Die Gartenlaube (1880)/Heft 37
„Vetter Ulrich! Vetter Ulrich!“ rief eine frische Mädchenstimme hinter mir, als ich eben aus dem Gartenpförtchen hinausging, und mich umsehend, erblickte ich über dem glänzenden Grün der Cornelius-Kirschhecke den blonden Kopf meiner Base Frieda.
Frieda war mir eigentlich mehr als nur Base. Ihr hübscher, kleiner, rother Mund hatte mir just vor einem Jahre in der verschnittenen Buchenlaube dort unten im Garten feierlich versprochen, sie wolle meine Frau Doctorin werden, eine Thatsache, die großen Sturm erregte in dem freundlichen Oberförsterhause. Denn der Onkel schalt uns dumme Kinder und wollte nichts wissen von einer Studentenverlobung, und die Tante, die gute, freundliche, stand officiell auf ihres Mannes Seite, heimlich aber tröstete sie an uns herum und malte uns in den prächtigsten Farben aus, wieviel schöner ein solches Glück sei nach einer kurzen Prüfungszeit, die noch dazu nur dreihundertfünfundsechszig Tage dauere.
Nach einem Jahre nämlich dürfte ich, wenn ich noch so dächte wie jetzt und es bis dahin wirklich zum „Doctor“ gebracht, auch glücklich das Staatsexamen bestanden hätte, im Oberförsterhause wiederum anfragen; so lautete des gestrengen Onkels Ultimatum. „Und,“ fügte er noch hinzu und nahm die Pfeife aus dem Munde, aus der er so rasch und hastig geraucht hatte, daß die blauen Wölkchen so regelmäßig wie bei einer arbeitenden Dampfmaschine hervorgequollen waren, „und, mein alter Junge, ich erwarte nun von Dir, daß Du dem Mädchen, der Frieda, nicht Fisematenten in den Kopf setzest mit Liebesbriefen und unnütz Papier verschwendest. Nach so einem Wisch sind die Frauensleute allemal acht Tage lang nicht zurechnungsfähig; bis sie geantwortet haben, verlieren sie Schlüssel, lassen die Suppe anbrennen, und wenn das Geschreibsel endlich zur Post ist, gucken sie schon anderen Tages nach Antwort aus, laufen dem Postboten meilenweit entgegen und heulen sich die Augen roth, kommt nicht zur rechten Zeit so ein rosenrother Papierfetzen; – ich will solche Wirthschaft nicht – laß es Dir gesagt sein!“
Was blieb mir übrig? Ich versprach es, und ehe ich abreiste, gelobte mir Frieda noch einmal ewige Treue in der Buchenlaube unten und ich ihr desgleichen, und die Thränen aus ihren großen blauen Augen wollten gar kein Ende nehmen. Ich mußte trösten und trösten und schied mit einem so schweren Herzen, wie man es eben nur haben kann, wenn man jung, Student und so bis über die Ohren verliebt ist, wie ich es in meine kleine blonde Cousine war. Ein Mann, ein Wort! Ich schrieb nicht an Frieda, obgleich ich nicht leugnen kann, daß ich anfänglich täglich einen Brief verfaßte: ich vernichtete ihn aber jedesmal – zu meiner Ehre sei es gesagt! Dennoch gewährte mir diese einseitige, nie ihre Bestimmung erreichende Korrespondenz eine gewisse Beruhigung, denn ich hatte doch Alles das, was mir das Herz zum Zerspringen voll machte, herausgefördert. Daß ich natürlich allerlei kleine erlaubte Listen anwendete, wird mir wohl Niemand verargen können. So zum Beispiel schrieb ich an meine liebe Tante und zukünftige Schwiegermutter einen langen Geburtstagsbrief; bis Dato hatte ich sie immer nur mit einer Karte beglückt, auf welcher ein bunter Blumenstrauß oder pausbäckiger Engel das „Ich gratulire“ illustrirte; nun schrieb ich und schrieb und fragte nach allem Möglichen und so nebenbei auch nach Frieda; denn der Onkel las alle Briefe seiner Frau. Ich erhielt auch eine Antwort auf diesen Brief, aber leider war's ein Lied ohne Worte; denn Tante begnügte sich, mir eine respectable Eßkiste, mit prächtiger frischer Wurst vom letzten Schlachten, nebst den besten Grüßen zu übersenden. „Sie habe so gar keine Zeit zum Schreiben“, war auf der Paketadresse noch hinzugefügt.
Nun erwies sich die Wurst zwar als sehr delikat, wie es bei einer Hausfrau vom Schlage meiner Tante gar nicht anders sein kann, aber so ganz befriedigte mich diese Antwort denn doch nicht; ich wandte mich in meiner Noth mit der Bitte um irgend einen guten Rath in irgend einer Angelegenheit, in der ich allein ganz gut wußte, was ich zu thun hatte, an meinen Onkel. Diesmal kam auch ein Brief „Junge, laß mich ungeschoren! Ich verstehe nichts davon, frag doch Deinen Alten!“ war ungefähr der Inhalt, und ein letzter Versuch, durch meinen Schwager in spe etwas von Frieda zu erfahren, lief nicht besser ab; denn der zehnjährige Bengel, dem ich wegen eines jungen Teckels schrieb, nach dessen Besitze ich angeblich strebte, antwortete mir freilich auch, aber der ganze Brief war mit Beileidsbezeigungen angefüllt, „weil leider alle jungen Teckel schon vergeben seien“. Gott sei Dank! Ich hätte wirklich nicht gewußt, wohin mit solchem kleinen Ungeheuer. – Aber von Frieda nicht ein Wort!
Seufzend ergab ich mich in das Unvermeidliche, und siehe, das Jahr verging; ich hatte es kaum für möglich gehalten. Nun war ich „Doctor“ geworden; ich hatte sämmtliche Examina summa cum laude bestanden, die Stelle eines zweiten Assistenten an der königlichen Universitätsklinik erhalten und war mit vollen Segeln in das Forsthaus am Harz eingelaufen, um im Hafen des Glückes zu ankern.
Aber – o weh! Meine kleine Cousine und heimliche Braut trat mir mit einem Ernst, ja, mit einer Kälte entgegen, verleugnete mit einer Natürlichkeit in ihrem Thun und Lassen jede andere [594] schönere Beziehung zu mir und kehrte so deutlich die Cousine – nur immer die Cousine – heraus, daß mir nichts anderes übrig blieb, als mit möglichster Ruhe, wenn auch mit heimlichem Verdruß, der Vetter zu bleiben, weiter nichts als der „Vetter“.
Sie war nicht unfreundlich zu mir, o bewahre! Keine Cousine der Welt hätte liebenswürdiger sein können, aber sie vermied doch Alles, was an Vergangenes auch nur im Entferntesten erinnern konnte, und die Buchenlaube dort unten im Garten schien gar nicht mehr für sie zu existiren. Desto mehr für mich; ich saß halbe Nachmittage und des Abends zuweilen bis Mitternacht darinnen, und mitunter klopfte mein Herz zum Zerspringen, wenn in nächster Nähe ein duftiges weißes Kleid durch die Büsche schimmerte und eine anmuthige Stimme ein Liedchen trillerte. So recht aus der Seele klang es freilich nicht, und es schnitt mir in's Herz, wenn sich die zierliche Gestalt, die ich bereits in die Laube treten sah, kurz abwendete, um in einem der schattigen Wege zu verschwinden.
Onkel und Tante betrachteten mich sorgenvoll, denn daß mir die Geschichte tief zu Herzen ging, mochten sie mir wohl ansehen. Der Cousine Frieda zeigte ich es freilich nicht – um so weher that es nach innen.
Bis jetzt hatte das Mädchen jedes Alleinsein mit mir zu vermeiden gewußt; um so überraschter war ich, als ich sie plötzlich meinen Namen rufen hörte.
„Willst wohl zum rothen Hause? Wenn es Dir nicht unangenehm ist, Vetter“ – sie betonte dieses entsetzliche „Vetter“ immer ganz besonders – „so komme ich mit. Vater sagt mir eben, dem alten Wendenburg sei die Frau erkrankt, und Mutter hat mir Tropfen für sie gegeben; sie hat lange Jahre hier im Hause gedient, weißt Du; ich muß also hinüber, und gehe doch so ungern allein durch den Wald.“
Sie war bei diesen Worten aus dem Gitterpförtchen getreten und stand nun neben mir in ihrem schlichten Sommerkleide, das sie etwas in die Höhe genommen, damit das fleckenlose Weiß mit den feuchten Waldwegen nicht in Berührung komme. Um den Kopf trug sie ein schwarzes Spitzentüchlein geschlungen, und das liebliche Gesicht schaute doppelt reizend aus der düsteren Umhüllung hervor. Zum ersten Male fiel es mir auf, daß sie leidend aussah und daß ein schmerzlicher Zug sich um den hübschen rothen Mund gelegt hatte, den ich vor einem Jahre dort noch nicht bemerkt hatte. Ich erschrak und wollte, Alles vergessend, fragen, ob sie sich krank fühle. Aber ihre Augen blickten gleichgültig an mir vorüber in das Dunkel des Waldpfades, und dabei schwenkte sie mit kindischer Lust ein leichtes Körbchen im Kreise, sodaß ich das teilnehmende Wort unausgesprochen ließ.
„Unendlich schmeichelhaft, theuerste Cousine!“ gab ich zurück, „ich würde Dir nun zwar gern den weiten Weg ersparen, und in meiner Eigenschaft als junger und patientenhungeriger Arzt den Besuch am Krankenbette Dir abnehmen, aber –“
Sie zuckte ungeduldig die feinen Schultern.
„Ich habe diesen Gedanken ebenfalls gehabt und es dem Vater auch gesagt,“ versicherte sie, „aber die Alte ist wunderlich, und Doctoren, noch dazu „junge Doctoren“, haßt sie förmlich; sie würde die Tropfen aus Deiner Hand nicht nehmen, und der Vater will nun einmal, daß ich hingehe.“
„Ich bin Dir also wirklich genügend zum Schutz gegen etwaige Spitzbuben, Räuber oder was Du sonst zu fürchten scheinst? In der That, dieses Vertrauen –“
„Warum denn nicht?“ unterbrach sie mich und schickte sich zum Gehen an, „Du bist ja ein baumstarker, großer Mensch und mein Vetter dazu.“
Ich schritt hinter ihr – und wer mag mir's verdenken? – ärgerte mich über die Launen und Capricen der Mädchen im Allgemeinen und über die meiner Cousine im Besonderen; am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, hätte mich nicht eine ganz unbezwingliche Neugier nach dem „rothen Hause“ fortgezogen.
So wanderten wir nun durch den Wald, sie immer voraus, leise ein Liedchen trillernd, als sei sie in der fröhlichsten Laune der Welt.
„Halt!“ rief sie plötzlich, „da wären wir ja beinahe daran vorübergegangen!“
„Woran?“ fragte ich.
„An dem Grabe unter der Hubertus-Eiche.“
„Wessen Grab, Cousine?“
„Ei, frage doch nicht! Du hast ja ein ganzes Actenstück in der Tasche, das die Geschichte des Todten hier erzählt. Vater, der es Dir gegeben, hat gesagt, ich soll Dich hierher führen, bevor wir in das rothe Haus gehen; nun komm!“
Sie hielt die Zweige von ein paar prächtigen dunkelgrünen Tannen aus einander und wies auf einen schmalen, kaum zu erkennenden Pfad. Ich hatte Mühe, ihr nachzukommen; denn die Büsche schlugen wie ungestüme Wellen hinter ihrer feinen Gestalt zusammen und trafen empfindlich mein Gesicht, als wollten sie mich zurückhalten von dem Betreten dieses Ortes.
Und nun befand ich mich plötzlich auf einem mäßig großen Platze, rings umstanden von dunklen Tannen; inmitten derselben aber ragte eine prächtige uralte Eiche empor und breitete ihre Aeste wie schützend über einen Hügel aus, der kunstlos aus Feldgestein zusammengefügt war, überwachsen von Waldepheu und Moos. Ringsum die tiefste Stille, die erhabenste Waldeinsamkeit; nur durch die Tannen ging ein leises Rauschen und Flüstern, und zuweilen wehte ein gelbes Blättlein von der Eiche hernieder und blieb in dem dunklen Epheu hängen.
Ich ging hinüber zu dem schmucklosen Hügel und setzte mich auf die Bank daneben, während meine Hände den Epheu zur Seite bogen, um die Inschrift einer eisernen Tafel zu lesen. Ob hier der Urgroßonkel lag, der wunderliche Alte, der mehr gefürchtet als geliebt wurde in seiner Familie und gestorben war, einsam und verlassen, wie ein verwundeter Löwe in seiner Höhle?
„Frieda, wer liegt hier begraben?“ fragte ich; denn die ehemals vergoldete Schrift war schwarz geworden und ließ sich schwer entziffern. Aber es erfolgte keine Antwort; sie stand, mir den Rücken zuwendend, und blickte durch einen Aushau in der dunklen Tannenwand zu dem herzoglichen Schloß hinüber, das aus dem grünen Laube des Schloßberges stattlich und vornehm zu uns herübersah. Die Fenster blitzten golden in dem Scheine der Herbstsonne, und die weißen Mauern leuchteten fast blendend; kaum einen Büchsenschuß weit dünkte mich die Entfernung, und doch waren wir eine halbe Stunde gewandert.
„Schönste Cousine, erhöre meine Bitte und sage mir: liegt hier der räthselhafte Jägersmann und Urgroßonkel?“
Sie wandte sich um und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht,“ sagte sie dann kurz; ihre Augen ruhten auf dem Hügel, und plötzlich fügte sie mit weicher, völlig veränderter Stimme hinzu: „Es ist ja gleichgültig, wer hier ruht, aber nicht wahr, es ist ein köstliches Plätzchen für den letzten Schlaf? Es träumt sich so süß, wenn der Wald über uns rauscht und die Sonnenstrahlen durch die Zweige lugen.“
„Ein echtes Waidmannsgrab, Frieda; ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er hier begraben sein wollte, statt in Reih' und Glied mit dem übrigen Menschengesindel auf einem regelrechten Kirchhof zu liegen.“ Und meinen Lieblingsdichter recitirend, begann ich:
„In kühler Erd', bedeckt von Moos und Farren, Die oft mein Fuß beim Waidmannsgange traf Durch's Tannendickicht – also möcht' ich harren Der Ewigkeit in süßem, stillem Schlaf –“
„Hast Du die Inschrift schon gelesen?“ unterbrach das Mädchen meinen Erguß rasch. „O, bemühe Dich nicht; ich kann die Verse auswendig!“ und feierlich sprach sie:
„So lernten wir uns kaum Für diese Welt hier kennen, Wo uns so kurz die Sonne scheint. Wir finden einst, wenn Jeder ausgeweint, Uns wieder, um uns nie zu trennen.“
Dann wandte sie sich rasch ab.
„Sehr hübsch, Frieda, aber mich dünkt, es sei just keine Grabschrift für einen Jägersmann.“
„Du hast wohl Recht,“ sagte sie und brach ein paar Zweige von dem Epheu; dann schritt sie wieder vor mir her durch die dunklen Waldespfade.
Wenn meine Mutter mit mir während der Ferien zu dem Onkel Oberförster in den Harz reiste, so war Abends im traulichen Familienkreise hin und wieder wohl die Rede gewesen von einem gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts gestorbenen Urgroßonkel. Und mochte nun meine Großmutter von ihm erzählen oder die alte Tante Rieke, die sonst die Prosa in Person war, mochte mein Onkel von ihm berichten oder der uralte Castellan des herzoglichen Schlosses, der mitunter in Schlafrock und Pantoffeln [595] in die Oberförsterei zu einem Plauderstündchen kam, es wob sich immer ein Stückchen echter Poesie wie ein duftiger grüner Tannenkranz um seine Gestalt, die gleichwohl nur undeutlich aus dem Rahmen der Erzählungen hervortrat. Denn von den damals lebenden Mitgliedern der Familie hatte ihn selbstverständlich Niemand mehr gekannt, und nur meine hochbetagte Urgroßmutter erinnerte sich, ihn einmal gesehen zu haben, da er wie ein Einsiedler in dem rothen Hause mit einem alten Factotum von Diener gelebt, der Köchin und Gesellschafter zugleich war.
