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Die Gartenlaube (1878)/Heft 41

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[669]
Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


2.

Am folgenden Morgen stand Army mit sonniger heiterer Miene vor der Großmutter: er hatte ihre Verzeihung erhalten. Zwar zuckte sie lächelnd die Schulter, als er ihr seine Ansicht aussprach, daß die noch unbekannte Blanka ja mit erben könne. „Du bist ein Phantast, Army,“ sagte sie scherzend, widersprach ihm aber nicht, sondern deutete mit der schlanken Hand auf ein Tabouret zu ihren Füßen. „Setz’ Dich! Ich habe Dir noch Einiges mitzutheilen, bevor wir scheiden.“

Die Zimmer der alten Dame hatten ihre luxuriöse Einrichtung behalten und machten auf den ersten Anblick einen beinahe prächtigen Eindruck. Wer genauer hinsah, bemerkte wohl, daß die Farben des schweren purpurrothen Stoffes verblichen und die Seide hin und wieder gebrochen war, aber trotzdem verliehen die Vorhänge an Thür und Fenstern, die zierlichen Palissandermöbel, der große Smyrnaer Teppich dem Zimmer einen beinahe üppig eleganten Charakter. Von den Wänden schauten aus goldenen Rahmen heitere italienische Landschaften; diese Bilder waren Erinnerungen an glückliche Tage, welche die Baronin als junge gefeierte Gräfin Luja in Venedig und Neapel verlebt hatte, und in diesen Erinnerungen vergaß sie die trostlose Gegenwart.

„Ueber Dein Verhalten gegen Tante Stontheim brauche ich Dir keinen Wink zu geben, Army,“ begann sie, eng die gestrige Klippe vermeidend. „Du wirst Dich ja zu benehmen wissen; sag’ ihr meine innigsten Grüße, und ich wäre eine alte, müde Frau geworden.“

„Diese Bestellung muß ich ablehnen, Großmama,“ sagte Army galant, „unmöglich kann ich mein Gewissen mit einer Lüge belasten.“

Die alte Dame lächelte geschmeichelt, und ihm einen leichten Streich auf die Wange gebend, bemerkte sie: „Nicht ironisch sein gegen Deine alte Großmama!“

Army küßte ihr die Hand. „Und was hat mir Großmama noch zu sagen?“

„Ja richtig, ich muß Dich noch vor etwas warnen. Du trittst sehr jung in’s Leben und hast das leidenschaftliche Blut meiner Vorfahren geerbt. Genieße Deine Jugend nach Herzenslust, aber hüte Dich vor einer ernsthaften Neigung! Es muß sich Vieles in der vereinigen, die Du einst heimführst, alte Familie und Vermögen, Army, viel Vermögen; es ist einer der wenigen Wege, die Dir offen stehen, den gesunkenen Glanz Deines Hauses wieder aufzurichten. – So, und das wäre Alles,“ schloß sie, „und wenn Du versprichst, mir mitunter zu schreiben, so hätten wir uns weiter nichts zu sagen.“

Der junge Officier lächelte.

„Gewiß, Großmama, ich schreibe bald, denn ich werde viel Zeit haben, und ängstige Dich nicht! An’s Heirathen kann ich doch unmöglich schon denken; ich bin erst achtzehn Jahre gewesen.“ Er lachte laut auf; es war auch keine Spur mehr von dem gestrigen Schatten in dem heiteren Gesichte. „Darf ich Dir jetzt Adieu sagen, Großmama?“ fragte er, „ich möchte noch einmal in den Ahnensaal hinaufgehen, um der schönen Agnese Mechthilde einen Abschiedsbesuch zu machen. Sieh, Großmama, da kann ich Dir gleich eine Beruhigung geben,“ fügte er hinzu, „wenn ich nicht ein Mädchen finde, die ihr ähnlich sieht, dann heirathe ich überhaupt nicht, denn sie ist mein Ideal einer Frau.“

„Du meinst die Mechthilde mit den rothen Haaren?“ fragte ganz erstaunt die alte Dame.

„Ja!“ nickte der Enkel. „Ich habe eine Schwäche für rothes Haar. Apropos, Großmama – darf ich das alte Buch behalten, das Du gestern Abend mit hinunter brachtest?“

„Gewiß, es ist eine Familienchronik, und ich hatte sie für Dich bestimmt.“

„Danke tausendmal! Auf Wiedersehen zu Mittag!“ Er küßte ihr die feine Hand, und gleich darauf schlossen sich die rothen Falten des Thürvorhanges hinter ihm.

Ein Liedchen pfeifend, schritt er den Corridor entlang und stand bald im Ahnensaal vor dem Bilde der schönen Agnese Mechthilde. Von dem dunkel gehaltenen Hintergrund hob sich der zierliche Kopf fast plastisch ab; üppiges goldenes, beinahe röthliches Haar barg sich, von der weißen Stirn zurückgestrichen, unter einem Häubchen von Silberstoff. Unter dieser Stirn, unter den scharf gezeichneten Brauen, die seltsam contrastirten mit dem hellen Haar, blickten große dunkle Augen hervor, mit dem Ausdruck eines tiefen unergründlichen Schmerzes sahen sie den Beschauer an, so träumend, so leidversunken, als suchten sie ein verlornes Glück. Es webte ein mattes Dämmerlicht in dem großen Raume. Army zog den Vorhang des zunächst liegenden Fensters zurück, und nun flutheten die Strahlen der kalten klaren Wintersonne über die rothen Haare des schönen Weibes; es schienen goldene Fäden darin aufzusprühen, und wieder übten die Augen auf ihn den alten Zauber, diese träumenden, so unergründlich schmerzlichen Augen.

[670] Da hörte er einen leisen Schritt und die kleine rosige Hand seiner Schwester legte sich ihm auf die Schulter.

„Hier steckst Du, Army? Wir wollen zu Tische gehen. Komm hinunter, Army! Du mußt ja nachher bald fort, und ich habe Dich den ganzen Morgen noch nicht gesehen.“

Er zog das junge Mädchen an sich. „Schau mich einmal an, Nelly!“ bat er, und hob mit der Hand das Köpfchen ein wenig in die Höhe, „bist Du fröhlich oder bist Du mir noch böse?“

Ihre Augen feuchteten sich, als sie dem Bruder in’s Gesicht sah, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Böse? Nein, o nein! Aber komm doch – es ist so kalt hier.“

Er nahm ihre Hand, und sie schritten der Thür zu; ehe er sie schloß, wandte er sich nochmals zu dem Bilde um.

„‚Darumb nimb war, wasz für Haar! Ist solches roth, hatz groß Gefahr‘,“ flüsterte er vor sich hin. – –

Kaum eine Stunde später stand die alte Sanna droben an einem der Fenster des Corridors; sie blickte dem scheidenden Army nach. Er hatte Abschied genommen von der weinenden Mutter; nun ging er eben über den Schloßhof, und Nelly folgte ihm im schlichten Mäntelchen; sie hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Bruder nahe zu sein bis zur letzten Minute des Abschiedes.

„Ganz die Großmutter!“ murmelte die alte Sanna vor sich hin, „das Herz lacht Einem, wenn man ihn nur anschaut.“ Sie hielt sich die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. „Es wird ihm nicht fehlen,“ dachte sie weiter, „er kann anklopfen wo er will: die Reichste, die Schönste wird sein, und solch Malheur, wie sein Vater hatte, wird ihn doch nicht verfolgen. O, wenn meine Baronin noch erleben könnte, daß hier im Schloß wieder ein fröhliches glänzendes Leben aufblüht! Sie thäte noch einmal jung werden und schön. O Du blutiger Heiland, wie wollte ich Dir auf den Knieen danken dafür!“

Indessen schritten die Geschwister die alte Lindenallee hinunter; es war ein wunderbar schönes Winterbild, das vor ihnen lag. Unten, wo die Allee endete, schimmerten die weißen schneebedeckten Berge herüber, von den Bäumen wie in einen Rahmen gefaßt; seitwärts blickten die Häuser des Dorfes mit ihren beschneiten Dächern hervor; fast aus jedem Schornstein stieg eine Rauchsäule kerzengerade in die kalte Winterluft, und zur andern Seite zog sich der Wald hin im herrlichen Schmuck des Anhanges; über Weg und Steg lag eine blendend weiße Decke gebreitet – todtenstill war es in der Natur; nur ein Schwarm Krähen zog mit heiserem „Krah! Krah!“ von den Bäumen empor und stiebte den weißen Schmuck der Aeste ab, der nun langsam in glitzerndem Gefunkel zur Erde schwebte. Und über dem Ganzen lag der rosige Duft der untergehenden Sonne, der in der Ferne in einem wundervollen Violett verschwamm.

Die Blicke des jungen Mannes schweiften über die anmuthige Landschaft.

„Sieh, Nelly,“ sagte er, „das Alles, soweit Dein Auge reicht, war einmal unser.“

„Auch die Papiermühle?“ fragte die Kleine und deutete hinüber zu dem schiefergedeckten Giebel derselben.

„Die Mühle selbst nicht, aber ein ansehnlicher Theil des Grundbesitzes. Großvater hat es dem Vater des Müllers verkauft, als er sich einmal in Verlegenheit befand – so erzählte mir Großmama. Der Mann geht jetzt stolz zur Jagd, während wir –“ er fuhr sich mit der Hand über die Augen; dann lachte er und begann zu pfeifen er wollte nun einmal nicht grübeln.

Am Gitterthor des Parkes wandte er sich noch einmal und sah die lange Allee zurück; dort schimmerte das mächtige Portal; die Stufen der breiten Freitreppe waren verschneit, und der Schnee war hoch hinaufgeweht gegen die massiven Flügelthüren. Märchenhaft schön trat das Schloß hervor, übergossen von der jetzt intensiv rothen Gluth der sinkenden Sonne; die Fenster leuchteten wie flüssiges Gold zu dem jungen Manne hinunter, genau so golden und rosig wie die Zukunftsträume, die sich in seinem Herzen entfaltet hatten.

„Es muß hier wieder anders werden,“ sagte er, „es muß; ich will es.“ Er wandte sich und folgte seiner Schwester.

Schweigend gingen sie neben einander her; endlich stand der junge Officier still und sah nach der Uhr.

„Weißt Du, Schwesterchen,“ sagte er, „ich muß rasch zuschreiten, will ich die Post nicht versäumen; kehr’ Du um! Du machst Dir nur kalte Füßchen in dem tiefen Schnee; leb’ wohl, Kleine, und grüße mir Alle noch einmal herzlich!“ Er beugte sich nieder und küßte ihr den frischen Mund. „Laß Dir auch die Zeit nicht gar zu lang werden in dem alten einsamen Schloß!“ fügte er hinzu und sah sie fast mitleidig dabei an.

Sie schüttelte den Kopf. „O nein, ich habe ja Lieschen.“

Sie standen gerade dort, wo der Weg, auf dem sie gekommen, in die Landstraße einbiegt. Drüben führte zwischen Tannen ein Weg nach der Papiermühle und mündete ebenfalls an dieser Stelle; die Straße senkte sich ziemlich steil zum Dörfchen hinunter, und eine Linde streckte ihre Zweige über eine verschneite Steinbank aus. Vom Dorfe her tönte jetzt deutlich ein Posthorn. „Weil ich nun scheiden muß, gieb mir den Abschiedskuß! Mädel ade, Scheiden thut weh,“ sang, die Melodie nachahmend, eine helle Kinderstimme jubelnd und neckend in die Welt hinaus, und gleich darauf trat ein junges Mädchen hinter den Tannen hervor. Sie stutzte, als sie die beiden Gestalten dort erblickte; über das kindliche Gesichtchen zog einen Augenblick eine dunkle Röthe, und ein paar tiefblaue Augen senkten sich wie erschreckt zur Erde, aber dann schritt sie gleich näher, und der liebliche rothe Mund lächelte, daß sich zwei herzige Grübchen in den Wangen bildeten.

„Ach, Nelly,“ rief sie, „wie schön, daß ich Dich treffe! Und Du, Army,“ fragte sie kindlich und ohne eine Spur von Scheu, „willst Du schon wieder fort und bist nicht einmal bei uns in der Mühle gewesen?“

Der junge Officier war dunkelroth geworden, als er die blauen Augen auf sich gerichtet sah und die Hand ergriff, die sie ihm nach Kindesart hinhielt. Er war noch nicht weltgewandt genug, um eine Entschuldigung zu erfinden; sein Lächeln verschwand vor dem köstlich rosig angehauchten Gesichtchen, das fragend und vorwurfsvoll zu ihm emporblickte.

„Army muß ganz plötzlich abreisen,“ sagte Nelly, „sonst –“ sie stockte, es war ihr unmöglich, dem arglosen Kinde etwas vorzulügen; sie hätte weinen mögen vor Scham und sah wie hülfesuchend auf ihren Bruder. Aber schon die wenigen Worte genügten dem jungen Mädchen. „Guter Army,“ sagte sie ganz beruhigt, „ich hatte Dich schon im Verdacht, Du würdest gar nicht mehr zur Mühle kommen; ich wollte eben einmal zu Nelly gehen,“ – sie lachte, daß wieder die Grübchen in den Wangen erschienen – „um nachzusehen ob es wahr ist, was die Muhme behauptet, nämlich daß Du stolz geworden bist. Nun aber kann ich sie auslachen, gelt? Du wärst heute oder morgen doch gekommen,“ sagte sie treuherzig.

Er sah zu ihr herüber, wie in Gedanken verloren. „Wie Du groß geworden bist!“ sagte er dann und ließ seine Augen über die schlanke Gestalt gleiten. Lieschen war wirklich fast so hoch emporgewachsen, wie er selbst; sie sah so anmuthig aus in dem blauen mit Pelz besetzten Sammetjäckchen; plötzlich wurde sie dunkelroth unter seinem Blick und fragte rasch:

„Willst Du mit der Fünf-Uhr-Post fort? Dann mußt Du eilen, Army; ich freue mich, daß ich Dich doch noch als Officier gesehen habe.“ Sie hielt ihm wieder die Hand hin, und wieder legte er die seine hinein; er lachte jetzt auch; es kam etwas wie Erinnerungen aus der Kinderzeit über ihn.

