusondern; der Abfall an Fäden ist, trotz aller Sorgfalt bei Auswahl des Holzes und bei ihrer Herstellung, doch ziemlich stark.

Die nun fertigen Fäden werden, ehe sie verwebt werden können, je zu zweien an einem Ende zusammengeknüpft; es ist dies Kinderarbeit, und werden in Ehrenberg die Kleinen vom vierten Jahre an damit beschäftigt. Das Kind bekommt für

[149]

Alt-Ehrenberg, die Heimath der Sparteriewaaren.
1. und 2. Gewinnung und Transport des Espenholzes. 3. Fabrik von Rueff und Comp. 4. und 5. Die Anfertigung der Holzböden. 6. u. 7. Die Hutfabrikation. 8. Im Waarenlager.

[150] Knüpfen des Materials zu einem Schock Platten – zu jeder Platte sind 300 bis 400 Fäden nöthig – 60 Kreuzer, verdient per Tag 20 Kreuzer. Die Fäden können nun sofort gewebt werden, was zumeist durch weibliche Personen auf einem Webstuhle geschieht, der sich von den sonst üblichen Webstühlen wesentlich unterscheidet. Der Kürze des Materials halber kann dieses nicht aufgebäumt werden, sondern wird auf einen Rahmen gespannt; längere Fäden bilden die Kette, kürzere, 70 bis 80 Centimeter lang, den Einschuß. Das Einlegen des Einschusses geschieht unter Zuhülfenahme eines Stäbchens, das an einem Ende mit einem Oehr versehen ist; mit diesem Stäbchen zieht der Webende den Faden durch die Kette, während die übrige Manipulation der beim gewöhnlichen Weben in Anwendung gebrachten entspricht; nur werden etwaige Muster durch kleine Drahtstiftchen hervorgebracht, welche sich in der Lade befinden; die Verschiebung erzeugt das Muster.

Somit ist das, worin bis vor wenigen Jahren die Sparteriewaarenerzeugung Ehrenbergs bestand, der sogenannte Holzboden, fertig; allerdings wurden auch früher schon aus diesen Holzböden Mützen und Hüte erzeugt, diese aber waren so einfach wie möglich, in der Form ohne jeden Geschmack; ihre Ausführung war nichts weniger als sauber, und da sie geleimt waren, hatte es ihr Träger bei Regenwetter, oder wenn er schwitzte, mit sehr unangenehmen Folgen zu thun, und dies brachte es mit sich, daß die Hüte und Mützen, welche per Dutzend 75 Kreuzer, respective l Gulden 20 Kreuzer kosteten, nur unter den niedersten Volksclassen Abnehmer fanden.

Daß die Regierung einer Industrie, welche etwa 2500 Menschen Beschäftigung giebt, eine gewisse Aufmerksamkeit zuwendete, ist leicht erklärlich; es wurden von maßgebenden Persönlichkeiten Berichte eingefordert; leider konnten diese der Sachlage nach nichts weniger als erfreulich lauten. Es mußte gesagt werden, die Sparterie-Industrie befinde sich, Dank der Schlaffheit der Arbeiter, welche von Verbesserungen nichts wissen wollten, noch auf ihrer ursprünglichen Stufe; das Einzige, was die Regierung thun könne, sei, daß sie Modelle schaffe und Modistinnen anstelle, welche der Bevölkerung Geschmack beibrächten, wobei aber immer noch fraglich sei, ob hieraus wirklich ein Nutzen entspringen werde, denn die Bevölkerung besitze keinen Begriff davon, welcher Werth ihrem Erzeugnisse bei richtiger Benutzung und entsprechendem Vertrieb innewohne. Weiter wiesen die Berichte auf die Aussaugung der Arbeiter durch die Händler hin; diese wird auch in einer von Dr. Kleinwächter geschriebenen, in Prag 1873 erschienenen Broschüre, welche die Holzweberei behandelt, lebhaft beklagt: während die Händler, vier in Nachbarorten ansässige Firmen, welche sich mit dem Sparteriehandel abgaben, sämmtlich wohlhabende, ja reiche Leute geworden seien, könnten die Erzeuger der Waaren selbst sich kaum die allerdringendsten Lebensbedürfnisse beschaffen.