„Ich weiß es noch wie heute,“ pflegte sie zu erzählen, „ich saß auf der Gartenmauer und aß Weintrauben; so ein acht- oder neunjährig Ding mochte ich dazumal sein; es war ein kalter Octobertag; wir hatten schon Nachtfröste gehabt, und die Trauben hatte der Fuchs geleckt – darum schmeckten sie so süß. Da kam ein Mann aus der Schloßgartenpforte heraus, langsam und bedächtig; wundersam sah er aus, seine Kleider waren altmodisch, aber wohlerhalten, und sein Haar und Bart silberweiß. Erstaunt blickte ich ihn an und sah ihn näher kommen; er schritt an unserer Mauer entlang, und gerade als er an der Stelle war, wo ich mich neugierig hinüberbog, schaute er empor und – ich weiß nicht mehr, wie er ausgesehen, nur das weiß ich noch, daß ihm Thränen in den Augen standen und auch ein paar Tropfen in dem weißen Barte hingen, und daß ich unwillkürlich und sehr respectvoll „Guten Tag!“ zu ihm sagte. Ob er meinen Gruß erwidert hat, erinnere ich mich nicht mehr. Eine halbe Stunde später aber flog die Kunde durch's Städtchen: Prinz Christian sei todt, und sein so lang verfeindeter Jugendfreund habe an seinem Sterbebett gestanden und ihm die Augen zugedrückt, nachdem sie sich versöhnt.“
So meine Großmutter. Und nun gab es geheimnißvolles Vermuthen und unnützes Kopfzerbrechen noch hinterher, wie es gekommen sei, daß jene Beiden, die eine glühende Jugendfreundschaft verband, sich so plötzlich trennten. Mitunter wurde ein Frauenname dazwischen geworfen, aber Niemand wußte Näheres, und nur das Eine stand fest: der Unterthan kündigte dem Prinzen die Freundschaft, und so oft auch dieser ihm die fürstliche Hand zur Versöhnung bot, sie wurde mit einer an Verachtung grenzenden Kälte zurückgewiesen, ohne daß die Geduld und Langmuth des Prinzen sich je erschöpfte; als aber der Oberförster, alt und grau geworden, sein Amt niederlegen wollte, da wurde das „rothe Haus“ ihm als Eigenthum zugewiesen und die Oberförsterei in ein neues Gebäude, näher dem Städtchen, verlegt. Und der Einsiedler, der sich sonst schroff und abweisend der fürstlichen Huld gegenüber verhielt, machte in diesem Falle eine Ausnahme und nahm es dankbar an, sein Leben dort beschließen zu dürfen. Nach seinem Tode fiel das Haus an die Herrschaft zurück, laut einer Clausel im Testamente des Prinzen Christian aber blieb es unbenutzt stehen; die Zimmer wurden belassen wie zu Lebzeiten des Besitzers, und nur selten sah die gewölbte Halle einmal eine bunte Jagdgesellschaft, wenn gerade in diesem Revier gejagt wurde und die Zeit zu einem Imbiß gar zu knapp bemessen war, um nach dem eine Meile entfernten Jagdschlößchen zu fahren.
Und allmählich schwand das Interesse für den Mann, über den seiner Zeit das ganze Ländchen den Kopf geschüttelt. Die Alten starben, und die Jungen nahm das Leben mit all seinen Anforderungen an die rastlos klopfende Brust. Auch ich hatte lange nicht an den längst begrabenen Uronkel im grünen Harzwalde gedacht.
Gestern Abend nun hatte plötzlich Onkel Oberförster das Gespräch wieder auf jenen Mann gebracht, mir, nachdem Manches hin und her geredet worden, ein Päckchen vergilbter Papiere übergeben und mir mit fast feierlichem Tone gesagt, ich möge sie dort lesen, wo diese Zeilen dereinst geschrieben seien – im rothen Hause; es sei die Lebensgeschichte des Verstorbenen.
„Ich bin noch nicht gar lange im Besitze des Manuscriptes,“ hatte er hinzugefügt, „durch einen wunderlichen Zufall kam es in meine Hände; der Pastor in Bergerode – doch das erzähle ich Dir ein anderes Mal.“
Und dort unten am Ende des schattigen Weges, tief hineingebettet in des Buchenwaldes Schweigen, tauchte nun das rothe Gemäuer des einsamen Hauses auf; plump und unschön lag es da mit seinem runden ziegelgedeckten Thurme und den unregelmäßigen Fensterreihen. Eine tiefausgetretene Sandsteintreppe führte zu der hohen Hausthür, auf jeder Seite hielt eine uralte knorrige Linde Wacht, mit einem steinernen Ruhebänklein darunter. Es mochte wohl schon Jahrhunderte überdauert haben, dieses einsame Jägerhaus, und Zeuge gewesen sein der Waidmannslust längst dahingegangener Geschlechter.
Meine Cousine schritt jetzt etwas rascher voran unter den hochaufstrebenden Buchen; die durch das Blättergewirr fallenden Sonnenstrahlen huschten goldig über ihre schwebende Gestalt und ich blieb stehen und sah sie die moosbewachsenen Stufen der Treppe emporschreiten, die reizendste Staffage zu dem alten Hause. Dann schaute sie sich nach mir um. Ueber ihr krönte ein prächtiges Hirschgeweih die hohe eisenbeschlagene Thür, auf deren einem Flügel ein Käuzchen festgenagelt war, das Gefieder von Sturm und Zeit zerweht und zerzaust. Die in unzählige kleine Scheiben geteilten Fenster blickten schläfrig und erblindet in das üppige Waldesgrün hinaus; Haselbüsche und junger Buchennachwuchs hatten sich bis dicht an die alten Mauern gedrängt und schauten neugierig in die Fenster hinein, den Sonnenstrahlen jeglichen Eingang verwehrend; es wehte schier ein zauberhafter Friede um dieses alte Jägerheim.
Frieda war ungeduldig geworden. „Kommst Du?“ rief sie, und ließ den eisernen Klopfer der Thür auf die Metallplatte fallen, daß der Schall dröhnend aus dem Hause zurückhallte. Ein Schwarm Dohlen erhob sich vom Thurme, umkreiste ihn erschreckt und schwang sich dann kreischend in den blauen Himmel empor, von innen aber erscholl heiseres Hundegebell und gleich darauf ein freudiges Schnuppern hinter der Thür.
„Diana, Diana!“ rief das Mädchen leise, „geh, hole den Alten! Es ist Besuch draußen.“
Bald hörten wir schlürfende Tritte, ein Schlüssel wurde kreischend herumgedreht, und ein alter gebückter Mann mit silberweißen Haaren und eigenthümlich scharfen Augen, die den Jäger sofort kennzeichneten, öffnete die Pforte.
„Das ist mein Vetter Ulrich, Wendenburg! Er will das rothe Haus sehen,“ begann Frieda und überschritt die Schwelle. „Vater läßt bitten, Ihr sollt ihm die Zimmer des alten Herrn aufschließen. – Ich komme zu Eurer Frau; hoffentlich ist's nichts Schlimmes?“
„Schön Dank,“ antwortete der Alte brummig, ohne mich eines Blickes zu würdigen; nur die Thür öffnete er etwas weiter, um mich einzulassen. Wir waren indessen in einen hallenartigen Flur getreten, der reich decorirt war mit Hirschgeweihen und Rehkronen; über einem hohen Kamine hing das nachgedunkelte Oelbild eines verwegen dreinschauenden Mannes in mittelalterlichem Jagdcostüme; Hundeköpfe und ein schnaubendes Pferdehaupt mit fliegenden Mähnen schaueten ihm zur Seite von der Wand herab.
„Hakelnberg, der wilde Jäger,“ erklärte Frieda beiläufig, und bedeutete mich, dem vorausschreitenden Alten ein paar ächzende Stufen hinauf zu folgen. Der Hund raste wie toll hinter ihm drein und sprang an ihm empor, als er jetzt stehen blieb, um in einer gewölbten Nische der ungefügen Mauer eine niedrige Thür aufzuschließen. Gebückt trat ich hinter Frieda ein.
„So, da hätte ich Dich hergebracht,“ sagte sie, „wie ich es dem Vater versprach. – Und nun, Wendenburg, kommt zu Eurer Frau; ich bringe ihr die Tropfen; es ist doch wieder die alte Geschichte, nicht?“
Der alte Mann antwortete nicht; er rückte ein paar Stühle und fuhr mit dem Rockärmel über die eingelegte Platte des massiven Tisches.
„Wenn der Herr mich braucht, ich bin im Hinterstübchen,“ murmelte er, „meine Frau schläft jetzt grad'; möcht' sie nicht wecken – werd' das Fräulein rufen, wenn sie aufwacht.“ Dann flog die Thür hinter ihm zu, und wir waren allein.
Im ersten Augenblick machte das Mädchen eine hastige Geberde, als wolle sie ihm nacheilen; ich sah, wie das bleiche Gesicht von einer purpurnen Röthe übergossen wurde; dann kam sie zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl, der am Ofen stand. Sie schloß die Augen und jeder Zug ihres Gesichtes schien zu sagen: „Gott, wie unangenehm und langweilig, aber ich fürchte mich nicht vor dem Alleinsein mit Dir; Gott bewahre, es ist mir ganz und gar gleichgültig.“
Das ließ sich nun seltsam an, und jetzt wäre es wohl Zeit für mich gewesen, zu fragen: „Frieda, warum bist Du fremd gegen mich? Was that ich Dir? Hast Du mich nicht mehr lieb?“ Dies Alles lag mir auf den Lippen, und doch schwieg ich und wandte mich verletzt ab; sie sah so eiskalt aus, so unnahbar, und ich hatte ein gutes Gewissen. Ueberdies war mir erst kürzlich von einem Freunde gerathen worden, man müsse die Frau vor [596] der Hochzeit erziehen; und hier zuerst sprechen – da hätt' ich jawohl all mein Lebtag verspielt gehabt ihr gegenüber, wenn sie wirklich noch meine Frau werden sollte.
Meine Frau! Ich seufzte tief auf und warf doch wieder einen Blick zu ihr hinüber, und sie blinzelte eben auch unter den langen Wimpern hervor, aber wie erschreckt schloß sie die Augen, als unsere Blicke sich trafen. „Gut, ich werde thun, als wäre ich allein hier,“ nahm ich mir vor.
Wir befanden uns in einem mäßig großen, gewölbten Raume; durch die tiefen Fensternischen fiel das Licht nur spärlich hinein. Ein einfaches Bett an einer Seitenwand, ein Schreibtisch am Fenster, am Ofen ein Lehnstuhl, ein Pfeifenbrett und ein Tischchen mit Schachfiguren, eine Uhr in altmodisch verschnörkeltem Kasten, der plumpe Eichentisch und einige Stühle – das war die Einrichtung des Gemaches, streng und einfach.
Mich fröstelte fast in dem kaltfeuchten Zimmer; ich stieß ein Fenster auf und ließ die warme Herbstluft ein; dann nahm ich einen Pokal von dem Gesims an der Wand und füllte ihn mit dem Weine, den mir die Tante sorglich in die Wandertasche gepackt hatte. Es war ein schönes, geschnittenes Glas mit Jagdstücken; auch eine Inschrift befand sich darauf: „Seinem Freunde Heinrich Mardefeld. Prinz Christian v. S. B.“
Wo waren die Hände, die einst dieses Glas erfaßt, die Lippen, die sich daran genetzt? – Gestorben, verdorben wie die Freundschaft, die es dem Freunde geschenkt! Was kann nicht Alles verderben und sterben in der Welt!
Ich zögerte, zu trinken; es war mir, als sollte ich den Mund eines Todten berühren; dann stürzte ich den Inhalt mit einem Male hinunter. Und mit dem feurigen Weine kam eine fast weihevolle Stimmung über mich; Frau Poesie war eingetreten, rückte mir den Schemel zurecht vor dem alten Schreibtische und breitete die vergilbten Blätter vor mir aus. Schon schickte ich mich an zu lesen – da, eine leise Bewegung hinter mir; ich wandte den Kopf und sah in Frieda's Augen. Es lag eine stumme Bitte in ihnen, aber der kleine Mund war trotzig zusammengepreßt; dennoch verstand ich sie, und rasch fragte ich:
„Kennst Du den Inhalt dieser Blätter?“
Sie schüttelte stumm den blonden Kopf.
„Soll ich laut lesen?“
Sie zögerte mit der Antwort; ich sah, wie sie kämpfte. Dann nickte sie, und beinahe schien es, als gewähre sie mir nur höchst ungern die Gnade, mir zuzuhören; sie schmiegte sich wieder in den Lehnstuhl und sah, meinen Blicken ausweichend, in die dunkle Laubmasse des Waldes hinaus; die grüne Dämmerung wob sich reizend um ihre schlanke, weiße Gestalt; harziger Tannenduft quoll durch das Fenster; die Schatten der Blätter huschten im Spiele des Herbstwindes über das Papier; ringsum feierliches, stolzes Schweigen; nur das Ticken eines Holzwurmes in regelmäßigen Pausen und vom Walde herein der Schrei eines Raubvogels. Und nun senkten sich meine Augen hernieder zu dem Papier, und ich las wie folgt:
Alter Freund, ich könnte es mit den zwei Worten sagen: 'ich hab' nimmer verstanden, glücklich zu sein.'
Aber siehe, da draußen hat mein alter Jobst ein jung blondhaarig Dirnlein zum Besuch, sein Enkelkind, und sie sitzet im Abendschein unter der Linden und singet –
„Es sind die Lieder, die ich verlor
Im wechselnden Laufe der Jahre,
Nun kommen mir Wort und Töne zurück
Mit ihnen kommt zaubrisch der Jugend Glück
Und küsset die silbernen Haare.“
Du hast es gewißlich niemalen geglaubet, Johannes, daß ich auch dichten könne, maßen wohl manch ein Waidmannsfluch aus meinem Munde ging, nur kein poetisch Verslein; ich glaube auch nicht, daß ich selbiges auszusprechen vermöchte; meine Zunge ist ein ungefüg Ding immer gewesen. Aber da innen im Herzen, da hat es wundersam mitunter geklungen; da haben auch Blumen geblühet und Glocken geläutet, nur nicht herausblühen und tönen konnten sie; ja, wenn das anders gewesen, wenn ich auch hätt' schmeicheln und lachen können, dann –
Du fragst mich nach dem Heimgange Prinz Christian's, unseres Christels, wie wir ihn nenneten ehedem. Ja, Johannes, wir sind in seinem Sterbestündlein, im Tode, wieder zu Freunden geworden; im Leben waren wir getrennt, Johannes, lange düstere Jahre, und das, was uns trennete, war ein Grab, und unserer Jugend Glück lag darinnen.
Die wilde Taube unter der Linden girrt noch immer zu, der Teufel hole sie! Wollt' eben aufstehen und ihr sagen, sie möge sich auf den Blocksberg scheeren –
'Da klang es leise von Lieb und Treu,
Wie hold, wie süß die Minne sei –
Ein Lied, ein Lied vom Lieben.
Im duft'gen Mondschein ein Lindenbaum,
Zwo blaue Augen – Es war ein Traum
Und einsam bin ich geblieben!'
Johannes, das ist's ja eben: einsam, einsam! Kein Weib mehr und keinen Freund mehr, und sie sagen noch: ich fühle es nicht, ich habe ein Herz, so härter sei, als der Fels in unseren Bergen. Es ist wahr, Johannes, ich konnt' nicht jammern dazumalen, es war ein Leid, zu groß zum Klagen. –
Wie es sich begeben?
Ei nun, Johannes, Du weißt ja noch, wie wir Drei, Prinz Christel, Du und ich zum letzten Male bei einander waren. Du standest bereits im Priesterröcklein an der Schwelle einer fetten Pfarre, und Dein Wesen war schon in Etwas salbungsvoll worden; ich trug noch nicht lang das grüne Waidmannskleid als wohlbestallter Oberförster in unseres herzoglichen Herrn Revieren; fürwahr, unser fürstlicher Freund hatte gesorgt für uns als ein echter Freund; denn wir waren jung an Jahren für solch Amt; er selbst aber wollt' am Morgen des nächsten Tages seine große Cavaliertour antreten zu den fremden Höfen.
Du weißt gewißlich noch, wie er das Glas, daraus wir den Abschiedstrunk gethan, im hohen Bogen in das Wasser schleuderte und dabei sagete: Niemandes Lippen sollen es wieder berühren, und wie wir uns dann küsseten und noch einmal Freundschaft schwuren, auf daß uns nichts trennen solle in der Welt.
Du mußt es noch wissen, Johannes; ich wenigstens meine noch, sein jugendlich begeistert Angesicht zu sehen; nie später ist es mir wieder so zum Bewußtsein gekommen, welch ein edelschöner Mann er war. Wie sahest doch Du dagegen aus, Johannes! Wie ein wohlgenährt Eselein neben einem edlen Roß. Und ich? Erspare mir das Gleichniß! Schönheit war niemalen mein Erbe. Doch genug hiervon! An diesem Abende haben wir uns wohl zum letzten Male in alter treuer Freundschaft die Hand gedrückt – vergangen, verloren! Durch wen? Durch ein Weib –!“
Die Flitterwochen-Insel.
Sie ist ein geographischer Irrthum, die herrliche, immergrüne Insel, die der Solent vom üppigen Gestade Hampshires trennt; sie gehört nicht hierher, in die ewig aufgeregten Gewässer des Aermelcanals, sondern in die blauen, ölglatten Fluthen des mittelländischen Meeres; sie scheint eine der Balearen oder Hyerischen Inseln zu sein, die sich von ihrem Ankerplatz losgerissen hat und nach wunderlicher Irrfahrt an der Südküste Englands aufgelaufen ist, so mild ist ihr Klima, so reich ihre Vegetation, so anmuthig ihr landschaftlicher Charakter.