„Den Letzten, Army!“ rief sie dann, schlug ihn leicht auf die Schulter und lief eilig davon. Einen Moment stand der junge Mann, als wolle er, wie früher, ihr nacheilen, um ihr „den Letzten“ wieder zu geben, wie sie es jedesmal gemacht hatten, wenn sie vom Schlosse oder er von der Mühle fortgegangen war – sie hatten sich so gern damit geneckt. Aber dann zog er rasch seinen Paletot über den Armen zusammen, nickte noch einmal zurück und ging. Er sah sich nicht wieder um nach den beiden Gestalten dort, die ihm Arm in Arm nachschauten; er mußte ja eilen.

Unter der alten beschneiten Linde wurden ein Paar süße blaue Augen feucht, und eine Stimme, aus welcher der Uebermuth plötzlich so ganz geschwunden war, flüsterte ein leises „Lebe wohl!“

Auch Nelly weinte, und als seine Gestalt hinter den Häusern des Dorfes verschwand, da fragte sie ängstlich: „Nicht wahr, Lieschen, Du bist dem Army nicht böse?“

Aber Lieschen antwortete nicht; sie schüttelte nur das Köpfchen und ging ganz stumm, ganz schweigsam neben der Freundin her. Die rosige Gluth des Himmels war verblichen, und nur ein [671] mattes Gelb färbte noch den Horizont; die Fenster des alten Schlosses blickten wieder so traurig wie immer hinaus in das ewige Einerlei, und in den beiden jungen Herzen bangte die Wehmuth des Abschieds; der Kuß, den sie sich am Gitterthor des Parkes zur Gute Nacht gaben, war inniger, viel inniger als sonst, und Lieschen war es, als könne sie die kleine Hand der Freundin heute gar nicht loslassen, und nun flüsterte sie noch einmal: „Gute Nacht!“


3.

Die Lumpenmühle, wie die Papierfabrik von jeher im ganzen Umkreise genannt wurde, lag reizend zwischen hohen alten Bäumen an dem rauschenden kleinen Flusse. Das stattliche Wohnhaus mit der vergoldeten Wetterfahne auf dem spitzen Schieferdache stammte noch aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und hatte sich den Charakter der damaligen Zeit bewahrt. Die schwere eichene Hausthür mit dem blankgeputzten Messingklopfer war noch dieselbe; die vielen kleinen Scheiben der Fenster hatte noch kein neumodisches Spiegelglas ersetzt, und die geschnitzte Inschrift auf dem hervorspringenden altersgrauen Balcon verkündete, daß dieses Haus „zu Ehren Gottes Anno 1741 erbauet sei von Johann Friedrich Erving und seiner Ehefrauen Ernestine geborenen Eisenhardtin.“ Die alten Drachenköpfe an den vier Ecken des Daches waren noch immer bereit, das Regenwasser hinabzuspeien, und die grauen Sandsteinbänke neben der Hausthür unter den zwei großen Linden galten auch heute noch als der liebste Platz der Familie an schönen Sommerabenden. Ein großer Obstgarten umgab das Haus von drei Seiten mit schnurgeraden Wegen, einer schattigen Jasminlaube und vielen Johannis- und Stachelbeersträuchern; dieser Garten stand unter der besondern Herrschaft der Muhme. In der ganzen Umgegend gab es nicht solch vortreffliche Aepfel- und Birnensorten wie auf der Lumpenmühle, und der Spargel auf den sorglich gepflegten Beeten der Muhme war geradezu berühmt wegen seiner Zartheit und außerordentlichen Größe.

Wer hätte sich auch die Lumpenmühle denken können ohne die Alte? Wie gemüthlich sah sich das gleich an, wenn man über den Mühlsteg schritt, der dem Wohnhause gegenüber lag! Der alte Frauenkopf bog sich dann hinter den schneeweißen Vorhängen hervor, um den Gast mit ein Paar freundlichen hellen Augen willkommen zu heißen; die Alte schob das Spinnrad bei Seite und war so hurtig, daß sie meist den Eintretenden schon in der stets offenen Hausthür empfangen konnte mit einem freundlichen „Grüß Gott! Wie wird sich Minnachen“ – das war die Hausfrau – oder „Wie wird sich der Friedrich“ – das war der Hausherr – „freuen!“ und dann trippelte sie voran und öffnete die Thür, um den Gast in das behagliche Wohnzimmer treten zu lassen, und indem sie das gewichtige Schlüsselbund von ihrer Seite nahm, verschwand sie schleunigst in Küche und Speisekammer.

Die alte Frau lebte schon von ihrem zehnten Jahre an in der Lumpenmühle; sie war ein Waisenkind gewesen, und der Großvater des jetzigen Besitzers hatte das allzeit freundliche kleine Mädchen erzogen; so war sie die Spielgefährtin seiner beiden Kinder geworden. Sie hatte diese Wohlthat durch Treue und stete Anhänglichkeit gelohnt, hatte gute und schlechte Tage mit der Familie getheilt und war nun schon lange ein liebes Mitglied des Hauses und geradezu unentbehrlich. Die Ervings hatten sich stets ausgezeichnet durch Güte und Wohlwollen den Armen gegenüber; sie hatten die rechte Hand nie wissen lassen, was die linke that, und der Herr hatte es ihnen gesegnet, wie die Muhme so oft sagte; sie waren die reichsten Leute weit und breit.

Es hatte auf der Mühle allzeit Männer gegeben von echtem deutschem Schrot und Korn, deren Handschlag mehr galt als zehn Eide und die einen festen Willen mit Schaffensdrang und rastloser Thatkraft vereinten. Das „Bete und arbeite“ war von jeher der Wahlspruch der Familie gewesen, der den Kindern von den Eltern eingeprägt wurde. Die Mühle besaß aber noch eine Berühmtheit, die beinahe sprüchwörtlich geworden, und das war die Schönheit der Frauen und Töchter. „So sauber, als stammte sie von der Mühle“, war gang und gäbe im Dorfe, wenn man einem hübschen Mädchen ein Compliment machen wollte, und die blauen Augen der schönen Müllerskinder hatten schon seit langen Zeiten gar manch Einem Kummer und Herzweh gemacht. Die alte Mühle hatte auch viel fröhliches Leben erblühen sehen, und immer war es echte, rechte, goldene Fröhlichkeit.

Mit den Derenberg’s war immer ein nachbarliches, freundliches Einvernehmen gewesen; es waren ja beiderseitig Naturen, die sich hochachten mußten, und wenn der jeweilige Gutsherr am Mühlbach entlang ritt und der jeweilige Müller saß unter der Linde mit seiner Frau, so entspann sich immer ein freundliches Gespräch. Auch in der Noth reichte man sich die Hände, und als die Kriegsjahre von Anno 1807 bis 1813 hereinbrachen, da konnten Blutsverwandte nicht treuer zusammenhalten, als die stolzen Derenberg’s und die Ervings von der Lumpenmühle.

Als die Muhme in’s Haus kam, erblühten dem Besitzer zwei fröhliche Kinder. Das Mädchen war mit ihr in einem Alter, der Knabe um vier Jahre älter. Sie wuchs mit ihnen auf; freilich hielt die Müllerin, eine Frau, die ebenso wirthschaftlich wie fromm war, streng darauf, daß das kleine Waisenmädchen aus dem armen Tagelöhnerhause auch in ihrem Stande bliebe; sie sollte später als Magd im Hause dienen, aber Frau Erving konnte und mochte es doch nicht verhindern, daß die drei Kinder zusammen spielten und sich zwischen den beiden Mädchen eine innige Freundschaft entwickelte, die mit den Jahren immer fester wurde. Der Knabe seinerseits hielt gute Cameradschaft mit den beiden Söhnen, die drüben im Schlosse emporwuchsen und die Baronin Derenberg liebte den blondlockigen Jungen so sehr, daß sie die Eltern bestimmte, ihn an dem Unterrichte ihrer Söhne theilnehmen zu lassen. So kam der kleine Friedrich aus der Dorfschule in das Lehrzimmer des freiherrlichen Schlosses, und es hat wohl schwerlich jemals einen dankbareren Schüler gegeben.

Später, als die Derenberg’schen Söhne erwachsen waren und längst die große Tour im Auslande gemacht hatten, der Aelteste bereits das Besitzthum angetreten, das sein Vater ihm hinterlassen, und der Jüngere ein flotter Reiterofficier geworden war, auch da kamen sie immer gern einmal wieder in das alte Haus, um den Freund zu besuchen. Die kleine Lisette war indessen zur stattlichen Jungfrau herangewachsen; sie besaß die sprüchwörtliche Schönheit der Müllerstöchter in vollstem Maße und konnte mit ihren großen Augen, die so tief und blau waren wie der See in den Derenberg’schen Forsten, Jeden so herzgewinnend anschauen.

Mariechen war auch groß geworden, ein Prachtmädel, wie die Hausfrau sagte; sie sprang und sang in Küch’ und Keller umher und hatte dabei ein so neckisch – freundliches Wesen, daß man dem muntern Ding mit den rothen Wangen gut sein mußte. Sie durfte zwar jetzt die Spielgefährtin nur „Mamsell“ und „Sie“ anreden, aber heimlich kam doch das traute Lisett und Du wieder einmal über die Lippen, und gar manchen Sommerabend saßen sie eng umschlungen in der Jasminlaube dort unten am Wasser, wie sie es schon als Kinder gethan.

Und in dieser Zeit war es, wo ein schweres Geschick über die Familie hereinbrach, so schwer, daß die gebeugten Eltern es kaum zu tragen vermeinten; aus dem muntern Mariechen ward ein ernstes, stilles Mädchen; es betraf ja auch das Kleinod des Hauses, die schöne Lisett.

Das reizende Kind hatte zwar oft genug von ihrer sprüchwortkundigen Mutter den Reim gehört:

„Gleiches Gut, gleiches Blut,
Gleiche Jahre giebt die besten Paare.“

aber wie konnte sie dessen gedenken, als wirklich die Liebe in das junge Herz zog, die von Rang und Stand so gar nichts wissen will. Und sie liebte zum erstem Male mit dem reinen vertrauensvollen Kinderherzen, und die Liebe, die ihr entgegengebracht wurde, war nicht minder ernst und heilig gemeint, als die ihre. Da griff eine Hand rauh und frevelnd in das eben erblühte Glück; es war eine feine, schöne Frauenhand, aber sie riß die beiden Herzen so jäh aus einander, daß das eine seinen Wunden erlag – Lisett schloß ihre wundervollen blauen Augen nach einem kurzen, schweren Krankenlager für immer.

Von Stund an wurden alle Beziehungen zwischen Mühle und Schloß abgebrochen, und wenn die trauernde Marie den jungen Gutsherrn an der Seite seiner schönen Gemahlin drüben am Waldwege vorbeisprengen sah, dann seufzte sie wohl leise in sich hinein: „Sie ist ja aus dem leichtsinnigen Italien – wie kann sie wissen, wie einem deutschen Herzen zu Muthe ist, wenn es Jemand so recht innig lieb hat? Aber die Vergeltung schläft nicht.“ – –

Das war nun lange, lange her, und die Menschen, die damals in der Mühle gelebt hatten, waren längst todt. Marie [672] war alt geworden und bei den Ervings geblieben, geachtet und geliebt, als gehöre sie zur Familie. Friedrich Erving, der jetzige Besitzer der Mühle, der Neffe der schönen Lisett, hatte in ihr eine zweite Mutter gefunden, denn als seine Eltern früh starben, da nahm sie ihn an ihr sorgendes Herz und zog ihn zärtlich groß. Er war frisch herangewachsen unter ihrer Obhut, und als er eines Tages ein liebliches Weib heimführte, da trat sie dem jungen Paare auf der Schwelle der väterlichen Wohnung freundlich entgegen, und der junge Gatte legte ihr sein eben gewonnenes Kleinod herzlich in die Arme: „Da, Muhme“ – denn so nannte er sie stets – „nun hab’ sie auch ein wenig lieb und ersetz’ uns Beiden die Mutter!“

So war es denn auch geworden. Und als nun gar die Muhme am Taufsteine in der alten Dorfkirche stand, ein Töchterchen des jungen Paares über die Taufe hielt und ein paar große blaue Kinderaugen zu ihr aufschauten, da fielen Freudenthränen hernieder auf das Bettchen der Kleinen, und ein heißes Dankgebet für all das Glück, das ihr beschieden, stieg zum Himmel auf. Die Kleine erhielt den Namen: Lieschen.

Um diese Zeit brach die Katastrophe über die Bewohner des Schlosses herein und erschütterte die Herzen in der stillen Mühle – der jähe Tod des Baron Derenberg. Die Muhme saß schweigend vor ihrem Spinnrade und dachte, wie doch Gottes Mühlen so gerecht mahlen. Und als eines Tages ihr Liebling, das kleine vierjährige Lieschen, und noch ein ebenso kleines blondes Lockenköpfchen Hand in Hand über den Mühlweg getrippelt kamen, gefolgt von einem bildhübschen Jungen mit schwarzem Haare und trotzigen Augen, der verlegen an seiner kleinen Holzpeitsche spielte, da ging sie ihnen entgegen, nahm das süße Lockenköpfchen auf den Arm, und als die Kleine auf die Frage, ob sie oben auf dem Schlosse wohne, genickt hatte, da trug sie das Kind in die Wohnstube zu der jungen Frau und nahm dann an einer Hand den Knaben und an der andern ihr Lieschen und führte sie auch hinein, und beide Frauen, die alte und die junge, liebkosten die kleinen vaterlosen Kinder, bis das blonde Mädchen endlich die Aermchen um den Hals der alten Frau schmiegte und der Knabe mit aufleuchtenden Augen den Apfel ergriff, den sie ihm hinhielt. Und als sie dann wieder heimwärts trippelten über den Mühlsteg, der Bruder das Schwesterchen sorgsam führend und Beide immer wieder die Köpfchen wandten und zurücknickten, da preßte die junge Frau ihr Töchterchen an das Herz, und indem ihr große Thränen aus den Augen perlten, sagte sie: „Heute Abend müssen wir dem lieben Gott recht danken dafür, daß Du noch einen Vater hast, einen so guten, lieben; schau die beiden Kinder da – die haben nun keinen Vater mehr, und es fehlt ihnen sonst noch viel, so viel!“ Von dem Tage datirte die Freundschaft zwischen Lumpenmüllers Lieschen und den Derenberg’schen Kindern.