Ein Bericht an die Regierung schildert sehr drastisch die Manipulationen, deren jene Händler sich bedienten, um die Holzweber in voller Abhängigkeit von sich zu erhalten. Den Abnehmern, welche hauptsächlich Frankreich und England stellten, wurde der eigentliche Erzeugungsort thunlichst verheimlicht, dafür Schluckenau oder Nixdorf als solcher angegeben; dabei gerirten sich die Händler ihren Abnehmern gegenüber als Fabrikanten, während sie solche nie waren. Sie gingen so weit, daß französische und englische Einkäufer vom Besuche der wirklichen Arbeiter durch die Drohung zurückgehalten wurden, man würde ihnen keine Waare mehr liefern, während man die Arbeiter mit der Erklärung vom directen Verkaufe abschreckte, man würde ihnen, wenn sie diesen versuchten, keine Platte mehr abnehmen. Und die Leute erreichten ihren Zweck, denn die Bewohner Ehrenbergs, welche sich der Sparteriewaaren-Erzeugung widmeten, waren recht brave und arbeitsame Leute, denen jedoch jede für einen rationellen Geschäftsbetrieb unbedingt nöthige Weltkenntniß mangelte. Unter solchen seit mehr als hundert Jahren herrschenden Umständen mußten die Händler allmächtig sein; sie waren nur Wenige und konnten sich unter einander leicht verständigen; dictatorisch konnten sie die Preise machen, zu denen sie kauften und zu denen sie verkauften.

Die hieraus entspringende Bedrückung der Arbeiter, durch Herabdrücken der für ihr Erzeugniß bewilligten Preise, war wesentlich mit Ursache, daß die Sparteriewaaren-Industrie so lange auf ihrer ersten Stufe stehen bleiben konnte, ja zurückging; wandten doch Viele, welche sahen, sie könnten mit der Sparterie nicht mehr das erwerben, was sie zum nothdürftigsten Lebensunterhalt brauchten, sich der eigentlichen Weberei zu. Eine weitere Ursache des Stillstandes, beziehungsweise des Rückganges der Sparteriewaaren-Erzeugung aber ist die, daß den Arbeitern das Verständniß mangelte, ihr Rohmaterial, die Holzböden, in exportfähige, fertige Waare umzuwandeln, und die Händler es für zweckentsprechender fanden, mit dem Rohmaterial zu handeln, als dasselbe zu fertiger Waare zu gestalten; so wanderten denn die Ehrenberger Holzböden nach Paris und London, wo man elegante Damen- und Herrenhüte aus ihnen fertigte, welche längst schon dort von der feinen Welt mit Vorliebe getragen werden.

Auf der ursprünglichen Stufe der Rohmaterial-Erzeugung würde Ehrenberg wohl noch lange stehen geblieben sein, wenn nicht zwei tüchtige Geschäftsleute, ein Elsässer und ein Westfale, sich dort niedergelassen und die Firma A. Rueff u. Comp. begründet hätten. Diese Leute strebten von Anbeginn ihres Geschäfts an, die lebens- und entwickelungsfähige Industrie aus die höchstmögliche Stufe zu bringen, und trotz der Schwierigkeiten, welche Concurrenzneid von einer, Willensträgheit von anderer Seite ihrem Unternehmen anfänglich bereiteten, ist es ihrer Energie und Geschäftskenntniß doch gelungen, nach wenigen Jahren schon die erfreulichsten Erfolge zu erzielen. Heute expedirt Ehrenberg nicht nur das Rohmaterial, sondern die fertige Waare, bestehend in hocheleganten Damen- und Herrenhüten und Phantasie-Artikeln aus Holzgewebe kunstvoll gefertigt. Während früher die Holzböden nach Paris gingen und dort verarbeitet und appretirt wurden, importirt heute Paris die in Ehrenberg gefertigte Waare, deren Appretur die Pariser vollkommen erreicht.

Nicht allein für die Damenwelt, welche hier wahrhaft reizende Hüte, die zu tragen auch die feinste Dame sich nicht zu schämen braucht, vorfindet, sondern für Alle, welche Sinn für die Grundlage des Volkswohlstandes, die Industrie, haben, ist eine Besichtigung des Waarenlagers der Firma und eine Vergleichung der wahrhaft überraschenden Fortschritte, welche in dieser Industrie gemacht worden sind, hochinteressant.

