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Die Gartenlaube (1879)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 49. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig• – In Heften à 50 Pfennig.


Unter'm Schlosse.
Von W. Heimburg.


Wenn man durch das Wasserthor die alte Stadt am Harze betritt, bleibt der Blick, der noch eben auf duftigen Blumenfeldern und üppigen Gärten, auf prächtigen alten Bäumen und der fernen blauen Bergkette geruht, an fast armseliger Umgebung haften, an dunklen, feuchten Gassen mit erbärmlichen Häusern und schauerlichem Pflaster, bevölkert von einer Menge nicht allzu reinlicher Kinder. Vor uns scheinen die hohen Felsen des Schloßberges den Weg zu versperren; sie sind überwuchert von Ligustersträuchern mit spärlichen lila Blüthen; oben, zur halben Höhe, kleben, wie Schwalbennester, kleine Häuser, noch höher hinauf rauschen die dunklen Kastanien des Burggärtleins, und hinter ihnen ragt der alte graue Bau des Schlosses empor, gekrönt von dem Thurm des ehrwürdigen Domes.

Die Straße hier unten windet sich eng zwischen den Felsen hindurch und führt dann steil empor, zum Entzücken der Kinder, weil es sich so wunderschön im Winter auf dem Schlitten hinunter sausen läßt. Dort oben sind die Häuser schon stattlicher, an jedem derselben sieht man eine Steinbank, oder wenigstens vor der Thür ein paar Stufen, die zum Sitzen benutzt werden.

Die Leute, die „unter’m Schlosse“ wohnen – so heißt die Straße – besitzen kleine Gärten, welche jenseits der Gasse steil an dem Schloßberg hinaufklettern und deren Pflege mühsam ist, denn viele, viele Stufen muß das erfrischende Wasser hinaufgetragen werden, und nicht selten reißt ein heftiger Gewitterregen Pflanzen und Erde von den Felsen und plätschert gleich einem Wasserfall die steinerne Treppe hinunter.

Aber heimlich und traut ist es in solch einem Berggarten. Ganz oben an die alte gewaltige Mauer des Schlosses schmiegt sich die schattige Lindenlaube, und aus dem frei geschnittenen Guckfenster kann der Blick hinausschweifen über die Stadt mit ihren vielen altersgrauen Wartthürmen, über gesegnete Felder und Fluren, weit, weit in das Land hinein, so weit, daß man bei hellem Wetter die Thürme des Magdeburger Domes zu erkennen vermag. Und seitwärts, da hebt es sich blau über einander fort, Berg an Berg, und über sie alle ragt die Kuppe des Brockens empor in ewiger majestätischer Ruhe.

Ja, es ist schön in der alten Lindenlaube hier oben, im Garten der verwittweten Frau Stadtmusikus Rose. Das weiß sie auch gar wohl, denn trotz ihrer siebenzig Jahre steigt sie noch jeden Sommerabend die sechsundfünfzig Stufen hinauf, um hier oben ein Feierstündchen zu halten. Da klingt eben die Schelle ihrer Hausthür, und die alte Frau schreitet über die Straße; rechts und links nickt sie freundlich den spielenden Kindern zu, und mit dem Glockenschlage sechs Uhr, der noch einmal so laut hier oben erschallt, ist sie durch die kleine Gartenpforte getreten und beginnt langsam die Treppe zu ersteigen.

Es ist ein eigenartig Gesicht, das da unter der sauberen Haube hervorsieht, voller Falten und Fältchen; zwei silberweiße Locken hangen zierlich aufgesteckt an den Schläfen, und die Nase ist fein, schier zu fein für den Mund unter ihr; noch hält sie den Blick gesenkt und liest sorgsam ein paar Schneckenhäuser von den Stachelbeersträuchern, aber jetzt schauen die Augen auf. Was für ein paar wunderbar junge Augen in dem alten Gesicht! So eigenthümlich in Schnitt und Farbe, und der Ausdruck wie der eines Mädchens, das noch nichts weiter gesehen als lachendes Leben. Ja, die Augen waren jung geblieben, trotzdem sie viel geweint hatten. Deshalb hingen der Frau Stadtmusikus auch alle Kinder an wie die Kletten, und aus Keines Hand schmeckten die kleinen grünen Stachelbeeren oder eine Muskatellerbirne je so süß, wie aus der ihren. Sie selber aber blieb auch gar zu gern bei Kindern stehen und herzte und küßte das oder jenes, und wenn sie ein ganz besonders hübsches sah, so konnten plötzlich bittere Thränen aus den blauen Augen fließen.

Nun trat sie in die Laube und ließ sich, tief Athem schöpfend, auf die Bank nieder. Sie blickte wie prüfend über die terrassenartig hinabsteigenden Gemüsebeete des Gartens, welche von schmalen Wegen durchschnitten wurden, und als ob sie Alles zur Zufriedenheit gefunden in dem engen Reich, schweiften ihre Augen nun in die Ferne, die im vollsten Glanze der Abendsonne duftig und gesegnet vor ihr ausgebreitet lag. So konnte sie stundenlang hinausblicken, als müsse dort etwas sein, das zu ihr solle, als suche sie etwas da draußen in der weiten Welt.

Auf dem Steintische vor ihr lag ein Haufen grüner Bohnen, sowie ein Messer neben einer Schüssel; eine derbe Schürze aus selbstgesponnener Leinwand hing daneben. Ueber die Stirn der alten Frau glitt ein leiser Zug des Mißvergnügens, als sie dies bemerkte. Einen Augenblick wollte sie wohl das Messer ergreifen und die angefangene Arbeit fortsetzen, aber dann nahm sie, wie sich rasch besinnend, ein Strickzeug aus der Tasche, ließ das schneeweiße Baumwollengarn in den Schooß gleiten und begann zu stricken. Ihre Gedanken waren wohl nicht dabei, Gott weiß wo sie umherschweiften; ihre Blicke hingen träumend an den fernen Bergen.

Ueber ihr flüsterten die Zweige der Lindenlaube, und kleine Mauerschwalben schossen zirpend an ihr vorbei, um das Nest in dem alten Gemäuer des Schlosses zu suchen. Unten auf der [814] Straße war es still geworden; das Lärmen der Kinder war verstummt – sie saßen jetzt um das Abendbrod in den Stuben; zuweilen drang ein Peitschenknall und das Knarren eines heimkehrenden Erntewagens herauf; der Abendfriede begann sich über die Stadt zu senken.

Da klang eine Frauenstimme über die Hecke des Nachbargartens in das Ohr der alten Frau, dazu das Weinen eines Kindes.

„Schlaf, schlaf, mein Schäfchen! Ich singe Dir auch etwas:

‚Buko von Halberstadt,
Bring doch unserm Kindchen wat!
Wat sall ick em denn bringen?
Ein Paar Schauh mit Ringen,
Ein Paar Schauh mit Gold beschla’n!
Sall unser Kind drin danzen gahn.’“

Noch einmal wiederholte sich der Gesang – dann wurde es still.

Der alten Frau in der Laube ruhten die Hände müßig im Schooße, sie war in längst vergangenen Zeiten. –

Da schritt sie eben die Stufen hinauf, als junge Frau; hei, wie leicht es ging, obgleich sie eine Last auf den Armen trug. Freilich, diese Last war wunderfein und zierlich: an ihre Wange hatte sich ein blondes Köpfchen geschmiegt und schaute sie an aus großen blauen Kinderaugen.

„Singen, Mutter, singen!

Und da hatte sie das alte Wiegenlied angestimmt:

„‚Buko von Halberstadt –’

Heisa, klein Mäuschen soll tanzen, und Vater spielt dazu.“

Des Kindes glückliches Gesicht stand wieder so deutlich vor ihr; wie war es süß gewesen mit seinen blauen Augen! Alle Leute blieben stehen, wenn sie mit dem Lieblinge auf dem Arme durch die Straßen schritt.

„Das wird ein Staatsmädchen, Tine,“ hatte ihr alter Vater immer gesagt, „da wirst Du was aufzupassen kriegen.“

Ihre Mutter aber hatte oft ängstlich gebeten:

„Tine, laß dem Kinde es doch nicht merken, daß es gar so hübsch ist! Es ist ein kluges Ding, und es wäre schade darum, könnt’ Dir noch leid thun; schau, wie sie sich freut, wenn sie ein buntes Schürzchen an hat! Es wird gar eitel werden.“

Und die alte brave Frau war mit verstelltem Zorne auf die Kleine losgefahren:

„Du bist ein garstig Ding, ein häßlich Mädchen, kein Mensch mag Dich leiden – o pfui!“

Dann lachte das ganze holde Kindergesichtchen und griff nach der Kattunhaube der alten Frau, und die vergaß, was sie eben gesagt, nahm sie in die Arme und küßte sie herzhaft ab und trug sie dann zum Großvater in die Werkstatt; er solle dem Zuckerkindchen ein paar neue blaue Schuhe anmessen.

O das Entzücken, als das kleine Geschöpf zum ersten Mal zierlich die Röckchen faßte und nach des Vaters Geige zu tanzen begann! Es war ganz allein mit ihm im Zimmer, und der eifrige Musikus hatte beide Augen auf die Noten geheftet, aber draußen lauschten sie Alle an der Thür, sie und die Großmutter, der blasse Lehrling und die Nachbarkinder; da drehte sich das Kind glückselig im Kreise; die blonden Locken wehten um das Gesichtchen, und hochroth glühten die Wangen.

Da war sie hinein gegangen und hatte das Kind emporgehoben und es geküßt und geherzt vor lauter Entzücken über seine Schönheit; das war nicht recht gewesen, nein, nein! Sie hatte ihre Strafe schwer bekommen, o so schwer!

Der alte Großvater starb, und sein letztes Wort war noch einmal: „Hab’ ein Auge auf das Mädchen, Tine! Sie ist anders wie die anderen.“

Freilich war sie das, tausendmal hübscher und freundlicher. Ihre alte Mutter schüttelte den Kopf, wenn sie vor Weihnachten Nächte lang aufsaß, um Kleidchen und Hut zu verfertigen, viel schöner, als die anderen Mädchen sie trugen:

„Kind, Tine, Du wirst schon noch einmal sehen, was Du gemacht hast mit Deiner Louise; sie ist nun doch einmal keine Prinzessin.“

Aber dafür hatte sie kein Ohr gehabt; sie war ja zu reizend, die heranwachsende Kleine. Und was träumte sie Alles für das Kind, für ihr ganzes Glück, wie sie zu sagen pflegte!

Ihr Mann, ihr guter, seliger Mann, der so viel älter war als sie, wie oft war er unwillig gewesen, wenn sie sich im Hause abarbeitete und das Mädchen müßig daneben stand!

„So hilf doch Deiner Mutter, Du faule Grethe, was stehst Du da und guckst zu!“

Aber dann hatte sie gelacht und selbst abgewehrt.

„Ei, Heinrich, laß das Mädchen fort! Sie verdirbt mehr dabei als sie hilft; guck doch nur die kleinen Hände – die sind nicht für die Küche.“

Und dann war aus dem Kinde ein schönes Mädchen geworden, und wenn es Sonntags zur Kirche ging, dann stieß die Frau Stadtmusikus das Fenster auf und lugte hinter den Blumen hervor der schlanken Gestalt ihrer Tochter nach; sie konnte nicht immer mitgehen, war sie doch manchmal vor Thau und Tag aufgestanden, um ein duftiges weißes Kleid zu plätten.

Sie meinte das silberhelle Lachen ihres Lieblings wieder zu hören; das hatte ja alle Zeit durch das Haus geklungen; einem Jeden, der sie sah, that sie es an mit ihrem holdseligen, frischen Mädchenwesen; das schmeichelte so süß, das bat so unwiderstehlich – wer sie gekannt, vergaß sie nie. Mit durstigen Athemzügen genoß sie Alles, was solche fröhliche Mädchenjugend ersehnt, und warum nicht? – sie war ja nur zur Freude geschaffen.

Um diese Zeit kam eine Operngesellschaft in die Stadt. Da hatte der Herr Stadtmusikus alle Hände voll zu thun, das Orchester einzuspielen, und allabendlich ging’s in das Theater, denn Freibillets für Weib und Kind gab’s selbstverständlich. Wie leuchteten da die Augen des Mädchens, und wie glockenhell und schalkhaft zierlich sang sie andern Tages alle Melodien nach, die sie gehört!

Mitunter kam auch dieser oder jener von der Theatertruppe in das Haus unter dem Schlosse, am meisten der Tenor; er hatte alle Tage etwas zu fragen oder zu bestellen beim Herrn „Capellmeister“, und einmal, an einem Sonntage, da war er gar hier hinaufgekommen in die Lindenlaube, wo sie mit der Louise gesessen. Er war ein schöner schlanker Mensch gewesen, mit träumerischen schwarzen Augen; nur wenn er sang, dann konnten sie blitzen, und wie hatte er gesungen an jenem Abend! Da stand er vor der Laube und schickte das frische Liedel weit hinaus in die Ferne, und das schöne Mädchen saß auf der obersten Treppenstufe und hielt die Hände eng gefaltet im Schooß, die Augen zu ihm aufgeschlagen in andachtsvoller Bewunderung:

„I weiß nit, wie’s kommet,
I glaub’s immer so:
Da drauß’ in der Ferne
Fliegt’s Glück irgendwo.

I hab’ schon am Dache
Frau Schwalbe gefragt,
Ob sie’s nit gesehen?
Da hat ,Ja!’ sie gesagt.

Da wollt i gern wissen,
Wie’s ausschauen thut?
I wollt’s gerne suchen –
I hätte den Muth.

Da ist sie geflogen
Ueber’s Städtel hinaus;
Sie meint: i soll wandern –
I bleib’ nit zu Haus.“

O, sie wußte noch jedes Wort, jeden Klang; sie sah noch, wie er den Hut von dem dunklen Haar genommen hatte und ihn schwenkte, als grüße er wirklich in der blauen Ferne ein wunderbares Glück, und wie er mit einem Ruck verstummte und zu dem Mädchen niedersah, und sich dann in die Laube hin gesetzt und so blaß ausgesehen hatte, und wie Abends beim Zubettegehen die Louise der Mutter so zärtlich „Gute Nacht!“ gesagt, wie noch nie, und immer wieder die Arme um ihren Hals geschlungen hatte – ja, das Alles war ihr erst später aufgefallen, auch daß das Mädchen mit so leichenblassem, verstörtem Gesichte den Doctor gefragt und immer wieder gefragt hatte, ob der Vater sterben müsse an dem leichten Schlaganfall, der ihn wenige Tage später befiel. „Nein, mein Kindchen; es ist ja nur ein Hexenschuß – keine Angst haben!“ war die Antwort gewesen, und sie, die thörichte blinde Mutter, sie hatte gemeint, das sei die Angst und Sorge gewesen um den Vater. –

Die alte Frau in der Laube stöhnte plötzlich laut auf; der funkelnde Sonnenglanz da draußen war verschwunden, und Schatten lagerten sich allgemach über Felder und Fluren; von dem alten [815] Thurme schwangen sich volle mächtige Glockentöne herab und verkündeten Abendruhe nach heißem Tage. Das summte und dröhnte von dem grauen Gemäuer zurück in gewaltigen Schwingungen, bis es weit in der Ferne erstarb. Jeden Abend hallten diese Töne über die Stadt – auch an jenem Abend, als der Stadtmusikus die Augen schloß.