Auf der Mühle war indeß das Leben behaglich weiter geflossen. Lieschen blühte immer holder auf, sie war ein kluges Mädchen geworden und lernte fleißig. Der Herr Pastor, des Vaters Freund und ihr Pathe, unterrichtete sie, und die Frau Pastorin sprach französisch mit ihr und lehrte sie singen. Wenn sie mit ihrer schmiegsamen nicht starken Altstimme die alten Volkslieder der Heimath sang, dann wurden der Muhme die Augen feucht: „Grad wie die Lisette!“ sagte sie halblaut vor sich hin.

Daß der Army, nun er ein großer Officier geworden, die Mühle nicht wieder besucht hatte, wunderte die alte Frau kaum. „’S ist der Großmutter Blut,“ sagte sie. Aber Lieschen wollte nicht glauben, daß Army stolz geworden sein könnte, derselbe Army, mit dem sie noch vor gar nicht langer Zeit so unbefangen gelacht; sie mußte ihn selbst fragen – sie machte sich auf nach dem Schlosse. Und sie traf die Geschwister an der großen Linde; Army stand im Begriff abzureisen, aber es war ja so leicht aufgeklärt: er mußte so plötzlich fort, sonst wäre er sicher gekommen. Als sie dann wieder in der warmen Stube vor der alten Frau stand, die eifrig spann, da sagte sie: „Siehst Du, Muhme, es ist gar nicht wahr, daß der Army stolz ist; er hat nicht kommen können, weil er ganz eilig wegfahren mußte, – ich wußte es ja.“

„So?“ fragte die alte Frau.

„Ja! Du böse Muhme hast mich ordentlich erschreckt, Du –“ schmollte sie.

„Na, das Ei ist ja immer klüger als das Huhn,“ erwiderte diese. „Also Nelly hat gesagt, er hätte kommen wollen?“

„Ja, und Nelly lügt nicht.“

„Nelly ist ein gutes Kind; ich freue mich immer, wenn sie kommt; sie hat das Derenberg’sche Gesicht und Gemüth, – das waren kreuzbrave Leute, die Derenbergs, bis die – –“ Sie schwieg.

„Was meinst Du Muhme?“

„Na, wenn der Teufel die Leut’ verderben will, so ist er schön wie ein Engel.“

„Was sagst Du?“

„Nichts sage ich, das ist nur so für mich, aber glauben kannst Du’s, Liesel, was der Herr Pastor am Sonntag von der Kanzel geredet hat: ‚Unser Gott ist ein gerechter Gott,‘ das ist ein wahr Wort, und nun guck mich nicht so verwundert an! Geh’ lieber einmal an die zweite Ofenröhre! Da liegen die schönsten Bratäpfel für Dich.“


(Fortsetzung folgt.)




Das Leben und Treiben auf dem Meeresgrunde.
Bilder aus dem Aquarium zu Neapel.
Von G. H. Schneider.
I.
Die Mittel und Wege der Krabben zum Beute-Erwerbe und zum Schutze des eigenen Lebens. – Inniges Freundschaftsverhältnis zwischen Einsiedlerkrebs und Seerose.

Das Leben und Treiben der Landthiere, insbesondere der Insecten, verbirgt sich, wie Jedermann weiß und wie auch an dieser Stelle bereits wiederholt besprochen worden, vielfach unseren Blicken. Aber eine noch größere Fülle ganz versteckten Lebens birgt der Grund des Meeres. Auch hierüber ist den Lesern der „Gartenlaube“ schon eine Reihe fesselnder Artikel geboten worden, allein die nachfolgende, durchaus auf wissenschaftlichen Studien beruhende Darstellung wird ihnen das Thema erweitert und von neuen Gesichtspunkten aus vorführen.

Während auf der Oberfläche und in der Tiefe des Wassers sich zahllose Fische umher tummeln, bald andere verfolgen, bald vor den stärkeren fliehen, während die Polypen an den Felsenklippen umhersuchen, um in Ritzen und Löchern irgend eine Krabbe ausfindig zu machen, und während endlich unzählige durchsichtige Geschöpfe, die Nachts bei Berührung in Feuer geballt scheinen, alle Schichten des Meeres bevölkern, glaubt man auf dem Grunde oft nur Seepflanzen und Steine, aber kein thierisches Wesen finden zu können. Weit gefehlt! Sobald man die scheinbar unwirthbaren Sand- und Schlammmassen durchwühlt, belebt sich der ganze Boden. Nach allen Seiten suchen ungeahnte aufgescheuchte Räuber, welche hier auf Beute lauerten, mit den vielfältigsten Lauf-, Kriech- und Schwimmbewegungen zu entfliehen. „Alles rennet, rettet, flüchtet,“ und im nächsten Augenblicke ist wieder nichts mehr zu sehen. Sehr begreiflich; denn die Rochen und Schollen haben sich an einer anderen Stelle schnell wieder mit Sand beschüttelt und liegen bewegungslos unter ihrer Decke; der Sternseher, der Meerengel, das Petermännchen, der Seeteufel und andere Grundbewohner sind ebenfalls in den Sand verschwunden, und nur der mit diesen Thieren Vertraute bemerkt die stetig sich nach allen Seiten bewegenden lauernden Augen derselben.

Und die hurtigen Krabben? sie haben sich schnell wieder hinter Steinen und Seepflanzen versteckt oder sind wie der Blitz in den Boden versunken und lauern nun mit den hervorstechenden Augen auf Beute. Bemerken sie solche in der Nähe, dann steigen

[673]

Bewohner des Meeres.
Nach der Natur gezeichnet von Conrad Siemenroth.

[674] sie langsam aus dem Boden heraus und umschleichen das Opfer mit einer Vorsicht und Geschicklichkeit, die dem Fuchs keine Schande machen würde. Sie umgehen die Beute behutsam und benutzen dabei jeden Stein und jede Muschelschale listig als Deckung; haben sie sich nahe genug herangeschlichen, dann stürzen sie sich nach Raubthierart plötzlich auf ihr Opfer und zerreißen es. Kann die Krabbe ihre Nahrung bequemer haben, so greift sie ruhig zu. Von einer lebenden Schnecke rupft sie sich, wie ich beobachtet habe, gemüthlich ein Stück ab und frißt es. Begegnet sie einer anderen Krabbe, die mit Algen oder Thierstöckchen bewachsen ist, so langt sie mit der Scheere hin, kneipt sich einige derselben, ohne erst zu fragen, ab und läßt sie sich schmecken. Sehr häufig schießt eine Krabbe auf eine andere schwächere ihrer Art zu, packt sie mit fast allen Beinen, und man glaubt dann schon, es werde zu einem Kampfe auf Tod und Leben oder – zu einer Liebesscene kommen; allein was geschieht? Während sie den Gefangenen mit mehreren Fußpaaren festhält, liest sie ihm mit der einen Scheere die Parasiten von seinem Rücken ab und frißt diese, ganz so, wie es zum Entsetzen des Berliner Thiergartenpublicums die Affen machen. Nahen sich, während eine Krabbe mit Fressen beschäftigt ist, zudringliche Bettler, Diebe und Räuber, so haut sie mit den Füßen, ohne das Fressen einzustellen, muthig auf sie ein oder verbirgt ihren Bissen ganz hinter ihren Scheeren, genau so wie Kinder ihre Leckerbissen an die Brust drücken und mit den Händen bedecken, wenn andere Leckermäuler kommen und etwas begehren.

Die Art, wie die Krabben, überhaupt alle zehnfüßigen Krebse, Nahrungsgegenstände mit den Scheeren nehmen, sich kleinere Stücke von größeren Leichen abrupfen und zum Munde führen, läßt sich nur mit dem Fressen der höheren Wirbelthiere vergleichen und hat etwas ganz Menschliches. Diese Krebse benutzen ihre Scheere wie der Mensch seine Hände. Beim Abrupfen der Stücke, etwa von einem todten Fische, hält der Krebs seine Beute mit der linken Scheere fest und rupft mit der rechten ganz so, wie wenn wir mit den Händen ein Stück Tuch zerreißen.

Noch mehr als die Gewohnheiten zum Nahrungsgewerbe verdienen die Schutzgewohnheiten der Krabbe unsere Bewunderung.

Im Neapolitaner Aquarium sieht man an den Wänden des Krebsbassins eine Menge orangerother Klumpen, die an den Steinen festgewachsen scheinen; das sind Spongien (meist Sarcotragus spinosulus) die aber nicht dort an den Steine, sondern – auf den Rücken von Krebsen sitzen, welche die Spongien mit besonderen Rückenfüßen festhalten, um gegen feindliche Angriffe geschützt zu sein. Löst man eine solche Spongie von der Wand ab, so findet man unter derselben einen dunkelgrünen oder braun gefärbten kräftigen und knollenförmig gebauten Krebs (Dromia vulgaris) mit starken Scheeren, die er dem Ruhestörer drohend entgegenhält. Es ist ein unbeholfenes plumpes Thier, und seine ganze Kruste ist mit rauhen, filzigen Haaren bedeckt, weshalb man den Krebs Wollkrabbe nennt, während man ihn besser als Filzkrabbe bezeichnen würde. Seinen lebenden Schild und Schirm hält er mit den zwei rückgebildeten und auf den Rücken verschobenen Fußpaaren sehr fest und trägt ihn bei seinen unbeholfenen Ortsveränderungen stets mit sich herum, was einen komischen Anblick insbesondere dann gewährt, wenn noch irgend eine von den bizarren Krabben als buckeliger Reiter auf dem Schwamme hockt und sich gemüthlich mit herumtragen läßt. Bei jeder Berührung duckt sich die Wollkrabbe so auf ihre Unterlage, daß die Spongie dieselbe fast berührt und der Krebs vollständig darunter versteckt ist. Fräulein Johanna Schmidt hat in der neuen Auflage von Brehm’s „Thierleben“ die Wollkrabbe mit ihrer Spongie sehr hübsch und naturgetreu wiedergegeben!

Ganz ähnliche Schutzgewohnheiten wie die Wollkrabbe haben deren Verwandten. Zuweilen bemerkt man zu seinem nicht geringen Erstaunen, daß ein Muschelschalenstück, ein Stein, ein Algenblatt oder sonst ein Gegenstand, der auf dem Grunde liegt, sich plötzlich bewegt und – davonrennt. Bei genauer Beobachtung sieht man nun, daß diese Dinge ebenfalls durch eine Krebs (Dorippe) bewegt werden, welcher sie als schützenden Schild mit seine Rückenfüßen frei über sich hält und sich meist ganz auf den Boden duckt oder sich selbst noch in den Sand vergräbt, sodaß der Unkundige absolut nichts von dem Thiere und nur der Kenner vielleicht die Augen und zwei Taster sieht. Der Krebs ist ganz glatt gebaut und hat an den Beinen sehr lange Krallen und zwei dickbauchige Scheeren. Wenn er sich fortbewegt, schleicht er, ganz flach auf den Boden gedrückt, umher, hält seinen Schild frei über sich und richtet ihn bald nach dieser, bald nach jener Seite, je nachdem ihm von vorn oder hinten, von links oder rechts irgend welche Gefahr droht, und das macht er mit einer Gewandtheit und Ueberlegung, die den Beobachter immer in Erstaunen setzt. Deckt ihn sein Schild unvollkommen und er findet einen passenderen Gegenstand, so tauscht er, wirft den einen weg, kriecht erst von hinten unter den andern und schiebt ihn dann mit seinen Rückenfüßen noch vollends so weit vor, bis er sich vollständig gedeckt weiß.

Andere Krabben haben es darauf abgesehen, sich ganz unsichtbar oder unkenntlich zu machen, und einige verstehen das ganz meisterhaft. Bestellt man bei einem Fischer die Seespinne (Maja), so bringt er einen Kübel, der absolut keine lebenden Thiere zu enthalten und dafür nur mit Steinen, die mit Algen bewachsen sind, gefüllt scheint. Man nimmt einen solchen vermeindlichen Stein in die Hand, und auch dann rührt sich vielleicht noch nichts. Legt man das räthselhafte Ding auf den Tisch, so sucht es sich nun auf einmal auf und davon zu machen und sich zu verstecken; wendet man es nun um und sieht es genauer an, so bemerkt man zu seiner Verwunderung, daß der erst scheinbar todte Körper ein Krebs ist, dessen Rücken und Beine aber ganz dicht mit allerlei Algen bedeckt sind, welche alle festgewachsen scheinen und es zum Theil auch in der That sind.

Löst man diese Seepflanzen von dem Thiere ab und reinigt dessen Rücken, der eine Schicht von Schlamm oder Sand aufweist, noch mit einer Bürste, so sieht man, daß Rücken und Beine mit kurzen, dicken, borstigen Haaren besetzt sind, die in geordneten Doppelreihen stehen und an der Spitze alle zu Häkchen umgebogen sind, an welch letztere die Algen vom Krebs selbst befestigt werden. Wir setzen nun eine so gereinigte Seespinne in ein Bassin, in welchem sich verschiedene Algen befinden, und genießen ein ganz reizendes und überraschendes Schauspiel. Der Krebs untersucht die Pflanzen, biegt einen kleinen Büschel zu sich heran, hält die Spitze mit der linken Scheere und kneipt mit der rechten diese Büschel ab, so handlich, wie wenn ein Mensch mit den Händen etwas abbricht oder mit einer Scheere abschneidet. Diesen abgeknippenen Büschel führt er nun mit beiden Scheeren zum Munde, wie es scheint, um das untere Ende zu untersuchen. Nun packt er den Büschel sehr manierlich mit einer Scheere in der Weise, wie wir einen Blumenstrauß in die Hand nehmen, führt ihn langsam und bedächtig nach seiner Stirn, setzt ihn dort auf und bewegt ihn hin und her, bis er sich in die gekrümmten Haare eingehakt hat. Ist das gelungen, so zieht er noch einmal daran, um zu sehen, ob die Pflanze fest sitzt; ist es so, dann führt er seine Scheere wieder langsam nach unten, greift nach einem neuen Büschel und wiederholt das ganze Manöver, und das so oft und so lange, bis er Stirn, Rücken und Beine mit den Pflanzen dicht besteckt hat.