Die Insel Wight ist der Wintergarten Albions, ein nordisches
[597][598] Stück Italien, zum speciellen Gebrauche für die bequemeren Engländer im Bereich ihres ausgestreckten Armes etablirt. Dieses Wunder eines südlichen Klimas unter dem einundfünfzigsten Breitengrade wird durch den Golfstrom bewirkt, dessen warme Wassermassen das gesegnete Eiland rings umspülen und darauf gleichsam eine beständige Treibhaustemperatur erhalten. Der Winter ist hier so mild wie in Nizza; selten breitet sich eine dünne Schneedecke über den sammetnen Rasen; selten friert in der Nacht das Wasser im Freien, und weiße Weihnachten kommen nicht in fünf Jahren einmal vor. Der Sommer ist mehr feucht als heiß und bringt selten einen Tag ohne Regenschauer, aber auch selten einen ohne Sonnenschein. Der Frühling und Herbst aber sind entzückend; in diesen Jahreszeiten entfaltet sich der ganze Zauber der Insel, und wenn man an einem September- oder Octobertage durch diese liebliche Landschaft mit ihrem malerischen Wechsel sanftgeschwungener, abgerundeter Hügel und in sattestem Grün prangender Auen dahingefahren ist, so bewahrt man von einem solchen Ausflug eine sonnige, herzerquickende Erinnerung, die noch nach Jahren mit unverblichenem Glanze in der Seele aufleuchtet, wenn man den Namen des schönen Eilandes nennen hört.
Die Insel Wight gleicht in ihrer ganzen Ausdehnung einem einzigen, überaus sorgsam gepflegten Park; zwei ungefähr gleichlaufende Hügelreihen, deren eine die Insel in der Mitte von Ost nach West durchzieht, während die andere ihre Südküste begleitet, sind die einzigen ansehnlicheren Bodenerhöhungen, welche die leichtgewellte Ebene unterbrechen; silberne, fischreiche Flüsse, deren bedeutendster, der Medina, fast bis an seine Quelle schiffbar bleibt, schlängeln sich an vielen Orten durch die Auen, die das charakteristische Bild der englischen Landschaft zeigen: weite Triften von wunderbar saftigem, emailartig glänzendem Grün, da und dort Aecker und Kleefelder, allenthalben hohe, lebendige Hecken und umhergestreute einzelne Bäume oder Baumgruppen von malerischestem Effect, äußerst selten ein größeres Dorf, doch sehr häufig stolze Herrensitze von mittelalterlicher Bauart mit gezinnten Wartthürmen, Graben und Zugbrücke, und vereinzelt Gehöfte mit dem typischen hoch- und schmalgiebeligen Wohnhaus des sächsischen Freisassen. Das unabhängige Bauernelement ist übrigens auf der Insel nur sehr spärlich vertreten; sie ist vielmehr zwischen wenige Großgrundbesitze ausgetheilt, die auf ihren alleinstehenden Burgen und Schlössern gleich mittelalterlichen Dynasten hausen, während die übrigen Inselbewohner, welche keine eigene Erbscholle zu bearbeiten haben, sich in den größeren Städten an der Küste und im Innern zusammendrängen und fast ausschließlich von den die Insel besuchenden Fremden leben.
Wight ist nämlich der beliebteste Ausflugsort Englands. Neuvermählte Paare bringen mit Vorliebe daselbst ihre Flitterwochen zu. Eine Fahrt nach dieser Insel gehört beinahe zu den Acten, ohne die eine Eheschließung gar nicht rechtsgültig vollzogen werden kann. Wie die richtige Pariserin sich nicht verheirathet glaubt, wenn sie nicht in großem Staate den traditionellen „tour du lac“, die Wagenfahrt um den Teich im Boulogner Wäldchen, gemacht hat, so fühlt sich die Engländerin erst dann ganz und voll im Ehestande, wenn sie durch die Pforte eines Aufenthalts auf der Insel Wight in denselben getreten ist. Nirgends in der Welt begegnet man daher so vielen Liebespärchen, wie hier; man hat oft das Gefühl, auf einer verzauberten Insel zu sein, die unter der Herrschaft der paphischen Venus steht und deren Bewohner mit Girren und Schnäbeln ihre seligen Tage verbringen. Ganze Städtchen sind voll von solchen glücklichen Pärchen; man sieht sie Hand in Hand durch die Straßen gehen und einander in die Augen blicken; man trifft sie im Freien auf blumigen Wiesen gelagert oder hinter einer Hecke verborgen; man stößt auf sie bei jeder Biegung der Straße, wenn man den Strand entlang lustwandelt.
Die Insel und ihre Bewohner sind aber auch für die eigenartigen Bedürfnisse ihrer erotischen Besucher ganz besonders eingerichtet. Die Besitzer der Hôtels und Boarding-Houses (Pensionen) sind discrete Leute, die sich so viel wie möglich unsichtbar machen, um nicht durch ihre störende Anwesenheit den verschämten jungen Leutchen einen unangenehmen Zwang aufzuerlegen. An allen Hecken und Strandwegen sind Hütten und Lauben verschwenderisch angebracht, welche den verliebten Spaziergängern ein willkommenes Ruheplätzchen und noch willkommeneren Schutz vor undelicaten Späheraugen bieten. Der alte Wächter von Carisbrook-Castle, wo Karl der Erste vor seiner Hinrichtung gefangen saß, lächelt nur still in seinen Graubart und wendet den Kopf nicht um, wenn er im dunkeln Burgverließ hinter sich verdächtige schmatzende Geräusche vernimmt, während er den Besuchern des Schlosses dessen hundertfünfzig Fuß tiefen Brunnen zeigt, und selbst die bejahrteren Fremden, welche auf der Insel weilen, denken trotz ihrer britischen Zimperlichkeit nicht daran, skandalisirt zu thun und zu schmählen, wenn ihnen unvermuthet der anstößige Anblick eines sich liebkosenden Paares wird, sondern sie wenden mit wohlwollendem Lächeln den Kopf von dem reizenden Schauspiel ab und denken voll Sehnsucht der schönen Zeit, wo sie selbst so zu Zweien durch die Insel zogen und mit nimmersatter Zärtlichkeit einander umarmten, so oft sie sich einen Moment lang unbeobachtet glaubten.
Für einen sehr großen Theil des englischen Publicums ist also die Insel mit einem Glorienschein umgeben; ihr Name verknüpft sich untrennbar mit den holdesten Erinnerungen, und man sucht sie immer wieder auf, um sich an den Stätten vergangenen Glückes zu verjüngen. Allein auch auf Diejenigen, denen sich hier nicht das Paradies des Liebesglücks aufgethan, übt sie durch ihre Schönheit und ihr mildes Klima eine starke Anziehung, die sich weit über den Continent erstreckt und der Insel unter Anderem auch solche Gäste zuführt, wie das deutsche kronprinzliche Paar, das wiederholt in Sandown den Herbst verbracht hat, und wie die Kaiserin von Oesterreich, die im Sommer 1874 einige Wochen lang das Schloß Steephill Castle bei Ventnor bewohnte.
Die dunkeln, geheimnißvollen „Chines“, gähnende Schlünde, die sich mitten in fruchtbarem Hügellande Hunderte von Fußen tief und manchmal eine Viertelmeile lang öffnen und in deren schwarzer Tiefe ein schäumender Wildbach dahinrast, die „Needles“, drei zu einer Reihe geordnete hohe spitze Kreidefelsen von weißer Farbe, die sich auf schwarzer Unterlage unsern der westlichen Spitze der Insel mitten aus der Brandung erheben, die „Cliffs“, gewaltige, steil abstürzende, der Quere nach weiß und schwarz gestreifte Felswände an demselben westlichen Vorlande, ziehen fortwährend Touristen an, und im Skizzenbuch einer wohlerzogenen englischen oder amerikanischen Miß dürfen diese renommirten Naturwunder der Insel Wight nicht fehlen, die eben nicht blos anmuthig, sondern auch im höchsten Grade „fashionable“ ist.
Um die ganze Küste zieht sich ein Gürtel kleiner Ortschaften, in welchen Seebäder eingerichtet sind und die fast blos aus Hôtels und Boardinghäusern bestehen; es gehört unter den Vornehmen zum guten Ton, auf der Insel eine Villa oder selbst nur eine bescheidene Cottage zu besitzen, wenn auch nur Wenige das Beispiel des „poëta laureatus“ Tennyson befolgen, der jahraus, jahrein auf seiner Besitzung Farringford unfern Freshwater menschenscheu und unzugänglich horstet und nur selten die Insel verläßt, um nach London zu gehen und im Athenaeum-Club einigen uralten mumificirten Berühmtheiten die zitterige Hand zu drücken. Der Londoner „Cockney“, das echte Londoner Kind, läßt es sich nicht nehmen, seine Sommer- und Herbstsonntage größtenteils auf der Insel zu verbringen, und die „South Western Railway“, die Südwestbahn, erleichtert diese Gelegenheit durch die fabelhaft billigen Extrazüge, welche sie von der Waterloo-Station der Hauptstadt nach Portsmouth laufen läßt, von wo ein Dampfer mehrmals täglich nach dem gegenüberliegenden Ryde überfährt.
Was übrigens diese besondere Classe von Besuchern, die Cockneys, betrifft, so besitzt die Insel für sie etwas ganz besonders Anziehendes, und das sind die Wettfahrten der Segel-Yachten, die hier in der schönen Jahreszeit stattzufinden pflegen. Jeder Engländer affectirt, sich für Alles zu interessiren, was auf Seeschifffahrt Bezug hat, und Alles zu verstehen, was in dieses Fach schlägt, und gerade die unwissendsten Landphilister spielen sich am meisten auf die wetterfeste, ausgepichte Theerjacke hinaus.
Unter den Cockneys ist es nun eine weitverbreitete Mode, über die neuere Entwickelung der Marine verächtlich die Nase zu rümpfen und mit schwärmerischem Bedauern von der Poesie des Segelns zu sprechen, die von der Prosa des Dampfers und der Schiffspanzer immer mehr verdrängt werde. Man höre nur einmal einen solchen City-Seemann über die britische Flotte von heute sprechen! Nichts gefällt ihm, nichts befriedigt ihn an ihr. Die glorreichen Zeiten Nelson's sind für immer vorüber; die Matrosen sind nicht mehr die herrlichen Eichenherzen von früher, sondern gemeine, platte Heizer und Maschinisten, und die Offiziere verstehen nicht mehr die Kunst des Segelns, den Humor der Breitseiten und die Poesie des Enterns. Und nun gar die Schiffe, [599] diese lächerlichen, plumpen ungeschickten Eisenklötze, ohne Masten, ohne Takelwerk, ohne Segel, blos mit einigen garstigen Schlöten, deren dicker Qualm den Himmel berußt! Eine einzige jener koketten, anmuthigen Fregatten der guten alten Zeit, die mit ihren himmelhohen Masten und zahllosen, gleich Schwanenfittigen ausgebreiteten Segeln einen so herzerquickenden Anblick boten, die bei gutem Winde ihre zwölf bis sechszehn Knoten in der Stunde machten, die so flink über die Fluth dahinglitten, als hätten sie eine Freude an ihrem übermüthigen Tanze – eine einzige jener stolzen Seglerinnen taugte mehr, als alle diese formlosen, grämlichen und schwerfälligen Metallklumpen zusammengenommen. Nur eine Gattung von Schiffen, fügen diese Enthusiasten der Segelschifffahrt hinzu, bewahrt noch die Traditionen der guten alten Zeit, und das sind die Segel-Yachten, welche reiche Sportliebhaber zu ihrem Vergnügen unterhalten, und um ihre Augen an dem Anblick dieser netten Fahrzeuge zu erfreuen, gehen sie so gern nach der Insel Wight, dem Hauptsitz des Segelsports in England.
Der „königliche Yachtclub“, der sein Hauptquartier in Cowes aufgeschlagen hat, zählt gegenwärtig fast 180 Mitglieder, deren jedes eine eigene Segeljacht unterhält; ein solcher Besitz ist ein Luxus, den sich nur die Reichsten gestatten können, da eine große Yacht von etwa 500 Tonnen, abgesehen von den Zinsen des Capitals, das sie repräsentirt und das man auf reichlich 250,000 Mark veranschlagen kann, jährlich auf mindestens 25 bis 30,000 Mark zu stehen kommt, ohne dem Besitzer außer dem Vergnügen einer zeitweiligen Lustfahrt oder des Sieges in einem Wettsegeln irgend einen Nutzen zu gewähren.
Allerdings ist es ein prächtiges Schauspiel, an einem sonnigen Nachmittage bei frischem Winde die eleganten Schiffe aus dem Hafen von Cowes ausfahren und die Nordküste der Insel entlang segeln zu sehen. Da sammeln sich die Besucher der verschiedenen Seebäder am Strande und beobachten, bequem im Sande gelagert oder auf mitgebrachten Klappstühlen sitzend, die Manöver der Lust-Yachten, deren niemals zwei einander in Sicht sein können, ohne alsbald ein „race“, eine Wettfahrt, zu improvisiren. Für die Seeleute und Fischer, welche jedes Schiff, seinen Eigenthümer, seine Bemannung und seine Eigenschaften kennen, hat eine solche Wettfahrt das spannendste Interesse; sie verfolgen aufgeregt mit Fernrohren die Bewegungen der Fahrzeuge, kritisiren das Aufsetzen oder Einreffen eines Segels, freuen sich, wenn eine Yacht jedem Druck des Steuers augenblicklich folgt, jubeln, wenn eine derselben ihrer Concurrentin den Wind wegfängt, und gerathen in Ekstase, wenn etwa eine Favoritin nach hartem Kampfe den Sieg über eine größere und besser getakelte Gegnerin davongetragen hat. Aber auch die Badegäste, die nicht dieses fachmännische Interesse an dem Verlaufe des Wettkampfes haben, ergötzen sich an dem Anblicke der schlanken Fahrzeuge von verschiedener Größe, die im vollen Schmucke ihrer schimmernden Segel und bunten Wimpel mit der Schnelligkeit und den anmuthigen Bewegungen von Möven über den blauen Seespiegel hingleiten, und sie werden nicht müde, stundenlang am sonnigen Strande und in der manchmal ganz empfindlich starken Seebrise auszuharren und dem maritimen Sporte zuzusehen.
So führt den Einen die Erinnerung an schöne Tage, den Andern die Passion, den Dritten das milde Klima und der landschaftliche Reiz, den Vierten der nur noch hier in solcher Ausdehnung und mit solchem Eifer betriebene Segelsport nach der Insel Wight, alle Besucher aber, die sentimentalen wie die hausbackenen, sind darüber ewig, daß Alt-England keinen lieblicheren Fleck Erde aufzuweisen hat, als dieses zauberische Eiland im Canal La Manche.
Gegenüber der Insel Lesbos liegt an dem vielgegliederten Küstenlande Kleinasiens der Hafenplatz Dikeli, etwa zehn Meilen nördlich von Smyrna, der großen Handelsmetropole der Levante. Von Dikeli aus führt in vier Stunden am Felsenufer des Kaikosflusses entlang der Weg nach Bergama, einer Stadt von fast zwanzigtausend Einwohnern, die sich auf den Trümmern des einstigen Pergamon entwickelt hat; Griechen und Türken bilden zu gleichen Theilen die Hauptbevölkerung, neben ihnen treten die Juden und Armenier bedeutend an Zahl zurück. Während im Gebiete der heutigen Stadt und in ihrer nächsten Umgebung noch die nicht unbedeutenden Reste mehrerer römischen Bauten – eine Basilika, ein Amphitheater, ein Aquäduct etc. – zu bemerken sind, bietet der Burgberg den unerfreulichen Anblick eines großen Trümmerfeldes, das mit dichtem niederem Gestrüppe und wilden Feigenbäumen überwuchert ist. Nur hin und wieder treten einige Mauerreste aus der Pflanzendecke hervor. Im Norden der Stadt erhebt sich, in sanften Terrassen ansteigend, der Berg bis zu einer Höhe von dreihundert Meter und bildet dort ein ovales Plateau, dessen Seiten nach den andern drei Richtungen hin schroff in die Ebene abfallen. Hier oben, auf diesem Bergplateau, stand einst die Burg der Könige von Pergamon, hier war der Sitz eines Herrschergeschlechts, unter dessen Pflege sich die griechische Kunst zu einer zweiten, vollen Blüthe entfaltete. Während drüben im alten Griechenland mit dem politischen Niedergang auch Kunst und Wissenschaft gesunken waren, erstand hier an kleinasiatischer Küste im dritten Jahrhundert vor Christus ein junges Königreich, das durch die Attaliden zum Asyl für Künstler und Gelehrte wurde. König Attalos und seine Nachfolger betrachteten sich denn auch mit Vorliebe nicht nur als Beschützer, sondern geradezu als Repräsentanten des Hellenismus. Als es Attalos gelungen war, die schon von seinen Vorgängern bekämpften Horden der Gallier auf das Haupt zu schlagen, ließ er seine Residenz mit vier großartigen Bildwerken schmücken, zu deren Ausführung er die hervorragendsten Künstler heranzog. So entstand eine Darstellung von dem Siege der Götter über die Giganten, dem Siege des Herakles über die Amazonen, dem Siege der Griechen bei Marathon und endlich von seinem eigenen Siege über die Galater.
Die Absicht des ehrgeizigen Herrschers, seine eigenen Thaten in Parallele zu stellen mit den höchsten Ueberlieferungen der griechischen Sage und Geschichte, ist unverkennbar. Er stiftete deshalb auch Copien jener Bildwerke als Weihgeschenke auf die athenische Akropolis; einige dieser Figuren, wie der sterbende Fechter des Capitols und die Gallier-Gruppe der Villa Ludovisi, haben sich bis auf unsere Tage erhalten und wurden schon vor längerer Zeit der pergamenischen Kunstschule zugeschrieben.