„Hol’ mir das Kind!“ hatte er sie gebeten, die weinend am Bette niedergekniet war; sie ging und kam dann zurück und hockte sich zitternd an der Bettstatt nieder; das Herz schlug stürmisch in ihrer Brust, so stürmisch, wie das des sterbenden Mannes.

„Ich kann sie nicht finden, die Louise,“ stammelte sie, „ich habe den Lehrling nach ihr geschickt; sie muß gleich kommen.“

Sie hatte in ihrer Herzensangst ein unwahres Wort gesagt – sie wußte es, das Kind würde nicht kommen.

„Es wird Feierabend, Tine, hörst Du wohl die Glocken?“ hatte er gesagt, und dann „grüß mir die Louise, meine –“ und dann war es vorbei.

Sie hatte den Gruß nie bestellt. Wie überhaupt die nächsten Tage über sie hingegangen, das war ihr niemals ganz klar geworden. Das Sterben des Mannes war ja ein leichter Schmerz neben dem, der sie noch getroffen an jenem Abend. Sie wußte wohl noch, daß sie, das Mädchen suchend, bis hier hinauf in die Laube gekommen war – und dort, auf dem nämlichen Tische vor ihr, unter einem kleinen Stein, da lag der Brief, der schreckliche Brief –

Halb von Thränen verwischt waren die Buchstaben gewesen. „Sie wisse, daß die Eltern nie und nimmer ihre Einwilligung geben würden, sie habe ihn zu lieb, sie müsse fort, aber sie wolle wiederkommen, wenn sie was Rechtes geworden sei; sie käme ganz bestimmt, und der Vater möge gesund werden, und er und die Mutter, die liebe Mutter, die sie auch so lieb gehabt, mögen ihr verzeihen; wenn sie reich geworden und eine große Künstlerin, wie er ihr gesagt, dann wolle sie Beiden all das wieder vergelten, was sie an ihr Gutes gethan.“

Das war es – sie hatte Mann und Kind an einem Tage verloren.

„Es sei ja nicht anders möglich,“ hatte die alte halbblinde Großmutter gesagt in ihrem Lehnstuhle am Fenster, die dem lieben Gott bittere Vorwürfe machte, daß er nicht sie statt des noch rüstigen Mannes gefordert; „Kinder sind kein Spielzeug, Tine, aber Du hast nicht hören wollen.“

Das war zu viel. Sie wurde krank, sehr krank; die Nachbarn kamen, um sie zu pflegen, und schalten auf das leichtsinnige Mädchen, das heimlich davongegangen mit einem wildfremden Menschen. Dann fuhr sie jäh empor im Bette; sie konnte ihr nicht einmal zürnen in ihrem Weh. – –

Die alte Frau schrak zusammen – sie gewahrte etwas, was ihre Gedanken in die Gegenwart zurückrief. Ihre Hand fuhr mit dem Taschentuche über die Stirn, dann griff sie eifrig zu dem Strickzeug und ließ die in Thränen schwimmenden Augen die Gartentreppe hinunterschweifen.

Da kam es herauf in anmuthiger Hast, eine leichte Mädchengestalt im einfachen Sommerkleide, goldblonde Flechten um den Kopf gewunden.

„Großmutter!“ rief sie, und blieb ungefähr auf der Hälfte der Treppe stehen, „darf ich mit Minna in’s Theater gehen? Sie geben ,Anne Liese’ – bitte, bitte, erlaube es mir nur dies einzige Mal, liebe Großmutter!“

„Nein!“ klang es zurück, fast schroff und rauh.

Ein Schatten getäuschter Erwartung flog über das eben noch so fröhliche Gesicht, und die dunklen Augen sahen beredt und flehend empor.

„Warum denn nicht?“ fragte sie betreten, „die andern Mädchen gehen alle – und das hübsche Lied, das darin vorkommt, höre doch nur, Großmutter:

,Flieg’ auf, flieg’ auf, Frau Schwalbe mein,
Du sollst mein Liebesbote sein!“

Sie sang es glockenhell.

„Komm herauf, Louise, und schnitze die Bohnen fertig!“ unterbrach die Stimme der Großmutter den Gesang.

Sofort wandte sich das Mädchen.

„Minna,“ rief sie hinunter, „geh’ nur allein! Ich darf nicht mit.“

Dann kam sie herauf, zog einen Stuhl aus der Laube, band sich die Schürze um und fing, die Schüssel auf dem Schooße, in etwas aufgeregter Hast an die Bohnen zu schneiden.

Es war eine auffallend feine Erscheinung, dieses junge Mädchen im schmucklosen Kattunkleide, selbst der Trotz, der um den rothen Mund lag, stand ihr gut, aber er wich bald einem wehmüthigen Zuge, der die Mundwinkel herabzog, und im Umsehen waren zwei große Tropfen über die Wangen herabgerollt und fielen auf die flinken kleinen Hände.

Der alten Frau in der Laube wurde es sichtlich schwer, dies mit anzusehen, aber sie blieb scheinbar gleichgültig beim Stricken und begnügte sich, das Mädchen mit ihren guten klaren Augen unverwandt zu betrachten. So saßen sie schweigend lange Zeit; es war schon dunkel geworden, und das lichtscheue Volk der Fledermäuse begann seine Schlupfwinkel in den Spalten des alten Gemäuers zu verlassen.

„Ich will die Bohnen hinunter tragen,“ sagte das Mädchen endlich und schon sprang sie, die Schüssel in den Händen, die Treppe hinab.

„Falle nicht mit dem Messer, Kind!“ rief ihr die alte Frau nach, aber sie erhielt keine Antwort mehr.

Wohl eine Stunde lang saß sie noch dort oben, allein mit ihren Gedanken; jene schrecklichen Tage zogen wieder an ihr vorüber, die Stunden, als sie in ihrer Stube auf den Knieen gelegen und sich die Hände wund gerungen nach ihrem Liebling. „Wende dich zu mir, Herr, und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend!“ war ihr tägliches Gebet gewesen. Aber sie kam nicht wieder, und alles Nachforschen war vergeblich.

Da endlich, nach drei Jahren, ein Lebenszeichen. „Es sei ihr nicht geglückt, wie sie gehofft,“ hieß es in dem in sichtlicher Eile geschriebenen Briefe, „sie wolle nun mit ihrem Manne nach Amerika, aber – das Kind, das kleine Kind! Ob wohl die Mutter es aufnehmen möge? Sie selbst komme nicht; sie schäme sich vor den Leuten daheim.“

Das war der Brief, der in dem Händchen des Kindes lag, das eine auffällig gekleidete schlumperhafte Person eines Abends im Zwielichte in das Haus unter dem Schlosse brachte, oder vielmehr zur Haustür hinein schob, um dann spurlos zu verschwinden.

Sie hatte das Kind mit einer Freude aufgenommen, als sei ihr die Verlorene wiedergeschenkt, mit Dank gegen Gott, der sich ihrer Verlassenheit erbarmte; sie wollte gut machen, was sie an der Tochter gefehlt, aber sie wollte auch diese wiedergewinnen. Auf’s Neue begannen die Nachforschungen; sie ließ in amerikanische Blätter die Aufforderung setzen, die Tochter möge zurückkehren; sie brauche sich nicht zu schämen, denn die Mutter schäme sich ihrer nicht; das Haus unter dem Schlosse sei groß genug für Alle. –

Erst nach ohngefähr einem Jahre des Wartens traf ein Brief ein, vielfach mit fremden Marken beklebt, und mit nicht zu entzifferndem Poststempel versehen. Es war eine feine Männerhandschrift, welche die Adresse geschrieben, und im Briefe stand von derselben feinen Schrift so klar und deutlich, als sei das Geschreibsel gestochen: wie Unterzeichneter die traurige Pflicht zu erfüllen habe, den Eltern anzuzeigen, daß seine unvergeßliche Frau auf einer Gastspielreise in den Südstaaten nach längerem Kränkeln gestorben sei. Ihr letztes Wort sei ein Gruß an die Mutter gewesen und die Bitte, die Kleine nicht zu verlassen.

Wie die Stadt hieß, in der ihr Kind das müde Haupt zum Sterben gelegt, war nicht angegeben; auch hatte der Gatte es nicht für nöthig befunden, seine Adresse hinzuzufügen; er hatte den Brief nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens unterzeichnet. Es war keine Frage nach seinem Kinde in den wenigen Zeilen enthalten; Alles, was einen ferneren Anknüpfungspunkt gestatten konnte, war sorgfältig vermieden. Sie wußte jetzt nur, daß sie keine Tochter mehr hatte, daß diese gestorben – verdorben war.

Nun durchlebte sie in ihrem armen jammernden Mutterherzen Alles, was ihr Kind erlitten, sah sie mit dem bunten leichtlebigen Theatervölklein von Stadt zu Stadt ziehen, sah sie Abends auf einer elenden Bühne mit Theaterfähnchen behangen in leichtsinnigen Stücken leichtsinnige Rollen spielen, fühlte mit ihr, wie ihr jedes Lächeln zur Qual wurde – sie war ja schon längere Zeit leidend gewesen, wie der Mann schrieb – ob er wohl je ein freundlich Wort für die Erschöpfte gehabt, ob er liebevoll an ihrem Sterbelager gestanden und ihr die heiße Stirn gekühlt hatte? Wer wußte, was für ein Elend sie durchlebt! Wie mochte [816] sich das arme junge Weib gesehnt haben nach der Mutter, nach dem trauten Vaterhause, wie tief bereut haben, daß sie gegangen!

Sie rang sich die Hände, wenn ihr diese und ähnliche Gedanken kamen, und erst wenn sie den Brief immer wieder las, der die Gewißheit brachte, daß ihr Kind ausgekämpft habe und in Frieden schlummere, erst dann konnte sie ruhiger werden.

Und nun wandte sich ihr Mutterherz ganz und voll der Enkelin zu. Wie ein hohes unverdientes Glück kam es ihr vor, als wieder kleine Füße durch das Zimmer trippelten und ein paar Aermchen sich zärtlich nach ihr ausstreckten. „Kinder sind kein Spielzeug,“ flüsterte sie vor sich hin, wenn sie in überwallender Zärtlichkeit das Kind an sich reißen wollte, und dann zwang sie sich gewaltsam zur Strenge. Kein buntes Tüchelchen, kein Püppchen, nichts, gar nichts, wonach ein Kinderherz sich sehnt, bekamen die kleinen verlangenden Hände, und den Tadel der Leute, daß das arme Häschen auch gar so armselig aufgezogen, gar so streng gehalten werde, ertrug sie schweigend. Die Leute sahen es ja nicht, wie sie die Nächte stundenlang an dem Bette des Kindes knieete und ihm mit leisem Flüstern erzählte, warum sie ihm so viel versagen müßte, wie oft sie die schlafenden Augen küßte und die Fingerchen, die schon so fleißig stricken mußten!

„Du Herzenskind, Du dankst es mir noch einmal, daß Deine Großmutter so barsch mit Dir war, dann, wenn Du eine brave, fleißige Hausfrau geworden bist.“

Und nun wandern die Gedanken in die Zukunft; da wohnt nebenan der junge Tischlermeister, der jetzt das große Möbelmagazin baut; ist es ihr doch, als ob er mehr nach dem hübschen Mädchen guckt, als just nöthig sei – o, wenn das wäre, und wenn die Louise – welch ein Glück! Wie ruhig könnte sie sterben, das Mädchen in solchem Schutze zu wissen! Aber der wollte sicher nicht das Kind einer Davongelaufenen, von Theatersleuten – und sie ist doch so gut, so hübsch, fast ebenso hübsch wie ihre Mutter. Ach ja, der Väter Sünde rächt sich an den Kindern.

Seufzend erhob sie sich und schritt die Stufen hinunter; die Fenster des Wohnzimmers waren noch dunkel. Ob sie nur noch im Finstern saß und weinte? „Armes, dummes Ding, sie weiß gar nicht, wie gut ich es mit ihr meine.“

Sie schloß die Gartenthür und trat gleich darauf in den dunklen Hausflur: „Mach’ ein bischen Licht, Lieschen! Ich kann nicht sehen,“ rief sie, aber es rührte sich nichts im ganzen Hause, nur die alte Schwarzwälderin tickte eintönig weiter, und die Hauskatze strich mit leisem Miauen an ihren Kleidern vorbei. Sie ging in die finstere Stube. „Lieschen?“ fragte sie leise; dann öffnete sie das Fenster: „Lieschen, Lieschen!“

Keine Antwort.

„Sie trotzt heute wohl gar?“ murmelte sie und setzte sich geduldig wartend in den Stuhl zurück.

Vom Thurme schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde – das Mädchen wollte nicht kommen; endlich tönten zehn langgezogene Glockentöne vom Schlosse herab und schlugen mahnend an das Ohr der alten Frau.

„Jetzt hört’s auf ein Spaß zu sein,“ sagte sie, sich emporrichtend; „Lieschen, Louise!“ rief sie wieder hinaus in die stille Sommernacht; man konnte doch sonst so gut jeden Ruf vernehmen dort oben in den Gärten, und vielleicht war sie doch dort bei Nachbarsleuten. – Keine Antwort; nur eine Fledermaus flatterte unheimlich scheu am Fenster vorüber.

Der alten Frau stand das Herz plötzlich still; wie, wenn sie doch in’s Theater gegangen? heimlich gegangen?

Sie legte die Hände vor die gefurchte Stirn. „Wenn sie das thäte, dann –“ Sie mochte es nicht ausdenken. Und doch, und doch! Könnte dann nicht noch einmal ein Tag kommen, an dem sie vergeblich rufen und suchen würde, wie dazumal, an jenem schrecklichen Tage? Wenn sie heute heimlich ging, wohin sie nicht sollte – konnte sie dann nicht auch ganz von ihr gehen? Hatte sie es denn damals gemerkt, daß ein Liebesverhältniß hinter ihrem Rücken spielte, eine Flucht geplant wurde?