Auf die Stirn setzt er, was das Wunderbarste ist, meist einen oder zwei große Büschel und an die Seite mehrere Reihen kleinere. Wenn er mit seinen Scheeren diesen Stirnschmuck einhakt, denkt man unwillkürlich an eine Dame, die ihre Kopfputz zurecht macht und sich Nadeln einsteckt. Der Hauptzweck dieses Aufputzens mit Seepflanzen ist wohl der, sich unkenntlich zu machen. Allein diese Thiere schmücken sich oft oder meist in einer so eigenthümlich wählerischen Weise, daß man meinen möchte, sie thun es auch mit einer gewissen Eitelkeit. Man gewinnt bei von mir und Andern häufig gemachten Beobachtungen der Krebse ein ganz anderes Urtheil über die psychische Befähigung der Gliederthiere, wenn man auch annehmen muß, daß die natürliche Selection bei diesen Geschöpfen, deren Verwandte schon in den ältesten Schichten gefunden worden, eine großen Theil zur Entwickelung ihrer Gewohnheiten beigetragen hat. Das umstehende Bild zeigt neben den übrigen eben besprochenen Seethieren in der obere Ecke links so eine in vollem Staate befindliche Seespinne – gewiß zum Amüsement der Leser.

Zuweilen bestecken sich diese seltsamen Geschöpfe auch ganz unregelmäßig mit allen möglichen Dingen, einzelnen Algenfetzen, Fasern, gebleichten Blättern, Holzsplittern u. dergl. m., und Niemand wird dann unter einer solchen Decke ein lebendes Wesen vermuthen. Haben sie keine Pflanzen, dann wissen sie sich anders zu helfen. Sie graben sich zum Theil in den Sand, wobei sie bedächtig einzelne Steinchen mit der Scheere unter sich [675] ergreifen, sie in menschlich handlicher Weise ruhig auf die Seite legen und dadurch zugleich einen Wall bilden. Dann nehmen sie wieder kleine Steine, Muschelschalenstücke, kleine Glasscherben u. dergl. m. in die Scheere, führen diese nach dem Rücken, legen die Gegenstände behutsam dort ab, rücken sie, wenn sie nicht gut zu liegen kommen, noch zurecht und bedecken sich so nach und nach den ganzen Rücken, der dann genau so aussieht, wie die nächste Umgebung.

Einige solcher Seespinnen hielt ich einst in meinem Privataquarium, nahm ihnen ihren Rückenschmuck ab, reinigte sie so gut wie möglich vom Sande und legte eine Menge Papier- und Leinewandstreifen zu ihnen in das Bassin. Nach kurzer Zeit hatten sie alle die noch vorhandenen Algenstückchen aufgelesen und sich damit besteckt, aber kein einziger Krebs hatte Leinewand- oder Papierstücke dazu benutzt, ein Beweis, daß diese Thiere letztere gar wohl von den grünen Pflanzen unterscheiden und ganz gut wissen, daß sie unter diesen weniger auffallen und besser geborgen sind, als unter jenen. Ich entfernte dann jeden Rest von Pflanzentheilen, sodaß ihnen außer Steinen und Muschelschalen nur Leinewand und Papier zum Bedecken zur Verfügung stand. Drei der Thiere graben sich in den Sand ein, scharrten kleine Steine und Muschelschalenstücke unter sich hervor und belegten ihren Rücken damit, aber zwei Individuen bequemten sich jetzt auch, aus Mangel an Pflanzen, sich mit Papier und Leinewand zu schmücken. Sie sind also nicht etwa gezwungen, nur das zu benutzen, was ihnen ein sogenannter Instinct vorschreibt, sondern richten sich, wie wir Menschen, ganz nach den Verhältnissen; bei Ueberfluß wissen sie das Bessere zu wählen; bei Mangel begnügen sie sich mit dem Schlechteren nach dem Grundsatze: besser etwas, als gar nichts.

Das Schutzbedürfniß der so mannigfachen Verfolgungen ausgesetzten Krebse hat zu einem höchst interessanten Verhältnisse zwischen einigen Einsiedlerkrebsen und Seerosen geführt – ein Gegenstand der Beobachtung, den Karl Vogt den Lesern der „Gartenlaube“ bereits in seinem Artikel „Ferienstudien am Seestrande“ (Nr. 2: „Gute Freunde“) in Nr. 25 des Jahrgangs 1876 mit meisterhafter Anschaulichkeit vorgeführt hat. Nachfolgende Mittheilungen dürften den Vogt’schen Darlegungen indessen noch einige interessante Ergänzungen hinzufügen.

Die Einsiedlerkrebse bewohnen, wie Vogt schildert, Schneckengehäuse, welche man meist mit gewissen Arten der Blumenthiere besetzt findet, und der Krebs schleppt das Haus sammt den darauf sitzenden Nesselthieren mit sich herum. Schon früher ist beobachtet worden, daß er beim Wohnungswechsel das Blumenthier mit sich nimmt und auf die neue Schale setzt, aber man wußte bisher nicht, wie diese Uebersiedelung zu Stande kommt. In Neapel ist es mir nun gelungen, hierüber interessante Beobachtungen zu machen.

Der Hinterleib des Einsiedlerkrebses ist nach Pagurenart dermaßen an die Schneckenwohnung gewöhnt, daß er ganz weich geworden ist und die Spiralform angenommen hat; es giebt kaum einen komischeren Anblick, als solch einen armen Einsiedler ohne Schale zu sehen, wie er in seinen lächerlichen Bewegungen umherirrt und ängstlich seinen Hinterleib, den ihm hungrige Fische gern abbeißen möchten, zu bergen sucht. Die Leser der „Gartenlaube“ wissen bereits aus den Vogt’schen Schilderungen, wie der Krebs nach einer zur Wohnung für ihn geeigneten Schale zu suchen pflegt, wie er, wenn er sie endlich gefunden, von derselben Besitz nimmt und nun sehnsüchtig nach seiner schönen, theuren Freundin, der Seerose, späht, ohne die er nicht leben mag. Er sucht nach allen Richtungen eifrig umher, denkt an kein Fressen, sondern läßt, wie ich mehrfach feststellen konnte, den schönsten Bissen unbeachtet liegen, bis er seine hübsch violett gefleckte Rose gefunden hat, und es ihm gelungen ist, dieselbe zu bewegen, sein Haus zur Wohnstätte zu wählen, um mit ihm vereint zu leben. Endlich findet er eine leere Schale mit einer vereinsamten Seerose, deren Gesellschafter ihr durch einen räuberischen Pulpen oder durch den natürliche Tod entrissen worden ist. Schnell betastet der Einsiedler das Gehäuse, untersucht das Innere, und findet er dasselbe geräumig genug, so zieht er plötzlich seinen Schnörkelleib aus der alten Schale heraus, dreht sich um und schlüpft zur Wittwe. Ist ihm deren Wohnung aber zu klein, dann entwickelt sich eine überaus interessante, bei diesen Thieren kaum vermuthete rührende Scene.

Der Krebs legt sich an die Seerose, packt mit der einen Scheere deren Tentakelkranz, zieht und drückt denselben an seine Schale, betastet und streichelt mit den übrigen Beinen das Blumenthier und macht eine ganz eigenthümliche Rückbewegung, durch welche er die geliebte Rose zum Uebersiedeln zu veranlassen sucht. Hat er eine halbe Stunde lang dieses ruckweise Anziehen fortgesetzt, so nimmt der Gegenstand seiner Liebe eine ganz andere Form an. Während unsere Rose vorher flach die Schale umgab, dehnt sie sich jetzt nach dem Krebs zu aus, wird ganz hoch und bekommt die für die anderen Blumenthiere charakteristische Form. Sie umschloß die Schneckenschale ringförmig, und ihre Sohlenränder schienen zusammengewachsen. Jetzt löst sie diese letzteren von einander und hebt den einen Theil der Sohle ganz von der Schale ab; die Sohle bläht sich an diesem Theile auf, krümmt sich dadurch zurück, biegt sich dann ganz um und heftet sich an der Schale des werbenden Einsiedlers an. Dieser haftende Theil rutscht weiter, und in wenigen Stunden hat die schöne Freundin den Werber und dessen Schale ganz umschlungen.

Immer geht diese Vereinigung aber nicht so glatt ab. Ist in der Nähe noch ein anderer Hagestolz, der eine Gefährtin sucht, dann setzt es heiße Kämpfe, die sehr oft mit dem Tode des Einen endigen mögen, nachdem bald dieser, bald jener auf einige Augenblicke die Gewünschte in seiner Macht und versucht hatte, sie zum Uebersiedeln zu bewegen. Sie treiben sich dabei gegenseitig aus den Schalen und kneipen sich in den weichen Hinterleib. Man findet selten einen Krebs ohne Seerose oder letztere ohne ersteren.

Nur der Engländer Gosse[1] hat bis jetzt über dieses merkwürdige Verhältniß Beobachtungen veröffentlicht, und der bekannte Zoologe Oscar Schmidt hat dieselbe in Brehm’s „Thierleben“ zum Theil wiedergegeben. Gosse hatte nur ein einziges Exemplar zur Verfügung gestellt; er löste die Seerose gewaltsam von der Schale ab, um zu sehen, ob und wie sie der Krebs auf seine Schale brächte, sah am nächsten Tage auch, daß sich das Blumenthier dort wieder theilweise angeheftet hatte, konnte aber nicht beobachten wie das freiwillige Ablösen von dem Gehäuse vor sich gegangen.

Ich habe mir zur eingehenden Beobachtung dieser Thatsachen mehr als dreißig Individuen dieser Thiere nach einander in meinem Privataquarium in Neapel gehalten und alle Einzelheiten sehr gut beobachten können. Ich hatte eines Tages vierundzwanzig Krebse beisammen. Mehrere zwang ich zum Verlassen der Schale, tödtete andere, welche dazu absolut nicht zu bewegen waren, und löste von einigen Gehäusen die Seerosen gewaltsam ab, wobei dann der Krebs auch stets die Schale verließ. Schließlich hatte ich erstens mehrere ganz leere Gehäuse, zweitens mehrere andere mit der Seerose besetzt, drittens alle noch lebenden Krebse ohne Wohnung und viertens einige Seerosen ganz isolirt. Die noch mit Blumenthieren versehenen Gehäuse verstopfte ich nun fest mit Leinwand, damit die Krebse nicht in diese, sondern nur in die ganz leeren Schalen schlüpfen konnten und so genöthigt waren, sich ihre geliebte Freundin von dem verstopften Gehäuse herunter zu holen. Alle Krebse, Gehäuse und Seerosen that ich nun in ein und dasselbe Bassin, und sofort suchten sich die ersteren wieder in den Schalen zu bergen. Mit Ausnahme eines einzigen verschmähten alle Krebse die geräumigen leeren Gehäuse, welche keine Rose besaßen, versuchten mit vieler Mühe und in menschlich handlicher Weise die Leinwandstücke aus den mit den geliebten Thieren besetzten Schalen herauszuziehen und, als sie ihre Anstregungen vergebens fanden, ihren schnörkelige Hinterleib noch mit einer wahren Wuth neben die Leinwand zu stopfen. Nur einem einzigen Krebse war es gelungen, das Stopfmaterial zu entfernen; die übrige hockten einige Zeit mit der verstopften Schale, die sie immer mit einem Fußpaare anhalten mußten, in lächerlicher Weise umher. Nach Verlauf von zwanzig Minuten nahm endlich der erste Krebs eine ganz leere Schale, untersuchte sie, schlüpfte hinein und begann die Uebersiedelung der Seerose zu bewerkstelligen; nach und nach thaten die anderen dasselbe. Nach einer Stunde waren schon vier Rosen umgezogen, nach anderen zwei Stunden wieder sechs, und am anderen Morgen waren alle Krebse mit Ausnahme von zweien versorgt. Diesen letzteren hatte ich zwei Helixgehäuse gegeben, und merkwürdiger Weise mühten sie sich vergebens ab, eine der ersehnten Blumen zum Uebersiedeln zu bewegen. Ich zwang sie diese Gehäuse zu verlassen und gab ihnen zwei der von ihnen bevorzugten Naticagehäuse, und nach wenig mehr als einer Stunde waren beide Krebse mit den gewünschten [676] Lebensgefährtinnen versorgt. Demnach scheint es, als ob die auf so niederer Entwickelungsstufe stehende Seerosen bereits die rauhere Helixschale von dem glatteren Naticagehäuse zu unterscheiden vermöchten.

Woher nun diese rührende Freundschaft zwischen Krebs und Rose?

Karl Vogt weiß in dem erwähnten Artikel keine sichere Antwort darauf. Ich glaube die Frage folgendermaßen beantworten zu können:

Schutzbedürfniß bei dem Einen und Nahrungsbedürfniß bei dem Andern sind die Triebfedern der Vereinigung. Die Seerosen, zu den Korallen- und damit zu den Nesselthieren gehörend, besitzen bekanntlich besondere Vertheidigungsorgane in den Mesenterialfilamenten – langen Fäden, welche reich mit Nesselkapseln gespickt sind, und welche die Thiere in der Gefahr überall aus dem Körper herauspressen können. Sobald nun der Krebs angegriffen wird, kneipt er die Seerose mit der Scheere, bis diese ihre sehr schön rosa gefärbten fadenförmigen Waffen herauspreßt. Diese vergiftenden Organe kennen die Krebsfeinde sehr wohl. Aeltere Pulpen verstehen es zwar meisterhaft, mit ihren feinen Armspitzen die unglücklichen Einsiedler aus ihrer Wohnung herauszuholen, ohne die Rose zu berühren, und die Seeschildkröten beißen bei gutem Appetite ebenfalls trotz der Seerose zu. Allein junge Pulpen lassen die durch Blumenthiere geschützten Krebse in Ruhe, und die Fische, welche einen armen Einsiedlerkrebs, der ohne Schale und Beschützerin ist, sofort in Schaaren verfolgen und ihm mit einem guten Biß den Hinterleib abreißen, versuchen nicht ihn anzurühren, wenn er sich in einem mit seiner theuern Freundin besetzten Gehäuse befindet.