Da sehen wir in großer Anzahl Damenhüte in den verschiedensten und modernsten Façons, ganz aus Holz in gelungenster Durchführung gefertigt, fragen wir aber nach dem Kostenpreis dieses Erzeugnisses, so werden wir durch die kaum glaubliche Billigkeit desselben überrascht; wir finden Hüte für Herren in allen nur denkbaren Formen, vom feinen Panamahut an, der hinter dem in Paris gefertigten um nichts zurücksteht, bis zu einem backschüsselartigen zum Export nach China bestimmten Hut und bis zu den massenhaft gefertigten Einlagen, durch welche die Fez des türkischen Militärs Steifheit erhalten. Der Export der Firma umfaßt heute schon ganz Europa von Spanien bis Rußland; in Asien erstreckt er sich über den Kaukasus, Indien und China; ebenso rege sind die Verbindungen mit Nord- und Südamerika und Australien; so hat sich das fertige Erzeugniß Ehrenbergs schon nach vier Welttheilen direct Bahn gebrochen, während dasselbe im fünften Welttheil, in Afrika, durch die Vermittelung französischer und englischer Zwischenhänder eingeführt wurde.

Der Besuch der Arbeitslocale verschafft uns die Ueberzeugung, es habe die Wiederbelebung und Hebung der nahezu völlig versumpften Industrie heute schon einem Theil der Bevölkerung Ehrenbergs wesentliche Vortheile gebracht und es könne nicht ausbleiben, daß dieser immer weitere Kreise theilhaftig werden. Die Hutformer, welche, beiläufig gesagt, die türkische Fezeinlage als gemeinsame Kopfbedeckung angenommen zu haben scheinen, verdienen heute schon mehr als das Dreifache dessen, was sie bei angestrengtester Arbeit mit der Erzeugung der Böden verdienen konnten; ebenso genießt eine Anzahl mit Fertigung von Damenhüten beschäftigter junger Mädchen einen sehr anständigen Verdienst. Diese Mädchen erfreuen sich aber auch des weiteren Vortheils, daß ihr Geschmack für schöne und elegante Formen unter Leitung einer jungen Dame, welche dieser Geschäftsabtheilung mit seltener Tüchtigkeit vorsteht, herangebildet wird.

Versuche, die Holzweberei auch anderwärts einzuführen, sind zu verschiedenen Malen schon gemacht worden; so ließ ein Dresdener Fabrikant vor Jahren einige dreißig Ehrenberger Sparterie-Arbeiter nach Dresden kommen; sein Unternehmen, die Sparteriewaaren-Erzeugung dort heimisch zu machen, scheiterte aber ebenso, [151] wie alle derartigen Verpflanzungsversuche, ja, nicht einmal in den unmittelbar benachbarten Orten, wie Schluckenau, Nixdorf etc., ist die versuchte Einbürgerung gelungen. Die Erklärung für diese Thatsache ist ziemlich einfach. Als wir die Manipulationen mit dem sogenannten „Theiler“ besprachen, sagten wir, schon aus dieser gehe hervor, daß die Sparteriewaaren-Erzeugung nie Maschinenindustrie werden könne; dies wird erhärtet durch die weiteren Manipulationen, das Knüpfen der Fäden und die Eigenartigkeit des Webens. Diese Handindustrie aber wird nun seit mehr als einem Jahrhundert nahezu von der gesammten, auf mindestens 3000 Seelen zu schätzenden Bevölkerung Alt-Ehrenbergs betrieben; jedes Mitglied dieser Bevölkerung, vom Kinde an, das kaum die ersten Lebensjahre hinter sich hat, bis zum Greise, nimmt daran Theil. Hierin liegt die Erklärung, weshalb die Einbürgerung der Holzweberei anderwärts stets todtgeborener Versuch bleiben wird; denn schwerlich wird sich je eine ganze Bevölkerung eines Ortes mit einem Schlage einem neuen Erwerbszweige zuwenden, zu dessen Erlernung sie ja immerhin eines ziemlichen Zeitraumes bedürfte. Nur wenn Alles, vom Kinde bis zum Greise, sich in die Hand arbeitet, wird und kann es der Bevölkerung eines andern Ortes möglich sein, ein Produkt herzustellen, welches an Billigkeit mit dem in Ehrenberg gefertigten concurriren könnte.