Aber nein, nein, sie kommt noch; sie wird bei Nachbars Hannchen sein; wie kam sie auf ein solches Mißtrauen! Wie sie darauf kam? Als ob sie nicht getäuscht worden war, auf die grausamste Weise – und floß nicht der Eltern leichtes Blut in den Adern des Kindes?

Sie hatte plötzlich die Stubenthür geöffnet und war hinausgetreten vor die Hausthür; das Herz klopfte ihr, daß sie meinte, es hören zu können. „Lieschen!“ rief sie nochmals zu dem Garten empor, aber ihre Stimme zitterte.

„Guten Abend, Frau Rose,“ sagte vorübergehend ein Mädchen.

„Hast Du Lieschen nicht gesehen, Hannchen? Ich meinte, sie wäre bei Dir –“

„Bei mir? Nein; ich denke, sie ist im Theater; sie hat heut den ganzen Tag von weiter nichts geredet.“

„Schön Dank!“ sagte die alte Frau mit verlöschender Stimme.

„Gute Nacht, Frau Rose!“

Des Mädchens Schritte hallten durch die Nacht, dann wurde es wieder still auf der Gasse wie zuvor.

In dem Kopfe der alten Frau drehte sich eine ganze Welt von schrecklichen Möglichkeiten. „Sie ist fort,“ war das Einzige, was sie fassen konnte. Noch nie, so lange das Kind bei ihr war, hatte es sich je suchen lassen, und – richtig, es war so ganz anders in der letzten Zeit, so still, so nachdenkend, so – sie wußte selbst nicht wie.

Mit wankenden Schritten ging sie über die Straße; wohin sie wohl eigentlich wollte?

„Lieber Gott im Himmel, laß mir doch das Einzige, was ich noch habe, laß es mich nicht erleben, daß sie mich hintergeht!“ murmelte sie halblaut vor sich hin.

„Sie suchen wohl Lieschen, Frau Rose?“ fragte eine ruhige Männerstimme neben ihr.

„Herr Jesus! Gevatter, wißt Ihr’s – wo ist sie?“

„Nun, nun! Ihr seid ja ganz aus dem Häuschen; freilich weiß ich’s, aber ob ich’s verrathen darf, ist ein ander Ding.“

„O Gott, Gevatter, nur heraus damit – sie ist im Theater, nicht wahr?“

„Nun ja, so was Aehnliches ist’s wohl schon, wenigstens ist ein erster Liebhaber dabei. Guckt, drinnen sitzt sie mit meinem Bengel, dem Fritz, und sie herzen und küssen sich, die losen Vögel, gelt, Frau Gevatter, das hättet Ihr nicht gedacht, daß wir zwei Beide noch einmal verwandt werden sollten?“

„Mit dem Fritz?“ stammelte die alte Frau, und das Bild des jungen fleißigen Tischlermeisters stieg vor ihr auf – ihr Lieschen saß da mit dem Fritz? „Wo? Wo denn?“ rief sie dann und faßte in zitternder Hast nach der Hand des stattlichen Mannes; Hand in Hand gingen sie vor das Fenster des Nachbarhauses und blickten spähend hinein.

In dem Sorgenstuhle des Hausherrn am Ofen dehnt sich behaglich eine große Katze; am Tische vor der Lampe spinnt eifrig die alte Hausfrau, dort hinten aber, unter der Epheulaube, auf dem kleinen Korbsopha, sitzt der hübsche junge Meister, und hält ein über und über erglühendes Mädchen in den Armen.

Lange stehen sie stumm neben einander, die beiden Alten, und schauen das junge Liebespaar; ein Jedes von ihnen hat seine eigenen Gedanken.

„Der Himmel sei gelobt!“ flüstert die alte Frau endlich vor sich hin, und lächelt über die thörichte Angst, die sie gehabt; wie war sie nur auf so dumme Gedanken gekommen? Dabei tropft eine Thräne über die andere auf ihre saubern Haubenbänder, und dann schleicht sie sich leise fort, und bald sitzt sie wieder im einsamen Stübchen am Fenster. Hinter den gezackten Giebeln des alten Schlosses droben steigt eben der Mond empor; er wirft sein bläuliches Silberlicht über Häuser und Gärten und lugt durch die Monatsrosen und Geranien in das Gesicht der alten Frau; zum ersten Male seit langen Jahren liegt ein Lächeln des Glückes um ihren Mund. Eng gefaltet ruhen die Hände; sie denkt an ein Grab, das irgendwo in weiter, weiter Welt liegen muß, ungehegt und ungepflegt, aber sie denkt sein in Frieden – das Kind ist geborgen; sie soll glücklich werden, die Liese.

Da gleiten ein paar Schatten am Fenster vorüber; leise Schritte knistern auf den Sandsteinstufen draußen – dann noch ein Flüstern und Raunen; behutsam wird die Hausthür aufgemacht, und im nächsten Augenblick sinkt eine helle Mädchengestalt neben der alten Frau nieder; der blonde Kopf birgt sich in ihren Schooß, und weich und bebend klingt es:

„Großmutter, herzliebste Großmutter!“

Die alte Frau nimmt das Köpfchen zwischen ihre beiden Hände und sieht voll in das hübsche Mädchengesicht.

„Ei, Liese, Du bist mir gewiß noch recht böse, weil ich nicht haben wollte, daß Du im Theater des alten Dessauers erste Liebe sehen solltest, wie?“

[817]

Der erste Schnee.
Nach seinem Gemälde auf Holz gezeichnet von W. Claudius.

[818] „Ach nein, Großmutter,“ erklärte sie in holder Verlegenheit, „es war nicht um die ‚Anne Liese’, daß ich weinte, nein, gewiß nicht, aber er, der Fritz wollte – dem Fritz seine Schwester, die fragte, ob ich nicht mit ihnen hingehen möchte, und – dann wie ich nicht durfte, ist er auch nicht gegangen, und dann saß ich hier vor der Hausthür; da ist er gekommen und hat mich zu seiner Mutter geholt, und morgen wollte er auch zu Dir –“

„I, was mag er denn nur wollen, Liese?“

„O Großmutter, liebste Großmutter, kannst Du Dir es denn gar nicht denken?“

„Und bist Du denn glücklich, Liese?“ flüsterte die alte Frau.

Das Mädchen nickte und schlang auf’s Neue die Arme um den Hals der Großmutter. –

Am folgenden Abend saß im Gärtlein, droben in der Laube ein junges Brautpaar der alten Frau Rose gegenüber, und die frischen Lippen des Mädchens erzählten schelmisch dem Bräutigam von der Angst, welche die Großmutter gehabt, als sie gestern Abend nicht zu finden war. Die alte Frau lächelte auch, dann aber fing sie an zu erzählen, all das, was auf diesen Blättern steht. Ueber ihr bewegten sich flüsternd die Lindenzweige der Laube; sie konnen ja auch ein Wörtlein mitreden von der, die einst ihr Elternhaus verließ. Die Ferne lag in goldiger Abendbeleuchtung; tiefviolett grüßten die Berge herüber.

Von dem jungen, leicht erblaßten Gesichte des Mädchens aber verschwand das Lächeln; sie hatte die Hand ihres Bräutigams ergriffen und sah mit feuchten Augen in das Land hinaus. Irgendwo weit, weit da draußen, da war ein Grab, das ihr gehörte – wer wußte wo?




Schutzgewohnheiten der Thiere.

Von G. H. Schneider.

2. (Schluß.) Mittel und Wege zum Unkenntlichmachen (Maskiren).

Der herbe Kampf um’s Dasein drängt sowohl die Thiere wie die Menschen dazu, sich aller ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu bedienen, um entweder Andere zu überwinden, oder, was noch viel allgemeiner und für Alle gleich wichtig ist, sich den Verfolgungen Stärkerer zu entziehen, und das Maskiren ist für beide Zwecke, namentlich aber für den zweiten, eines der verbreitetsten und zugleich interessantesten Mittel.

Der Mensch bedient sich der Masken Thieren gegenüber lediglich, um diese leichter in seine Gewalt zu bringen. Der Indianer nähert sich den Büffeln unter einer Büffelhaut und bedeckt sich bei der Condorjagd mit einer Kuhhaut. Der Straußenjäger schmückt sich oft mit einem Balge des Riesenvogels, um sich unter dieser täuschenden Decke besser an sein Opfer heranschleichen zu können, und in Europa ahmt der Jäger, wie allgemein bekannt, die Stimmen des Rothwildes und der Vögel nach, um diese vor seinen Flintenlauf zu locken. Seines Gleichen gegenüber wendet er ähnliche Verwandlungen mehr nur zum Schutze an; er wechselt die Kleider, nimmt eine Maske vor, schwärzt das Gesicht oder verstellt seine Stimme; manche Wilde nehmen, sobald sie in die Gefahr kommen, vom überlegenen Feinde entdeckt zu werden, ganz merkwürdige, bizarre Stellungen ein in der Weise, daß die Gruppe aus der Ferne wie eine Anzahl niedriger Baum- und Aststumpfen aussieht, und ist diesen Stellungen verharren sie regungslos so lange, bis alle Gefahr vorüber ist.

Eine große Anzahl thierischer Wesen, ja, mehr oder weniger alle vom Menschen noch nicht gezüchteten Thiere haben von Natur schon eine treffliche Maske in ihrer Farbe und Form, welche in geringem Maße immer, zuweilen aber ganz auffallend derjenigen ihrer Umgebung, das heißt ihres gewöhnlichen Aufenthaltsortes angepaßt ist. Dadurch sind die betreffenden Individuen schwer von den sie umgebenden Dingen zu unterscheiden, also nicht leicht als Thiere zu erkennen; und das geht oft so weit und ist so allgemein, daß man schon aus der Farbe eines Thieres dessen Wohnort zu bestimmen vermag. Die Thiere des hohen Nordens, welche meist auf Schnee und Eis leben, sind im Allgemeinen weiß; die der Wüste haben eine gelbe oder gelbbraune Farbe; solche, die sich auf grünen Pflanzen aufhalten, sind grün gefärbt, und andere, welche auf irgend einem dunklen Gesteine ihre Existenz fristen, zeigen die dunkle Färbung desselben. Deshalb sind Thiere derselben Gattungen je nach ihrem Wohnort oft ganz verschieden gefärbt. Der Hase unserer Felder gleicht, wenn er sich geduckt hat, der Ackererde; sein Vetter, der die Schnee- und Eisfelder bewohnt, ist weiß. Der arktische Bär hat die Farbe des Eises, der graue Bär unserer Gebirge diejenige der dunklen Felsen und Wälder. Auch die Schnee-Eule ist, entsprechend ihrem hochnordischen Aufenthaltsort, besonders im Alter vollständig weiß. Noch zweckentsprechender ist die Eigenthümlichkeit mancher Polar- und Hochalpenthiere, die Färbung ihres Haar- oder Federkleides der Jahreszeit angemessen zu verändern und im Winter die Maske des weißen Schnees, im Sommer dagegen die der dunklen Erde anzunehmen, wie das vom Schneehuhn allgemein bekannt ist.

Aber nicht allein der Gegensatz von Winter und Sommer, von weißen Schneefeldern und dunklen Landflächen bedingt eine derartige Farbendifferenz der Thierkleider, sondern auch jeder andere Licht- und Farbengegensatz in der Natur steht in Beziehung zu einer entsprechend verschiedenen Färbung der Thiere.

Die Adler, Falken und Eulen tragen die rothbraune Farbe der Felsen, in denen sie nisten; die Möven dagegen, welche immer über dem Wasser schweben, zeigen das Blaugrau des wolkenlosen Himmels oder das Silberweiß der schäumenden Meereswellen. Viele Papageien haben die Farbe der Baumkronen, in denen sie sich geschickt zu verstecken wissen, während Rebhühner, Trappen, Schnepfen und andere Vögel dem Boden gleichen, auf dem sie ihre Nahrung oder ihre Schlupfwinkel suchen. Die Wüstenhühner tragen die feinsten Schattirungen des Bodens auf ihrem Gefieder, sodaß sie sich nur ruhig hinzulegen brauchen, um unsichtbar zu sein, das heißt: ein Stück Wüste zu scheinen. Die Farbenpracht tropischer, etwa brasilianischer Vögel entspricht derjenigen der üppigen Flora dieser Länder, während die Vögel, welche unter meist grauem Himmel und auf blumenarmen Feldern leben, weit geringeren Farbenreichthum auf ihrem Gefieder tragen.

Noch auffallender als bei Vögeln und Säugethieren ist diese Anpassung an die Farbe der Umgebung bei niederen Wirbelthieren und bei Insecten. Die meisten Heuschrecken, welche zwischen dem Grase ihr Wesen treiben, und die Blattläuse, welche sich an grünen Stengeln und Blättern aufhalten, sind ihrer Umgebung entsprechend grün gefärbt. Die Schmetterlinge sind bunt wie Blumen, oder ähneln dürrem Laube, wie die Raupen den Rinden oder Blättern, auf denen sie geboren wurden. Die Raupen des rothen Ordensbandes z. B. haben die Farben der Pappeln und Weiden, auf welchen sie sich ernähren; der Pappelschwärmer sieht aus der Ferne einem dürren Pappelblatte zum Verwechseln ähnlich, und die Eier des Fichtenschwärmers sind grün wie die Nadeln, an die sie geklebt wurden.

Auch bei den See- und Süßwasserthieren ist diese sogenannte „sympathische Farbenwahl“ vielfach zu beobachten. Die meisten freischwimmenden Fische gleichen in ihrem Silberweiß dem schäumenden Wasser, während der Zitteraal die Farbe der Wasserpflanzen hat, zwischen denen er sich aufhält, und die Grundfische wie der Sand und Schlamm aussehen, auf welchem sie ihre Beute erlauern. Eine Menge der freischwimmenden, sogenannten pelagischen Thiere dagegen, wie die Quallen, Ruderschnecken, Mantelthiere, pelagische Krebse und Fische sind farblos und durchsichtig wie das Wasser. Die Krabben leben alle zwischen grünen Seepflanzen oder zwischen Steinen, die mit solchen bewachsen sind, und fast ausnahmslos sind sie selbst grün. In Neapel machte man vor etwa zwei Jahren eine interessante Entdeckung. Auf der sogenannten „Zecca“ (ein erhöhtes Plateau im Meere zwischen Ischia, Capri und dem Posilipo) fand man eine Stelle, an welcher alle Thiere ganz intensiv roth gefärbt sind. Der Seegrund ist dort noch nicht genügend untersucht, aber ich vermuthe, daß er selbst roth oder mit rothen Algen bedeckt ist.