Für diesen Schutz, welchen das Blumenthier seinem Wirthe bietet, genießt es aber auch seinerseits einen Vortheil. Der Einsiedlerkrebs hat nämlich die Gewohnheit mit seinen Kieferfüßchen den Sand zu durchsieben, um etwaiges Eßbare darin zu finden, und dabei erhält die Seerose, die den Krebs von unten umgiebt, sodaß ihr Mund ganz in die Nähe der Kieferfüße zu liegen kommt, auch ihren Theil.

Eigennutz ist also auf dem Meeresgrunde so gut wie auf dem Lande, beim Pflanzenthier und Krebs so gut wie beim Menschen meistens die Ursache der Vereinigung.




Der Hofjude Lippold.
Eine Ehrenrettung aus den Archiven.

Der Brandenburger Kurfürst Joachim der Zweite (1535–1571) hatte den im Jahre 1510 aus dem Lande vertriebenen Juden erlaubt, nach der Mark zurückzukehren und dort unter seinem Schutze zu wohnen, natürlich gegen Zahlung eines bedeutenden Schutzgeldes. Obgleich sie so üble Erfahrungen in Brandenburg gemacht hatten, überwog doch bei den Juden die Aussicht auf Ruhe und reichen Gewinn ihre Bedenklichkeit, und Viele schlugen wieder ihren Wohnsitz in Berlin auf.

Rege und außerordentlich scharfsinnig, wie das jüdische Volk vornehmlich im Handel und Geldverkehr ist, erwarben sich die meisten Einwanderer trotz ihrer hohen Abgaben an den Landesherrn bald Vermögen und beherrschten in kurzer Zeit so gut wie vollständig den Handel und den Geldmarkt in Brandenburg. Joachim der Zweite brauchte Geld, viel Geld. Mehr patriotisch als klug, hatte er gleich im Anfange seiner Regierung lebhaft den Kaiser in dessen Türkenkriegen unterstützt und sich dadurch eine bedeutende Schuldenlast aufgeladen und die großartigen Bauten, mit denen der Kurfürst sein Land zu verschönern suchte, verminderten seine Schulden keineswegs; das Schloß in Berlin, die Festung Spandau, Lustschlösser hier und dort zeugen wohl von seinem Kunstsinn und seiner Liebe zum Lande, desto weniger aber von seiner Sparsamkeit im Staatshaushalte, dazu kamen noch die galanten Passionen Joachim’s, die viel Geld verschlangen.

So kam es, daß der Kurfürst bald rathlos vor einem bedeutenden Deficit stand. Finanzminister, denen er die Schuld hätte in die Schuhe schieben und sie dann zum Teufel jagen können, gab es damals noch nicht; er verfiel daher auf ein anderes Mittel. „Wenn die Juden,“ so philosophirte er, „mit so vielem Glück für ihre eigenen Finanzen operiren, warum sollten sie es nicht auch einmal für den Staat können? Eines Versuchs wäre jedenfalls die Sache schon werth.“

Gesagt, gethan! Er hatte Lippold, den ältesten Sohn des nach Berlin übergesiedelten Prager Juden Hluchim, kennen gelernt, einen außerordentlich intelligenten, für seine Zeit wohlgebildeten Mann, der ihm einmal die großen Vortheile aus einander gesetzt hatte, die eine bessere Einrichtung der kurfürstlichen Münze mit sich bringen müßte. In seiner Geldnoth wandte sich jetzt Joachim an diesen Mann, und nach kurzen Unterhandlungen trat der Jude Lippold als Kämmerer und Münzmeister in kurfürstliche Dienste. Ehrgeizig, wie er war, verließ er im Jahre 1558 sein bescheidenes Häuschen in der Stralauer Straße, um seine Wohnung in der kurfürstlichen Münze aufzuschlagen.

Je öfter er dem Kurfürsten aus dringenden Verlegenheiten half, eine um so bedeutendere und einflußreichere Persönlichkeit wurde der Jude Lippold in Berlin, und man kann es ihm nur zur Ehre anrechnen, wenn er den Versuch machte, seinen unglücklichen Glaubensgenossen das Joch, das schwer auf ihnen lag, etwas zu erleichtern. Es gelang seiner Fürsprache beim Kurfürsten, die jährliche Abgabe der Juden im Jahre 1564 um ein Bedeutendes zu erniedrigen, zugleich wohl ein Zeichen dafür, daß seine Finanz- und Münzkünste diesen Ausfall in der Casse seines Herrn offenbar ersetzten, den die übrigen Unternehmungen Joachim’s, sein Einkommen zu vergrößern, namentlich die Goldmacherei, brachten ihm pecunitär nur Schaden, wenn sie auch vieles bisher Unbekannte für die Wissenschaft zu Tage förderten; wir erfahren wenigstens aus den Rechnungen Lippold’s nur von großen Ausgaben die für die Goldmacher und ihre Werkstätten im grauen Kloster aufgewendet wurden, niemals aber von Einnahmen, die aus jener Quelle geflossen wären.

Am Hofe und in der Stadt sah man es nicht nur mit Widerwillen, daß ein Mitglied des jüdischen Stammes zu so hohem Ansehen gelangt war, sondern übertrug auch seinen Haß auf alle Juden; der Pöbel nannte sie grollend nur das „Hamansgesindel“.

Dieser Haß wurde durch Lippold’s allerdings grenzenlosen Hochmuth und seine verletzende Anmaßung noch vermehrt. Er war unklug genug, diese Schwäche selbst hochgestellten Personen des kurfürstlichen Hofes in beleidigender Weise fühlen zu lassen. Freilich schwiegen die hohen Herren und unterdrückten ihren Groll einstweilen, wenn der Jude sie wie Bediente stundenlang im Vorzimmer des Kurfürsten auf Audienz warten ließ; denn wie damals die Verhältnisse lagen, waren sie ohnmächtig gegen den allmächtigen Günstling, zumal sich die meisten von ihnen noch außerdem selbst die Hände dem Juden gegenüber gebunden hatten.

Lippold machte nämlich neben seiner Staatsstellung noch auf eigene Rechnung etwas anrüchige Geschäfte; er hatte ein großartiges Lombardgeschäft etablirt, das schnell zu hoher Blüthe und fabelhafter Ausdehnung gelangt war. Unter den Versatzzetteln, die zum großen Theile noch vorhanden sind, finden wir die ersten Namen adeligen und bürgerlichen Standes; selbst ein Bürgermeister von Berlin ist darunter.

Dazu kam noch Eines: Lippold hatte die Spitze der Bürgerschaft, die damals sehr wohlhabend war, noch bei einer besonderen Gelegenheit schwer verletzt. Der Kurfürst hatte nämlich, um Metall für die Münze herbei zu schaffen, vielleicht auf Lippold’s Rath, den Befehl an die Bürger Berlins ergehen lassen, alle ihre alten Münzen gegen Bezahlung des vollen Werthes abzuliefern. Da aber nur Wenige, namentlich unter den Reicheren, dem Befehle Folge leisteten, so erschien eines Tages plötzlich Lippold in den Häusern von achtzehn der vornehmsten Bürger in Begleitung kurfürstlicher Trabanten, legte den erschrockene Männern den Handbefehl des Kurfürsten vor und erzwang so gegen Schadenersatz die Auslieferung alles vorhandenen gemünzten Geldes älteren und fremden Gepräges. Daß ein so gewaltsamer Eingriff in die Rechte und das Eigenthum ehrlicher Bürger selbst in jenen beschränkten Zeiten des fürstlichen Absolutismus viel Aufregung

[677] und böses Blut machte, ist ebenso wenig zu verwundern, wie daß dem Kurfürsten keine Schuld dafür aufgebürdet wurde; desto mehr aber grollte man dem Juden Lippold. Aus Furcht ertrug man das Geschehene zwar schweigend, aber vergessen war ihm nichts; ein Funke, und die furchtbare Gährung der Gemüther gegen ihn kam zum Ausbruch.

Man sollte nun meinen, daß wenigstens die Glaubensgenossen Lippold’s, die ihm so außerordentlich viel verdankten, auch dankbaren Herzens auf seiner Seite gestanden hätten, und doch war dem nicht so. Lippold war zu scharfsichtig und wirklich auch zu treu und energisch im Dienste seines Herrn, als daß er sich bei Einziehung der Judensteuer, welches Geschäft ihm wider seinen Willen aufgetragen worden war, zu allzu großer Nachsicht hätte bestimmen lassen. Härte war ihm fremd; wo er wirklich Noth fand, verfuhr er milde; wie es sich denn bei der späteren Untersuchung ergab, daß er bei dieser Steuererhebung einen Ausfall von einigen hundert Gulden, die er, wie er selbst erklärte, von den ärmsten seiner Brüder nicht hätte eintreiben können, dem Kurfürsten gegenüber aus eigener Tasche gedeckt hatte. Der Haß, der ihn von Seiten der Juden traf, war daher ein vollständig ungerechter; er entsprang aus dem Umstande, daß Lippold’s Liebe zu seiner Nation der Treue gegen seinen Fürsten unbedingt nachstand.

So war das Jahr 1571 gekommen. Am 2. Januar war der Kurfürst auf der Wolfsjagd gewesen, hatte darauf mit seinen Räthen zu Abend gespeist und beim Zubettgehen noch scherzend zu Lippold, der ihn um einige Quittungen für bezahlte Gelder bat, gesagt, ob er selbst nicht die beste Quittung sei? Dann hatte er sich einen Becher Malvasier von demselben als Schlaftrunk reichen lassen und sich schlafen gelegt. Um Mitternacht ward er plötzlich von heftigem Fieber und Beklemmungen geweckt, und ehe sein Leibarzt, Dr. Luther, ein Sohn des großen Dr. Martin Luther, herbei kam, war der Kurfürst eine Leiche. Es ergab sich bei der Leichenschau, daß Joachim eine von der Rose herrührende offene Stelle am Fuße hatte heilen lassen; dieses war die Ursache seines Todes.

Die vertrauten Räthe des Herrschers eilten von dessen Sterbebette bestürzt nach Hause. Sie ahnten Alle, daß es mit ihrer Stellung, mit ihrem Glücke vorbei sei, daß jetzt der schwere Zeitpunkt der Verantwortung an sie herantreten würde. Keiner aber war durch den Todesfall so niedergeschmettert, wie Lippold; denn er wußte, daß er in einer Nacht Alles verloren hatte. Er kannte die Erbitterung seiner Feinde, den Haß und die Strenge des neuen Herrschers, des Kurfürsten Johann Georg. Schon am andern Morgen wurden denn auch die vertrauteste Räthe Joachim’s des Zweiten und der Hofjude Lippold verhaftet, die Ersteren jedoch, da sie sich genügend verantworten konnten und sich auch wohl aus einflußreiche Verwandte stützten, bald aus der Haft entlassen, gegen Lippold dagegen, für den natürlich Niemand sprach, wurde eine Untersuchungscommission von drei Männern eingesetzt, an deren Spitze der Geheime Rath von Arnim stand.

Kaum hatte der Pöbel vernommen, daß der Kurfürst todt und der Jude Lippold verhaftet sei, als der lange heimlich genährte Haß gegen die Juden in unerhörter Wuth offen losbrach. Man plünderte die Synagoge in der Klosterstraße, stürmte die Häuser der reicheren Juden und mißhandelte in rohester Weise alle Mitglieder dieser unglücklichen Gemeinde. Niemand vertheidigte sie gegen die gemeine Brutalität; ihr einziger Beschützer, gegen den sie so oft undankbar gewesen waren, lag ja im Kerker.

Auf Milde und Nachsicht konnte Lippold bei seinen Richtern nicht rechnen; konnte er sich nicht auf die Gerechtigkeit seiner Sache verlassen, so war er unrettbar verloren. Die Richter, welche Johann Georg über den verhaßten Mann eingesetzt hatte, verfuhren zwar rücksichtslos, aber sie waren, wie der Präsident des Gerichtes Arnim, Ehrenmänner nach den Begriffen ihrer Zeit. Mit einer außerordentlichen Genauigkeit untersuchten sie die Rechnungsbücher Lippold’s, die trotz ihrer musterhaften Ordnung nur schwer entziffert werden konnten, da sie hebräisch geschrieben waren; vollständig wurden sie erst durch einen vereidigten Juden enträthselt. Aber Alles, was der Gerichtshof darin fand – und der Geschichtsforscher noch heute darin findet, denn sie sind unversehrt auf die Nachwelt gekommen – war nur das Lob Lippold’s, daß er die Ausgaben des Kurfürsten mit größter Gewissenhaftigkeit, oft sogar mit heftige Aeßerungen der Mißbilligung, wenn sie die Liebschaften desselben betrafen, ausgezeichnet hatte. Nirgends eine Spur von Veruntreuung! Ja, aus den Münzrechnungen ergab sich, daß der Jude noch 1700 Gulden von der Staatskasse zu fordern habe, und Pantel Thumb und der kurfürstliche Kammerknecht Matthias erklärten noch dazu, daß Lippold in ihrer Anwesenheit zu verschiedenen Malen dem Kurfürsten ohne Quittung Geldsummen gegeben habe. Nur eine Summe von 8000 Gulden konnte derselbe nicht mit Quittungen belegen, wobei er behauptete, der Kurfürst habe, so viel er bemerkt habe, die Quittungen ausgestellt, ihm aber trotz seiner Bitten noch nicht ausgehändigt, und wirklich bestätigte sich Lippold’s Aussage vollkommen, denn bei genauer Revidirung der hinterlassenen kurfürstlichen Briefschaften fand man die vermißte Rechnungen in der That quittirt vor.