Möge der erfreuliche Aufschwung, den diese Industrie genommen hat, von Dauer sein und sich immer mehr steigern! Mögen ihre Erzeugnisse allenthalben die ihnen jetzt schon gebührende Würdigung finden und damit der Bevölkerung Ehrenbergs, braven, arbeitsamen und dabei kerndeutschen Leuten, eine gesicherte, ihre Arbeit lohnende Zukunft erblühen!




Von den Petroleum-Quellen Amerikas.


Zu derselben Zeit, in welcher Europa beschäftigt war neue Verdummungsquellen in La Salette, Lourdes und anderen Vorgängern Marpingens zu entdecken, hat man in Amerika die Quellen eines Leuchtstoffes auszubeuten angefangen, dessen Licht nicht nur freundlich in unser Auge strahlt, sondern auch zur Aufhellung der Köpfe in den langen Winterabenden beträchtlich beigetragen hat. Nicht daß das Erdöl an sich eine neue Erscheinung gewesen wäre; denn dasselbe quillt auch an mannigfachen Orten der alten Welt aus dem Erdschooße, und die alten Griechen und Römer benutzten es unter dem Namen „Oel der Medea“ im Sinne der neuen Petroleusen zu Kriegs- und Zerstörungszwecken; indessen konnte die geringere Ausbeute der altweltlichen Quellen nicht zu dem Versuche verlocken, damit die halbe Welt zu erleuchten, Essen zu kochen und sogar Dampfkessel zu heizen.

Den unmittelbaren Anstoß zur Aufnahme der amerikanischen Petroleumindustrie lieferten wohl die deutschen Versuche, durch trockene Destillation von Torf, Braun- und Steinkohlen neben den gasförmigen auch flüssige und feste Beleuchtungskörper (Paraffin) zu gewinnen; denn das Rohprodukt dieser Industrie, der Braunkohlentheer, bot mit dem rohen Erdöl die größte Uebereinstimmung. Auch ist kaum ein Zweifel darüber, daß dasselbe ebenfalls ein durch die langsame Einwirkung der Erdwärme hervorgebrachtes Destillationsproduct vorweltlich angesammelter Pflanzen- (und Thier-)stoffe ist, sodaß wir das Erdöl wie die Kohlen als das aufgespeicherte Sonnenlicht der Vorzeit betrachten dürfen, ebenso wie im Rüböl und Brennholz der Sonnenschein unserer heutigen Sommer verdichtet erscheint und in Lampenlicht und Ofenwärme neu erwacht.

Natürlich bedarf jenes rohe, vielfach verunreinigte Petroleum einer wiederholten Reinigung durch Destillation, und zwar nicht blos einer Reinigung von den weniger brennbaren, sondern auch von den allzu brennbaren, leichtflüssigen Beimischungen, welche Explosionsgefahren herbeiführen, wenn sie nicht (vergl. Jahrg. 1879, Nr. 47) als Anfangsproducte der Destillation entfernt werden; sie gelangen selbstständig (als Petroleumäther) in den Handel. Für diese Industrie boten sich nun riesige Ansammlungen von Rohprodukt in einem Theile Nordamerikas dar. Es ist jener Landstrich, welcher sich südöstlich Canadas durch das westliche Pennsylvanien und Ohio erstreckt und südwestlich im Staate Virginia endet.

Der rohe Theer oder das rohe Petroleum, wie wir es von nun an nennen wollen, war den Indianern jener Gegenden bereits bekannt, weil es an vielen Stellen dort zu Tage kommt, es wurde aber von ihnen nur als Heilmittel für äußerliche Einreibungen verwandt.