Durch eine derartige Anpassung an die Farbe des Aufenthaltsortes gelingt es einmal dem Räuber leichter, sein Opfer zu beschleichen, da er von diesem nicht leicht erkannt wird; in den meisten Fällen aber bildet die „sympathische Farbenwahl“, wie sie [819] Darwin nennt, einen directen Schutz gegen Verfolger, welche gar oft an den Beutethieren vorbeikommen, ohne sie zu erkennen.

Am vollkommensten ist nun dieser Schutz durch die Farbenmaske bei denjenigen Thieren, deren Farbe sich bei jeder Ortsveränderung durch einen eigenthümlichen Lebensproceß der neuen Umgebung anpaßt, welches Vermögen, wie ich in Nr. 42, Jahrg. 1878 der „Gartenlaube“ schon bemerkte, sehr viele Fische, vorzugsweise die Flachfische, Drachenköpfe, Grundeln, Bachforellen und andere, ferner alle Kopffüßler und sehr viele Eidechsen und Baumfrösche, letztere in sehr hohem Maße, besitzen. Vom Chamäleon ist dasselbe allgemein bekannt, aber auch die Blutsauger-Echsen und Leguane ändern ihre Farbe sehr leicht, der Arrad, sowie die Schiller-Echsen übertreffen hierin noch das Chamäleon, und viele Baumfrösche erscheinen nach jedem Sprung anders und zwar dem neuen Orte gleichgefärbt, sodaß man sie auf den ersten Blick fast immer für Blätter oder Astknorren hält.

Die Anpassung an die Umgebung, das Maskiren zum Schutze der Thiere erstreckt sich aber nicht allein auf die Farbe, sondern auch auf die Form, und offenbart sich hierin in der verschiedensten, oft geradezu in komischer Weise.

So haben die Raupen des rothen Ordensbandes seitliche Franzen, welche sich derartig an die Unterlage anschmiegen, daß das Thier zum Aste zu gehören, ein Stück Rinde zu sein scheint. Die Flügel des wandelnden Blattes sehen, wie bekannt, einem wirklichen Blatte zum Verwechseln ähnlich; auch die Blattrippen und die Verästelungen derselben sind an dem Thiere täuschend nachgebildet, und dazu sind die Schenkel noch in einer Weise verbreitert, daß sich diese Heuschrecke erst bei genauerem Ansehen als Thier erkennen läßt. Aehnlich blätterartig sind die Flügel des Gespenstlaufkäfers geformt. Auch manche Raupen, z. B. die Spannerraupen, gleichen in ihrer steifen Ruhelage täuschend einem kleinen Zweigstummel. Viele andere Schmetterlingsraupen sind durch Franzen und lappenförmige Anhänge für den ersten Blick ganz thierunähnlich gemacht. Tropische Spinnen aus der Familie der Taranteln haben überall am Leibe hornförmige Höcker, blasige Auftreibungen, Auswüchse und Erweiterungen der Beine, sodaß sie schwer als Spinnen zu erkennen sind, und wegen ähnlicher Formenspiele sind viele Zirpen, z. B. die Buckel-, Dorn-, Knoten-, Schlangen- und Helmzirpen etc. unkenntlich.

Die Pentacta, eine Seegurke (Holothurie), hat büschelförmige Kiemen, welche man sehr leicht für Algen hält; auch den Kehlfußflohkrebs unterscheidet man schwer von den Algen, auf denen er lebt. Die schlanke Asselspinne sieht dagegen wieder aus wie ein Complex von feinen Fäden und Halmen, und auch die geisterhaft schlanke Gestalt der langstirnigen Spinnenkrabbe scheint aus umgeknickten feinen Reisern zusammensetzt zu sein. Fast noch thierunähnlicher als diese sind zwei andere Krabben (Lissa und Pisa), von denen immer mehrere Exemplare im Neapolitaner Aquarium vorhanden sind und welche in ihrer Ruhestellung von Laien meist für knollige Steine gehalten werden, um so mehr als sie immer mit Moosthieren, Infusorien, Korkpolypen u. a. Thierstöcken bewachsen sind, eine Auszeichnung, die sie ihrer grenzenlosen Trägheit zu verdanken haben.

Manche Fische, wie z. B. die Drachenköpfe, sind am ganzen Leibe mit verschieden gefärbten Franzen bedeckt, die genau so aussehen, wie die verschiedenen Algen, welche die Steine gewisser Regionen regelmäßig bedecken, und hat sich nun ein solcher Fisch an einen derartigen Stein geduckt, so scheint er ganz ein Stück desselben zu sein. Das Aeußerste in der Seepflanzenähnlichkeit leistet aber, wie schon der Name andeutet, der Fetzenfisch, dessen Körper überall in lange flatternde, gewissen Algen täuschend ähnliche Fetzen und Lappen ausläuft.

Die Natur geht aber in ihrer scheinbaren Spielerei und Laune noch weiter. Zuweilen giebt sie, wie uns Darwin gezeigt hat, sehr verfolgten Thieren die Farbe und äußere Form ganz anderer Arten, welche weniger von Nachstellungen zu leiden haben, und betrügt so geradezu die betreffenden Räuber. Diese „Mimicry“ oder Nachahmung anderer Thiere ist namentlich bei einigen Schmetterlingen ausgebildet, denen sehr von Vögeln nachgestellt wird.

Wie erklären sich nun all diese individuell äußerst zweckmäßigen Anpassungen der Farbe und der Nachbildung anderer thierischer Individuen, durch welche das wahre Wesen eines Thieres maskirt wird?

Die Religionslehre sieht hierin die Allweisheit Gottes, gewisse Philosophen die Willensäußerungen einer „Erdpsyche“, einer „ Weltseele“, eines „Willens in der Natur“ oder eines „unbewußten Weltprincips“. Der Darwinismus dagegen betrachtet derartige Erscheinungen als die Folgen der Selection, der natürlichen Zuchtwahl, wie diese durch den Kampf um’s Dasein bedingt ist.

Die Zweckmäßigkeit, welche in solchen Erscheinungen den betreffenden Individuen zu gute kommt, leuchtet sofort ein, und es ist begreiflich, daß man darauf gekommen ist, sie auf den Willen eines denkenden Weltgeistes zurückzuführen. Ich bemerke übrigens, daß diese Zweckmäßigkeit wie diejenige anderer Erscheinungen, welche ich in Nr. 42, Jahrg. 1878 der „Gartenlaube“ erwähnte, nur individuell ist; denn ist z. B. das für seine eigene Existenz zweckmäßig maskirte Thier ein Räuber, der dieser Maske halber von seinen Opfern schwer erkannt wird und letztere deshalb um so leichter beschleichen kann, dann ist diese für den Räuber so zweckmäßige Anpassung für dessen Opfer zugleich im höchsten Grade unzweckmäßig. Hier gilt also der Satz des classischen Philosophen Demokrit, daß entgegengesetzte Behauptungen gleich wahr seien. Indessen ist die Darwinistische Erklärung, wonach das individuell und relativ Zweckmäßigere deshalb vorhanden ist, weil es in seiner Natur liegt sich zu erhalten, während das weniger Zweckmäßige im Kampfe um’s Dasein zu Grunde geht, bei weitem die vollkommenere und findet eine starke Unterstützung darin, daß Anpassungen, wie die hier genannten, sich bei solchen Thieren am auffälligsten, am weitesten entwickelt zeigen, welche den meisten Verfolgungen ausgesetzt sind. „Mimicry“ im engeren Sinne kommt nur bei äußerst vielseitig gefährdeten Thieren vor. Am verbreitetsten ist die „sympathische Farben- und Formwahl“ bei den Insecten und den Krebsen, erstern wird aber von Singvögeln, letztern von Polypen (Kraken) ungemein nachgestellt. Die auffälligere Anpassung dieser Art beschränkt sich überdies auf solche Thiere, welche nicht befähigt sind, sich durch andere Mittel, etwa durch rasche Flucht den Verfolgern zu entziehen, oder welche als Räuber wenig geschickt sind die Beute zu verfolgen, weshalb sie ohne ihre Masken gar bald im Kampfe um’s Dasein zu Grunde gehen würden.

Für die herumschweifenden Thiere wären aber alle diese zweckmäßigen Anpassungen nutzlos, wenn sie es nicht verstünden, bei Gefahr oder zur Ruhe auch wirklich die ihrer Maske entsprechenden Orte herauszufinden und dort die zur Täuschung geeignete Stellung einzunehmen. Hierzu beweisen aber alle entwickelteren Thiere eine sehr vollkommene Unterscheidungsgabe, die besonders bei den Vögeln unsere Bewunderung in hohem Maße verdient. Schon die Krabben kennen die ihnen gleich gefärbten Steine gar wohl, und die Schmetterlinge wissen zur Ruhe immer die ihnen ähnlichst gefärbten Blumen zu finden. Die Drachenköpfe unterscheiden bis auf die feinsten Nüancen und Schattirungen diejenigen Steine und Algen, welche sich am besten für sie zum Ducken eignen, und die Baumfrösche halten sich nie längere Zeit auf einem Aste auf, dessen Farbe sie nicht annehmen können.

Am besten unterscheiden aber die Vögel, vorzugsweise die Hühner, Reiher- und Laufvögel, die geeignetsten Oertlichkeiten, an denen sie am schwersten zu erkennen sind. Junge Trappen, Mornells, Kraniche, Auerhühner, Feldhühner und andere sind im nächsten Augenblick, nachdem die Mutter gewarnt hat, nicht mehr zu sehen und äußerst schwer zu finden, so passend haben sie den Ort zum Niederducken ausgewählt, und im vollen Bewußtsein des Werthes dieser Gleichfarbigkeit verharren sie dort regungslos in ihrer geduckten Stellung so lange, bis die Mutter wieder ruft und damit anzeigt, daß die Gefahr vorüber ist. Schnepfen, welche sich geflüchtet und irgendwo niedergeduckt haben, findet auch der geübteste Jäger meist nicht ohne die Spürnase des Hundes, weil er sie von der nächsten Umgebung nicht unterscheidet, obgleich sein Auge oft über sie hinstreift.

Auch alle Säugethiere verstehen es mehr oder minder, die geeignetste ihnen gleichsehende Oertlichkeit zum Ducken zu wählen, wiewohl nicht entfernt in dem Maße wie die erwähnten Vögel.

Anpassung an die Farbe und Form des gewöhnlichen Aufenthaltsortes, durch unbewußte natürliche Selection im Kampfe um’s Dasein bewirkt, und willkürliches Aufsuchen dieser Orte zum Fressen, Ruhen, Sonnen und Schlafen, welches eine Unterscheidung derselben voraussetzt, bedingen sich gegenseitig und weben immer in einander, und es ist nicht in jedem Falle zu entscheiden, welches Moment das Uebergewicht hat. So weit der gleichartige Ort [820] zum gewöhnlichen Aufenthalte dient, ist diese Uebereinstimmung unwillkürliche Anpassung durch natürliche Selection, so weit aber das Thier bei Gefahr dorthin flieht und sich dort duckt und ruhig verhält, im Bewußtsein, so nicht leicht gesehen, respective erkannt zu werden, beruht die Gleichfarbigkeit auf der Unterscheidung und dem Willen.

Auf reine Intelligenz ist jedenfalls ein höchst interessantes Mittel zurückzuführen, durch welches sich der in Moorgegenden brütende Kranich unkenntlich zu machen sucht. Er schminkt sich nämlich. Sobald ihn das Brutgeschäft längere Zeit an sein Nest fesselt, nimmt er, sich seiner von der Umgebung abstechenden Färbung wohl bewußt, die rothe Moorerde in den Schnabel, zieht die einzelnen Federn durch denselben und färbt so sein ganzes Gefieder roth, macht es also in der Farbe der Umgebung gleich; er ist jetzt nur schwer in derselben zu entdecken. Die Schlauheit des Kranichs ist so über allen Zweifel erhaben, daß man hier unbedenklich Bewußtsein vom Nutzen der Schminkprocedur annehmen darf.

Eine andere Gewohnheit, die das Unkenntlichwerden bezweckt und die, ohne allgemeiner verbreitet zu sein, doch in den verschiedensten Thierclassen wieder auftaucht, ist das Bedecken mit den Dingen der nächsten Umgebung. Schon die Seeigel, ebenso große Räuber, wie gesuchte Leckerbissen, heften ihre langen, immerwährend hin und her tastenden Saugfüßchen an die nächstliegenden Algenfetzen, Steinchen und Muschelschalen, ziehen dieselben dann an sich und bedecken nach und nach ihren ganzen kugelförmigen Körper damit. Wie meisterhaft es manche Krabben, namentlich die Seespinnen verstehen, sich durch Maskiren mit den Dingen der nächsten Umgebung unsichtbar zu machen, habe ich bereits in Nr. 41, Jahrg. 1878 der „Gartenlaube“ geschildert. Die Rochen und Schollen überschütten sich zu gleichem Zwecke mit Sand.

Da dieses ungemein zweckentsprechende Schutzmittel, soll es im vollen Bewußtsein der Nützlichkeit angewendet werden, eine außergewöhnliche Intelligenz voraussetzt, so müssen wir die Entstehung dieser Gewohnheit bei den niederen Thieren, z. B. beim Seeigel, fast ausschließlich der Selection zuschreiben. Bewußt übt sie beispielsweise der Rüsselseehund. Will sich derselbe der Ruhe auf dem Lande hingeben, so bewirft er sich, ähnlich wie die Flachfische, mit Sand, wodurch er sich nicht nur gegen die Sonnenhitze schützt, sondern auch maskirt, indem er dann leicht für einen Felsen oder Sandhaufen gehalten werden kann.

Bei den Vögeln gelten ähnliche Schutzmittel meist der Brut. Während alle Vögel zum Nestbau mehr oder weniger solche Stoffe zu wählen verstehen, welche in der Färbung möglichst wenig von der unmittelbaren Umgebung abstechen, überziehen Zeisig und Edelfink noch außerdem das Nest so geschickt mit denselben Flechten, welche die Rinde des Baumes bedecken, daß auch der Kundige Mühe hat, dasselbe zu entdecken, und Unkundige es fast immer für einen Baumknorren halten. Uebrigens macht auch die Mooshummel ihr Nest durch Bedecken mit Moos unkenntlich.

Wie viel die Art des Duckens, das heißt die Körperstellung zur Unkenntlichkeit beitragen kann, weiß der Wiedehopf gut zu schätzen. Er stürzt, wenn sich ein schlimmer Feind naht, aus der Luft herab, breitet die Flügel glatt auf dem Boden aus, legt den Kopf zurück und streckt den Schnabel in die Höhe, sodaß er für den ersten Blick ganz unkenntlich ist.