Der Gerichtshof konnte daher nicht umhin, den Angeklagten von der Beschuldigung der Veruntreuung und Unterschlagung frei zu sprechen. Man entließ ihn demnach zwar aus dem Gefängniß, aber nur um ihn in seinem Hause an der Stralauer-Straße von der Bürgerschaft bewachen zu lassen. Die Versatz-Objecte gab man, so viel es zu ermitteln war, den ehemaligen Besitzern unentgeltlich zurück, ohne dabei auf die Ansprüche Lippold’s Rücksicht zu nehmen. Seitdem lebte er eine Zeit lang ungefährdet für sich.

Eines Tages aber, als er mit seiner Frau in Streit gerathen, hatte diese ihn einen bösen Schelm genannt und ihm vorgeworfen, „er führe mit seinem Zauberbuche allerlei Teufelskünste aus, wofür er längst den Tod verdient hätte“. Kaum hatte die Wache haltenden Bürger, denen dieser Dienst allmählich auch langweilig geworden war, dies vernommen, als sie es sofort dem Kurfürsten hinterbrachten, der nichts Eiligeres zu thun hatte, als ihn wieder in Ketten legen zu lassen und strengeren Richtern zu übergeben.

Die Anklage der Zauberei genügte nach der hochnothpeinlichen Gerichtsordnung Karl’s des Fünften, um Lippold durch die Folter zum Geständnisse zu zwingen, und die Richter glaubten dazu um so berechtigter zu sein, als sie ein hebräisches Buch bei ihm gefunden hatten, das Recepte zur Ausführung von allerlei Kunststücken enthielt.

Unter den furchtbaren Folterqualen gestand der schwächliche Mann bald zu, daß er in Zauberkünsten erfahren sei und durch dieselbe den todten Kurfürsten ganz für sich eingenommen habe. Als man ihn wieder befragte, leugnete er auch nicht, daß er denselben betrogen habe, – obgleich die Richter doch aus den Rechnungsbüchern den augenscheinlichsten Gegenbeweis hatten – namentlich noch letzte Weihnachten um eine schwere goldene Kette. Dieser letzte Punkt ist bezeichnend. Lippold hatte nämlich die Kette vom Kurfürsten zum Einschmelzen erhalten, um Portugaleser zu Geschenken daraus prägen zu lassen. Mit mehreren solchen Münzen hatte Joachim seine Räthe beim Jahreswechsel noch beschenkt, und obwohl die Richter dies wußten, wie aus den Proceßacten deutlich hervorgeht, war doch das eigene Geständniß des Angeklagten für sie genügend zur Verurtheilung auch in dieser Sache. Jetzt entstand bei den Richtern der Gedanke, den Juden auch wegen des plötzlichen Todes seines Herrn peinlich befragen zu lassen, und bald erklärte Lippold, um nur den Qualen zu entgehen, er habe den Kurfürst vergiftet und zwar mit Muskatenöl, Hüttenrauch und Mercurius sublimatus. Wenn wir auch gar nicht das oben erwähnte Urtheil des Dr. Paul Luther bei der Todtenschau hätten, so würde doch jeder vernünftige Mensch, ohne Jurist zu sein, zuerst fragen, ob der Tod des Fürsten für Lippold auch nur im Geringsten vortheilhaft gewesen sei. Diese Frage ist gewiß zu verneinen; denn wir wissen, daß Lippold’s ganze Hoffnung allein auf dem Leben des Kurfürsten beruhte, der allein ihn gegen seine Feinde und vor allen Dingen gegen den Thronfolger schützen konnte.

Trotz alledem verschlossen die Richter ihr Ohr jedem Vernunftgrunde und beriefen sich auf das Gesetz. Als der Jude sein Bekenntniß öffentlich ablegen sollte, leugnete er Alles wieder, worauf ihn aber der Scharfrichter Balzer dermaßen folterte, daß er erst wieder durch Wein zu sich gebracht werden mußte, wofür Balzer von einem „hocherleuchteten Judicum“ sehr gelobt wurde, „daß er seine Sache so gut gemacht habe.“

Natürlich gestand der arme Lippold unter diesen Qualen Alles wieder, was die Richter verlangten. So wurde er denn rechtskräftig zum Tode durch das Rad verurtheilt und nach [678] der Chronik der Kölner Stadtschreiber am 28. Januar 1573 „mit glühenden Zangen gezwackt, darnach von untenauff geredert, volgents geviertelt, vor jedem Thore ein Viertel aufgehenkt, daß Haupt uff S. Georgens Thor gestackt, die Eingeweide sampt seinem Zauberbuche gen Himmel mit Feuer geschicket.“ Als dabei gar eine große Maus unter dem Gerüste hervorrannte, da glaubte man fest, das sei der Teufel, der in Lippold gewohnt und nicht mit habe verbrennen wollen. Das Vermögen Lippold’s wurde vom Kurfürsten für Gerichtskosten eingezogen, der Rest von eintausend Thalern aber der Wittwe gegeben. Sie eilte vor den Thron des damaligen Kaisers Max des Zweiten und bat ihn, für sie beim Kurfürsten zu sprechen.

Max der Zweite war milder als seine Zeit; er schrieb an den Kurfürsten und forderte ihn auf, die Wittwe des Juden nicht ungerecht zu behandeln, aber der Kurfürst antwortete ihm ziemlich kurz, „er wünschte nicht weiter in dieser Sache behelligt zu werden; die Magdalena Lippold habe dem Hingerichteten selbst seine Teufelskünste vorgehalten, und der Jude habe selbst gestanden, daß er den Kurfürsten mit einem darzu sonderlich zugerichteten Trank davongeholfen.“ Die Wittwe bekam nicht ihr verlangtes Recht.

In das Schicksal des unglücklichen Lippold wurden auch die übrigen Juden der Mark hineingezogen; sie mußten zum zweiten Male in diesem Jahrhunderte den Wanderstab ergreifen und Brandenburg verlassen. Es heißt in dem Befehle, „sie trieben doch nur Wucherei (einen andern Broderwerb hatte man ihnen nicht erlaubt), seien Feinde der christlichen Religion, und ein Jude könne ja doch schon von Natur einem Christen nicht hold sein.“

Dr. R. R.     




„Die Illyrische Schweiz.“
Ein Blick in das österreichische Occupationsland.

„Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual“ –

Das schwere Wort, welches unser Schiller den Chor in der „Braut von Messina“ aussprechen läßt, – es drängt sich uns auf, so oft wir die Landkarten der bewohnten Erde an unserem Auge und das Schicksal ihrer Bewohner an unserem Geiste vorübergehen lassen. Nirgends jedoch tritt Schiller’s harter Urtheilsspruch gerechtfertigter, der Contrast zwischen der Schönheit und Gabenfülle des Landes und dem Schicksal und der Bildungsstufe der Menschen, die es bewohnen, uns greller entgegen, als auf dem Boden, welchen man bis zum Berliner Congreß des laufenden Jahres „die europäische Türkei“ nannte. Als der unglücklichste Theil dieses traurigen Reiches mußte aber der nordwestlichste Winkel desselben bezeichnet werden, das erst seit dem leider noch nicht letzten Türkenkriege wieder vielgenannte Bosnien mit der Herzegowina.

Wem es je vergönnt war, das im Süd und Ost von den stamm- oder schicksalsverwandten Montenegrinern, Albaniern und Serben begrenzte und im Nord und West vom österreichisch-ungarischen Reiche umklammerte Bosnien zu durchwandern, den mußte Entzücken und Entsetzen zugleich ergreifen: Entzücken über die Schönheit und Großartigkeit der Natur, die vom schneegekrönten Alpengipfel bis zu den anmuthigen Thälern und fruchtbaren Gefilden Alles darbietet, was eine zahlreiche Bevölkerung wohlhabend und glücklich machen könnte, – und Entsetzen über die fast unglaubliche Verwahrlosung und Verkümmerung von Land und Menschen zugleich. Kaum Vierfünftel des wasserreichen und üppigen Bodens ist bebaut; das ganze Gebiet war Eigenthum der brutalen Faulheit, die sich von Dem zu mästen verstand, was die unterjochte Menschenheerde unter Zwang und Noth auf Acker und Weide hervorbrachte.

Ja, „Menschenheerde“ ist sogar noch eine veredelte Bezeichnung für diese christliche Landbevölkerung, denn das Wort „Rajah“ mit welchem der Türke sie gebrandmarkt hat, bebeutet: „Viehheerde“; es ist dem Koran entnommen, dessen neunzehnte Sure die Gläubigen lehrt: „Am jüngsten Tage werden wir die Frevler in die Hölle treiben, wie eine Heerde Vieh zum Wasser getrieben wird.“

Wir haben es während des letzten Kriegs der Russen gegen die Türken erlebt, daß Stimmen sich erhoben, welche nicht nur die von den Türken begangenen Unmenschlichkeiten zu beschönigen, sondern auch die Zustände der Rajah ihnen selbst zur Last zu legen versuchten; sie kamen vorzugsweise aus englischen und magyarischen Federn, und beide logen aus allbekannten selbstsüchtigen Gründen. Die österreichische Occupation wird die volle Wahrheit an den Tag bringen. Eben deshalb ist es an der Zeit, durch einen, wenn auch raschen, Rückblick auf die Vergangenheit Bosniens zu erkunden, durch welche Schicksale es dort so geworden ist, wie wir es heute finden. Die Geschichte Bosniens ist reich an denkwürdigen Thaten, die eine eingehendere Schilderung verdienten; wir gewinnen wohl auch dafür Raum, wenn die Erfüllung der Hoffnungen, die wir auf die Erschließung des Landes durch Oesterreich setzen, Land und Volk unserer Theilnahme noch näher gerückt hat. Vor der Hand müssen wir uns auf wenige große Züge der bosnischen Geschichte beschränken.

Jedes Volk, dem Freiheit und Selbstständigkeit nicht allzu lange ganz verloren gegangen, hat in Sagen und Volksliedern sich Zeugen seiner frühesten Vorzeit gerettet. Die Bosnier und trotz ihrer langen Knechtschaft noch immer nicht arm an Sage und Liedern, aber die Freude am Singen wird ihnen durch ihr hartes Loos nur zu oft vertrieben; zur Erntezeit wird es jedoch laut in der Flur, wohl oft angeregt durch die serbischen Hülfsarbeiter, welche dann zahlreich aus dem freieren Lande nach Bosnien herüberkommen. In der Herzegowina, wo das Volk in seiner Felsenfeste dem türkischen Druck nicht so völlig erlag, wie in Bosnien, ist auch mehr Sangeslust gerettet und erzählen die Sänger gern von den Thaten gefeierter Helden ihres Volks. Während aber ihre glücklicheren Nachbarn in Serbien und Montenegro noch Heroen aus uralten Tagen im Liede preisen, ergeht das dichtende Volksgedächtniß der Herzegowina sich am liebsten in Kämpfen gegen den türkischen Unterdrücker.

Die gelehrte Forschung läßt aus der Sagenzeit verschiedene indogermanische Völkerschaften im Kampfe um das Land westlich von der Drina in die Dämmerung der Geschichte eintreten, die erst heller wird mit der Gründung des Illyrischen Reichs, des Nachbars von Macedonien unter seinen berühmtesten Königen Philipp und Alexander dem Großen. Im Jahre 168 vor Chr. waren beide Reiche den Römern erst zum Theil und 90 Jahre später ganz unterworfen. Bei der Theilung des römischen Reiches bildete die Drina die Grenze zwischen dem ost- und weströmischen Reiche, und Westillyrien mit Bosnien folgte fortan in politischer und kirchlicher Beziehung den Gebote Roms, bis auch dieses durch die Völkerwanderung über den Haufen gerannt wurde.

In Folge der Völkerwanderung, an der Pforte des Mittelalters, drangen neue Völker auch in Illyrien ein und besetzten die Gebiete, die sie noch heute inne haben. Gegen die Avaren, die schon zur Zeit des Kaisers Heraclius das Land heimgesucht hatten, zogen die slavischen Chrobaten und Sorben (Serben) heran. „Die Chrobaten oder Croaten,“ berichtet A. von Schweiger-Lerchenfeld,[2] dem wir hier folgen, „kamen wahrscheinlich von der Nordseite der Karpathen, die Sorben aber, ein Jahrzehnt später, aus der Lausitz.“ Die Croaten wurden nach langem Kampfe der Avaren Herr, und die serbischen Stämme ließen sich schließlich in der heutige Herzegowina nieder, die diesen Namen erst erhielt, als das Land sich dem Kaiser Friedrich dem Dritten unterworfen hatte, welcher es zu einem „Herzogthum St. Sawa“ erhob; Herzegowina bedeutet „das Land des Herzogs“.

Wir übergehen eine Reihe blutiger Kämpfe zwischen den Herren und Nachbarn des Landes, bis wir es als Königreich unter Stepan Twartko dem Ersten finden. Er erlebte noch die Schlacht auf dem Amselfeld, am 15. Juli 1389, welche die Osmanen Murad’s des Ersten zu seinen Nachbarn machte, und starb am 13. März 1391. Schwere Zeiten und große Thaten

[679] erfüllen die Königstage Bosniens, und um so trauriger ist es, daß der letzte König kein Held war. Nach schmachvoller Demüthigung vor dem kriegerischen Sultan Mohammed dem Zweiten wurde er 1463 auf der Hochebene von Bilaj hingerichtet. Zwanzig Jahre später waren die Türken auch Herren der Herzegowina. Noch dreiundsechszig Jahre lang suchte Ungarn den Türken den Besitz Bosniens streitig zu machen, bis die Schlacht bei Mohacz für die Türken entschied. Kein späterer Türkenkrieg änderte diesen Besitzstand, und der Friede von Carlowitz (1699) erhob den Sultan zum anerkannten Herrn des gesammten Bosniens.