Eine doppelte Ringmauer schützte ursprüglich die pergamenische Burg mit ihren Palästen und Heiligthümern, welche von der Höhe herab weit über das Land schauten. Dem Andrängen der Barbaren vermochten aber später, in byzantinischer Zeit, die weit ausgedehnten Befestigungswerke nicht mehr zu widerstehen; ihre Vertheidiger sahen sich zum Rückzuge auf die Höhe des Berges gezwungen und errichteten hier nach Süden zu einen dritten Schutzwall, zu dem die Säulen und Bildwerke der eigenen Tempel das Material liefern mußten. So kommt es, daß, in diese Festungsmauer verbaut und mit Kalk und Mörtel überschüttet, uns die Hauptstücke der Gigantenschlacht, jenes großartigen Sculpturenfrieses erhalten blieben, welcher einst den Zeus-Altar auf der pergamenischen Akropolis schmückte.
Die Auffindung dieser Sculpturen haben wir einem deutschen Ingenieur, Karl Humann in Smyrna, zu verdanken, der Jahre lang mit unablässigem Eifer darauf drang, jene Schätze zu heben. Mit Spannung hatte man dem Verlaufe der Nachgrabungen zugesehen, und das Resultat derselben hat selbst die kühnsten Erwartungen weit übertroffen; so hat sich denn das allgemeine Interesse auch auf die Person des Mannes gelenkt, welcher diese herrlichen Kunstwerke seinem Vaterlande erwarb.
Allen Deutschen, die im Laufe des letzten Jahrzehnts Smyrna besuchten, ist ein in der Frankenstraße gelegenes freundliches zweistöckiges Haus mit grünen Holzjalousien wohlbekannt, welches häufig den Sammelpunkt für die dortigen Colonisten bildet. Auf den Schlag des schweren Thürklopfers öffnet sich die eiserne Eingangspforte, und wir treten in einen geräumigen Vorplatz. Marmorfliesen bedecken den Boden; vor den Wänden stehen Statuen, an deren Sockel sich grüner Epheu emporrankt, und daneben laden bequeme Sitzbänke zur Ruhe ein. Zwischen den theils orientalisch, theils in europäischem Geschmack eingerichteten Zimmern führt ein [600] Hofraum, von Rebengeländen und lilablühenden Akazien überdacht, zum Garten hinauf, der vom immergrünen Laub der Palmen, Granaten und Citronenbäume geschmückt wird. Das ist Humann's trauliches und gastfreies Heim, und manchem Kleinasienpilger, besonders aber den Officieren der deutschen Marine werden die Stunden, welche sie im Kreise der Humann'schen Familie in der Rosenlaube jenes Gartens vor der plätschernden Fontaine verlebten, deren weites Wasserbassin zumeist als Wein- und Bierkühler dienen muß, liebe und angenehme Erinnerungen sein.
Humann ist jetzt einundvierzig Jahre alt. Seine Gestalt ist groß und schlank; aschblondes Haar und ein blonder, in's Röthliche spielender Vollbart umrahmen sein ausdrucksvolles Gesicht; unter den buschigen Brauen sehen blaue Augen hervor, deren lebendiger, stets freundlicher Blick sein ganzes Wesen charakterisirt. Seine Sprache ist fest und wohllautend, seine Ausdrucksweise prägnant; vor Allem hervorzuheben bleibt aber die liebenswürdige Bescheidenheit des Mannes, welche ihm neben der Anerkennung seiner mannigfachen Verdienste einen großen Kreis aufrichtiger Freunde erworben hat.
Karl Humann ist am 4. Januar 1839 in Steele, einem rheinischen Städtchen in der Nähe von Essen, geboren. Nachdem er das Gymnasium absolvirt, war er ein Jahr lang bei Eisenbahnbauten für die Bergisch-Märkische Bahn praktisch thätig und bezog dann die Bau-Akademie zu Berlin. Während seiner Studien, im Jahre 1861, wurde er bedenklich krank, und die Aerzte setzten die einzige Hoffnung für Erhaltung seines Lebens auf einen Aufenthalt im Orient. Die Ausführung dieses ärztlichen Rathschlags war von Bedeutung für Humann's Zukunft. Unter dem südlichen Himmel des griechischen Archipels fand er volle Genesung; er lebte in Chios und Samos, später in Smyrna. Sein Besuch auf Samos fand auf Veranlassung des Geh. Baurath Strack in Berlin statt: Humann stellte mit günstigem Erfolge seine ersten Ausgrabungen bei dem dortigen Hera-Tempel an, über welche seltsamerweise nie etwas publicirt worden ist. Die Berichte und Originalzeichnungen wurden von Humann an Strack übergeben und müssen sich noch heute in dessen Nachlaß befinden. Vielleicht dienen diese Zeilen dazu, die Erstlingsarbeiten Humann's auf dem Felde archäologischer Forschung der Vergessenheit zu entreißen.
Nach seiner Thätigkeit auf Samos wandte sich Humann im Jahre 1862 nach Constantinopel, in der Absicht, von dort aus wieder in seine Heimath zurückzukehren. Hier machte er indessen die Bekanntschaft des englischen Gesandten Sir Henry Bulwer, welcher für den jungen deutschen Ingenieur lebhafte Sympathien empfand, ihn zu längerem Verweilen bewog und ihn bat, seinen Palast auf einer Insel des Marmarameeres auszubauen, welche die türkische Regierung dem britischen Diplomaten zum Geschenk gemacht hatte.
Allmählich gewann Humann mehr Gefallen an dem orientalischen Leben, und als ihm im Jahre 1864 von der Pforte der Antrag gemacht wurde, eine Eisenbahn von Jaffa über Jerusalem zum todten Meere hin zu bauen, ging er nach Palästina, nivellirte das Land und nahm eine Karte desselben auf. Nach einem Ausflug in das Pharaonenreich kehrte er nach Stambul zurück und erhielt dort einen anderen, interessanten Auftrag Fuad Paschas: Uebergänge über den östlichen Balkan zu suchen, um später Verbindungswege zwischen den nördlich und südlich vom Balkan liegenden Ebenen herzustellen. Das Resultat dieser Forschungen war eine detaillirte Karte des ganzen Gebietes von Varna nach Pravadi über den Balkan hinüber bis Burgas, Jamboli, Slimno, Karnabad, dann den Lauf der Tundja stromabwärts bis Adrianopel, hinüber nach Kirkilissa und zurück nach Burgas. Fortan gaben zahlreiche theils im Auftrage übernommene, theils privatim ausgeführte Reisen Humann beständig Gelegenheit zur Durchforschung großer Länderstrecken; seine Aufnahmen in Kleinasien allein dehnen sich über tausend Quadratmeilen aus. Obwohl erst die Pergamenischen Funde seinen Namen populär gemacht haben, betrachtet er selbst doch die Resultate seiner geographische Untersuchungen als die Arbeit seines Lebens, und dieselben haben denn auch in Fachkreisen lebhafte Anerkennung gefunden. Der bekannte Geograph Professor Kiepert bezeichnete sie als epochemachend für die Geographie jener Länder und ist gegenwärtig mit der Ausgabe einer neuen Karte Kleinasiens unter Benutzung der Humann'schen Angaben beschäftigt.
Zu den Reisen des rastlosen Ingenieurs zählt eine Fahrt im Auftrage des bekannten Constantinopler Millionärs Louis Merton nach der kleinasiatischen Küste gegenüber von Lesbos, woselbst er 1865 zum ersten Male Pergamon besuchte. Auf's Neue gelangte er dahin, als er im Sommer 1866 im Auftrag Fuad Paschas sich von Constantinopel über den Bosporus zu Lande nach Smyrna begab, um die beste Landverbindung zu suchen. Er traf auf dieser Reise mit dem Kaiser von Brasilien zusammen und war einige Tage dessen Begleiter. Da kam das Jahr 1867 heran, in welchem er contractlich von der türkischen Regierung die Ausführung von Chausseebauten in Kleinasien übernahm.
Bei dieser Gelegenheit muß betont werden, daß Humann nie als Beamter im Dienste der hohen Pforte gewesen ist, sondern stets nur in einem frei vereinbarten Verhältnisse zur türkischen Regierung gestanden hat. In diese Chausseebau-Epoche aber, welche mehrere Jahre umfaßt, fällt die erste Ausbeutung Pergamons.
Schon im Jahre 1865, als Humann, wie oben gesagt, zum ersten Mal nach Pergamon kam, fand er auf der Akropolis Kalkbrenner damit beschäftigt, Marmore auszubrechen und zu Kalk zu brennen. Dasselbe Unwesen wurde auch jetzt, im Jahre 1871, ebendort getrieben, bis ein Befehl, den Humann von Fuad Pascha erwirkte, der Zerstörung Einhalt gebot. In der von den Byzantinern errichteten Vertheidigungsmauer glaubte der Spürblick des Ingenieurs unter Mörtel verdeckt Spuren von Bildwerken zu sehen, und drei große Marmorblöcke, die er herausheben ließ, erwiesen sich in der That als Fragmente eines Sculpturenfrieses. Humann schickte diese Marmorplatten als Geschenk an das Museum in Berlin, woselbst sie im Jahre 1873 eintrafen, begleitet von einem Schreiben, in welchem der Entdecker der Bildwerke auf die ganz vortreffliche Arbeit derselben hinwies und betonte, daß die Größe der Figuren sowie das Vorhandensein von Pferden, wilden Thieren und streitenden gigantischen Männergestalten darauf schließen lasse, daß man hier den Theil eines großartigen Kampfgebildes vor Augen habe, von dem voraussichtlich noch viele andere Bruchstücke aufzufinden sein würden. Humann's Bitte ging nun dahin, daß die deutsche Regierung ihm die Erlaubniß der Türkei erwirken möge, Nachgrabungen nach den werthvollen Bildwerken anzustellen und dieselben für das deutsche Reich zu erwerben. Seine dringenden Worte verhallten indessen; in Berlin war man der Ansicht, daß die Sculpturen welche heute alle Welt bewundert, ganz werthlos seien; in einem Kellerraum des Berliner Museums wurden die drei Pergamenischen Marmore, die Humann gesandt hatte, bei Seite gestellt, und ihm selbst wurde erst nach zwei oder drei Jahren eine Empfangsbescheinigung darüber zugesendet. So ruhte die wichtige Angelegenheit zu Humann's Kummer mehrere Jahre.
Inzwischen führte er in Kleinasien die Wegebauten für Rechnung der türkischen Regierung weiter fort, hatte aber schließlich unter der bekannten Finanznoth des osmanischen Reiches mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, daß er 1873 die Arbeiten aufgab. Bei seiner Reise im letztgenannten Jahre widmete er sich wieder ganz seiner Lieblingsbeschäftigung, der geographischen Forschung, und fand als wichtigstes Ergebniß dieser Expedition im Karabel-Paß das zweite, von Herodot erwähnte Bild des Sesostris, wodurch die Stätte klar gestellt wird, welche Herodot als den Kreuzungspunkt der Straßen von Smyrna nach Sardes und von Ephesus in's Phokäische Land bezeichnet. Diese geographischen Forschungen auf dem Gebiete Kleinasiens setzte er auch die nächsten Jahre hindurch fort, wozu noch zwei wissenschaftliche Ausflüge nach Nordgriechenland kamen.
Trotz dieser ablenkenden Beschäftigung hatte Humann seine Bestrebungen bezüglich der Ausgrabungen zu Pergamon nicht ruhen lassen, und das Jahr 1878 brachte denn auch die endliche Erfüllung seiner Wünsche. Im Herbst 1877 war Professor Dr. Conze zum Director der Sculpturen-Gallerie des Berliner Museums ernannt worden; er beschäftigte sich auf Empfehlung des berühmten Archäologen Curtius eingehend mit den Humann'schen Berichten. Conze erkannte sofort den Werth der Pergamenischen Bildwerke; er war die Veranlassung, daß die Regierung auf Humann's Vorschläge einging, und nahm auch an den Ausgrabungen als ein treuer und eifriger Berather Humann's, dessen Thätigkeit dieser selbst auf's Höchste anerkennt, persönlich regen Antheil. Im Frühjahr 1878 fertigte die türkische Regierung einen Firman für die Nachgrabungen aus, dem zufolge ein Drittel der Funde an Deutschland, eines an die Türkei und das dritte an den Bodenbesitzer fallen sollte. Letzterer war die türkische Regierung selbst, und daher änderte Savfet Pascha die Verfügung dahin ab, daß [601] Deutschland auch das zweite Drittel der etwaigen Ergebnisse behalten sollte. Späterhin verstand sich sogar die Pforte dazu, auch noch das letzte Drittel dem deutschen Reiche gegen eine ganz geringfügige Geldentschädigung zu überlassen.
Die Ausgrabungen selbst nahmen einen überaus erfreulichen Verlauf. Die ersten von Humann gefundenen Reliefplatten hatte man inzwischen mit Sicherheit als Fragmente der Gigantenschlacht erkannt, mit welcher Attalos den Zeus-Altar zu Pergamon schmücken ließ, und es handelte sich zunächst um die Feststellung des Platzes auf dem ausgedehnten Gebiet der Akropolis, an welchem dieser Altar einst gestanden haben mochte. Humann sagte sich nun, daß man sicherlich für die Errichtung des großen Prachtbaues einen Punkt erwählt haben würde, der schon von großer Ferne aus sichtbar erscheint, und fand eine Stelle des Berges, welche man sogar von der Meeresküste aus deutlich erkennen konnte.
Dort ist bis heute noch ein Gesträuch stehen geblieben, bei welchem Humann seinen Stock in die Erde stieß mit den Worten: „Hier muß der Zeus-Altar liegen.“ Auf diesen Punkt zu ließ er zwei Gräben ziehen.
An einem Montag, dem 9. September 1878, hatten die Arbeiten begonnen, am nächsten Tage fanden sich mehrere große Reliefs, und am Mittwoch bereits traf man zugleich mit dem Funde der elften Reliefplatte auf die Grundmauern des Altars, sodaß Humann hocherfreut nach Berlin telegraphiren konnte: „Der Zeus-Altar ist gefunden.“ Erst am 6. December 1879 wurden die Arbeiten eingestellt. Nachdem der Altar von den Erdanschwemmungen freigelegt worden, ergab sich, daß er aus einem mit Marmor bekleideten Massenblock von 37 Meter Länge und 34 Meter Breite bestand, in dessen südliche Schmalseite eine Treppe eingebaut war. In der Mitte des kolossalen Unterbaues erhob sich eine kleine Erhöhung von einigen Fuß, welche die eigentliche Opferstätte bildete. Der Unterbau ist verziert, indem man zunächst vier breite Stufen ringsum gelegt und dann eine Plinthe (Unterlagsplatte) mit kleinem Abschluß aufgesetzt hat, in welchem die Namen der darüber befindlichen Figuren des 2,30 Meter hohen Reliefs standen. Jetzt folgte ein Hauptgesims, welches 80 Centimeter vorstand, um die Bildwerke gegen Sonne und Regen zu schützen. Auf dem Rande dieses so verzierten Unterbaues erhob sich endlich noch eine Colonnade von 10 Fuß hohen ionischen Säulen, welche durch ein flaches Dach gedeckt wurden; auf diesem Dache wiederum befanden sich zahlreiche freistehende Statuen. Von dem Fries, welcher außer den Stellen an beiden Treppenwangen 107 Meter, zusammen mit denselben wahrscheinlich etwas mehr als 133 Meter an Länge haben mochte, sind drei Fünftel aufgefunden worden; ein Drittel der gefundenen Sculpturen besteht aus mehr oder weniger gut erhaltenen Platten, von denen einzelne sich an einander fügen, während größere und geringere Fragmente den Rest ergeben.
Die Darstellung des Schlachtgebildes ist von außerordentlicher Lebendigkeit; vor Allem zeichnen sich die beiden Hauptgruppen des Zeus und der Athene aus, welche gegen die Giganten siegreich vordringen. Bei den Göttern sind die Züge der intelligenten, siegreichen Griechen, bei den Giganten ist die Gesichtsbildung roher, nordischer Gegner nicht zu verkennen. Wir haben eben auch in diesem Werke nichts Anderes vor uns, als eine Verherrlichung der Pergamener-Siege im Gewande der griechischen Mythe. Die Figuren sind voll ausgearbeitet und können nur noch insofern als Reliefdarstellungen bezeichnet werden, als sie sich stellenweise gegen die Marmorwand anlehnen. Die Körperformen bekunden ein eingehendes Studium der Natur, während die Ausführung des Details sich mit derjenigen bei Arbeiten der besten griechischen Kunstepoche zu messen vermag.
Außer dem Gigantenkampf fand sich noch ein zweiter Fries, der nur 1,58 Meter hoch ist und eine Darstellung der Sage des Telephos, des Stadtheros von Pergamon, enthält. In Auffassung und Durchführung steht dieses Werk dem Gigantenkampf gleichberechtigt zur Seite. Hiervon wurden bisher 36 Platten gefunden.Wo dieser Fries gestanden hat, ist nicht genau zu bestimmen.