Eines höchst eigenthümlichen und, wie es scheint, auf reiner Schlauheit beruhenden Kunstgriffes bedient sich der Wendehals. Naht sich ihm ein gefürchteter Feind, so dehnt er den Hals lang aus, dreht ihn langsam und macht damit die Bewegungen einer Schlange nach. Wird er nun auch gerade nicht für eine solche gehalten, so erscheint er doch seinem Verfolger dann leicht als ein fremdartiges Wesen, und da alle Thiere gegen jedes ihnen Unbekannte sehr mißtrauisch sind, so entgeht der Wendehals durch seine willkürliche „Mimicry“ leicht der Gefahr.

So findet sich denn eine auffallende Uebereinstimmung in den Mitteln zum Unkenntlichmachen, welche unbewußt durch die Selection erworben sind, und solchen, welche auf instinctiven Empfindungs- und Wahrnehmungstrieben beruhen oder aus Zweckvorstellungen entspringen.




Idyll.[1]

Tripp und trapp – tripp und trapp!
Trepp’ hinauf und Trepp’ hinab!
Sind es Mäuslein, die da laufen
Hin und her in lust’gem Haufen?
Sind es Rehlein, die da jagen
Wie es sonst im grünen Hagen
   Sitte war?
Nein, ach nein, ’s ist ja nur meine
   Liebe kleine
Grenzenlos unbänd’ge Schaar!

Tripp und trapp – tripp und trapp!
Zimmer auf und Zimmer ab!
Habt Erbarmen, Bösewichter –
Euer Vater ist ein Dichter,
Doch bei solchem Lärm und Lachen
Mag ein Andrer Verse machen!
   Darum geht!
Oder kann des Geistes Wehen
   Der verstehen,
Der sich selber kaum versteht?

Tripp und trapp – tripp und trapp!
Gott sei Dank, sie ziehen ab!
Eine Pforte hör’ ich fallen,
Ruf und Schritte fern verhallen.
In die leergewordnen Räume
Kehren die verscheuchten Träume
    Mir zurück;
Wieder fühl’ ich wonnig Leben
    Mich umschweben –
Hätt’ ich öfter doch das Glück –

Glück, wie bei dem Nachbar wohnt!
Tripp und trapp hat ihn verschont;
Friede weilt auf trauten Orte,
Nach des Hausherrn stolzem Worte,
Glanz und Ordnung spät und frühe,
Die der Hausfrau stille Mühe
    Allem lieh,
Und die Stirne dort in Falten
    Zieht das Schalten
Ungefüger Störer nie –

Nie dies tolle tripp und trapp! – –
Doch zuweilen – wenn hinab
Meine muntren Lämmer springen,
Hör’ ich dort das Fenster klingen:
Heiße Blicke spähn hernieder
Und, so dünkt mich, hin und wieder
    Tönt heraus
In den Jubel meiner Kleinen
    Leises Weinen
Aus dem kinderlosen Haus. – –

Auf der Treppe welch Geklapp?
Gott sei Dank, mein tripp und trapp!
Flinke Füßchen hör’ ich kommen;
Durch die Thüre lugt beklommen
Schelmenblick und Huldgeberde –
Nun so brich, Du wilde Heerde
    Nur herein – :
Mag ein Andrer Verse schmieden,
    Glück und Frieden
Bringt Ihr mir in’s Kämmerlein.

Gustav Weck.



[821]
Ein politischer Dichter und Kämpfer.

Ernst Scherenberg.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.


Am Ostseestrande, in dem Hafenstädtchen Swinemünde, wurde am 21. Juli 1839 dem Kaufmann und Rheder Julius Scherenberg ein Knabe geboren. In die Wiegenlieder, welche ihm seine Mutter sang, tönte das Rauschen des Meeres; es tönte in die Lieder des Knaben, der sich am Strande oder in den Buchenwäldern der Insel Usedom umher tummelte; es drang zu ihm hinauf, wenn er hoch oben auf dem Lugthurm saß, der auf dem Hause seines Vaters errichtet war. Heute ist der Knabe ein Mann, in der Vollkraft des Lebens, und um seine Stirn haben inzwischen die Musen den stolzen Lorbeer des Dichters geflochten. Wir reden von Ernst Scherenberg, dem Neffen des Dichters von Leuthen und Waterloo, Christian Friedrich Scherenberg, und des bekannten Malers Hermann Scherenberg.

Die Erinnerung an die Heimath und die Sehnsucht nach dem Meere klingt durch einen großen Theil der Gedichte Ernst Scherenberg’s, und dem Leben an und auf dem Meere hat er eine Reihe seiner schönsten Bilder entnommen; selbst das Liebesglück, das er in späterer Zeit gewonnen, hat er in jenen jungen Tagen auf dem Meere schon vorgefühlt:

„Nun weiß ich doch, weshalb zum Meer
Mich stets ein dunkler Zug getrieben,
Daß ich so gern, wenn’s still umher,
Im Kahn auf blauer Fluth geblieben:

Was ich in ihr, versunknen Blicks,
Erschaut in solchen Dämmerstunden,
Es war die Ahnung jenes Glücks,
Das ich in Deinem Aug’ gefunden.“

In seinem elften Jahre hatte er das Unglück, seine Mutter zu verlieren; der Schmerz um sie spricht sich in ergreifender Weise in einem Gedichte „Daheim“ aus, das entstanden ist, als ihn, nach langer Trennung, sein Fuß wieder nach der heimathlichen Insel und an das Grab der Mutter zurückführte. Im Jahre 1852 sandte ihn sein Vater an das Gymnasium in Stettin, wo er, was hier nebenbei bemerkt sein mag, im Gesang ein Lieblingsschüler von Karl Löwe wurde, dem noch immer unerreichten Balladen-Componisten. Schon nach zwei Jahren wurde Scherenberg veranlaßt, das Gymnasium mit der Gewerbeschule zu vertauschen, um sich für einen praktischen Beruf vorzubereiten, und so finden wir ihn im Jahre 1856 in einer Maschinenfabrik [822] Berlins wieder, im Arbeitskittel am Ambos stehend und den Hammer schwingend; er machte hier das für den Besuch des Gewerbe-Instituts erforderliche praktische Lehrjahr durch. Sein unter dem Takte des Dreischlags entstandenes Gedicht „In der Schmiede“ gewährt uns einen Einblick in die Schmerzen des siebenzehnjährigen Jünglings, in dessen Brust der künstlerische Schaffenstrieb immer stärker erwachte und der mit jedem Tage immer brennender den Zwiespalt dieses inneren Berufs mit dem äußern empfand:

„Komm Ruhe, komm Sonntag!
So tönt’s auch im Herzen
Beim Hämmern der Schmerzen:
Komm Sonntag, komm Sonntag!“

Sein künstlerisches Gefühl offenbarte sich nach zwei Richtungen, nach der malerischen, wie bei dem einen Ohm, und nach der poetischen, wie bei dem andern. In der anfänglichen Unklarheit über sich selbst glaubte er sich zum Maler bestimmt, und nachdem er alle Hindernisse besiegt, die sich ihm entgegenstellten, siedelte er im Jahre 1858 aus den Hörsälen des Gewerbe-Instituts in die Akademie der Künste über. Bald aber gelangte er zu der Ueberzeugung, daß Stift und Pinsel nicht das Material seien, womit er die Empfindungen seiner Seele aussprechen könne, und daß sich ihm die Welt, in der er lebe, erst Abends öffne mit dem Eintritt in das niedrige Söllerzimmer, das er unter tausend Entbehrungen bewohnte. Hier, in diesem engen Raume, strömten seine Gedanken in wohllautenden Versen aus, und schon in den ersten Anfängen zeigte es sich, daß er nicht blos ein lyrischer, sondern vorwiegend auch ein politscher Dichter sei; sein erstes Auftreten gehörte der Politik.

In Preußen war mit der Uebernahme der Regentschaft durch den Prinzen Wilhelm, unsern jetzigen Kaiser, eine „neue Aera“ angebrochen. In dem frischen Hauche, der von Berlin ausging, athmete ganz Deutschland wieder auf. Im Jahre 1859 erließ in Hannover Rudolph von Bennigsen mit einer Anzahl gleichgesinnter Männer im Hinblick auf die Gefahren, von welchen damals Deutschland von außen bedroht war, eine Erklärung, daß der alte Bund Deutschland nicht zu sichern vermöge und einer starken, von einem Parlament umgebenen Centralgewalt mit preußischer Spitze weichen müsse. Von dieser Erklärung, welche damals so viele Herzen entzündete, wurde auch unser junger zwanzigjähriger Dichter heftig bewegt, und von seinem Dachstübchen aus sandte er an Bennigsen seine Zustimmung in drei Gedichten: „Ein deutsches Parlament“, „Jetzt oder nie“ und „Mein Deutschland, mächt’ge Eiche“. Bennigsen ließ diese Gedichte, ohne daß Scherenberg darum wußte, in der „Zeitung für Norddeutschland“ abdrucken, von wo aus sie ihre Runde durch die ganze deutsche Presse machten und in so mancher Brust ihren Widerhall fanden. Wie in den vierziger Jahren Prutz dem Worte Constitution, so hatte jetzt Scherenberg dem Parlament das poetische Bürgerrecht erobert. Und wie jeder wirkliche Dichter ein Seher ist, so war es auch Scherenberg in dem dritten der Gedichte. Was er damals schrieb:

„Mein Deutschland, mächt’ge Eiche!
Verspottet oft, geschmäht!
Getrost, dein Lenz, der reiche,
Er kommt, kommt er auch spät.

Und Frühling wird dir’s werden,
Wie er noch nie gekannt!
Weitschattend rings auf Erden
Hin über alles Land –“

ist seitdem herrlich in Erfüllung gegangen.

Ermuthigt durch den großen Erfolg, der seinen Namen überallhin bekannt gemacht hatte, ließ Scherenberg im folgenden Jahre unter dem Titel „Aus tiefstem Herzen“ die erste Sammlung seiner Gedichte erscheinen, und zwar in Berlin bei Heinrich Schindler, der dem jungen Poeten für die Herausgabe freundlich eine hülfreiche Hand bot. Die politische Abtheilung der Gedichte war Rudolph von Bennigsen zugeeignet. Wir geben aus einem Briefe Bennigsen’s, worin er die Widmung annahm, folgende Stelle wieder, die uns sowohl für den Führer der Nationalpartei wie für unsern Dichter charakteristisch erscheint; sie lautet:

„Unsere junge Welt leidet an einem solchen Ueberfluß an Pessimismus, an Frivolität oder Sentimentalität, daß es erfrischend ist, zu sehen, wie ein junger Dichter einmal wieder Gefühl hat für unsere politische Schmach, und doch Kraft hat, festzuhalten an unseren nationalen Hoffnungen, aus denen wir Alle in dem jetzigen Jammer Begeisterung und Thatkraft schöpfen müssen.“

So jung das Leben Scherenberg’s war, so hatte ihm doch der Kampf nicht blos um das irdische, sondern ebenso sehr um das geistige Dasein eine Reihe von qualvollen Stunden und bitteren Erfahrungen gebracht, und es ist deshalb nicht zu verwundern, daß in den meisten Gedichten der Sammlung die Stimmung von einem elegischen Grundton beherrscht wird.

Bald darauf, schon 1861, erschien der Cyklus „Verbannt“, eine lyrisch-epische Dichtung, in welcher in wunderbarer Weise alle Saiten der Scherenberg’schen Leier zusammen klingen: Politik, Patriotismus, Freiheitsgefühl, dazu ein tiefes Seelen- und Gemüthsleben. Das Gedicht erzählt die Schicksale eines Kämpfers für die Freiheit Deutschlands, der mit den Waffen in der Hand ergriffen und zum Tode verurtheilt worden war, sich aber durch eine glückliche Flucht gerettet hatte und mit Weib und Kind jenseits des Meeres eine neue Heimath sucht. Alles, was ihm dort begegnet, wie er mit einer Schaar deutscher Genossen, die er findet, südwärts zieht, unter den Palmen sich eine Hütte baut und mit ungewohnter Hand den Pflug regiert, wie sein Knabe heranwächst, sein Weib hinsiecht und stirbt, ist mit rührender Innigkeit geschildert und um so ergreifender, als sich die Sprache Scherenberg’s in ihrer Einfachheit und Natürlichkeit von allem gemachten und unwahren Pathos fern hält. Der Schluß ist versöhnend. Zu keiner Stunde hatte den Helden des Gedichtes die Sehnsucht nach dem Vaterlande verlassen; da kommt die Nachricht, daß es von äußeren Feinden bedroht sei, und nun gilt für ihn kein Besinnen: er sendet den eigenen Sohn nach Deutschland, damit er im nationalen Kampfe mitkämpfe. Als dieser nach langer Trennung zurückkehrt, findet er seinen Vater sterbend, aber er kann ihm die doppelte Jubelbotschaft künden von der Abwehr des äußeren Feindes, von der Aufrichtung der Freiheit im Innern, und daß ihm selbst, dem Verbannten, die Rückkehr bedingungslos gestattet sei.

So sehr der Stoff auch in der Zeit wurzelt, so hat der Dichter doch verstanden, ihn von allem Vergänglichen, das der Zeit anhaftet, loszulösen und in die ideale Sphäre der Kunst zu erheben; dadurch ist er seiner Wirkung zu allen Zeiten gewiß. Beim Erscheinen der Dichtung hat man vielfach geglaubt, in dem Ausgange ein Compliment für die „neue Aera“ und die damals vom Könige Wilhelm bei seiner Thronbesteigung erlassene Amnestie erblicken zu müssen. Ernst Scherenberg hat nie solche Bücklinge gemacht. Zu jener Zeit lagen auch für ihn die großen nationalen Ziele der Bismarck’schen Politik noch verschleiert, und er befand sich in den ersten Reihen der Opposition. Unmittelbar nach der Auflösung des Abgeordnetenhauses, im März 1862, veröffentlichte die Berliner „Volkszeitung“ von ihm das Gedicht:

„Stürme des Frühlings, brechet herein!“

das in wahrhaft zündender Weise die Gedanken aussprach, von welchen damals die große Mehrheit des preußischen Volkes bewegt wurde.