Vor zwei Jahren hätte die Pforte sich mit den Kränzen des vierthalbhundertjährigen Jubiläums der Beherrschung Bosniens schmücken können; das Land feierte es durch den Ausbruch der Empörung. Die Umgestaltung aller Besitzverhältnisse hatte sofort mit der vollbrachten Eroberung begonnen, und sie ging rasch von Statten, denn sie fand bereitwillige Hand gerade in den Schichten des Volkes, dem die Ehre desselben hätte am heiligsten sein sollen. Da in den Augen der Türken nur die Gläubigen zum Besitz berechtigt waren, so schwor zuerst der bosnische Adel den christlichen Glauben ab, um seine Vorrechte zu retten. Seinem Beispiel folgte ein Theil der Bevölkerung und als Dritte die Secte der Bogomilen. Es sollen dies versprengte Waldenser gewesen sein, die gegen Ende des zwölften Jahrhunderts nach Bosnien und Dalmatien gekommen waren, wohin sie zu den schon vorhandenen zwei confessionellen Gegensätzen noch den dritten gebracht hatten. Sie waren die Ursache vieler Kämpfe und Verwüstungen, bis sie, gegen 40,000 Seelen stark, wegen harter Bedrückung in Bosnien nach der Herzegowina auswanderten. Stets von den beiden christlichen Confessionen angefeindet, traten sie jetzt zum Islam über und sind mit der Zeit von allen Renegaten die furchtbarste Geißel der Rajah geworden.

Die osmanischen Eroberer theilten nach dem bei ihnen herkömmlichen Brauche alles Land in drei Theile; einen Theil erhielt der Sultan, den zweiten die „Todte Hand“ und den dritten der Lehensadel. An das Volk kam nichts. Einen klugen Schritt zu ihrer Machtstärkung thaten die Türken damit, daß sie das Land in fünf große Heerbanne mit etwa vierzig Spahiliks (Capitainschaften) eintheilten. An der Spitze der Heerbanne standen die Sandschak-Beys, an jener der Spahiliks die Spahis, die einen erblichen Kriegsadel bilden, steuerfrei bleiben und von den Erträgnissen des Bodens ihres Gebiets den Zehnten (Dessetina) erhalten sollten. Auch der kleinere und kleinste Adel (Beys und Agas) erhielt entsprechende Vorrechte, war jedoch kein eigentlicher Kriegsadel und hatte, trotz seines Grundbesitzes, auf welchem die Rajah (die ihrem Glauben treu gebliebene Landbevölkerung) nur Pächter (Kmets) waren, keinen Anspruch auf den Zehnt.

War diese rücksichtsvolle Behandlung des Renegatenthums schon geeignet, den christlichen Landbewohnern einen harten Stand zu bereiten, so kam das Aussaugesystem, dem sie schutzlos preisgegeben waren, doch erst recht in Flor, als die Nachkommen der Renegaten sich als geborene Mohammedaner fühlten. Sie trieben’s toller, als die wirklichen Osmanen. Um das Uebel ganz voll zu machen, kam dazu noch ein eingeborenes Janitscharencorps, das in seinen Ansprüchen an die Rajah jedoch die Spahis und Beys noch überflügelte. Alle diese Renegaten-Nachkommen waren es auch, welche jede den Christen von Constantinopel anscheinlich bestimmte Erleichterung unmöglich machten, ja, mit Revolutionen nicht nur drohten, sondern sie sogar ausführten, wenn irgend eine Maßregel zu Gunsten der Rajah ihrer Beutegier ein Hinderniß zu bereiten drohte.

Wenn es trotz alledem in der letzten Zeit den Anschein hatte, als wollten die Verhältnisse der Rajah sich etwas erträglicher gestalten, so kam dies daher, daß der mohammedanische Bauer zuletzt nicht viel besser daran war, als der christliche, und daß Beide keine Abhülfe mehr von Stambul erwarteten. Das Grundübel lag an der „Efendi“-Wirthschaft in Stambul, welche durch den Erlös der verkauften Beamtenstellen ihr Lotterleben möglich und dagegen jede Steuerordnung unmöglich machte. Je theurer eine solche Stelle war, desto mehr beeilte sich der Beamte, innerhalb seines Verwaltungsbezirkes rücksichtslos zusammenzuscharren, so viel er vermochte. Was half alles Ach und Weh dem christlichen Bauern, dessen Zeugniß vor Gericht gegen jeden Mohammedaner ungültig war und der für jede Beschwerde sich unmenschlicher Rache aussetzte?

Wie ungeachtet aller Verordnungen und Befehle von Stambul in den Provinzen Alles beim Alten blieb, dafür lassen wir zwei Beispiele sprechen.

„Hatischerif von Gülhane“ hieß das Verfassungsstatut vom 2. November 1839, welches verkündete: „Die Regierung werde die Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Eigenthums ihrer Unterthanen ohne Unterschied des Glaubens mit aller Energie zu wahren wissen.“ Trotz dieser Glaubens-Sicherung verurtheilte der Stambuler Staatsrath einen Armenier, der den Islam angenommen und später reuig wieder aufgegeben hatte, zum Tode. Als der englische Gesandte Einspruch erhob, warf im Rathe der Großmufti nur die Frage auf: „Sind wir Mohammedaner?“ Das Urtheil ward unter dem Jubel des Volkes vollzogen, und zum Hohne aller Giaurs setzte man dem am Fischmarkt auf einen Spieß gesteckten Kopf des Hingerichteten einen Cylinderhut auf.

Dieselbe Beachtung fand der „Hati Humajun“ von 1856, welcher die völlige Gleichstellung der Christen mit den Mohammedanern aussprach. Als der Pascha von Erzerum den armenischen Bischöfen das großherrliche Schriftstück mittheilte, that er es mit der Bemerkung: wenn sie dasselbe öffentlich bekannt machten, so möchten sie für ihre Köpfe sorgen. Derselbe Pascha steckte nach wie vor jährlich nur an ungesetzlichen Steuern das Sümmchen von 800,000 Franken in seine Tasche.

Die politischen Humanitäts-Schauspiele der Pforte, deren Vorhang bald aus Haß gegen Rußland, bald zur Beschwichtigung der Großmächte des Abendlandes aufgezogen wurde, blieben für die Rajah selbst ohne jede Bedeutung. Nach wie vor lebte die christliche Bewohnerschaft im Sclavendienste der osmanischen Herren und mußte den Sclavenzoll der Kopfsteuer („Haradsch“) für die Erlaubniß ihres rechtlosen Daseins erlegen.

Eine Volkszählung nach unseren Begriffen fand dort nie statt; sie war schon unmöglich, weil bei dem mohammedanischen Theil der Bevölkerung das weibliche Geschlecht davon ausgeschlossen worden wäre. Nur ungefähre Schätzung ist es, welche Zahlen aufstellt, die zwischen 1,105,000 und 1,242,000 schwanken. Berechnet man, daß durch den Berliner Friedensvertrag ein Theil der Herzegowina an Montenegro abgetreten wurde und daß die letzten Revolutionen und Kriege viel Menschenleben gekostet, so wird die jetzige Bevölkerungszahl wohl hoch genug zur runden Summe von einer Million angeschlagen. Von diesen gehört etwa die Hälfte den beiden christlichen Confessionen an, von welchen wiederum etwa Vierfünftel dem griechisch- und der Rest dem römisch-katholischen Cultus huldigt. – Da eigentliche Osmanen nur in geringer Zahl in den größeren Städten zerstreut leben und nirgends in einflußreichen Massen auftreten, so ist die gesammte mohammedanische wie christliche slavische Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina in ihrem ursprünglichen Wesen unberührt geblieben. Körperlich ihren Stammverwandten im östereichischen Croatien und in Serbien noch vollkommen gleich an hohem Wuchs, an Haltung und Gesichtsbildung und nur geistig gedrückter, haben sich ihre guten und schlimmen Sitten und Gebräuche aus uralter Zeit ziemlich unverändert erhalten. Ihre schöne Sprache, die bosnisch-serbische, hat besonders auf dem Lande nicht das Geringste an Reinheit und Wohllaut verloren, und ebenso fest bewahrten sich selbst die mohammedanischen Bosnier ihre alten Familiennamen.

Von den beiden christlichen Confessionen ist leider gerade die stärkste, die griechische, in jeder Beziehung, auch hinsichtlich der Geistlichkeit, am schlimmsten daran. Während bei den Katholiken der Orden der Franziskaner (schon seit dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts dort thätig) durch Beispiel und Lehre, durch Uneigennützigkeit und Opferfreudigkeit wirklich ein Segen für das unterjochte Volk war, sind die griechischen Geistlichen dem ihren nur eine Last mehr. Von Metropoliten bis zum untersten Popen, von denen viele weder lesen noch schreiben können, sucht Jeder die Kirchenabgaben möglichst hoch zu steigern, und so ist es wohl möglich, was Maurer und Thoemmel in ihren Büchern über Bosnien erzählen, daß dort erwachsene Personen noch ungetauft herumlaufen, weil ihre Eltern die Taufgebühren nicht zu erschwingen vermochten.

Es ist selbstverständlich, daß ein solches Volk auch in seiner äußeren Erscheinung das armselige Innere treu widerspiegelt. Wie stattlich auch der Körperbau dieser Menschen sich erhalten hat, so können sie die Gewohnheiten ewiger Unterwürfigkeit nicht verbergen. Nur in den Augen leuchtet manchmal noch ein Blitz,

[680]

Bosnische Volks-Typen.
Nach dem Leben gezeichnet von Franz Zverina.

[681]

Bosnisches Haus und Rajah-Hütte.
Nach der Natur aufgenommen von Franz Zverina.

[682] der uns mit der Hoffnung erfreut, daß auch diese so ganz niedergedrückten Naturen wieder zu heben seien. Es wäre von Seiten der Osmanen gar nicht nöthig gewesen, den Christen das Tragen gewisser Stoffe und jeder Art von Waffe zu verbieten: man hätte sie doch erkannt an ihrer Tracht. Der christliche Bosnier kleidet sich, wie unser Berichterstatter schildert, meist in dunkle Stoffe, er trägt das einfache Fez von einem braunrothen oder noch dunkleren Tuche umwunden, hüllt seine Beine in faltenreiche blaue Beinkleider, die bis zum Knie reichen. Eine Art Gamaschen, dann Opanken (Bundschuhe) und ein Tuchgürtel, über dem meist noch ein lederner Taschengürtel befestigt ist, in welchem sich einige Habseligkeiten befinden, und mitunter ein „Jelek“, eine Art Spenser von gestreiftem Baumwollenzeug mit langen quergestreiften Aermeln – das ist Alles, was er auf dem Leibe trägt. Daß auch die langen weiten ungarischen Beinkleider mit vorkommen können, zeigt unsere Abbildung eines griechischen „Insurgenten“, der, wie der sitzende Junge, den der Künstler „Siromacek“ (Waise) nennt, als bosnischer Flüchtling abgebildet worden ist.

Die Tracht der Frauen ist theils der serbischen oder morlackischen, theils der türkischen nachgeahmt. In der letztern zeigen sie sich mit einer gelben, rothen oder braunen weitärmeligen, vorne offenen Jacke bekleidet, unter welcher ein niederes Mieder das bis zum Gürtel offene Hemd theilweise bedeckt. Keine sonderliche Zierde sind meistentheils die Beinkleider von dunkler Farbe, die ihnen von den Hüften bis zu den Knöcheln reichen; die gewöhnlich bloßen Füße stecken entweder in Pantoffeln oder in weit ausgeschnittenen, am Fuße festgebundenen Schuhen. Das Haupt der Bäuerinnen bedeckt entweder ein Fez oder der sogenannte „Tarposch“, ein weiter, haubenartiger Kopfputz, den unsere Abbildung von drei Bosniakinnen von allen Seiten zur Anschauung bringt. Die Kleidung des mohammedanischen Bauern ist von der des christlichen auf den ersten Anblick wenig zu unterscheiden; nur trägt er gern hellere Farben, am liebsten hochrothe, und schließt sich im Uebrigen meist der allgemeinen türkischen Tracht mehr an.

Eine eingehendere Schilderung des Lebens und der Lebensnothdurft der Rajah müssen wir uns für einen spätern Artikel vorbehalten, um für diesmal noch einen Blick auf das bosnische Haus werfen zu können.

Wie überall der Hausbau sich nach dem zugänglichsten Material richtet, so finden wir denselben auch in der steinreichen Herzegowina anders als im holzreichem Bosnien. Das bosnische Haus besteht meistens aus Fachbau von ziemlich schwachen Balken. Die Fächer mauert man entweder mit Lehmziegeln aus, oder sie werden mit Fachhölzern versehen, dann mit Fachgerten durchflochten und mit Lehm verschmiert. Als Fenster läßt man kleine Löcher frei, für die freilich nur selten der Schutz des Fensterglases vorhanden ist. Das Haus eines Mohammedaners ist sofort an dem buntbemalten Holzgitter zu erkennen, welches die Fenster des Frauengemachs verschließt. Das Schindeldach ist gleich so eingerichtet, daß der Rauch von Herden, Kaminen und Oefen keines Schornsteins zum Abzug bedarf. Das Erdgeschoß ist gewöhnlich für das Vieh und oft auch für das Gesinde bestimmt. Zum oberen Stock führt in der Regel eine bedeckte Freitreppe aus Gebälke und Brettern, die zunächst in eine Art Veranda („Divanhan“) mündet, den Lieblingsaufenthalt der Familie in den guten Jahreszeiten (vgl. unsere Abbildung S. 681). Von da gelangt man auf den Vorplatz und in die einzelnen Wohnräume. Da diese häufig keine Decke, sondern gleich das Dach über sich haben, so hat es etwaiger Rauch um so leichter, ins Freie zu gelangen. Hausrath, wie in unseren Bauernstuben, sucht man hier vergebens. Dafür findet man stets Wandschränke, die mitunter künstliche Schnitzerei zeigen, vor Allem aber eine Art Pritschen, die etwa acht Zoll über dem Boden mehrere Wände entlang und gewöhnlich drei Fuß breit angebracht und, je nach dem Wohlstand der Familie, mit Matratzen, Teppichen oder Rohrmatten belegt sind. Das sind schon stattliche Häuser. Neben ihnen leistet die Baukunst auch Geringeres, wenn auch bisweilen Kühneres, wie (in unserer Abbildung) die malerische Hütte zeigt, die man offenbar auf abgesägten Baumstämmen errichtet hat.