Von den später eingewanderten Europäern blieb es unbeachtet, bis das Paraffinöl ihm den Weg für Beleuchtungszwecke eröffnete. Die Billigkeit des Stoffes, die anfangs sehr bequeme Gewinnungsweise, die leichte Art des Destillirungsprocesses, die reichhaltige Ergiebigkeit und endlich die Einfachheit der Beleuchtungsapparate verschafften dem Petroleum sehr schnell die ausgebreitetste Verwendung und riefen in der amerikanischen Bevölkerung eine Aufregung hervor, welche den früheren californischen Goldparoxysmus bei Weitem übertraf, sich aber nachhaltiger und volkswirthschaftlich auch folgereicher als dieser erwies. Nach dem Westen Pennsylvaniens, welcher Landstrich sich am ergiebigsten zeigte, ging die Hauptströmung, und in kurzer Zeit wurden aus Ansiedelungen Colonien und aus Colonien Städte.

Die Ansiedelungen zogen alle jene Industriezweige heran, welche der Oelförderung nöthig waren, und Fabriken für Bohrgestänge, für Maschinen und Pumpwerke, Böttchereien und Schmieden wurden in zahlreichster Weise etablirt, sodaß aus Einöden industriereiche Landestheile, wurden. Franklintown, Petrolia, Titusville, Kars City, Bradford, Oil City sind heute Städte von zehn- bis fünfzehntausend Einwohnern und stehen sogar bezüglich des Comfort den größten Städten Amerikas nicht nach. Von den benannten Städten ist augenblicklich Oil City als Metropole der Oelregion zu betrachten, weil es, im productivsten Theil der Region gelegen, auch der Verladungsplatz des producirten Oels ist. Das Wort „augenblicklich“ ist hier besonders hervorzuheben, weil die Produktivität der Quellen sehr veränderlicher Art ist und die durchschnittliche Dauer der Ergiebigkeit seiner Quelle nie länger als auf zweieinhalb bis drei Jahre geschätzt wird, weshalb Titusville und Franklintown, die ersten Niederlassungen, bereits in den Hintergrund gedrängt sind.

Am 28. August 1859 wurde von einem Manne, Namens Drake, die erste Oelader in einer Tiefe von neunundsechszig Fuß bei Titusville erbohrt, welche nur zehn Barrels Oel täglich producirte, nichts desto weniger aber den Impuls zu kolossalen Einwanderungen dorthin gab. Bis Ende der sechsziger Jahre behauptete diese Gegend auch ihr Feld als die produktivste, wird aber seit jener Zeit von dem östlich gelegenen Oil Creek-Territorium, dessen Hauptplatz Oil City ist, weit übertroffen.

Der erste Colonist in diesem Oil Creek-Territorium war Francis Halyday, welcher den Landstrich, worauf heute der westliche Theil von Oil City steht, von der Regierung im Jahre 1809 kaufte. Der östliche, der heutige Geschäftstheil. der Stadt, gehörte zu jener Zeit einem Indianerhäuptling Namens Cornplanter, welcher den Landstrich in Ausdehnung von 300 bis 400 Acres Land von der Regierung für in den Indianeraufständen geleistete Dienste geschenkt erhielt. Indeß wie viele seines Stammes, so war auch dieser Herr Cornplanter ein großer Verehrer geistiger Getränke, und in trunkenem Zustande verkaufte er den Besitz für eine Kleinigkeit.

Die ungemein starken Zuströmungen machten den Platz bereits im Jahre 1862 zur Stadt, und ungeachtet der vielen Feuersbrünste und Ueberschwemmungen, von welchen die junge Stadt heimgesucht war, sehen wir dieselbe im Jahre 1871 wohlorganisirt, mit Pflasterung, Gas- und Wasseranlagen und ansehnlichen steinernen Gebäuden. Oil City hat heute eine Bevölkerung von 15,000 Einwohnern und besitzt ein Börsengebäude, sechs Banken, zwölf Kirchen, eine Synagoge, ein Opernhaus, ein Schauspielhaus, und an hervorragenden Bauwerken nächst drei eisernen Brücken auch eine Hängebrücke.

Auf Verkehrs- und Verbindungswege sind bekanntlich sowohl die Amerikaner, wie die Engländer sehr bedacht, und so hat auch das ganze Territorium ein höchst ausgedehntes Netz von Eisenbahnen und Straßen nach allen Richtungen. Von besonderer Wichtigkeit für das Land sind die „Pipe lines“, ein System [152] von kolossalen eisernen Röhren, welche das Rohöl von den Quellen aufnehmen und zu den Raffinerien und Verladungsplätzen führen. Die von der Direction der Röhrenleitungen über eingeliefertes Oel ausgehändigten Empfangscheine oder Bons circuliren im Verkehr als Waare.