In seinen Lebensbedingungen ganz auf sich angewiesen, trat Scherenberg im nämlichen Jahre in Verbindung mit der Modenzeitung „Victoria“ und folgte 1864 einem Rufe Westermann’s nach Braunschweig, wo er sich, neben buchhändlerischer Beschäftigung, an der Leitung des artistischen Theils der „Monatshefte“ betheiligte. Er verließ diese Stellung 1865, um, ebenfalls in Braunschweig, die Gründung einer größeren politischen Zeitung zu übernehmen (des „Braunschweiger Tageblattes“), die zur Vertretung der wahrhaft nationalen Interessen bestimmt war; sie erschien und erscheint noch im Verlage des Braunschweiger Hofbuchhändlers Friedrich Wagner. Scherenberg setzte alle Kraft für das neue Werk ein und zeigte, daß er neben der Phantasie des Dichters mit dem klaren Blick des Politikers begabt sei. Er hatte die Irrwege einer großen Partei erkannt, die auch in Braunschweig zahlreiche Anhänger besaß und Hand in Hand ging mit welfischem Particularismus und großdeutscher Verschwommenheit; ihm war angesichts der in Schleswig-Holstein Oesterreich und dem Bundestage gegenüber entwickelten energischen preußischen Politik das Verständniß aufgegangen für die großen Ziele Bismarcks, und er hatte es darum zu erdulden, daß man ihn höhnend dessen Söldling nannte; aber er harrte aus und ging schließlich als Sieger aus dem Kampfe hervor.

Noch nach ganz anderer Seite war der Aufenthalt in Braunschweig [823] von einer tiefen Bedeutung für das Leben unseres Dichters: er gründete einen eigenen Herd und führte die Verlobte, die Tochter eines Kaufmanns in Eberswalde, mit der er sich schon in Berlin zum gemeinschaftlichen Tragen von Freud’ und Leid verbunden hatte, nun als liebes Gemahl in sein Haus. Ihr sind die neuen Gedichte „Stürme des Frühlings“ gewidmet, deren erste Auflage 1865 in Berlin erschien. Was diese Sammlung sofort aus der großen Masse heraushob, war der in den Gedichten enthaltene Wechsel der Stimmungen, Reichthum und Tiefe der Gedanken und Schönheit der Form. Der elegische Ton der ersten Sammlung „Aus tiefstem Herzen“ klingt auch hier vielfach wider, im Nachhall alter Schmerzen, neuer Enttäuschungen:

„Wie lang,
O wie so lang die Nacht,
Wenn draußen der Regen tropft!
Wie bang,
O wie so bang sich’s wacht,
Wenn an’s Herz die Reue klopft!“

oder an einer andern Stelle:

„Und ach! ich habe nichts gefunden
Als eines Herbsttags kalte Pracht,
Nur wenig sonnenlichte Stunden –
Und eine endlos lange Nacht.“

Dann aber finden wir in dem seiner Braut gewidmeten Cyklus „Helene“ den Ausdruck vollsten Liebesglückes in ganz besonderer eigenartiger Schönheit; es sind Verse darunter, die wohl in einem Stücke des großen britischen Dichters vorkommen könnten:

„Lippen, die ihr sonst so herbe,
Lippen, werdet fromm und büßt,
Denn ein Engel hat ja heute
Friedenbringend euch geküßt!

Milde Worte sprecht in Zukunft,
Wo ihr sonst vor Zorn gebebt,
Und wo ihr bisher verdammtet,
O da tröstet und vergebt!“

Auch diese Sammlung enthielt wieder eine Reihe politischer Gedichte, geschrieben unter der Gewitterschwüle, die damals auf dem deutschen Reiche lagerte. Was uns diese Lieder vorempfinden ließen, kam in dem Kriege von 1866 zum Ausbruch. Während des Krieges war die Muse Scherenberg’s stumm, aber im folgenden Jahre, nach geschlossenem Frieden und der Errichtung des Norddeutschen Bundes ließ er, unter dem Titel: „1866“, eine Sammlung von einundzwanzig Gedichten erscheinen, die nicht in epischer Breite alle Begebenheiten des Feldzugs erzählen, sondern die hervorspringendsten Momente in klagenden, zürnenden, dann auch wieder von der höchsten Gluth vaterländischer und kriegerischer Begeisterung durchwehten Liedern feiern. Zugleich zeigt dies „1866“ eine neue Seite der poetischen Begabung Scherenberg’s, die in seinen übrigen Gedichten eigenthümlicher Weise nirgend hervortritt: die humoristische. Der Gesang an die Klein- und Mittelstaaten und die Elegie auf den Tod des Bundestags sind Meisterstücke der politischen Satire.

Die immer mehr wachsende Anerkennung, mit welcher das deutsche Volk die Dichtungen Scherenberg’s aufnahm, sollte durch einen Schlag des Schicksals vergällt werden, der ihn bis in das innerste Leben traf: durch den Tod seiner Frau, der 1868 erfolgte. Man kann nichts Rührenderes lesen, als die Gedichte, welche er an ihrem Krankenlager und Sterbebette geschrieben hat oder in welchen er um die Hingeschiedene seine Klagen erhebt. Es mag hier gleich vorweg bemerkt werden, daß die Schwester der Gestorbenen später seine zweite Gattin wurde und das gestörte Glück seines Hauses in reichem Maße wieder aufrichtete. Auch die an sie gerichteten Gedichte tragen ganz das Gepräge der Scherenberg’schen Eigenart, die sie über die gewöhnliche Liebeslyrik weit emporhebt. Wir nennen namentlich: „Zwei Schwesterrosen“, ferner „Müde Augen“ und lassen ein drittes hier folgen:

„Kein flücht’ger Rausch hat uns verbunden;
Nicht in des Glückes Blüthenzeit
Hat Lieb’ zu Liebe sich gefunden –
Uns einte tiefstes Herzensleid.

Der gleiche Schmerz, die gleiche Trauer,
Unmerklich knüpften sie das Band:
Es weihte uns mit leisem Schauer
Stillsegnend eine Geisterhand.“

Im September 1870 verließ Scherenberg Braunschweig, wo sein politisches Wirken von so durchgreifendem Erfolge begleitet gewesen war, um die Chefredaction der „Elberfelder Zeitung“ zu übernehmen, die bisher in den Händen von Paul Lindau geruht hatte. Unter den Gedichten, zu welchen der Krieg von 1870 und 1871 ihn begeisterte, ist namentlich eines: „Den Gefallenen“ von hervorragender Schönheit; seine größten Siege aber feierte er in dem Culturkampfe, der 1873 ausbrach und an dem er sich in seiner Doppeleigenschaft als Politiker und Poet mit der ganzen Wucht seines Talentes betheiligte. Sein „Hie Papst – hie Kaiser!“ machte ebenso die Runde durch ganz Deutschland, wie vor Jahren sein Ruf nach einem deutschen Parlamente. Er suchte und fand eine Menge dichterischer Kampfgenossen, und so entstand das von ihm herausgegebene Buch: „Gegen Rom, Zeitstimmen deutscher Dichter“ (Elberfeld), welches so gewaltig einschlug, daß binnen wenigen Monaten neun Auflagen vergriffen wurden.

Die Leser der „Gartenlaube“ dürfte es interessiren, daß dieser poetische Sturmlauf gegen den Vatican durch das von Scherenberg in diesem Blatte im Jahre 1874 veröffentlichte Gedicht: „Wem gilt unser Krieg?“ hervorgerufen worden ist. Es war der erste Beitrag unseres Dichters für die „Gartenlaube“, der damit einer Aufforderung des unvergeßlichen Begründers und damaligen Herausgebers derselben nachgekommen war. In diesem Gedicht sprach Scherenberg klar und unzweideutig aus, daß der Kampf nicht gegen den Glauben, sondern nur gegen die politischen und antinationalen Herrschgelüste der römischen Hierarchie gerichtet sei:

„Wem gilt unser Krieg? – Nicht dem stillen Gebet,
Das den Segen der Liebe vom Himmel erfleht,
Gleichviel wie die Lippe es flüstert –
Doch dem Priesterhaß und dem Dogmenzwang,
Der die Seele des Volkes vergiftend durchdrang
Und den Frieden des Hauses umdüstert.“

Das Buch wirkte weit über die Grenzen Deutschlands hinaus; in Belgien schloß sich ihm Charles Potvin an mit einer Dichtung, die er ebenfalls „Contre Rome“ betitelte. Die ultramontanen Poeten suchten den Stoß durch eine Sammlung von Gedichten „Für Rom“ zu pariren, aber der Ultramontanismus hat keinen Poeten.

Im Wupperthale gehen bekanntlich die Interessen des Handels und der Industrie allen andern voran, vielleicht mit Recht, und Scherenberg, als Leiter einer Zeitung, welche auch diesen vielfach sich widerstrebenden Interessen vorzugsweise dienen muß, war genöthigt, sich in ihre zum Theil sehr verwickelten Verhältnisse hineinzuleben. Er hat es mit so vielem Geschick gethan, daß ihn die Elberfelder Handelskammer zu ihrem Secretär ernannte. Man hat sich nachgerade davon entwöhnt, jeden Poeten für einen Träumer zu halten, für einen unklaren und unpraktischen Kopf; die wirklichen Poeten sind es fast niemals, und Shakespeare hat sehr wohl zu rechnen verstanden.

Wie Scherenberg auch zoll- und handelspolitische Fragen poetisch zu verklären wußte, zeigt sein Trinkspruch auf der großen Versammlung deutscher Industrieller in Berlin (1878), aus dem wir folgende Strophe anführen:

„Deutsche Arbeit – ‚schlechter Trödel’
    Ruft man auslandstoll dir zu –
Doch ich sag: dem Aschenbrödel
Winkt dereinst der Königsschuh!“

Neben der Redaction der „Elberfelder Zeitung“ übernahm Scherenberg 1874 auch die Redaction des in Düsseldorf erscheinenden „Deutschen Künstleralbums“ und kam dadurch, sowie durch die Sammlung gegen Rom unter anderm auch in Verbindung mit Anastasius Grün, dem Grafen Anton Auersperg. Diese Verbindung, nur wenige Jahre vor dem Hinscheiden des berühmten Dichters begonnen, ist eine außerordentlich freundschaftliche und herzliche geworden. Nicht wegen dieser persönlichen Beziehungen wollen wir ihrer gedenken, aber es wird von hohem und allgemeinem Interesse sein zu hören, wie Graf Auersperg, der ein ebenso großer Staatsmann wie Poet war, sich über den Ausgang des Krieges von 1866 ausgesprochen hat. Er schrieb an Scherenberg unter dem 7. April 1875 aus Graz, nachdem er seinen Dank ausgesprochen für die gesammelten Gedichte, welche ihm Scherenberg zugesandt hatte, „unter denen er viel des Neuen gefunden, das ihn innig angemuthet und dichterisch erquickt“, wörtlich Folgendes: „Auch das für mich als Oesterreicher mit dunklen Floren umhangene Jahr 1866 hat mich in Ihren poetischen Klängen wieder tief ergriffen. Aber Sie haben in der Wesenheit doch Recht; die Zwitterstellung war unhaltbar, die Lösung für [824] beide Theile vorläufig von Heil; auch daß der eine Theil so rasch und vollständig unterlag, brachte nach allen Seiten klare Stellungen und ermöglichte wenige Jahre darauf den großen deutschen Siegeszug, in dessen Jubel wir ehrlich einstimmten. Hätten, wie man an der Seine gehofft, wir uns damals gegenseitig geschwächt und aufgerieben, so wären beide Theile der Schmach napoleonischer Dictatur abermals verfallen; wir aber waren, sind und fühlen deutsch genug, um ein solches Loos für das allerschimpflichste zu halten. Im geistigen Streben verbunden, gehen wir friedlich neben einander den großen Zielen entgegen, wir Deutsch-Oesterreicher im Fortschritte mitunter gehemmt durch fremdartige Elemente, die sich wie Bleigewichte an unsere Füße hängen. Aber auch diese werden naturgemäß mit der Zeit abgeschüttelt werden, und früher oder später wird die alte tausendjährige Vereinigung, so oder so, gewiß wieder erfolgen.“

Halb und halb ist die Vereinigung durch den großen Reichskanzler schon bewirkt worden, so weit sie eben jetzt schon möglich ist, wo wir noch überall in den Anfängen stehen.

Neuerdings hat Ernst Scherenberg sämmtliche Dichtungen, wie sie nach und nach erschienen sind, in einem Bande vereinigt unter dem einfachen Titel „Gedichte“ im Verlage von Ernst Keil in Leipzig herausgegeben, und es erscheint davon bereits die zweite Auflage. Was unsere Herzen bewegt, die ganze Tonreihe unserer Empfindungen vom vernichtenden Schmerze und düsterer Trauer bis zum überquellenden Gefühle höchsten Glückes, findet darin Wort und Sprache und läßt in jeder empfänglichen Brust die verwandten Saiten widerklingen.

In den politischen Gedichten tritt uns ein Dichter entgegen, dessen ganze Seele dem Vaterlande gehört. Was wir in den letzten zwanzig Jahren, von dem ersten Wieder-Erwachen unseres Nationalgefühles an bis auf den heutigen Tag, wechselnd erlebt: unser Hoffen, unser Verzagen, der kriegerische Zorn, der Siegesjubel, es ist in diesen Versen niedergelegt, in denen die Schönheit der Form die Gluth nicht erkältet, sondern erhöht. Was die Dichtung „Verbannt“ betrifft, so möchten wir mit den Worten von Anastasius Grün schließen: „Sind schon die früheren Stücke fesselnd und reizend, so ist der Liedercyklus, mit welchem das Buch endet, wohl dessen Perle. Mit ihm klingt das Ganze in einem prächtigen Schlußaccord aus, der noch lange wohlthuend nachhallt.“
Friedrich Roeber.




Verheirathet.

Novelle von H. Wild.

(Schluß.)

War das wirklich die gestern noch so blühend rosige junge Frau? Wie bleich, wie zaghaft, wie verweint sah sie aus! Was mußte sie in diesen wenigen Stunden durchlitten haben! Walter vermochte kein Wort hervorzubringen. Er, der so sehr geprahlt, welche siegende Beredsamkeit er vor der Geliebten entfalten würde, fand, nun er sie vor sich sah, auch nicht den armseligsten Ausdruck für das, was er empfand. Stumm ging er ihr entgegen, nahm ihre beiden Hände in die seinigen und sank schweigend auf die Kniee. Mit einem traurigen, aber unendlich sanften Lächeln sah sie einen Augenblick auf ihn nieder.

„Stehen Sie auf, mein Freund!“ sagte sie dann mit ihrer weichen Stimme, in welcher der verhaltene Schmerz leise zitterte. „Stehen Sie auf! Eine solche Stellung ziemt sich nicht für Sie.“ Und während Walter sich nun erhob, fuhr sie erröthend fort: „Ich habe Ihr Gespräch mit meiner Schwester gehört, verzeihen Sie mir diese Indiscretion –“

Walter wollte sie freudig unterbrechen, doch sie ließ es nicht zu.