Ferner ergaben die Ausgrabungen eine Ausbeute von 50 isolirten Statuen, 150 Inschriften und einer großen Fülle architektonischen Materials, welches sich besonders bei der gleichfalls auf der Akropolis vorgenommenen Freilegung des Augusteums und des Gymnasiums vervollständigte. Die sämmtlichen Marmore, welche nach Berlin geschickt wurden, hatten ein Gewicht von 7000 Centner und waren in 463 große Kisten verpackt. 2700 Centner kommen auf die Gigantomachie, 300 auf die Telephos-Sage und das Uebrige auf Statuen, Architekturen, Vasen etc. Erwähnenswerth ist auch die Art des Transportes. Für diesen Zweck ließ Humann einen den Berg in Schlangenwindungen hinabsteigenden Fahrweg bauen und die einzelnen, 30 bis 60 Centner schweren Kisten auf von Büffeln gezogenen Schlitten hinabbefördern. Da aber bei dieser Art von Fortbewegung wegen der Steilheit und Schlüpfrigkeit des Weges, an dessen Seiten tiefe Abgründe gähnten, die Kunstschätze oft in Gefahr kamen, hinabzustürzen und zu Grunde zu gehen, so wurden später die Thiere durch Menschen ersetzt, und es beförderten nun 40 Arbeiter die Lasten bis zum Meere. Hier wurden die Kisten bei der Hafenstation Dikeli auf Lichterschiffe geladen und gelangten dann in acht Stunden nach Smyrna; von dort erfolgte der Weitertransport durch die europäischen Dampfer nach Triest, dann weiter mit der Bahn nach Berlin. Später wählte man den Seeweg bis Hamburg und führte die Sculpturen auf Flußschiffen durch die Elbe, Havel und Spree bis dicht vor das Berliner Museum.
Endlich will ich noch bemerken, daß die sämmtlichen Unkosten des Unternehmens für Ausgrabung, Verpackung, Transport, Gehälter, Reisen und Ankauf des Drittels der Funde, welches die Türkei beanspruchen konnte, sich für die deutsche Regierung auf die verhältnißmäßig geringe Summe von etwas über 150,000 Mark beliefen, während der rohe Marmor der nach Berlin geschaffte Werke, nach dem Kubikinhalt taxirt, allein einen Werth von 180,000 Mark repräsentirt.
Die mit so außerordentlichen Resultaten im vorigen Jahre abgeschlossenen Ausgrabungen zu Pergamon sind jüngst, nach Erlaß eines neuen türkischen Firmans, abermals aufgenommen worden. Bei einer Hitze von 28 Grad Réaumur haben am 14. August unter Humann's Leitung die Arbeiten wieder begonnen, zu welchen wir unserm braven Landsmann ähnliche glückliche Erfolge, wie die bisher erzielten, wünschen wollen.
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Ob es sechs oder sieben Jahre her ist, weiß ich nicht mehr genau; daß aber damals das Riesenhôtel noch nicht existirte, welches sich jetzt am St. Pancras-Bahnhofe im Norden Londons breit macht, will ich bezeugen – dies ist auch die Hauptsache an der langweiligen Geschichte.
Also vor sechs oder sieben Jahren kam ich eines Sonnabends gegen Mitternacht mit dem Dampfer in London an. Der menschenfreundliche Capitain konnte es nicht über das Herz bringen, seine einzige Passagierin mit Sack und Pack in der Geisterstunde an’s schreckliche Ufer setzen zu lassen; er dampfte daher nur mir zu Liebe am gewöhnlichen Landungsplatze vorüber und noch ein tüchtiges Stück stromaufwärts.
Als der graugelbe Sonntagsmorgen anbrach, lagen wir mäuschenstill auf der vielbesungenen, majestätischen Themse. Auch heute wiegte ihre breite Brust unzählige Schiffe und Schifflein mit und ohne Flaggen, aber ich konnte mich mit dem besten Willen nicht für sie begeistern; sie war mir gar zu schmutzig.
Ein Kahnschiffer hatte die Güte, mich und meine Habseligkeiten an’s Land zu rudern. Sein Gewissen mußte dabei ein Auge zudrücken; denn es war ja Sonntag, und am Sonntag darf man in England bekanntlich nicht rudern, aber sein Gewissen machte sich für ein paar Schillinge extra ganz gern der Sünde schuldig. Stöhnend schleppte er meinen schweren Koffer die schlüpfrige Anlegetreppe hinauf; ächzend setzte er ihn in der ersten besten Straße nieder, und sich den Schweiß von der Stirn wischend, sagte er:
„Wenn Sie nun einen Wagen brauchen, Ma’am, der kleine Jack da holt Ihnen gern einen. Es ist zwar Sonntag, aber für ein paar Pfennige extra – He, Jack! Die Dame braucht einen Wagen.“
„Einen Wagen, Ma’am?“ fragte Jack herbeilaufend; „schön, Ma’am! Es ist zwar Sonntag heute – thut nichts; ich hole Ihnen einen für einen Schilling, Ma’am“ – meinte er mit schlauem Grinsen.
Als ich den Schilling bewilligt hatte, trabte der junge Wucherer davon. Ich aber setzte mich auf meinen Koffer und sah mich um. In welchem Theile Londons ich mich damals befand, weiß ich noch heute nicht – der schönste war es keinesfalls. Vor mir dehnte sich eine endlose, enge Straße, deren Häuser sich sämmtlich zum Verwechseln ähnlich sahen. Hatte hier und da der gelangweilte Maurer eine kleine Abweichungssünde begangen, so war der gute Kohlenrauch gleich bei der Hand gewesen, um sie mit dem eintönigen schwarzen Mantel seiner Liebe zuzudecken. Schwarz, rabenschwarz war überhaupt Alles, so weit das Auge reichte. Neben mir blickte sogar ein schwarzes Bäumchen über eine schwarze Mauer. Die kleinen Londoner, die bettelnd mittlerweile immer engere Kreise um mich zogen, sahen vollends aus, als ob sie aus dem Schornstein kämen.
„Arme Dinger!“ dachte ich, in meine Tasche langend, „keine Seife dieser Erde wäscht Euch wieder weiß.“
Sie betielten mich einmal über das andere „Lady“ und erfanden, um mir das Geld aus der Börse zu locken, die herzbrechendsten Geschichten. Des Einen Mutter lag todt, des Anderen Vater im Sterben, eines Dritten ganze Familie an den Blattern darnieder; Alle hatten sie seit vorgestern nichts gegessen. Die Aermsten! Sie sahen aus, als ob sie in ihrem Leben nichts als Steinkohlen geschluckt hätten.
Eben war ich mit meinem Kupfergeld zu Ende, als Jack zurückkam. Grinsend deutete er auf das Gefährt, welches ihm auf dem Fuße folgte. Er hatte gut lachen, der kleine Schelm! Mir war der Anblick des Kutschers seiner Wahl weniger erfreulich. Sein Antlitz glänzte wie ein aufgedunsener rother Vollmond; seine Schielaugen hatten den üblichen Sonnabendsrausch noch nicht ausgeschlafen; der Hut saß ihm im Nacken, und aus dem einen Aermel seines schmierigen Rockes blickte ein vorwitziger Ellenbogen. Ich habe Jack im Verdacht, daß er mir diese Perle von einem Rosselenker mit Vorbedacht verschafft hatte; denn noch hatte ich meiner Ansicht über denselben in keiner Weise Luft gemacht, da flüsterte der Schlaukopf schon:
„Glauben Sie, daß er betrunken ist, Ma’am? Geben Sie mir noch einen Schilling, und ich hole Ihnen in der Minute einen anderen!“
„Das glaube ich, Jack. Ein noch schöneres Exemplar,“ antwortete ich ärgerlich lachend. Bei mir dachte ich: „Mehr oder weniger angetrunken sind die guten Leute immer, ohne daß sie darum umwerfen oder sich verirren. Und wer sieht und kennt mich im großen Babylon?“
„Ich möchte nach St. Pancras,“ redete ich die Perle auf dem Bocke an.
„St. Pancras? – Zehn Schillinge,“ brummte er, ohne sich lange zu besinnen.
„Zehn Schillinge?“ wiederholte ich, ob der runden Summe große Augen machend.
„Ja, zehn Schillinge,“ schrie er schon aufgeregt, „keinen Penny weniger nehme ich heute. Wollen Sie einsteigen oder nicht? Haben Sie mich holen lassen oder nicht? Ist es Sonntag oder nicht? War ich im Begriff zur Kirche zu gehen oder nicht?“
Als er sah, daß Jack’s elastischer Mund sich bei der letzten Frage von Ohr zu Ohr dehnte und daß ich selbst einen etwas zweifelnden Blick über seine Toilette gleiten ließ, gerieth er außer sich vor Wuth und ließ von der Höhe seines Bockes einen solchen Hagel von Verwünschungen auf mich niederprasseln, daß mir Hören und Sehen verging.
Ob dem Spectakel war die Straße auf einmal lebendig geworden. Alte Weiber krochen aus Kellerluken hervor. Fenster wurden aufgeworfen. In den Oeffnungen erschienen grinsende Menschenköpfe, nickten dem Kutscher Beifall zu und ermunterten ihn durch Zurufe und wieherndes Gelächter.
Bei dem Anblick durchzuckte mich plötzlich der entsetzliche Gedanke: Wie, wenn du dich in einem der verrufenen Theile Londons befändest, in welchem man die Leute beraubt, um sie hernach mir nichts, dir nichts verschwinden zu lassen?! Unglückskind, und dein Koffer steht mitten auf der Straße! Und du hast deine Börse wohl eine Viertelstunde offen in der Hand gehalten!
„Meinetwegen denn, zehn Schillinge,“ rief ich (in meiner Herzensangst hätte ich auch zehn Pfund gerufen) und stürzte Hals über Kopf in den Wagen. „Da steht mein Koffer! Nur recht schnell, damit ich den Zug nicht verfehle!“
Zitternd erwartete ich, daß sich der Wüthende jetzt weigern werde, mich und meine Siebensachen an das ersehnte Ziel zu befördern. Aber er war besser, als er aussah. Schwerfällig rollte er vom Bock herunter – fluchend packte er den Koffer – fluchend schob er ihn auf den Wagen – fluchend rasselte er mit mir in den Sonntagsmorgen hinein.
Wehe den unseligen Straßenjungen, die sich uns auf Peitschenlänge näherten! Wehe den tollkühnen Kötern, die uns über den Weg liefen! Alle mußten sie es entgelten, daß ich mich so schlecht gegen den Armen benommen hatte. Wie eine Windsbraut fegten wir durch die friedlichen Straßen, unbekümmert um das feierliche Läuten der Glocken, unbekümmert um die frommen Kirchgänger, welche entsetzt an uns vorüber kopfschüttelten.
Ich fand unser Benehmen nichts weniger als anständig und hätte mein schamrothes Angesicht gar zu gern in die Kissen meiner Carosse gedrückt, aber diese hatten leider nicht umsonst so manche Nacht das Haupt ihres müden Eigenthümers gewiegt. Sie glänzten von Fett und dufteten nach Branntwein.
Wenn ich nicht irre, haben sämmtliche Miethwagen der Riesenstadt vor etlichen Jahren die Revue passiren müssen, worauf eine große Anzahl derselben in den wohlverdienten Feuertod gewandert ist. Im Interesse des fahrenden London hoffe ich, daß bei der Gelegenheit auch das Exemplar, welches mich nach St. Pancras trug, in Rauch aufgegangen ist – wenn es nicht schon vor dem Zeitpunkte seine arme Seele ausgehaucht hat. Alles klirrte, klapperte und ächzte an dem unglücklichen Fuhrwerk. Jeden Augenblick erwartete ich, meinen Koffer durch die Decke zu mir niedersteigen, oder den Fußboden unter mir versinken zu sehen. Er zeigte verschiedene Risse und eine klaffende Wunde, die ein altersgraues Häuflein Stroh nur sehr nothdürftig bemäntelte. Gern hätte ich die Perle auf dem Bocke beschworen, aus Rücksicht für das ehrwürdige Gefährt doch etwas langsamer zu fahren, aber das Fenster rechts ließ sich nicht öffnen, das links war von einer derben Faust mitten in das Herz getroffen und sah seiner baldigen [603] Auflösung entgegen. Erfolgte diese durch meine Vermittelung, so wurde das Fenster auf meine Rechnung geschrieben. Ich stemmte daher meine Füße gegen den Rücksitz, war eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen auf Alles gefaßt und sagte – dem heiligen Pankratius meinen besten Dank, als er mich nach Ablauf dieser Zeit in seinen Bahnhof aufnahm.
Wo sonst das bewegteste Leben zu pulsiren pflegte, herrschte heut „Grabesstille fürchterlich“. Aus der hohen Eingangspforte, aus welcher dem gepäckreichen Reisenden sonst ein Dutzend dienstbeflissener Geister auf einmal entgegenstürzte, schritt – nachdem er der Perle Zeit gelassen, ein Weniges zu spectakeln und zu fluchen – feierlich langsam ein riesiger Polizist mit feuerrothem Cotelettenbart. Er öffnet mir den Wagenschlag, hat einen Blick des Mitleids für das invalide Fuhrwerk, einen zweiten der Mißbilligung für dessen Eigenthümer, läßt sich von diesem meinen Koffer auf die starke Schulter schieben und fragt dann, mir majestätisch voranschreitend:
„Wohin wünschen Sie zu reisen?“
„Nach W.“
Er setzt den Koffer nieder, consultirt eine enorme Taschenuhr und spricht: „Der Zug ist vor fünf Minuten abgefahren.“
„Aergerlich!“ rufe ich und wünsche von Herzen, daß ich mich der Perle fünf Minuten früher anvertraut hätte. „Also muß ich auf den nächsten warten. Bitte, seien Sie so freundlich, unterdessen ein Bischen nach meinem Gepäck zu sehen!“
Mit diesen Worten drücke ich ihm nach guter deutscher Sitte ein Geldstück in die große Hand, erschrecke aber nicht wenig, nachdem ich es gethan; denn wie ich mich plötzlich besinne, gestatten die englischen Eisenbahndirectionen nicht, daß man ihren Dienern mit Trinkgeldern lohne. Kommt dies dennoch vor, so geschieht es heimlich. Ich aber habe einem Manne des Gesetzes, dessen heilige Pflicht es ist, das Zustecken möglichst zu verhindern, etwas zugesteckt! Natürlich erwarte ich, daß er mir meinen Mammon vor die Füße werfen und mich auf der Stelle arrestiren werde, aber es erfolgt nichts Derartiges. Der Edle läßt das Geldstück ruhig in seine Tasche gleiten, legt dankend die Hand an den spitzen Hut und sagt, auf den Koffer deutend:
„Schon gut, Ma’am. Verlassen Sie sich auf mich! Aber Sie werden warten müssen –“
„Ja, leider!“
„Sie werden – es ist jetzt acht Uhr – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – ja, sechs Stunden warten müssen.“
„Unmöglich!“
Er zuckt bedauernd die Achseln:
„Es ist eben Sonntag heute. Vor zwei Uhr führt kein Zug nach W.“
„Bitte, zeigen Sie mir den Wartesaal!“ rufe ich; denn der Schrecken ist mir in alle Glieder gefahren, und ich fühle das Bedürfniß, einen Augenblick sitzend meine Kräfte zu sammeln.
Der Wächter der Ordnung zupft verlegen an seinem rothen Backenbart.
„Es thut mir leid,“ spricht er, „aber ich habe strenge Ordre, den Wartesaal bis Punkt ein Uhr verschlossen zu halten.“
„Warum in aller Welt?“
„Wegen der Straßenjugend, Ma’am. Sehen Sie, ich bin heute den halben Tag allein hier; wie leicht könnten sich da die unnützen Rangen in die Säle schleichen und der Direction die guten, neuen Möbeln beschädigen!“
„Ist ein Hôtel in der Nähe?“
„Nein.“
„Also habe ich die Wahl, sechs Stunden lang den Perron auf und ab zu spazieren, oder in den öden Straßen herum zu wandern?“
Bei diesen in heller Verzweiflung ausgestoßenen Worten faßt den Diener der Gerechtigkeit ein menschliches Rühren. (Ich habe ihm ja auch eben erst ein Geldstück geschenkt.)
„Wenn Sie in eine Kirche gingen,“ schlägt er vor. „Es vertreibt die Zeit.“
Ja, wenn ich in eine Kirche ginge? Der Gedanke ist gar nicht übel. Aber – wo finde ich hier im hohen Norden Londons gleich eine Kirche? Und darf ich es auch wagen, ohne Gebetbuch und – was noch schlimmer ist – im Reisecostüm, ohne Capothut? – Das Gebetbuch liehe mir vielleicht eine barmherzige Seele, den runden Hut aber vergäbe mir keine. Dazu sollen die Blattern in dieser Gegend wüthen. – Nein, ich gehe lieber nicht.