Die Presse wird durch zwei politische Zeitungen repräsentirt, deren eine, „Daily Derrick“, täglich, die andere wöchentlich ausgegeben wird.

Die in Berlin erscheinende „Neue Wochenschrift für Oel“ hat in Nr. 9 des Jahrganges 1877 nachgewiesen, daß im Jahre 1876 die ganze bewohnte Erde 30,000 Barrels Rohöl täglich consumirt hat, und das wird seither die Durchschnitts-Consumtion sein. Die Oelquellen producirten in jenem Jahre rund 13,500,000 Barrels oder 37,000 Faß täglich – eine kolossale Ueberproduction. Der Nettogewinn aller Oelquellen im Jahre 1877, bei einem Durchschnittspreis von 2,80 Dollar pro Barrel, betrug 38,475,000 Dollar. Seitdem ist, eben in Folge jener Ueberproduction, das Oel beträchtlich billiger geworden, sodaß die kleinen Oelquellen von fünf bis zehn Barrels täglich den Betrieb haben einstellen müssen. Sollte es wirklich gelingen, die Elektricität, wie jetzt so energisch angestrebt wird, den Beleuchtungszwecken in vollem Maße dienstbar zu machen, so sieht es schlimm um die Erträge der Petroleumgewinnung aus, und man darf sich nicht wundern, wenn die Producenten sich mit allen Mitteln so lange wie möglich gegen diese Eventualität sträuben.

Sigismund Landsberger.




Blätter und Blüthen.


Die Bibel im Dienste des Telegraphen. Mit Bezugnahme auf einen in Nr. 34 des Jahrganges 1878 der „Gartenlaube“ erschienenen Artikel, betitelt „Etwas aus der Werkstätte der amerikanischen Presse“, will ich eine echt amerikanische Verwendung des Telegraphen mittheilen, wodurch ein unternehmender Herausgeber einer Zeitung es möglich macht, durch Anwendung der Bibel seine Leser mit den neuesten wichtigen Staatsactionen, politischen Reden, Actiencoursen oder sonstigen allgemein begehrten Neuigkeiten schneller bekannt zu machen, als ein concurrirendes Blatt dieses thun kann.

Zum Verständniß des Folgenden muß ich hier vorausschicken, daß in Amerika Derjenige, welcher eine Nachricht per Telegraph absendet, so lange den ausschließlichen Gebrauch der von ihm benutzten Linie hat, bis seine Depesche – einerlei von welcher Länge oder welchen Inhalts sie sein möge – befördert worden ist. Wo nur ein einzelner Draht zwischen dem Absendungs- und Empfangsorte existirt, ist es beim Depeschiren von besonders interessanten Ereignissen für eine Zeitung von der größten Wichtigkeit, daß diese so lange im Besitze des Drahtes bleibt, bis die Neuigkeit an ihren Bestimmungsort gelangt ist.

Um dies nun zu erreichen, pflegt mitunter ein ehrgeiziger Redacteur, der z. B. eine Rede von einem berühmten Staatsmann seinen Lesern früher als irgend eine andere Zeitung vorlegen will, schon lange, ehe Jener zu sprechen beginnt, etliche Capitel aus der Bibel telegraphiren zu lassen, in welche die Rede später eingeschaltet wird. Eine solche Dienstleistung der Bibel im Telegraphenwesen fand zum ersten Male auf der Linie zwischen San Francisco und Virginia City im Silberstaate Nevada statt, als zu Anfang der sechsziger Jahre die ersten großen Erzfunde an der weltberühmten Comstock-Ader gemacht wurden und die Minenactien auf eine fast unglaubliche Weise reißend schnell im Werthe stiegen. Ein geriebener Minenspeculant ließ damals ununterbrochen eine geraume Zeit das Neue Testament von Virginia City nach San Francisco telegraphiren und flocht an gewissen, zwischen ihm und seinem in San Francisco wohnenden Associé verabredeten Stellen die neuesten Erzentdeckungen in „Ophir“, „Gould und Curry“[2] etc. ein, sodaß der San Franciscaner, der die Neuigkeiten vierundzwanzig Stunden früher als irgend sonst Jemand in dieser Stadt erfuhr, ein kolossal glänzendes Geschäft an der Börse für die Firma machte. Später wurde diese californische Erfindung auch in den östlichen Unionsstaaten ausgebeutet. Ein unternehmendes großes New-Yorker Blatt soll während des deutsch-französischen Krieges beim Beginn einer Schlacht zuweilen einige Capitel aus der Bibel per Kabel nach Amerika gesandt haben, in welche die Siegesbotschaft dann zur gehörigen Zeit eingeflochten und so dem Publicum in New-York früher, als es von irgend einer andern Zeitung geschehen konnte, durch ein „Extra“ bekannt gemacht wurde.