„Mißverstehen Sie mich nicht,“ sagte sie dann. „Ich bin Ihnen dankbar für Ihren Glauben an mich; dieser Glaube und die Art, wie Sie ihm Ausdruck gegeben, hat mir unaussprechlich wohlgethan – allein ich weiß, daß ein Schatten auf meiner Ehre ruht –“

Als Walter hier heftig protestiren wollte, hob sie flehend die Hand, und er fügte sich in verzweifelter Resignation.

„Ich hatte das früher doch nicht so gewußt,“ fuhr sie mit etwas unsicherer Stimme fort; „ich hätte es freilich wissen können, aber ich war noch so unerfahren damals – und so habe ich gerade daran weniger gedacht, vielleicht eben, weil es, Gott sei Dank! nur ein Schatten und so gar keine Wirklichkeit ist. Allein die Welt sieht nur diesen Schatten, und, mein Freund, wer weiß, wie bald die Stimme der Welt Sie selbst irre machen würde –“

„Nie!“ rief Walter, der sich nicht mehr zurückhalten ließ, „nie wird der Hauch eines Argwohns meine Lippen oder mein Herz beflecken. Ebenso gut könnte ich meine Mutter lästern! Hier schwöre ich bei dem Namen dieser Theuren, daß ich Sie achte, liebe und verehre, Lucia, wie nur je ein Weib geachtet, geehrt und geliebt wurde.“

Die junge Frau antwortete nicht gleich. Sie zitterte sichtlich und rang in stillem Kampfe ihre Hände heimlich in einander.

„Sie sehen mich jetzt durch die Augen der Leidenschaft,“ hauchte sie endlich mühsam. „Wie bald werden meine Fehler, meine Mängel diesen falschen Schimmer von mir abstreifen!“

„Sei still und laß jetzt mich reden –“ schnitt die Baronin energisch alles Weitere ab. „Mir scheint, Ihr vergeßt Beide den allerwichtigsten Punkt. Lucia’s Mann, meine ich, hat denn doch auch ein Wort mit drein zu reden, und da fällt mir eben ein, daß er sich wahrscheinlich sehr entschieden gegen die Auflösung seiner Ehe aufbäumen wird.“

„Aber ist denn der Mensch verrückt?“ fuhr Walter zornig auf.

Die Baronin lächelte fein. „Manchmal sieht es fast so aus,“ sagte sie, „aber glücklicher Weise ist sein Wahnsinn selten gefährlicher Art – dann scheint mir aber auch, bester Professor, daß Sie erst die Frau sollten kennen lernen, von der Sie – versuchen wollen, sich scheiden zu lassen.“

„Kann ich die Erde aufwühlen, um sie zu finden?“ versetzte er heftig.

„Das nicht, aber wenn wir Alle uns ehrlich bemühen wollen, finden wir vielleicht doch einen Weg. – Vor Allem aber habe ich hier Lucia’s Contract –“

„O Rosa! noch nicht!“ bat die junge Frau erbleichend und streckte abwehrend beide Hände nach der Schwester aus.

„Rosa hin, Rosa her!“ entgegnete diese ungeduldig, indem sie zum Schreibtische ging. „Mit all Euren schönen Redensarten kommt Ihr doch keinen Schritt weiter.“

Sie zog aus einer Lade ein kostbar gearbeitetes Kästchen, das sie dann ruhig öffnete, um ihm ein großes zusammengefaltetes Papier und noch einen anderen kleineren Gegenstand zu entnehmen. Die junge Frau verhüllte schluchzend ihr Gesicht.

„Hier,“ sagte die Baronin mit großer Gemüthsruhe, „ist das famose Document – und hier dieses kleine Kunstwerk dürfte Ihnen vielleicht nicht ganz unbekannt sein.“ Lächelnd legte sie einen Ring in Walter’s Hand.

Der junge Mann starrte erbleichend darauf nieder – denn das war ja das Ebenbild des Ringes, den er daheim in einem Fache seines Schreibtisches sicher verwahrt hielt. Er hatte sie zu oft betrachtet, diese zarten, winzigen, in einander verschlungenen Rosen und Arabesken, um sie jemals vergessen zu können. Und fast entsetzt starrte er die Baronin an, welche unbarmherzig lachte. Rasch hatte sie das Papier entfaltet und hielt es ihm vor das Gesicht.

„Und nun auch das!“ sagte sie.

Walter zuckte zusammen, als schlüge der Blitz vor ihm ein, denn in unsicheren Linien, riesig und kaum leserlich standen wieder jene Schriftzüge vor ihm, die einst sein Schicksal besiegelt, und da war, dicht neben den Unterschriften, jener, wie er sich erinnerte, von Melazzo’s Finger hastig ausgewischte Tintenklecks.

Er hielt das Document in beiden zitternden Händen, seine Augen wurzelten darauf, und noch immer glaubte er, ihn täusche ein Traum.

„Aber so lesen Sie doch, Sie blöder Schäfer! Gott, wie schwer ist es doch, einem Manne den Staar zu stechen, wenn er nun einmal die Augen zuhalten will!“ rief die Baronin ungeduldig und zugleich mit plötzlich aufsteigender Aengstlichkeit, denn sie sah, daß ihre Schwester einer Ohnmacht nahe war.

[825]

„Ob ich’s erreiche?“
Nach seinem Gemälde auf Holz gezeichnet von Prof. Struys.

[826] Und dem Befehle gehorchend, mechanisch, Silbe für Silbe, las Walter erst seinen Namen und dann langsam, als traue er noch immer seinen Augen nicht, „Lucia de Saintpré“.

„Lucia! – Sie!“ stammelte er und das Blatt entsank seiner Hand. Was er bei der unerwarteten Entdeckung empfand, konnte nicht mehr Seligkeit heißen; es war zu jäh, zu erdrückend; es steigerte sich zum seelischen und physischen Schmerz, und er war nahe daran, wie vernichtet auf einen Stuhl zu sinken. Allein bei dem Anblick seiner jungen Frau, die sich zitternd und todtenblaß an ihre Schwester klammerte, besann er sich rasch eines Besseren; er trat vor, öffnete die Arme und die längst Anvermählte, Verlorene und so unerwartet Wiedergefundene lag weinend an seiner Brust.

„Und werden Sie es nie bereuen?“ flüsterte sie, als sie endlich Worte fand und noch unter Thränen zu ihm aufblickte.

Er antwortete nicht, wenigstens nicht mit Worten. Er küßte die blassen bebenden Lippen, die unter der Berührung wieder Leben und Wärme bekamen, und nun erst löste sich allmählich der Krampf der Freude in seiner Brust zu einer Empfindung reinen, höchsten Glückes auf.

„Und ich werde den Priester vorstellen,“ sagte die Baronin halb scherzend und halb gerührt, indem sie die Hände des endlich vereinigten Paares in einander legte, „ich weihe Euch hiermit zu einem langen Leben voll Liebe, Frieden und Einigkeit.“

„Und von ganzem Herzen gebe ich meinen Segen dazu!“ sagte eine Stimme von der Thür her.

Alle wendeten sich erschrocken dahin; es war der Baron, welcher, nachdem er die laute jubelnde Freude seiner Frau entgegen genommen, auf den neuen Schwager zueilte und ihm warm die Hand schüttelte.

„Sie glauben nicht, wie herzlich es mich freut, daß diese vertrackte Geschichte noch ein so gutes Ende genommen hat!“ sagte er. „Begreiflicher Weise schien es uns zunächst mehr als zweifelhaft, daß die Wahl jenes ehrenwerthen schwarzen Vetters gerade auf den einzigen anständigen Menschen gefallen sein sollte, welcher sich zufällig damals in den amerikanischen Urwäldern herumtrieb. Darüber waren wir freilich bald beruhigt; ich habe gründlich Nachrichten über Sie eingeholt, war sogar ein paar Mal persönlich in Ihrer Universitätsstadt – und was ich mitbrachte, gereichte meiner kleinen Schwägerin zur großen Genugthuung,“ setzte er mit einem neckischen Seitenblick auf die Erröthende hinzu, „der man nie genug von ihrem Mann erzählen konnte, wie gleichgültig sie sich auch zu stellen suchte. Und trotzdem – welche Sorge hat sie uns noch gemacht im Hinblick auf eine volle Ausgleichung der Verwirrung! Kaum daß wir sie bewegen konnten, mit hierher zu gehen, nachdem wir erfahren hatten, daß Sie gleichfalls das Bad zur Cur aufsuchen würden – denn irgendwo auf neutralem Boden mußten wir die feindlichen Kräfte doch zusammenbringen!“

„Aber wie in aller Welt haben Sie ausgekundschaftet, wer der verlassene Gatte war?“ fragte der Professor.

„Sie vergessen, daß wir den Contract mit Ihrer Namensunterschrift in Händen hatten. Und was da noch an offenen Fragen übrig blieb, beantworteten unsere Nachforschungen in England. Ja, ja – Sie wollten Lucia’s Spur finden, indeß ich in deren Interesse auf der Ihrigen war.“

„Sie waren damals in England?“

„Lucia hatte uns noch am Abend ihrer Landung telegraphisch über Ankunft und Ursache ihrer Reise benachrichtigt, allerdings ohne ihrer Verheirathung zu gedenken. Sie können sich unseren Schrecken bei Empfang des Telegramms vorstellen. Natürlich reisten wir sofort nach London ab. Dann kam der zweite Schrecken, als das arme erschöpfte Kind ihrer Schwester wie todt in die Arme sank, und dann ein dritter, als wir erfuhren, daß und unter welchen Umständen sie die Frau eines fremden Mannes geworden. Wir hatten ein förmliches Ballspielen von einer unangenehmen Empfindung zur anderen auszuhalten. Uebrigens logirten wir bei Verwandten, welche unserer dortigen Gesandtschaft zugehören; das hat die Damen, während ich Ihnen nachforschte, vor der von Ihnen in Anspruch genommenen Polizei gesichert.“

„Der Schiffsarzt hat telegraphirt, daß Du es nur weißt,“ fügte Lucia lächelnd hinzu. „Ich hatte ihn zuletzt in mein Vertrauen gezogen, und er war es auch, der mich zu meiner Schwester brachte.“

„Ei der Tausend!“ rief Walter in komischem Zorn, „ich hätte dem dicken Kerl die Perfidie gar nicht zugetraut. Vier Jahre Glück aus einem kurzen Menschenleben gestohlen – ich weiß nicht, ob ich es ihm jemals verzeihen kann.“

„Er hielt eine zeitweilige Trennung für durchaus geboten,“ entschuldigte der Baron. „Daß vier Jahre daraus geworden sind – nun daran trägt, wie gesagt, meine liebe Schwägerin die Schuld. Das unvernünftige Mädchen war die Zeit her nicht zu bewegen, auch nur den kleinsten Schritt zu einer Annäherung zu thun, und von der Auflösung ihrer Ehe wollte sie auch wieder nichts hören. Ihr Herzchen war eben doch von Anfang an gefangen,“ schloß er mit einem lächelnden Blick auf seine erröthende Schwägerin.

„Und ist es mir denn anders gegangen?“ sagte Walter, indem er mit einer ihrer langen dunklen Locken spielte.

„Ja,“ erwiderte Lucia, und ihr Gesicht glühte in holder Verschämtheit auf, „dieses törichte Herz hat für Dich gesprochen – früher, als Du glaubst, Geliebter – schon eine geraume Zeit, bevor Melazzo seinem Schicksal nachhalf.“

„Aber wie ist das möglich?“ fragte Walter erstaunt. „Hast Du mich denn vor der Trauung überhaupt gesehen?“

Ein Schatten flog über ihre Augen. „Da muß ich Dir wohl mein ganzes Schicksal erzählen, ehe ich eine Dir verständliche Antwort geben kann.“

„Nicht doch – ich weiß mehr davon, als Du glaubst – und zwar aus authentischster Quelle, nämlich von Melazzo selber.“

„Ach!“ sagte sie. „Nun, es war kurz nachher, als der Schreckliche mich zur Gattin verlangte und mir in meiner Hülflosigkeit und Verzweiflung nichts übrig blieb, als der feste Entschluß, in dem Augenblick, da ich keine Rettung vor diesem Schicksal sehen würde, mein Leben zu endigen. Ich sprach das aus, und ich muß es wohl in einer Weise gethan haben, daß es Eindruck machte und daß er seine Absicht aufgab. Wenigstens ließ er mich in Ruhe. Bald danach hieltest Du Dich einige Tage an dem Orte auf, wo wir uns eben befanden. Du streiftest öfter um unsere Hütte herum, und hinter dem Gitter unserer Fenster konnten wir Dich ganz gut beobachten, Du aber warst immer in Deine Gedanken vertieft und sahest gar nicht nach uns hin. Wir hörten auch durch unsere Wächter Manches von Dir. Einen derselben hattest Du vor längerer Zeit einmal verbunden, als Du ihn zufällig mit schwer verletztem Beine im Walde gefunden. Aber auch der Neger, der bei Dir war, hatte unseren Leuten gerühmt, wie gut Du seiest und wie bereit, Jedem zu helfen, so gar nicht, wie die Weißen in der Gegend. Einst hattest Du Dich nicht sehr weit von uns niedergesetzt, um Deine Pflanzen zu ordnen. Wir konnten deutlich erkennen, wie müde und erschöpft Du warest, und doch zeigtest Du Dich so ruhig, fleißig und gewissenhaft aufmerksam bei Deiner stillen Beschäftigung, als hättest Du vorher nicht die geringste Beschwerde gehabt. Es war mir ein förmliches Labsal, auf Dich zu blicken und zu denken, welch ein Segen solch ein friedlicher Beruf sein müsse, der Niemandem schade, sondern Gutes schaffe rund umher und der selbst in einer so wilden Einsamkeit solchen Genuß gewähre. Ich faßte auch gleich ein rechtes Vertrauen zu Dir und war überzeugt, stände es irgend in Deiner Macht, so würdest Du uns helfen.

Dann waren ein paar Wochen vergangen – da kam Melazzo eines Tages wieder zu uns. Er wolle mich los sein, sagte er; ich sei für ihn eine Last und eine beständige Gefahr. Nun treibe sich gerade ein deutscher Doctor in den Wäldern herum; er werde ihn leicht in seine Gewalt bringen, werde mich mit ihm verheirathen und uns zusammen nach Europa schicken. Ich drückte die Hände vor das Gesicht und wandte mich ab, indem ich meinem Peiniger erklärte, daß mir Alles recht sei, wenn ich nur für immer von ihm befreit würde.

Aber als er dann fort war, wollte ich schier verzweifeln. So kindisch ich auch war, ich hatte doch schon im Kloster gelernt, daß die Ehe heilig sei, und mir bangte entsetzlich davor. Doch Annita bestürmte mich fort und fort, und ich war auch so krank. Ich dachte, ich würde gewiß bald sterben und dann sei Alles vorbei – und nur ein Grab in Europa zu haben, schien mir schon eine unaussprechliche Wohlthat.