„Oder,“ fährt der Menschenfreundliche fort, als er sieht, daß seine Idee keinen Anklang findet, „ich könnte Sie auch allenfalls in den Wartesaal lassen, aber unter einer Bedingung: daß Sie mir gestatten, Sie einschließen.“
„Wenn Sie weiter keine Bedenken haben,“ rufe ich unendlich erleichtert aus, „schließen Sie mich in Gottes Namen ein! Sagen Sie mir aber erst, wo ich mir ein nettes Buch kaufen kann; denn – aber freilich, heut sind ja keine Bücher zu haben.“
„Gewiß nicht,“ bestätigt er vorwurfsvoll. „Es ist Sonntag.“
„Oeffnen Sie immerhin!“ seufze ich, „so verschlafe ich die unglücklichen sechs Stunden.“
„Sollten Sie irgend etwas brauchen, sollte es Ihnen gar zu langweilig werden,“ bemerkt der Gute, im Begriff meinen Kerker hinter mir zu schließen, „so klopfen Sie nur an die Thür! Ich bin immer in der Nähe.“
Der Schlüssel dreht sich um seine Achse.
„Halt, halt!“ rufe ich. „Eben fällt mir ein: ich muß nothwendig erst nach W. telegraphiren. Um zwölf Uhr werde ich dort erwartet.“
„Das Telegraphenbureau ist am Sonntag geschlossen,“ schallt es durch das Schlüsselloch zurück.
Ich bin allein – „Gebieter über Alles, was ich überblicke“, das heißt über einen langen blank polirten Tisch, über verschiedene Ledersophas und einige Stühle. Ich mache es mir auf einem der Sophas so bequem, wie es die Beschaffenheit des Möbels erlaubt. Es ist knüppelhart, und seine Rücklehne hört da auf, wo beim normalen Menschen der Rücken anfängt. Ich versuche zu schlafen – in allen erdenklichen Positionen – und finde es unmöglich. Ich durchwühle meinen Handkoffer nach einer langweiligen Lectüre, um der Natur zu Hülfe zu kommen. Da ich aber aus verschiedenen Gründen auf dem Meere nie lese, so habe ich nur für den Nothfall ein dünnes illustrirtes Blättchen mitgenommen – mein Ein und Alles.
Wenn ich ein Bischen zum Fenster hinaussähe? Dies liegt nämlich nicht außer dem Bereich der Möglichkeit, obgleich das Fenster dicht unter der Decke angebracht ist. Ich brauche nur auf den Rücken meines Sophas zu steigen und mich auf die Zehenspitzen zu heben. Ader es ist auf die Dauer ermüdend und langweilig; denn ich erblicke nichts als Schienen, über die kein Zug fährt, und einen Perron, auf dem sich Niemand sehen läßt, nicht einmal der rothbärtige Diener der Gerechtigkeit. Ich steige von meiner Höhe herab, fange an, um den großen Tisch herum zu spazieren, bedauere dabei abwechselnd die unglücklichen Menagerielöwen und die armen Sünder in der Tretmühle und sinke nach viertelstündigem Rundlauf erschöpft und schwindelig auf mein ledernes Kanapee.
Ich versuche zum zweiten Male zu schlafen, finde es zum zweiten Male unmöglich. Will ich nicht vor Langerweile umkommen, so muß ich mich jetzt an mein Ein und mein Alles machen. Leider enthält es außer einigen älteren Modeberichten und dem Innern eines Romans, aus welchem ich nicht klug werden kann, nur noch eine Novelette, vier Seiten lang:
Auf der ersten sehen sie sich zum ersten Male, verlieben sich sterblich in einander und schwören sich unter einer Straßenlaterne ewige Treue (Notabene: sie haben Beide zusammen keinen halben Thaler im Vermögen); auf der zweiten trennt sie das grausame Schicksal in Gestalt ihrer nach einem Goldschwiegersohne angelnden Mama; auf der dritten bereinigt sie die freundliche Vorsehung in Gestalt seines zu rechter Zeit dahingeschiedenen Erbonkels; auf der vierten Seite Hochzeitsreise, Sonnenaufgang auf dem Rigi, Aussicht auf eine glückliche Zukunft. –
Es ist jetzt genau zehn Uhr; meine Hülfsmittel sind erschöpft, und mit der Langenweile stellt sich auch der Hunger ein. Ich habe heute Morgen noch keinen Bissen genossen. Freund Rothbart muß mir meinen Kerker öffnen.
Ich gehe an die Thür und klopfe. Niemand kommt. Ich klopfe lauter. Es rührt und regt sich nichts. Ich klopfe und rüttele wie ein Verzweifelter. Alles bleibt todtenstill.
Wenn er mich vergessen hätte – nach Hause gegangen wäre – mich in diesen fürchterlichen vier Wänden jämmerlich verhungern ließe! – Vergebens sucht mir mein Verstand zu beweisen, daß der Mensch in vier Stunden nicht verhungern kann; meine aufgeregte Einbildungskraft hält das Schrecklichste für möglich, und ich schüttele, klopfe, rüttele, lausche abwechselnd wohl zehn
[604] Minuten lang. Da – endlich – lassen sich Schritte vernehmen, langsame, gemessene Schritte. Der Schlüssel dreht sich. Rothbart erscheint in der Thüröffnung, sehr erstaunt, mich so aufgeregt zu finden. Er nimmt meine Vorwürfe sanftmüthig entgegen; er hat mich nicht klopfen hören, ist nur bis an die nächste Straßenecke gewesen, um die Leute aus der Kirche kommen zu sehen.
„Sie glauben nicht, wie langweilig es hier Sonntags ist,“ setzt er mit einem Seufzer hinzu.
Ob ich es glaube!
„Ich möchte frühstücken. Die Bahnhofsrestauration –“
„Wird Sonntags nicht –“
„Das dacht’ ich mir. Aber Sie werden nicht behaupten wollen, daß ich in der Nähe nicht irgendwo eine Seele finde, die mir trotz des Sonntags für mein Geld etwas zu essen giebt?“
„O nein – das will ich nicht behaupten.“
„Aber, wo finde ich sie?“
„Ja, wo?“ spricht er sinnend. „Ein Hôtel ist nicht in der Nähe; die Kaffeehäuser sind heute fast alle geschlossen – das heißt, ich wüßte wohl eins, aber – Sie werden nicht in ein Kaffeehaus gehen wollen?“
„Lieber als hier verhungern! Wenn es anständig ist.“
„O, sehr anständig, wenn auch nicht gerade ersten Ranges.“
„Und wo liegt es?“
„Wenn Sie erlauben, Ma’am, so führe ich Sie hin. Ich bin im Hause bekannt.“
„Aber was macht unterdessen die Station?“
„Die läuft nicht weg.“
So wandeln wir denn gemeinschaftlich durch ein paar Straßen, der Mann des Gesetzes und ich. In jeder andern Stadt bekämen wir natürlich ein Gefolge von Gassenbuben; in London spielen die Polizeidiener häufig die Ritter bedrängter Damen, und es hält mich kein Mensch für verhaftet. Vor einem räucherigen, zweistöckigen Gebäude bleiben wir stehen. Mein Begleiter stößt die Hausthür auf und ruft mit Stentorstimme:
„Hann!“ („Ann“ hätte er gar zu gern gerufen, aber einem ungebildeten Londoner Kinde kommt leider immer zur Unzeit ein H in die Kehle.)
Es poltert in den unteren Regionen. Drauf erscheint im Hintergrunde Hann mit einem Kopf à la Struwwelpeter.
„Nun Bobby?“ fragt sie mit freundschaftlichem Grinsen.
„Die Dame will ein Frühstück, Hann.“
Freund Rothbart empfiehlt sich. Hann kommt näher, sich die Hände an der Schürze trocknend, und ladet mich höflich ein, ihr über einen fadenscheinigen Treppenläufer nach oben zu folgen. Hier öffnet sie mir mit den Worten: „Das Kaffeezimmer!“ ein kleines, ziemlich unsauberes Gemach, das weniger nach Kaffee, als nach einem Gemisch von Tabak und Bier duftet. Es enthält sechs Pferdehaarstühle, einen Lehnstuhl und einem Tisch mit schwarzer Wachstuchdecke, auf welcher sich in weißen Ringen und Ringlein unzählige Tassen und Gläser verewigt haben.
Hann wünscht zu wissen, was ich begehre. Leider ist ihre ganze Erscheinung so unappetitlich, daß ich aus ihren ungewaschenen Händen nur Thee und gekochte Eier begehre. Sie verspricht, sich zu beeilen, und poltert treppab. Ich rücke den Lehnstuhl an das Fenster und bekomme, indem ich dies thue, eine hohe Idee von dem Patriotismus der Engländerinnen; denn über des Lehnstuhls Rücken breitet sich der einzige Schmuckgegenstand des Zimmers, ein Antimacassar, auf dem eine kunstfertige Hand in feinen Häkelnadelstichen den Herzog von Wellington portraitirt hat. Großer Sieger von Waterloo! Man hat Dich – wer weiß wie oft! – in Stein gehauen, in Erz gegossen, in Oel gemalt, in Holz und in Kupfer gestochen, aber gewiß nur dieses eine einzige Mal in Baumwolle gehäkelt! – Voll inniger Rührung lege ich mein Haupt auf dies Denkmal von zarter Frauenhand.
Ueber der Straße unten liegt ein Nebelschleier, aber er ist blaß und dünn und gönnt mir das Vergnügen, alle fünf Minuten einen gelangweilten Menschen vorüberspazieren zu sehen. Grabesstille herrscht im Hause, nur dann und wann unterbrochen von Lauten aus der Unterwelt, in welcher Hann sich meinem Frühstück widmet.
Wenn der Frühling über die Berge steigt, wenn der Schnee von den Almen schwindet und bis auf die höchsten Gipfel zurückweicht, dann kommen auch die mit jedem Tage zahlreicher werdenden Alpenfahrer aus dem Norden zu uns in’s schöne Land Tirol. Doch bis auf die Berge und in die Thäler des eigentlichen Südtirol versteigen sich nur die wenigsten dieser Wanderer, obwohl es südlich vom Pusterthal, an der mittleren und unteren Etsch und südlich vom Vintschgau Alpenhöhen mit weit umfassenden Rundsichten giebt und Thäler mit Waldesfrische und allem romantischen Zauber, welche denen in Nordtirol sicherlich nicht nachstehen.
In einem dieser Thäler dürfte gerade zu der Zeit, wo diese anspruchslosen Zeilen in die Hände der Leser kommen, sich ein würdiges volksthümliches Fest vollziehen, ein Fest, an welchem nicht blos die Feiernden, sondern noch manche deutsche Herzen ihre Freude haben werden. Gilt es doch dem Andenken eines Mannes, dessen Name überall mit Ehre genannt wird, so weit die deutsche Zunge klingt!
Das Passeyer-Thal! Bei dem bloßen Klange des Namens steht die Gestalt Andreas Hofer's vor uns, des Tiroler Bauern und Helden, dessen Gedächtniß erst vor Kurzem durch Defregger’s, seines Landsmannes, schöpferischen Pinsel erneuert worden ist (vergl. unsere Abbildung in Nr. 40, 1879). Und der ehrliche und tapfere Hofer verdient es, daß seiner stets und zu allen Zeiten in Ehren gedacht wird. Mag man über seine Thaten, über die für sein Land nutzlose Erhebung denken, wie man will, das wenigstens muß man ihm nachrühmen: er hat es ehrlich gemeint; er kämpfte und duldete nur für das Wohl und die Freiheit seines Vaterlandes, so gut er eben Beides verstand. Diese Ansicht gilt allgemein auch bei denen, welche das „Trauerspiel in Tirol“ blos nach seiner Erfolglosigkeit für das Land selber beurtheilen. Ich nenne unter den Geschichtsschreibern unserer Zeit nur F. C. Schlosser, der in seiner „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ etc. von dem Tiroler Aufstand sagt: „Wir sind weit entfernt, die Art religiöser Begeisterung für Vaterland und Cultus zu theilen oder auch nur zu billigen, welche der Kapuziner Haspinger und seine Genossen in Tyrol auf dieselbe Weise, wie die Jesuiten den Schweizer Sonderbund fanatisirten, im Tyroler Volke erweckten, aber wir ehren eine Begeisterung, welche Bauern zu Helden macht und Prediger des Fanatismus so begeistert, daß sie den Tod nicht scheuen.“
Wohl manchem Wanderer, der zum ersten Male die Berge und Thäler Tirols durchzieht, mag es auffallen, daß er nirgends auf ein Zeichen der Erinnerung an den beliebtesten vaterländischen Helden stößt. In der Franziskaner-Kirche zu Innsbruck hat freilich Kaiser Franz dem auf Mantuas Wällen von fränkischen Kugeln durchbohrten treuesten Sohne seines Volkes und Vorkämpfer seines Herrscherhauses ein marmornes Standbild errichten lassen, aber vergebens sucht der Fremde an der Geburtsstätte Hofer’s, im Sandhofe in Passeyer, oder auf den Wahlstätten, wo er mit seinen Getreuen in heißem Kampfe gestanden, auf dem Iselberg, „von dem er manchesmal den Tod herabgeschickt in’s Thal“, nach einem Denkzeichen, und wäre es auch nur ein Stein mit seinem Namen; nichts Derartiges findet sich; nur im Sandhofe zeigt man noch die Kleidung Hofer’s und einen von ihm in Mantua kurz vor seinem Tode geschriebenen Brief, der Kunde giebt von der wunderbaren Seelenruhe und männlichen Ergebung in sein Loos mit den Worten: „Ade, meine schnöde Welt! So leicht schwebt mir das Sterben vor, daß mir nit die Augen naß werden.“
Um diesem Fehlen aller Zeichen der öffentlichen Theilnahme für den tapferen Tiroler zunächst wenigstens an einem Punkte abzuhelfen, hat die Section des „Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins“ zu Meran, der unmittelbar am Eingange in’s Passeyer liegenden, als klimatischer Curort wohlbekannten Stadt, in welcher sich das Andenken an den Sandwirth noch lebendig erhalten hat, im Verein mit dem Officiercorps des dort in Garnison stehenden Landesschützen-Bataillons und einigen anderen patriotisch gesinnten Männern beschlossen, an der Hütte, in welcher Andreas Hofer gefangen genommen wurde und die bis heute unverändert erhalten ist, eine marmorne Gedenktafel anzubringen, welche [605] den Tag und das Jahr jenes traurigen Ereignisses dem Besucher in’s Gedächtniß rufen soll.
Wenn wir Meran auf der Nordseite durch das Passeyer-Thor verlassen, so führt uns der Weg, dicht an den Ruinen der steil gelegenen Zenoburg vorüber, am rechten Ufer der Passer hin in das Passeyer-Thal; in zweieinhalber Stunde gelangen wir nach dem freundlichen Dorfe Saltaus und von dort weiter bald auf dem rechten, bald auf dem linken Ufer in noch nicht zwei Stunden nach St. Martin, über welchem das Schloß Steinhaus gelegen ist. Diesem gegenüber erblicken wir auf dem linken Ufer des Flusses den Pfandlerhof.
Hierhin flüchtete Andreas Hofer aus seinem weiter nach Norden gelegenen Sandhof, als gegen das Ende des Jahres 1809 auch der letzte Versuch eines Widerstandes gegen die über den Brenner und aus dem Puster-Thal unaufhaltsam in das südliche Tirol vordringenden Franzosen gescheitert und von Baraguay d’Hilliers für Denjenigen, der den Rebellenhäuptling tödten würde, eine Belohnung ausgesetzt worden war. Als die Gefahr immer höher stieg und Hofer sich auch auf dem Pfandlerhofe vor den ihm nachspürenden Feinden nicht mehr sicher hielt, rettete er sich in eine fast unzugängliche Hütte, in die oberhalb des Pfandlerhofes auf der Brantacher Alpe gelegene Mahdhütte. Aber auch hier konnten ihn weder die Unzugänglichkeit der Wege, noch die Eisberge und der sechs Fuß hohe Schnee vor seinen Verfolgern schützen; denn es fand sich, „was nur zu denken, geschweige zu erzählen, tief betrübend ist“ (Schlosser), einer seiner vertrauten Anhänger, dessen Namen man in Tirol noch wohl kennt, der aber hier besser verschwiegen bleiben mag, welcher den Zufluchtsort Hofer’s für dreihundert Ducaten verrieth.
Hier wurde dieser vom Bataillonschef Coutier am 28. Januar 1810 um vier Uhr Morgens gefangen genommen,[1] wobei die französischen Grenadiere an dem aus dem Schlaf geweckten, ruhig sich ihnen überliefernden Gegner arge Grausamkeiten verübten, ihn mit Kolbenschlägen empfingen und ihm die Haare des Bartes ausrissen. Wie im Triumph und um den Tirolern zu zeigen, daß jede Hoffnung auf Befreiung verloren sei, führten sie ihn gefangen das Passeyer hinab durch Meran und andere Städte und Dörfer seines Landes in’s feste Mantua, wo er vor ein Kriegsgericht gestellt und auf ausdrücklichen Befehl Napoleon’s erschossen wurde, doch erst nach Verlauf einiger Wochen, am 20. Februar (nicht, wie es Nr. 40, 1879 in „Blätter und Blüthen“ heißt: am 10. Februar). Demnach blieb dem Herren in Wien Zeit genug, wenn sie gewollt hätten, für die Begnadigung des Tiroler Volkshelden einzutreten, der ja im Einverständniß und anfangs mit der offenen Unterstützung des Wiener Hofes zu den Waffen gegriffen hatte. Doch es geschah nichts der Art; nicht einmal der Versuch dazu wurde gemacht – statt dessen hat aber Kaiser Franz den männlichen Nachkommen Hofer’s die erbliche Adelswürde verliehen!