Ein in Portland lebender, mir befreundeter amerikanischer Zeitungsredacteur pflegt, wie er mir jüngst mittheilte, diese Art des Telegraphirens mitunter bei wichtigen Sitzungen des in Salem, der Hauptstadt des Staates Oregon, tagenden Repräsentantenhauses zur Anwendung zu bringen. Wir wollen uns daher einmal während einer Sitzung der oregonischen Volksvertreter in das Telegraphenbureau von Salem begeben, um den praktischer Verlauf einer solchen Depeschenbeförderung zu beobachten.

Der Telegraphist hat bereits eine Stunde, ehe die Sitzung eröffnet wurde, die beiden ersten Capitel aus der Apostelgeschichte über den Draht expedirt und ist eben dabei, den ersten Vers des dritten Capitels nach Portland abzulassen, als ein Reporter mit dem Anfang der Rede des Honorable Mr. Jones über den Schwindel beim Zählen der Stimmen für die letzte Präsidentenwahl in's Telegraphenbureau stürzt. Um nun dem Collegen an der Zeitung in Portland, der die Depesche in Empfang nimmt, den Moment anzudeuten, wo die Rede von Jones in die Apostelgeschichte eingeschaltet werden soll, wird ein verabredetes Schlagwort an der Stelle dreimal wiederholt; in diesem Falle die Redensart „All right“ („versteht sich“).

Die Depesche wird jetzt folgendermaßen lauten:

„Petrus aber und Johannes gingen mit einander hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, da man pflegte zu beten. All right! All right! All right! Mitbürger, ich sage Euch, die Republikaner hatten die Wahl auf eine niederträchtige Weise abgekartet.“ etc.

Wenn der von dem Reporter eingehändigte Redestoff zu Ende ist, wird als neues Schlagwort „Hail Columbia“ („Heil dir, Columbia!“) eingefügt, und die Depesche lautet zum Schluß des ersten Bruchstücks von Jones' demokratischer Glanzrede wie folgt:

„Wir müssen ihn abwaschen meine Mitbürger, diesen Schandfleck auf dem blanken Wappenschilde des freien Unionsstaates Oregon! Hail Columbia! Hail Columbia! Hail Columbia! Und es war ein Mann, lahm von Mutterleibe“ etc.

Der die Depesche in Portland in Empfang nehmende College meines Freundes läßt den bereits übermittelten Theil der Rede (natürlich ohne die Capitel aus der Bibel!) sofort zum Druck setzen und wartet beim weiteren Lesen der Apostelgeschichte geduldig auf das nächste „All right“ und die Fortsetzung der Rede von Jones.

Auf diese Weise wird den ganzen Tag über abwechselnd der biblische Text und Jones' Rede von Salem nach Portland telegraphirt. Wenn die oregonischen Volksvertreter nach dem Schlusse einer sehr stürmischen Sitzung bereits eifrig beschäftigt sind, sich beim Souper im großen „Chemeketa Hôtel“ für die Debatten des nächsten Tages zu stärken, fliegen auf Anordnung meines Freundes, des Redacteurs, noch mehrere Capitel der Apostelgeschichte über den Draht, um es seinen in Portland ansässigen Zeitungsrivalen unmöglich zu machen, gleichzeitig mit seinem Berichte die welterschütternde Rede von Jones zum Druck für die Ausgabe der Morgenblätter zu erhalten.