Bei der Trauung war ich mehr todt als lebendig. Ich war überzeugt, Du könntest mir den Zwang, den man Dir anthat, niemals verzeihen und müßtest mich ewig hassen. Auf dem Schiffe wagte ich nicht, Dir unter die Augen zu treten, und je mehr Güte Du mir erwiesest, um so mehr schämte ich mich. Da [827] faßte ich endlich den Entschluß, Dich um jeden Preis von einer so widerwärtigen Last zu befreien. Und nun – nun mußt Du doch sehen, wie Du mit der Last auskommst, Du Lieber!“

„Mein Weib, mein süßes Weib!“ sagte der Glückliche, indem er sie umschlang und an sich zog, daß ihr Köpfchen an seiner Brust ruhte.

„Und wie steht’s mit Annita? Lebt sie noch?“ fragte er nach einer Pause.

„O, die wartet bei mir daheim auf die glückliche Lösung, an der sie doch zweifelt,“ sagte lachend der Baron. „Meint sie doch, auf Erden sei kein Mann gut genug für ihre Lucia. Ich warne Sie, Professor. Sie bekommen da eine Schwiegermutter in’s Haus, die nicht mit sich spaßen läßt.“

„Nein, Annita ist immer gut,“ vertheidigte Lucia sanft.

„Ja, vorausgesetzt, daß man Dir immer den Willen thut,“ lachte die Baronin. – –

Schon in der nächsten Nacht schrieb Walter seiner Mutter einen entzückten Brief und bat sie seine Wohnung für den Empfang einer jungen, feingewöhnten Frau in passenden Stand zu setzen.

„Dein Wunsch ist prophetisch gewesen,“ schloß er nach den nöthigsten Eröffnungen, „das Meer hat mir in der That eine Gattin gebracht, wie selbst Du, theuerste Mutter, sie dem geliebten Sohn nicht holdseliger und liebender wünschen kannst.“

Am nächsten Tage trennten sich die Ehepaare. Der Baron reiste mit seiner Gemahlin auf seine Güter, und Walter kehrte nach einer langen Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau in die Heimath zurück. Dort hatte Walter’s Brief an die Mutter wie eine Bombe eingeschlagen. Die gute Frau las aus jeder Zeile seines Briefes, daß er glücklich war, und ihr mütterliches Herz strömte über von Dank und Freude.

Anders verhielt es sich freilich mit den Ehevermittlern und jenen hartnäckigen Ehecandidatinnen in ihrer Umgebung, welche die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten. Da rümpfte man gewaltig die Nasen, und die Gesichter wurden merklich länger.

„Also schon längst verheirathet? Nun, das hätte er früher sagen können. Freilich, was mußte das für eine Frau sein, die er so lange hatte verheimlichen müssen! Das hatte gewiß seine besonderen Gründe. Wie konnte es auch anders sein – eine Creolin! Und er hätte es so gut haben können. Der arme, verblendete, unglückliche Mann!“

Als jedoch das junge Paar Besitz von der festlich geschmückten Wohnung genommen, als die anmuthige Professorin ihre ersten Besuche gemacht, als sie ihrerseits anfing Besuche zu empfangen, da war es merkwürdig, auf welch unbedeutendes Maß die Befürchtungen für das Glück des verehrten Mannes plötzlich herabgesunken waren. Die junge Frau war so bescheiden und anspruchslos trotz ihrer überseeischen Abstammung, ihrem Reichthum und ihrer hochvornehmen Geburt und Erziehung. Sie kam mit so freundlicher Güte jeder kleinen Verlegenheit entgegen, sie wußte so vortrefflich Rath in der heiklen Frage der Toilette, sie veranstaltete so gemüthlich-reizende Soiréen, sie gab vor Allem so vortreffliche Diners!

Fast zugleich mit ihrer Herrin war auch die Mulattin Annita in dem Universitätsstädtchen erschienen, und es trug ungemein dazu bei, das Ansehen der jungen Frau zu erhöhen, daß sie eine Person von so fremdartigem Aussehen zur Verwalterin ihres Hauswesens hatte. Es versteht sich, daß die treue Seele in Walter’s Familie so ziemlich die Rechte einer Schwiegermutter genoß, und sie gab in dieser schwierigen Stellung durch kluges Verschwinden, wenn es an der Zeit war, und durch rücksichtsvolles Auftauchen, wenn es gefordert wurde, ein Beispiel, das man nicht genug der Nachahmung empfehlen kann.

Von Melazzo hat man nie wieder etwas gehört, wie oft auch Walter sich nach ihm erkundigt hat. Die Wogen des Zufalls, die den seltsamen Menschen einen Augenblick emporgetragen, haben ihn, wie tausend andere werthvollere Existenzen, auch wieder spurlos hinweggespült. Der einzige Mensch vielleicht auf Erden, der ihm eine dankbare Erinnerung und sogar eine Art von Anhänglichkeit bewahrt, ist, seltsamer Weise, unser Professor. Es ist ihm, trotz aller blutigen Thaten des abenteuerlichen Mulatten, nicht möglich, ihm so feind zu sein, wie er es, wenn man die Sache vom sittlichen Standpunkte aus betrachtet, eigentlich sein sollte, er verdankt ihm nun einmal das Beste, was das Leben ihm geboten hat – seine Frau.




Vielleicht?!
(Vergl. das Bild auf S. 825.)

Ein ärmlich Stübchen unterm Dach:
Drin lehnt der junge Musikant;
Es streicht der Saiten Zauber wach
im Bogenzug die schmale Hand.
Das rauscht und flüstert, perlt und singt
Schon seit dem frühsten Morgenlicht:
Ob er’s erreicht? Ob er’s erringt?
Vielleicht – o Gott: vielleicht auch nicht

An kahler Wand ein Lorbeerkranz,
Der Preis für seiner Jugend Müh’,
Verwelkt nun; stumpf der Blätter Glanz;
Der stolze Kranz, er kam zu früh.
Schier endlos dehnet sich der Gang
Zum Ziel, das höchsten Ruhm verspricht,
Ihm wird so schwül, ihm wird so bang:
Vielleicht – o Gott: vielleicht auch nicht!

Beim Lorbeerkranz ein Mädchenbild,
Mit Sternenaugen, gleich der Nacht.
Ein Lächeln weich und gnadenmild
Umschwebt der dunklen Lippen Pracht.
In seine Seele fiel ein Strahl
Von diesem Engelsangesicht:
Dereinst – vielleicht dereinst einmal!
Vielleicht – o Gott: vielleicht auch nicht!

Ein roh Geschirr auf rohem Tisch –
Es trug sein kärglich Morgenbrod.
Längst schwand die Wange jugendfrisch;
In hohlen Zügen haust die Noth.
Doch einst – – dem Ruhm ein Fürstenkleid
Zu weben hält die Welt für Pflicht –
Geduld – vielleicht nur kurze Zeit!
Vielleicht – o Gott: vielleicht auch nicht!

Und hast’ger geigt die schmale Hand,
Und heißer brennt der tiefe Blick – –
Das ist der Traum im Wüstensand,
Der Traum von künft’gem Künstlerglück!
Und ob so oft die Hoffnung dorrt,
Wie Kraft im Fieberringen bricht –
Fort lebt das dunkle Marterwort:
Vielleicht – o Gott: vielleicht auch nicht!

Victor Blüthgen.[2]




Blätter und Blüthen.

Altersasyle. Wenn die steigende Zahl von Anfragen nach einer wohlthätigen Einrichtung dafür spricht, daß sie zum dringenden Bedürfnisse geworden sei, so ist dies mit den Versorgungshäusern oder Heimstätten für das hülfsbedürftige oder alleinstehende Alter der Fall. Schon vor vier Jahren (Jahrgang 1875, Seite 828) sah sich die „Gartenlaube“ genöthigt, über den Bestand solcher Anstalten Erkundigungen einzuziehen. Wir konnten damals deren fünf nennen, in welche nicht das Ortsbürgerrecht allein den Zutritt eröffnet. Diese sind das „Bürgerliche Invalidenhaus“ in Mainz, zwar vorzugsweise katholische Stiftung, aber auch Evangelischen zugänglich; das „Diaconissenhaus“ zu Straßburg im Elsaß, zwar von Haus aus evangelischen Charakters, aber auch Katholiken pflegend; das „Versorgungshaus für alte Leute“ in Wiesbaden von dem Geschwisterpaar Zimmermann gestiftet, alten Leuten jeden Glaubens und Landes geöffnet; das „Hospital zum heiligen Leichnam“ in Danzig, Alten jeden Landes, aber nur Christen, zugänglich, und das „Frauenheim“ in Berlin (Adresse: N, Berlin, 21 Gartenstraße) mit dem Vereinshause zu Lichterfelde. Alle diese Altersasyle bestehen noch, doch sah das Straßburger sich gezwungen, durch die „Gartenlaube“ (1876, Seite 108) gegen neue Anmeldungen um Einhalt zu bitten, da alle Räume des Diaconissenhauses überfüllt seien. Ob dies noch immer und auch bei den übrigen genannten Anstalten der Fall – werden wir vielleicht auf diese Mittheilungen hin erfahren.

Noch dringender, als früher, kamen in diesem Jahre die Bitten um Anweisung sowohl von Wohlthätigkeitsanstalten für bedürftige und kränkliche Alte, wie von Heimstätten für zahlungsfähige Vereinsamte, welche für ihren Lebensabend freundliche Pflege und Umgebung suchen, und so konnten wir nicht umhin, unsere Anfrage darnach (in Nr. 25) zu wiederholen. Es sind uns zwar, zu den obigen fünf, noch fast ein Dutzend [828] Altersasyle angezeigt worden, doch hat sich auf geschehene Aufnahmegesuche hin ergeben, daß die städtischen darunter nur für Orts- oder Landesangehörige bestimmt sind. Wir nennen sie sämmtlich: in Karlsruhe die „Leopold- und Sophien-Stiftung“, mit drei verschiedenen Classen von Pfründnern (Vorstand: Geheimrath Muth); in Lichtenthal bei Baden-Baden das „Haus Salem“; in Trachenau bei Rötha (bei Leipzig) das „Friedrichs-Stift“ (Vorstand: Freifrau von Friesen); ferner soll in Salzburg ein „Asyl der barmherzigen Schwestern“ bestehen, und zwar in drei Classen, je nach den Bedürfnissen und Ansprüchen der Aufzunehmenden; eine ähnliche Anstalt soll soeben in Graz (Steiermark) am Fuß des Schloßberges errichtet worden sein. Ferner sind ähnliche Versorgungsanstalten angezeigt in Constanz, Halle an der Saale, Eisleben, Stralsund (im „Johannis-Kloster“), Greifswalde. Die Verwaltung all dieser letztgenannten Altersasyle liegt in der Hand der betreffenden Magistrate. Für alte Kranke öffnet sich das „Siechenhaus Bethesda“ in Niederlößnitz bei Dresden durch den Vorstand desselben, Herrn Pastor Fröhlich in Dresden.

Wenn wir den Inhalt der in jüngster Zeit eingegangenen etwa zwanzig Anfragen überlesen, so befürchten wir, daß unsere heutige Auskunft nicht allen die ersehnte Hülfe bringen werde. Die größere Anzahl bilden die Frauen, wie in allen derartigen Versorgungsanstalten, Asylen, Hospitälern, vulgo Spitteln etc. Unter den alten Männern ist ein Lehrer, dessen Pension nicht zum Sattwerden ausreicht, und ein Geschwisterpaar im Alter von dreißig und vierzig Jahren, das sich in einem Stifte auf Lebenszeit einkaufen möchte. Weiß Jemand dafür Rath, so bitten wir um Mittheilung.

Abermals haben auch Private zur Aufnahme von Alten und Gebrechlichen unter bestimmter Uebereinkunft sich bereit erklärt, und zwar aus Frankfurt am Main, Aibling in Oberbaiern, Moabit bei Berlin, Olerig bei Trier, Neustadt an der Haardt, Constanz, aus Schafhaus bei Esens in Ostfriesland und aus Chemnitz in Sachsen. Da wir jedoch selbstverständlich für diese keinerlei Garantie übernehmen können, so steht es uns auch nicht zu, sie öffentlich zu nennen. Die Adressen derselben stellen wir aber auf brieflichen Wunsch gern zu Gebote.

Unerwähnt ließen wir bisher gerade das Altersasyl, welches, nach seiner Darstellung in Wort und Bild in Nr. 32 im Jahrgang 1872 der „Gartenlaube“, die Wünsche nach ähnlicher Alterspflege erst an so vielen Orten zugleich wach gerufen hat: das Johannisstift in Leipzig, äußerlich ein Pracht-, im Innern ein Musterbau, welcher 380 bis 390 Hospitaliten, gegen ein Einlagecapital von 200 Thalern für die einzelne Person und von 300 Thalern für Eheleute, Wohnung, Kost, Heizung und ungestörte Ruhe bei freiem Verkehr nach außen bietet. Soll das Alter sich wohl fühlen, so kann es nur in einem Hause nach diesem Muster sein. Leider hängt der Eintritt in den Genuß dieses Stiftes ebenfalls vom Besitze des Leipziger Bürgerrechts ab. Lage, Größe und Einrichtung desselben im Auge, kann man wohl zu der Ansicht gelangen, die schon der Gründer dieses Blattes hegte, daß kaum eine andere Stiftung in Deutschland so geeignet sei, wie diese, mit sich eine Heimstätte für solche Greise und Greisinnen zu verbinden, welchen nicht Mangel an Mitteln, sondern nur Mangel an Pflege und das Bedürfniß der Geselligkeit die Sehnsucht nach solchen Asylen einflößt. Eine solche Zweiganstalt würde nicht blos ein Segen für viele noch lebensfrohe Alte werden, sondern auch einen Zuschuß für die Verwaltungscasse des Johannisstifts abwerfen. Der Gedanke verdiente wohl die Beachtung und Prüfung von Seiten der Stiftsbehörde.


  1. Aus des talentvollen Verfassers demnächst erscheinendem Werke „Unsere Lieblinge. Ein Liederbuch für Väter und Mütter. Illustrirt von Otto Försterling und Oscar Pletsch.“ (Glogau, Flemming.) Gustav Weck ist unsern Lesern durch mehrere anmuthige poetische Beiträge obigen Genres bereits vortheilhaft bekannt.
    D. Red.
  2. Aus des Verfassers soeben erscheinender Weihnachtsgabe: „Gedichte“ (Leipzig, Edwin Schloemp).