Die Gedenktafel zum Andenken an die Gefangennehmung Andreas Hofer’s, welche von nun ab die Mahdhütte im Passeyer kennzeichnen wird, besteht aus weißem Tiroler Marmor, wie er in den Steinbrüchen bei Göflan im Vintschgau gebrochen wird. Sie zeigt außer der Inschrift das vom Professor J. Juß in Innsbruck trefflich modellirte und vom Steinmetzmeister Egger in Meran sauber ausgeführte Reliefbild Hofer’s in Medaillonform.
Die Worte am untern Rande der Tafel: „Errichtet im Juni 1880“ bezeichnen den für die Befestigung der letzteren ursprünglich in’s Auge gefaßten Termin; derselbe hat aus zwingenden Gründen hinausgeschoben werden müssen, und es ist statt dessen der September in Aussicht genommen. Da nun in Tirol keine Feierlichkeit ohne ein Freischießen gedacht werden kann, so hat man auch für diese patriotische Feier ein solches angeordnet, eine größere Summe zu Preisen bestimmt und die gesammten Schützen des Burggrafenamtes Meran dazu eingeladen. Dies Schießen soll zwei Tage, den 13. und 14. September, währen. An anderen volksthümlichen Belustigungen dürfte es außerdem bei diesem Anlaß [606]
nicht fehlen, das Hauptvergnügen wird aber sicherlich das Schießen und „Pöllern“ bleiben, das die Tiroler aus dem Grunde verstehen und mit seltener Ausdauer üben. Vielleicht, daß dieser oder jener Alpenfahrer und Freund wahrer Volksfeste aus Deutschland den Weg in’s Passeyer und auf die Brantacher Alpe nicht scheut, um an dem jedenfalls erhebenden, dem Andenken des beliebtesten Helden der Tiroler gewidmeten Feste theilzunehmen und Herz und Sinn zu erfrischen. Er wird willkommen sein.
San Francisco ist eine Großstadt, in der sich die Bewohner fast unaufhörlich in einer intensiven, aber verhältnißmäßig harmlosen Aufregung befinden, welche für einen echten San Franciscaner gleichsam zur Lebensexistenz gehört. Heute ist es eine wilde Minenspeculation, welche alle Gemüther erhitzt und Jedermann zum Millionäraspiranten macht; morgen predigt der hirnverbrannte Agitator Bearny vor vielen Tausenden Mord und Verwüstung gegen alles Bestehende in fulminanten Reden, welche ihn in jedem andern Lande der Welt hinter Schloß und Riegel setzen würden, während man hier die Gluth durch ihre eigene Hitze sich austoben läßt; bald sind es die unliebsamen Chinesen, gegen welche man in gewaltigen Volksversammlungen Rache schnaubt, die aber nie zur Ausführung kommt; bald setzt eine Wahlcampagne Alles außer Rand und Band; oder ein öffentliches Vergnügen, ein patriotisches Fest, wie z. B. der Empfang des von seiner Weltumseglungsreise heimkehrenden Grant, reißt die ganze Bevölkerung mit sich fort, wie in einem Taumel.
Jedermann betheiligt sich an diesen Aufregungen (Excitements). Die spießbürgerliche Ruhe einer deutschen Stadt würde einen San Franciscaner vor Langerweile tödten. Es scheint etwas in der Luft dieser Metropole zu liegen, was das Blut hier so schnell pulsiren läßt; denn die Neu-Ankömmlinge sind bei der geringsten Veranlassung bald in dieselbe fieberhafte Aufregung versetzt, wie die alten Bewohner der Goldstadt. Dabei nehmen die sogenannten höheren Classen der Gesellschaft in San Francisco durchaus nicht eine so reservirte Stellung ein, wie ihres Gleichen in anderen Ländern und Städten. Bei einem öffentlichen Vergnügen irgendwelcher Art drängt sich Alles zusammen, ohne Unterschied von Reichthum, Bildung oder Stand. Selbst die elegante Damenwelt wird bei einem echten „Excitement“ demokratisch und vergißt die bevorzugte Stellung, welche das schöne Geschlecht sonst überall in Amerika vor den Männern zu wahren versteht.
Wer während des letzten Jahres San Francisco besucht hat, der wird ohne Zweifel sehr oft über die aufgeregte Unterhaltung gestutzt haben, welche er dort tagaus tagein aller Orten mit anhören mußte. Monatelang bildeten die sogenannten „walking matches“, Gehturniere, hier das Stadtgespräch. Die Zeitungen jeder Farbe und Tendenz ergingen sich täglich in langen Leitartikeln über die Vorzüglichkeit dieses oder jenes Laufhelden mit einem Ernste, als ob es gälte, die Verdienste eines berühmten Staatsmannes oder eines großen Feldherrn zu preisen.
Zuerst marschirten die leichtfüßige Französin Madame La Chapelle und ihre amerikanische Rivalin Fanny Edwards wochen- und wochenlang um die Wette, unter einem stets wachsenden Volksenthusiasmus; dann betritt eine ganze Reihe von Männern die Gehbahn; dann wieder waren es ein Halbdutzend ruhmsüchtiger Frauen und Jungfrauen, welche einen Wettmarsch anstellten; in abwechselnder Reihe folgten Männer und Frauen demselben Beispiel, und zuletzt war es ein Kampf von Ausdauer und Schnelligkeit zwischen Männern und – Pferden.
Die beiden vorhin genannten Wettläuferinnen marschirten länger als einen Monat jede Viertelstunde eine viertel englische Meile in der Plattshalle um den Siegespreis der Ausdauer. Die halbe Stadt hatte für die Französin, die andere Hälfte für die Amerikanerin Partei genommen, und aufgeregte Menschenmassen strömten Tag und Nacht nach der Arena, um die beiden Heldinnen dort anzustaunen und das Ergebniß des wichtigen Streites mit eigenen Augen zu verfolgen.
Auf ein alle Viertelstunden erschallendes Glockensignal trat die – wie im Programm gedruckt stand – nur hundertneunzehn Pfund wiegende, kokett gekleidete Französin behende aus ihrem Zimmerchen hervor, durchmaß im Geschwindschritt eine viertel englische Meile und verschwand unter dem Applaus der versammelten Menge wieder hinter dem blau-weiß-rothen Vorhang ihrer Privatwohnung. Ihre kräftiger gebaute Nebenbuhlerin Fanny nahm das Marschiren weit phlegmatischer. Mit einer Reitgerte in der Hand spazierte sie, ohne sich zu echauffiren, ihre viertel Meile um die Arena.
In den für die beiden Damen wohnlich eingerichteten Privatzimmern wurde ihr körperliches Wohlbefinden nach jedem Marsche von den „Trainers“ regelrecht untersucht; die Dauerläuferinnen streckten sich gemüthlich auf ihr Kanapee und erhaschten ein kurzes Schläfchen, oder sie erquickten sich mit Speise und Trank, bis die Glocke sie wieder in die Gehbahn rief. Die Vorhänge der beiden Zimmer waren meistens zurückgeschlagen, sodaß das Publicum zusehen konnte, wie die „Trainers“ das Schuhwerk der beiden Damen sorglich prüften, ihre Füße und Knöchel mit stärkenden Essenzen einrieben, die Schlummernden mit Wolldecken einhüllten etc. Auf jeder Seite des Saales prangte eine herrliche Blumenflora von vielen Hunderten prächtiger Sträußer, welche die Anhänger der beiden Damen denselben als Tribut spendeten. Die Wettläuferinnen musterten diese Blumenschätze mit neidischen Blicken, falls die Gegnerin ungebührlich vom Publicum bevorzugt wurde. Wenn die Nacht weit vorgeschritten war, pflegten die Fußgängerinnen, von einem Begleiter am Arm festgehalten, während des Marsches oft fest zu schlafen, was einen seltsamen Anblick gewährte. Der ursprünglich auf dreitausend viertel englische Meilen in ebenso vielen Viertelstunden festgestellte Wettgang wurde von den beiden Gegnerinnen noch um einige hundert viertel englische Meilen ausgedehnt und zuletzt als unentschieden beschlossen. Dies Gehturnier war der Beginn von den nun monatelang folgenden großen „walking matches“.
Der Schauplatz der Dauermärsche wurde nach dem „Mechanick’s Pavillon“ verlegt, einem riesigen Holzgebäude von fünfhundert Fuß Länge und zweihundert Fuß Breite. Der Unternehmer der Gehturniere setzte für Denjenigen, welcher innerhalb sechs Tagen und Nächten die größte Meilenzahl zurückzulegen vermöchte, einen Preis von tausend Dollar aus und für die nächstbesten Marschirer respective fünfhundert und zweihundertfünfzig Dollar, wozu noch ein Theil von der Einnahme kam. Ein mit Diamanten besetzter californischer Siegesgürtel wurde außerdem von einigen Enthusiasten als Belohnung für den ruhmreicher Gewinner angeschafft. Jedem der Fußgänger stand frei, zu gehen oder zu laufen, wie er Lust hatte, und er durfte zwischendrein schlafen, so oft und so lange er wollte.
Etwa ein Dutzend wie Circusleute gekleidete Männer betraten die Arena unter dem Jubel der dort versammelten Menge, und fort ging die lange Pilgerfahrt, stets im Oblong herum auf der mit Sägemehl bestreuten Bahn. Eine lange Reihe von Zelten stand an der einen Seite des gewaltigen Raumes, die Wohnungen der verschiedenen Fußgänger. Jedes Zelt war mit einer Nummer und dem Namen seines Eigenthümers zur Orientirung für das Publicum bezeichnet. Dorthin konnte der Wettrenner sich nach Belieben zurückziehen und den leiblichen Adam durch Schlaf, Essen und Trinken, Abreiben der Beine und Füße etc. stärken, wenn die Muskeln und Sehnen ihm den Dienst versagten, oder der erschöpfte Körper den Schlaf peremptorisch forderte.
Auf einer hohen Tribüne saßen die Richter und Unparteiischen, welche die zurückgelegte Meilenzahl genau controllirten; an einer großen schwarzen Tafel wurden die Meilen jede Stunde zur Kenntnißnahme für das Publicum verzeichnet. Innerhalb der langgestreckten Arena wogten die nach Tausenden zählenden Zuschauer auf und ab, wie eine lebendige See; auf den amphitheatralisch aufgestellten Bänken saßen Männer, Frauen und Kinder in buntem Gemisch, und Kopf an Kopf drängte sich die Menge an das die Gehbahn abschließende leichte Holzgitter. [607] Abends war in dem von elektrischem Lichte taghell erleuchteten riesigen Raume ein ausnehmend interessantes Leben und Treiben. Es war Mode geworden, jeden Abend nach dem „Pavilion“ zu gehen, wo man mit seinen Bekannten sicher zusammentraf. Selbst Solche, die anfangs am meisten gegen das barbarische Schauspiel geeifert hatten, konnten dem Reize, dasselbe mit anzuschauen, nicht widerstehen, wenn sie in einer schwachen Stunde erst einmal dort gewesen waren.
Die mit einer großen weißen Nummer auf der Brust und in ein phantastisches Costüm gekleideten Fußgänger stellten mitunter bei rauschender Musik ein förmliches Wettrennen unter einander an. Wenn sich einer der bevorzugten Lieblinge des Publicums durch Schnelligkeit besonders hervorthat, so wurde er mit lautem Jubel beim Vorbeigehen begrüßt, und die ganze Menschenmenge wogte wie eine Sturmwelle von einer Seite des großen Gebäudes nach der andern hinüber, um den Rivalen des Riesen mit den Siebenmeilenstiefeln in nächster Nähe anstaunen zu können. Alle Gesellschaftsstände waren unter den Zuschauern vertreten. Der reiche Kaufherr und sein Clerc, der Bonanzakönig und der einfache Miner, die haute volée der Stadt und die Arbeiter und Handwerker, Damen in Seidenroben und Biberpelzen und irische Köchinnen in grellfarbenen Kattunkleidern, Hoodlums (der Straßenpöbel) und ehrbare Bürger – Alles war hier auf gleichem Niveau unter einander gemengt.
Diese Gehturniere zeigten, welchen erstaunlichen Strapazen der menschliche Körper zu widerstehen vermag. Es befanden sich Mehrere unter den Fußgängern, welche fünfundsiebenzig bis hundert englische (nahezu zwanzig deutsche) Meilen innerhalb vierundzwanzig Stunden zurücklegten. Aber welche Jammergestalten waren sie, als das Turnier sich seinem Ende näherte! Hohläugig, mit wankenden Schritten durchmaßen die meisten Wettläufer die Bahn, und selbst die Sieger sahen aus wie wandelnde Sterbende. Die größte Meilenzahl, welche zurückgelegt wurde, belief sich auf fünfhundert englische Meilen in sechsmal vierundzwanzig Stunden, allerdings fünfzig englische Meilen weniger, als der berühmte Fußgänger Weston in London in derselben Zeit machte, aber immerhin eine recht anerkennenswerthe Leistung.
Das Gehturnier der Damen versetzte die Stadt in eine wo möglich noch größere Aufregung, als der Wettlauf der Männer es gethan hatte. Madame La Chapelle schwor, ihre Todfeindin Fanny Edwards diesmal zu besiegen, oder sich nie mehr unter Menschen zu zeigen. Und es gelang ihr sozusagen mit fliegenden Fahnen. Nie in meinem Leben habe ich ein weibliches Wesen so schnell auf den Füßen gesehen, wie Madame La Chapelle. Wenn es ihr darauf ankam, ihre Schnelligkeit zu produciren, flog sie fast um die Arena herum, nicht laufend, sondern in einem langgestreckten Sturmschritt. Ihre Jockeykappe schien alsdann über den Köpfen der dichtversammelten Menge wie ein bunter Vogel durch die Luft zu streichen. Am letzten Abende war sie scheinbar so frisch und munter wie am ersten Tage. Fanny hielt sich ziemlich rüstig aufrecht, aber einige andere Damen kamen dahergewandelt, als hätten sie soeben die Bastonnade empfangen. Das schmerzliche Lächeln, mit dem sie die ermunternden Zurufe des Publicums entgegennahmen, hätte Mitleid erregen müssen, wenn man nicht überzeugt gewesen wäre, daß sie in Folge einer eitlen Ruhmgier sich ihre Pein freiwillig auferlegten.
Die Zeitungen besprachen täglich die Fortschritte und Ergebnisse der verschiedenen Gehturniere in langen Leitartikeln; die Theater und Concerte waren verödet, und es schien, als ob San Francisco für nichts mehr Sinn hätte, als für diese sinnlosen Wettmärsche. Vor den in den Hauptstraßen angebrachten riesigen Tafeln, auf welchen stündlich die zurückgelegte Meilenzahl der einzelnen Laufhelden mit Kreide verzeichnet wurde, befand sich stets eine dichte Menschenmenge, und die ganze Stadt stand, wie der Amerikaner poetisch zu sagen pflegt, „auf den Fußspitzen der Erwartung“, um zu erfahren, wer Sieger oder Siegerin in diesen neuesten „olympischen Spielen“ sein würde. An den Schlußabenden der verschiedenen Gehturniere befanden sich oft acht- bis zehntausend Menschen im „Mechanick’s Pavilion“, welche den Obolus von einem halben Dollar für die Person als Eintrittsgeld mit Vergnügen auf den Altar des „Fortschritts“ legten.
Nachdem sich noch einige Apache-Indianer als Wettläufer producirt hatten, fand zum Schluß ein sechstägiger Dauerlauf zwischen Männern und Pferden statt. Es war noch nie entschieden worden, wer mehr auszuhalten vermöchte, ein Mann oder ein Pferd, obgleich sich die öffentliche Meinung mehr auf die Seite der Männer hinneigte. In dieser wichtigen Streitfrage konnte nur der Versuch entscheiden.
Sechs Pferde betraten die Arena, und sieben wackere Männer nahmen die Herausforderung der Vierfüßler trotzig an. Da jedes Roß noch einen Reiter tragen mußte, der jedoch auch abwechselnd mit einer langen Leine in der Hand nebenher laufen durfte, so waren die Fußgänger eigentlich bedeutend im Vortheil, was die Rosse jedoch mit Gleichmuth hinzunehmen schienen. Unter letzteren befand sich der aus einer hocharistokratischen Pferdefamilie stammende Traber „Controller“, dessen Vettern und Tanten bereits Derbyrennen gewonnen haben und der selbst einmal zwanzig englische Meilen in achtundfünfzig Minuten und siebenundfünfzig Secunden trabend zurückgelegt hat, eine Leistung, die auf dem weiten Erdball noch nie übertroffen worden ist.
Die Pferde errangen einen glänzenden Sieg über ihre zweibeinigen Rivalen. Aber es war nicht der vor ein leichtes Cabriolet geschirrte aristokratische „Controller“, welcher den Sieg davontrug, auch nicht seine Collegen „Hoodlum“ und „Denver Jim“, die als Rennpferde in Californien einen respectablen Ruf genießen, sondern ein ganz gewöhnlicher Leihstallschimmel mit Namen „Pinafore“[2], der sogar eine sehr unelegante Gangart hatte. 559 englische Meilen legte der Gaul „Pinafore“ in sechsmal vierundzwanzig Stunden zurück, ohne sich besonders dabei zu echauffiren. „Pinafore“ ist nicht mehr ein obscurer Schimmel, sondern wird mit einem geschichtlichen Namen wie „Bucephalos“ auf die Nachwelt kommen. Er hat den berühmten Engländer Weston um volle neun englische Meilen geschlagen und damit die welterschütternde Frage, ob Menschen oder Pferde am meisten auszuhalten vermögen, endgültig entschieden.