Der Kostenpunkt ist bei einer solchen Beschlagnahme des Telegraphen, auch auf einzelnem Drahte im Inlande, selbstverständlich ein enormer. Ein deutscher Zeitungbesitzer, selbst in einer großen Stadt, würde sich wohl für eine solche Drahtbenutzung gefälligst bedanken. Für ein großes amerikanisches Journal sind aber die Ausgaben, um eine Neuigkeit zuerst zu erlangen, Nebensache, da diejenige Zeitung, welche solche Nachrichten zuerst bringt, allen Concurrenzblättern bald den Vorrang ablaufen und die gehabten Auslagen hundertfach zurück erwerben wird. Wo mehrere Drähte zwischen zwei Plätzen in Betrieb sind, ist die exclusive Sendung einer Nachricht selbstverständlich von viel größerer Schwierigkeit. Die Sache läßt sich, allerdings mit enorm vermehrten Ausgaben, auf die Weise ausführen, daß nur ein Draht die gewünschte Neuigkeit, wie vorhin beschrieben wurde, als Ergänzung der Bibel bringt, während ein zweiter Draht z. B. einen Roman von Victor Hugo, ein dritter Draht einen alten Schlachtbericht aus Bulgarien übermittelt etc.

Ob ein auf der Höhe der Zeit stehendes Blatt in Deutschland eine Rede Bismarck's oder einen Gesetzvorschlag im Parlament gegen die Socialdemokraten auf ähnliche Weise zum Besten und Frommen ihrer neuigkeitsdürstenden Leser etwa im „Buch der Könige“ übermitteln dürfte, vermag ich nicht zu sagen, da ich mit den deutschen Gesetzen über Rechte im Telegraphenwesen nicht bekannt bin. Daß die Herren Redacteure bei einer derartigen Verwendung des Telegraphen gezwungen sind, zum Heile ihrer Seele recht aufmerksam die Bibel zu lesen, wäre bei den „Frommen“ gewiß nicht die schlechteste Empfehlung dieser echt amerikanischen Errungenschaft zur Vervollkommnung der Tagespresse.

Theodor Kirchhoff.




Karl von Holtei todt! In dem Augenblicke, wo diese Nummer in die Presse geht, verkündet der Telegraph die schmerzliche Nachricht vom Tode Karl von Holtei's. Unsere Leser verweisen wir vorläufig auf Artikel und Portrait im Jahrgang 1873, Seite 47. Selbstverständlich kommen wir auf den Gegenstand noch näher zurück.



Kleiner Briefkasten.

H. W. in O. In Bezug auf die in Nr. 1 dieses Jahrgangs erwähnten Pariser Leuchtobjecte, Blumensträuße, Zifferblätter etc. schreibt uns Herr Henri Bertr. Nemitz aus Paris durch seinen Vertreter für Deutschland, daß die erwähnten Objecte von beschränkter Leuchtdauer jedenfalls nicht von ihm bezogen worden sind – was auch nicht behauptet wurde – und fährt dann fort: „Täglich mache ich Fortschritte, sowohl hinsichtlich der Fabrikation, wie der Anwendung meiner Erzeugnisse. Der Einfluß der Luft auf meine Producte ist gleich Null. Selbst heißes Wasser übt keine Wirkung auf dieselben aus. Die Dauer kann ich nicht angeben; ich bemerke nur, daß meine früher fabricirten schlechten Producte noch heute nach zwei Jahren leuchten ...“ Da wir die von der Firma R. P. Rottsieper in Ronsdorf bei Elberfeld in den Handel gebrachten Zifferblätter des Herrn Nemitz nicht selbst gesehen und erprobt haben, so können wir unsererseits nur wünschen, daß sich diese interessante und mancher Anwendungen fähige Neuerung weiter bewähren möge.

C. R. in B-a. Wenden Sie sich nur an den Privatdocenten Dr. med. Curschmann in Berlin!

„Zur Hebung des Gesellenstandes“ ist nicht geeignet. Verfügen Sie über das Manuscript!



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Auch Professor W. Wundt in seinem trefflichen Aufsatze: „Der Aberglaube in der Wissenschaft“ (Unsere Zeit, 1880, I) bezeichnet diese Erscheinungen als Willenshemmungen.
  2. Berühmte Silberminen am „Comstock“. Vergl. S. 7 dieses Jahrg.

Anmerkungen (Wikisource)