Der aufmerksame Leser, welcher die Beschreibung dieser Wettläufe zwischen Männern, Frauen und Pferden verfolgt hat, wird dadurch gewiß eine sehr geringe Meinung von dem Culturzustande der berühmten Goldstadt erlangt haben. Als Entschuldigung für die Laufmanie kann nur der Umstand dienen, daß dieselbe wieder einmal ein „Excitement“ war, welches alle Schichten der Bevölkerung in seinen Strudel hineinriß.
Während jedoch die Turniere in der Gehbahn scheinbar alles Interesse absorbirten, wurden bereits umfassende Vorbereitungen für ein anderes, großartigeres öffentliches Fest getroffen, welches der Welt den Beweis liefern sollte, daß die Bevölkerung von San Francisco durchaus nicht so verwahrlost sei, wie Mancher vorauszusetzen wohl geneigt war, daß es vielmehr nur nöthig sei, den richtigen Impuls für ein feineres Vergnügen zu geben, um die Bewohner der Handelsmetropole des Goldlandes für ein solches zu enthusiasmiren. Ich meine den während der letzten Woche des October vorigen Jahres ebenfalls im „Mechanick’s Pavilion“ abgehaltenen „Autoren-Carneval“, eine originelle Schaustellung, die mit einem Glanz und Erfolg in’s Werk gesetzt wurde, welche ihres Gleichen suchen. Von dem „Autoren-Carneval“ im zweiten und letzten Abschnitt dieses Artikels!
Die englische Culturblüthe. „Wiederholt hat man das britische Volk eine ‚Nation von Krämern‘ genannt. Gleichwohl wäre es höchst ungerecht, nicht glauben zu wollen, daß das heutige Menschengeschlecht unter allen Längen- und Breitengraden seine gesellschaftliche Vervollkommnung zum großen Theile dieser ‚nation boutiquière‘ zu danken hat. Seine industrielle Culturmission unverwandt im Auge haltend, hat der angelsächsische Volksstamm einen durch alle Erdtheile sich erstreckenden Staatsorganismus auferbaut, mit dessen Macht, Wohlfahrt und Glanz kein Reich des Alterthums und der Neuzeit verglichen werden kann. Niemals hätte Waffenglück allein, wenn nicht von einer guten Wirthschaftspolitik begleitet, solche Weltsiege zu erringen vermocht! Wie zur See, so ward auch auf allen Continenten, wenigstens in industrieller Beziehung, die Herrschaft Großbritanniens hergestellt. Maschinen, Dampf und Freihandel haben sich unwiderstehlicher erwiesen, als Gußstahlkanonen und Präcisionsgewehre. Mit ihrer Hülfe ist England der Spinner, der Weber, der Schiffbauer, der Metallarbeiter, der Ingenieur, der Verfrachter, der
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Commissionär und der Geldleiher für die ganze Welt geworden. Der überlegene Einfluß, welchen es in ökonomischer Beziehung auf das übrige Europa, sowie theilweise auch aus die anderen Theile der Erde ausübt, ist hauptsächlich erst im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts errungen worden. Und es ist für junge Nationen ein ermuthigender Gedanke, daß eine verhältnißmäßig so kurze Periode für die Geschichte eines Volkes zuweilen hinreicht, das Aufblühen desselben mächtig zu entwickeln. Im Jahre 1810 zählte die Bevölkerung des britischen Inselreiches nicht mehr als sechszehn Millionen Einwohner; diese Zahl hat sich bis heute mehr als verdoppelt. Das steuerbare Jahreseinkommen für England und Schottland ward damals auf 100 Millionen Pfund Sterling geschätzt, dasselbe ist seither auf 550 Millionen Pfund Sterling gestiegen. Das gesammte Nationalvermögen überhaupt wurde vor sechszig Jahren auf 2000 und kürzlich von M. Robert Giffon, dem Chef des statistischen Bureaus im britischen Handelsamte, auf 8500 Millionen Pfund Sterling veranschlagt.“
Wir haben obige Sätze hier citirt, weil wir sie als bemerkenswerthe Schlußfolgerung, gleichsam als letztes Ergebniß am Ende umfassender Darstellungen gefunden haben, welche für alle darin enthaltenen Urtheile die handgreiflichsten und überzeugendsten Beweise führen. Nur besondere Umstände haben das Entstehen und die Ausführung dieser Darlegungen ermöglichen können. Als der junge österreichische Kronprinz 1877 eine Studienreise durch die britischen Industriebezirke unternahm, wurde ihm vom Ministerium des Auswärtigen der schon mehrere Jahre in England weilende und mit dem betreffenden Gebiete vertraute Dr. Karl von Scherzer als wissenschaftlicher Führer zugesellt.
Was Karl von Scherzer auf dieser systematischen Wanderung durch die hervorragenden Fabriken, Werk- und Productionsstätten Großbritanniens gesehen und erfahren, erkundet und ermittelt hat, all dieses werthvolle und emsig gesammelte Material ist von ihm zu der beträchtlichen Reihe von nicht weniger als dreiundvierzig Einzelbildern verarbeitet worden, die kürzlich unter dem Gesammttitel „Weltindustrien“ (bei Julius Meier in Stuttgart) veröffentlicht sind. Jede dieser Schilderungen behandelt einen bestimmten Industriezweig, eine Gruppe oder einen Centralpunkt industriellen Schaffens und erscheint so als ein abgerundetes und in sich abgeschlossenes Ganzes. Durch die wohlgeordnete Nebeneinanderstellung und Aufeinanderfolge der einzelnen Schilderungen aber entfaltet sich vor uns ein in hohem Grade eindrucksvolles und imposantes Gemälde britischen Gewerbfleißes, von seinen ersten noch sehr hülfsbedürftigen Anfängen bis zu seinem gewaltigen Aufschwunge als siegreicher Herrscher auf allen Gebieten des Weltmarktes. Zugleich zeigt sich uns dabei unwidersprechlich, wie England diese unleugbaren Erfolge einzig und allein seinen wesentlich demokratischen Institutionen, der Freiheit seiner gewerblichen Bewegung, seiner ausgedehnten Gastfreundlichkeit etc. verdankt und wie sich nur aus diesem Boden jener mächtige, unaufhaltsam nach vorwärts drängende Unternehmungsgeist entwickelt hat, dessen energische Impulse der auf Massenerzeugung gerichteten englischen Production ein so durchgreifendes Uebergewicht einräumten über die zaghafte und mit eingeschränkten Mitteln fortschreitende Gewerbthätigkeit des Continents.
Durch solche Fingerzeige erlangt diese Publication eine weit über den blos literarischen Werth hinausgehende Bedeutung, und wenn wir durch einen Hinweis auf dieselbe an dieser Stelle von unserm Grundsatze, literarische Erscheinungen der Regel nach nicht in den Bereich unserer Stoffe zu ziehen, diesmal abweichen, so findet dies durch eben jene Bedeutung des Buches seine Erklärung. Mit ihrer objectiven Thatsächlichkeit und dem Rüstzeug ihrer statistischen und technischen Belehrungen, mit ihren historischen und culturgeschichtlichen Rückblicken, ja mit den mannigfach eingestreuten anekdotischen Mittheilungen von den Heroen und Märtyrern der Industrie können die Scherzer’schen „Weltindustrien“ aufklärend und spornend, erhebend und erfrischend wirken in einem Moment, wo unsere eigenen handelspolitischen Verhältnisse sich auf dem Wege des Rückschritts befinden und der emsig von allen Dächern gepredigte Glaube an den angeblichen Segen der Verkehrsbeschränkung und des Vorrechtswesens bei uns so vielen Gedankenlosen bereits so stark die Augen geblendet hat, daß eine wirthschaftliche Verirrung und Verwirrung hereinzubrechen droht. Mag der Charakter unserer angelsächsischen Stammverwandten, mag ihre auswärtige Politik und Manches in ihren Zuständen nicht immer unsere Sympathien erwecken, so werden doch unter dem Drucke reactionärer Wendungen, wie es die heutigen sind, unsere Blicke unwillkürlich immer wieder auf die beneidenswerthe Festigkeit der freisinnigen und volksthümlichen Staatseinrichtungen gelenkt werden, aus denen sich in unablässigem Arbeitsringen der wirthschaftliche Frieden und Wohlstand, der behende und intelligente Unternehmungsernst des freiheitliebenden Inselvolkes zu einer so glanzvollen Culturmacht entwickeln konnten.
Wie ungemein wohlthuend berührt es, wenn wir z. B. in dem Buche lesen, daß englische Könige und Regierungen zwar gleichfalls handelspolitische Fehler begingen, fast immer jedoch bereit waren, dieselben offen einzugestehen und nach Thunlichkeit wieder gut zu machen, sobald sie nur überzeugend nachgewiesen waren! Die Fehler, von denen man zurückkam, hatten aber stets in beschränkenden Maßnahmen bestanden, und schon die Königin Elisabeth gab ein interessantes Beispiel solcher Umkehr. Als ihr einst nach langen und heftigen Parlamentskämpfen die Gemeinschädlichkeit der von ihr ertheilten Monopole durch eine an sie abgeordnete Commission dargelegt wurde, antwortete sie derselben: „Die von Ihnen geschilderten Zustände würden unzweifelhaft mir zur Unehre sich entwickelt haben, hätten nicht Sie mir jene Harpyien und Blutegel (die Monopolisten) zu erkennen gegeben. Ich würde lieber mein Herz und meine Hand verderben sehen, als daß ich dieselben dazu bieten möchte, Monopole und Privilegien zu gestatten, unter denen mein Volk leidet.“
Nun, Monopole und Privilegien im Sinne jener Tage giebt es freilich heute kaum noch. Die fanatische Gewinngier aber, welche durch Vorrecht und Ausbeutung sich bereichern will, ist nicht erloschen; die modernen Verhältnisse haben sie nur gezwungen, ihre widerliche Absicht hinter staatsweisen Phrasen und patriotischen Beschönigungsnamen zu bergen, wie „Schutz und Förderung der nationalen Arbeit“ etc. Der Zweck ist sichtlich derselbe geblieben. Ob wir von Seiten unserer Machthaber noch ähnliche Eingeständnisse irrthümlicher Abweichung von den naturgemäßen Bahnen des gewerblichen Verkehrs erleben werden? In Worten vielleicht nicht. Gewiß aber ist, daß die Nöthigung zu Thaten der Umkehr ebenso wenig ausbleiben wird, wie sie in der Geschichte des englischen Wirthschaftslebens ausgeblieben ist.
Die Verkleinerung der Großstädte durch das Telephon. Als der Schreiber dieser Zeilen im Jahrgange 1877 der „Gartenlaube“ (S. 796) die Ansicht aussprach, daß man bald vermiethbare Telephonverbindungen für den Privatgebrauch des Telephons haben würde, wurde er von anderen Zeitschriften ob dieses Sanguinismus abgekanzelt, aber schon bald darauf begannen sich die amerikanischen Großhandelsplätze mit Centralstationen zu versehen, die gegen eine bestimmte Miethe jedes Geschäftshaus in den Stand setzten, in jedem Augenblicke mit jedem beliebigen andern abonnirten Geschäftshause der Stadt mündlich verkehren zu können. New-York, Chicago, Saint-Louis und Cincinnati machten drüben den Anfang, und die Vortheile sind so in die Augen springend, daß überall alsbald die Zahl der auf diese Weise auf Flüsterweite in Verbindung gesetzten Theilnehmer sich auf mehrere Tausend belief, unter denen alle bedeutenden Geschäftshäuser vertreten waren. Seit einigen Monaten ist dieselbe Einrichtung in London durchgeführt, und soeben sind die ersten Schritte gethan, sie nach der deutschen Reichshauptstadt zu verpflanzen, welche ihrerseits mit der Einführung des Telephons in den Postdienst den andern Ländern vorausgegangen war. Suchen wir uns ein Bild von der ganzen Organisation, die, bildlich gesprochen, auf eine Verkleinerung der Großstädte hinausläuft, zu machen! Die Hauptsache dabei ist eine möglichst in der Mitte der Stadt angelegte Centralstation, mit welcher jedes in den Verband eintretende Haus mittelst metallischer Leitung verbunden wird. In dem Centralbureau befindet sich nun eine Einrichtung, die derjenigen der in’s Riesige übersetzten Hôtelklingeln ähnlich ist. Wenn der Privatmann auf seinen Telephonknopf drückt, zum Zeichen, daß er sich mit irgend Jemand dieser engern Gemeinde in Verbindung setzen wolle, so springt auf dem Centralbureau das mit seiner Nummer oder seinem Namen versehene Anzeigertäfelchen auf. Der Beamte verbindet sein Telephon mittelst eines sogenannten Umschalters durch einen einzigen Druck mit dem des Abonnenten und giebt ein Zeichen, daß er bereit sei, die Aufträge desselben auszuführen. Dieser nennt Namen oder Nummer des Hauses, mit dem er in Verbindung zu treten wünscht, und nach wenigen Secunden ist das „alte Haus“ W. in Westend an den neuen Palast in Ostend gerückt und die Bewohner desselben sind bereits vom Centralbureau aus verständigt, daß Haus W. mit ihnen eine Unterredung wünsche. Zugleich ist das Centralbureau aus der Verbindung ausgeschieden und die beiden Häuser können sich mit flüsternder Stimme die größten Geheimnisse mittheilen, ohne Furcht, von irgend Jemand belauscht zu werden.
In dem Centralbureau, durch welches die Gespräche der ganzen Stadt schwirren, hört man von alledem keine Silbe und kann froh darüber sein; denn es müßte sich wie das Meeresbrausen anhören, welches man auf den Gallerien der modernen Börsen an heißen Tagen vernimmt. In New-York werden im Durchschnitt sechstausend Verbindungen täglich verlangt, und damit keine Verzögerung eintritt, sind eine Anzahl Knaben angestellt, die, von einem Oberinspector überwacht, die einfache Arbeit der Verbindung und nach Meldung, daß das Gespräch beendigt sei, die Trennung vornehmen. In Amerika erfreut sich diese Geschäftserleichterung einer solchen Theilnahme und Würdigung, daß man drauf und dran ist, auch zwischen den Nachbarorten, z. B. zwischen New-York und Philadelphia, solchen „elektrischen Geheimbund“ herzustellen, wie er thatsächlich durch Vermittelung der öffentlichen Linien und Verbindung derselben mit dem Centralbureau schon jetzt ausführbar ist.
Wir haben es absichtlich vermieden, die Einzelnheiten dieser Einrichtung zu beschreiben, die ebenso einfach wie veränderlich sind. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß man überall die vollkommensten, lautestsprechenden und ohne Mühe verständlichen Telephone anwendet. So ist der damals ausgemalte „Traum“, der gewiß auch von manchem Leser der „Gartenlaube“ belächelt wurde, bereits an vielen Orten verwirklicht. C. St.
Kleiner Briefkasten.
Frau M. P. in Gl. Es ist uns zu unserem aufrichtigen Bedauern unmöglich, Ihren Wunsch zu erfüllen.
Gr. in Lothringen. Die reine Grillenfängerei! Milch, dem Kaffee beigemengt, ein Getränk, bei dem unsere Eltern und Großeltern zu hohen Jahren gekommen, ist trotz jener vielverbreiteten Zeitungscorrespondenz auch für uns und unsere Kinder kein Gift.
Lw. in Metz. Allerdings sollte Ihr Aquarium eine oder mehrere Erd- oder Felserhöhungen oberhalb des Wassers haben, damit sein Bewohner das Trockene mit dem Feuchten nach Bedürfniß vertauschen kann.
H. Wilden-Leipzig. Ihre Novelette entspricht in Erfindung und Durchführung zu wenig den zu stellenden Anforderungen, als daß wir von derselben Gebrauch machen könnten. Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!
C. in Kassel. Eine derartige Anstalt ist uns nicht bekannt. Vergleichen Sie aber den Bock’schen Artikel in unserem Blatte, Jahrg. 1857, Seite 344!
G. G. aus Odessa. 25 M. für die Nothleidenden in Schlesien sind richtig eingegangen. Besten Dank!
Abonnent in Stettin. Wir warnen Sie vor diesem Schwindel.
J. A. in Melbourne. Auf eingesandte Gedichte kann, wie oft erklärt, eine Antwort nicht ertheilt werden.
H. L. in Leipzig. Es giebt nur private kartographische Anstalten. Die Schule in Potsdam ist längst eingegangen.
- ↑ In den meisten Geschichtswerken und Reisebüchern und falsche Daten der Gefangennahme Hofer’s angegeben, in einigen der 20., in andern der 23., in noch anderen der 27. Januar. Die obige Angabe ist, wie von noch lebenden Kampfgenossen aus 1809 und von Augenzeugen, welche den Gefangenen durch Meran führen sahen, bekundet wird, die allein richtige.
- ↑ „Pinafore“, eine in der englisch sprechenden Welt allbekannte neue Spieloper von Sullivan, deren Melodien dort auf allen Gassen gepfiffen werden.