In der Herzegowina herrscht der Steinbau vor, wenn man die dort am häufigsten vorkommenden steinernen Höhlen mit ihren platten Dächern, niedriger Thoröffnung und ganz kleinen Fensterluken, die häufig auch ganz fehlen, noch Häuser nennen will. – Die Bedürfnißlosigkeit wächst mit dem Unwerth des Lebens. Möge auch für diese Völker die Zeit kommen, wo sie den wahren Werth des Daseins erkennen lernen und dort der Mensch der vom Himmel so reich gesegneten Natur froh wird und ihr zum Schmuck dient!

H. v. C.




Der canadische Achilles.
Von E. Werber.
(Schluß.)


Am frühen Morgen, als ich mein Fenster öffnete, drang mit der Luft und den würzigen Düften von Wald und Wiese Entzücken in meine Sinne.

„O entsetzliches Cincinnati mit deinen schwarzen Schlöten, ich will dich nie, nie wieder sehen,“ rief ich und ging zur Wiese hinab, wo Eleanor Linnen zum Bleichen ausspannte.

„Liebes Kind,“ sagte ich, „lassen Sie mich Ihnen helfen! Ich möchte gern ein wenig glücklich sein.“

Sie sah mich erstaunt an. „Sind Sie denn unglücklich?“ fragte sie.

„Ja, Eleanor, sehr unglücklich,“ erwiderte ich und nahm aus dem Wäschekorb ein Tischtuch und breitete es auf dem duftenden Grase aus. „Denken Sie sich, Eleanor, ich glaubte seit fünfundvierzig Jahren zu leben, und gestern erkannte ich plötzlich, daß ich gar nicht gelebt, sondern es mir nur eingebildet habe – und das macht mich sehr unglücklich.“

„Aber wie kann man sich so etwas einbilden?“ rief das Mädchen.

„Ach, Sie wissen nicht, Eleanor, was man in den Städten sich alles einbildet! Man lebt dort ganz in der Einbildung.“

„Und das bemerkt Ihr erst nach fünfundvierzig Jahren? So spät?!“

„Liebes Kind, ich bin eine seltene Ausnahme. Die Meisten von uns sterben, ohne je bemerkt zu haben, daß sie gar nicht lebten.“

„Das ist traurig und doch auch zum Lachen,“ sagte Eleanor. „Aber warum möchtet Ihr nur ein wenig und nicht sehr glücklich sein?“

„Sehr glücklich! Ja Ihr, Ihr habt ganze Empfindungen, ganze Wünsche, Ihr wißt, was Ihr wollt, und Ihr wollt nicht weniger, als was Ihr verlangt. Aber wir! Wir verkommenen Weltmenschen begnügen uns auch mit weniger. Kann ich dies nicht haben, so nehme ich etwas anderes, denken wir; wir sind nicht halsstarrig – wir geben nach. Wir machen den Lebensverhältnissen überhaupt so viele Concessionen, daß zuletzt gar nichts mehr von uns übrig bleibt. Aber wir gewöhnen uns auch daran.“

„O, ich würde vor mir selbst roth werden, wenn ich so wäre,“ rief das Mädchen.

„Haben Sie nie eine Stadt gesehen?“ fragte ich sie.

„Doch, ich habe Montreal gesehen. Aber es gefiel mir nicht; der Wald ist schöner als die Stadt.“

„Und Sie möchten immer im Walde leben, Eleanor?“

„Immer,“ erwiderte sie und sah mit ihren Veilchenaugen hinüber zum Walde, zu jener Stelle, wo ich am verflossenen Abend gesessen hatte. Dann breiteten wir schweigend das übrige Linnen auf dem Grase aus, und als der Korb leer war, sagte Eleanor:

„Ihr habt heute noch nichts genossen. Geht jetzt hinein in die große Stube, wo Ihr meinen Vater finden werdet und trinkt den Thee mit ihm!“

„Und Sie, Eleanor?“

In diesem Augenblicke rief Wilson von der Schwelle des Hauses: „Kommt doch, Euch zu stärken! Ihr habt ja furchtbar gearbeitet.“

[683] Wir setzten uns alle Drei in der großen Stube. Wilson erzählte manche Jagdabenteuer, und die stille Eleanor, welche sehr wenig aß, nahm nach dem Thee ihr Nähzeug heraus und senkte ihr liebliches Gesicht auf die Arbeit.

Plötzlich sah ich etwas wie einen Schatten am Fenster vorbeihuschen und gleich darauf trat eine wunderbare Erscheinung in die Stube – es war Creek, aber er war anders, als am vorigen Tage. Er trug das indianische, mit Nesteln und Fransen verzierte Beinkleid von gelber Haut; auf seinen Schultern ruhte ein kurzes Hemd von schöner weißer Farbe, dessen Nähte mit rothen und blauen Perlen bestickt waren und welches die Arme von der Schulter an und die Brust bis zur Herzgrube frei ließ. Auf dem Kopfe trug er wieder die rothe Binde, am Halse die rothe Schnur mit den Bärenklauen und dem Pfeifchen.

„Hier ist der Weih,“ sagte er, nahm von seiner Schulter einen königlichen Vogel und legte ihn auf den Tisch.

„Creek“ sagte Wilson, ihm die Hand schüttelnd, „ich danke Dir, daß Du meinen Freund zu mir geleitet hast. Sieh, dieser Mann hat mir vor achtzehn Jahren das Leben gerettet.“

Creek’s verschlossene Physiognomie erhellte sich, und er reichte mir die Hand.

„Setze Dich, Creek!“ sagte Wilson.

Ich hatte gehofft, er werde in Wilson’s Hause gesprächiger sein, als er im Walde war, allein er saß still und scheu vor uns und sprach nur, wenn er uns antworten mußte.

Eleanor schien er nicht zu bemerken; als sie aufstand und ihm ein Gläschen Branntwein anbot, sagte er sanft und ohne sie anzusehen:

„Creek trinkt kein Feuerwasser.“

Sie stellte das Gläschen auf den Tisch, wobei sie einen Tropfen verschüttete, und setzte sich dann wieder an die Arbeit.

„Wann gehst Du nach der Station, Creek?“ fragte Wilson.

„Heute.“

„Ich habe einen Brief – hier, nimm ihn mit!“

Creek steckte den Brief in den Gürtel, den er unter dem Hemde trug.

„Wo wirst Du diese Woche jagen, Creek?“

„Creek jagt über dem Wasser.“

„Er meint den Fluß,“ sagte Wilson zu mir und fragte wieder:

„Was willst Du jagen?“

„Elenthier. Creek will Häute haben.“

Ich fragte ihn, ob der am vorigen Tage erlegte Bär noch in der Höhle liege.

„Nein, Creek hat ihn heimgebracht.“

Erstaunt fragte ich weiter, wie weit die Höhle von den Zelten entfernt sei.

„Eine Stunde.“

„Und Ihr habt allein den Bären eine Stunde weit geschleppt?“

„Creek hat das oft gethan.“

Wilson lachte. „Wenn Creek auf fernem Gebiete jagen will,“ sagte er, „so bindet er sich mit einem Lederriemen ein Canoe und Ruder auf den Rücken und einen Sack voll gerösteten Kornes, das ihm Tage lang als einzige Nahrung dient. So geht er meilenweit bis zum Flusse, auf dem er dann wieder meilenweit rudert, und dann geht er waldeinwärts abermals meilenweit und wieder das Canoe auf dem Rücken.“

„Das ist unglaublich, das ist unmöglich,“ rief ich. Da es Creek ganz gleichgültig war, ob ich es glaubte oder nicht, so sagte er kein Wort darauf. Als ich aber in seine Augen blickte, ward ich durch die Ruhe und Ueberlegenheit seines Blickes tief beschämt, und ich senkte den meinen.

„Warum hast Du Dir heute Arme und Brust nicht bemalt?“ fragte ihn Wilson.

„Creek hat keine Farben mehr,“ sagte er leise.

Ich hatte Farben bei mir und ging in mein Zimmer sie zu holen. Als ich das Kästchen vor ihm öffnete und er die bunten Täfelchen sah, da trat in dem furchtbar ernsten Mannesgesicht aus allen Winkeln das Kind hervor. In den düstern Augen blitzten die Neugier und das Vergnügen. Mit zögerndem Finger betastete er die Farben, und als ich ihn fragte, ob sie ihm gefielen, sagte er nickend: „Schöne Farben.“

„Nehmt davon, die Euch am besten gefallen!“

Da sah er mich freundlich an und sagte: „Creek ist dankvoll.“

Ich wollte gerne sehen, wie er male, und bat Eleanor, ein Glas Wasser zu bringen. Als sie es auf den Tisch gesetzt, blieb sie seitwärs stehen, so, daß sie sich zwischen Creek und mir befand. Sie stützte jetzt ihre Hand auf die Lehne von Creek’s Stuhle, denn sie bebte ein wenig. Creek saß vorgebeugt und berührte die Lehne des Stuhles nicht. Ich zeigte ihm, da er ein Farbentäfelchen in’s Wasser tauchen wollte, wie man sich der Pinsel bediene, was er sogleich begriff. Mit feinen Strichen malte er sich eine blaue Strahlensonne auf den linken Arm und einen Halbmond auf das Handgelenk. Den Zwischenraum füllte er mit bunten, aber zart gezogenen Ovalen aus, und man konnte das Ganze recht hübsch nennen. Dann malte er mit der linken Hand auf den rechten Arm etwas, das wie eine leichte phantastische Blume aussah. Auf der Brust zog er einen Regenbogen in vielen abgesetzten Strichen. Als ich ihm auf Stirn und Wangen zeigte, sagte er: „Creek malt nie das Gesicht.“

Dann und wann hatte ich Eleanor beobachtet; sie athmete schnell, und manchmal stieg eine heiße Röthe in ihr Gesicht.

„Eleanor, was gefällt Ihnen am besten von Creek’s Zeichnungen?“ fragte ich. Sie zeigte stumm auf seinen rechten Arm, und ihr Finger zitterte sehr.

Da ihr Röckchen weite und kurze Aermel hatte, sagte ich zu Creek: „Malet doch gleich eine Blume auf Eleanor’s Arm.“

Erschrocken erwiderte er: „Creek kann nicht.“

„Ich werde ganz ruhig halten, Creek,“ sagte Eleanor mit jener süßen halbverhaltenen Stimme, mit der die Mädchen starke Männer zittern machen. Creek sah scheu auf die andere Seite und sagte bescheiden: „Creek malt keine Mädchen.“

Eleanor ließ den weißen Arm sinken und ging zu ihrer Arbeit zurück. Nach einer Weile stand Creek auf: „Creek muß jetzt gehen,“ sagte er und, als ich ihm ein Päckchen Farben reichte: „Creek ist dankvoll.“

Wilson, welcher inzwischen die Stube verlassen hatte und nun wieder zurückkam, fragte den Indianer: „Was willst Du für den Weih haben?“

„Creek will nichts dafür haben: Wilson ist guter Freund,“ erwiderte er sanft und schritt zur Thür hinaus.

„Halt!“ rief Wilson. „Ein Jäger sagte mir, die Saugees, durch deren Lager Du beim letzten Kriege wie der Tod geritten bist, hätten geschworen, nicht eher zu ruhen, als bis sie Deinen Scalp hätten.“

Creek nickte und sagte: „Saugees sind viele Männer, aber Creek kann viele Scalpe bei ihnen holen, ehe sie Creek’s Scalp bekommen.“

Ich geleitete ihn bis zum Bache, wo jenseits der Wald mit einer Gruppe von Tannenbäumen begann. „Creek, werden wir Euch lange nicht sehen?“

„Wenn der Mond rund ist, wird Creek wieder kommen,“ sagte er und sprang über den Bach, gleich einem Vogel, der gefangen war und eben die Freiheit wieder erlangte. – –

Drei Wochen waren vergangen. Ich war mit Wilson viel in die Wälder und einmal auch zu den Zelten der Creeks geritten. Wilson’s junger Freund war von der Elenjagd noch nicht zurückgekommen; allein ich ließ mir von ihm erzählen; das ersetzte seine Abwesenheit ein wenig.

Ich erfuhr, daß Creek nur eine Leidenschaft habe: die Gefahr. Er gehe am liebsten ganz allein auf die Jagd, und wenn er ein gefährliches Thier erbeutet habe und man ihn frage, wie er es erlegte, so sage er jedesmal, es sei sehr leicht gewesen.

„Im Kriege,“ sagte mir ein Häuptling, „ist er wie der Blitz und wie die Schlange.“ Einmal, als er alle Kugeln verschossen gehabt, sei er vom Pferde gesprungen und habe, unter dem Bauche der anderen Pferde durchschlüpfend, am Boden die feindlichen Kugel und Speere aufgelesen. Dann sei er wieder vorgedrungen „furchtbar wie der Tod“. Außerhalb des Krieges und der Jagd sei er still und sanft; niemals zanke er sich mit Andern. Oft mache er Wettläufe mit den Schnellsten des Stammes; „Rothhäute haben alle schnelle Füße,“ sagte der Häuptling, „aber Creek läuft auf dem Boden, wie der Vogel in der Luft.“

Auf meine Frage, ob Creek eine oder mehrere Frauen habe, schüttelte der Häuptling den Kopf und erwiderte lächelnd: „Creek bekümmert sich nicht um die Weiber.“

Ahnte Creek nicht, daß die kleine Eleanor mit den weißen Armen und dem goldnen Haar sich sehr um ihn bekümmerte?

[684] Jede Nacht blickte sie zum Mond hinauf, der sehr langsam „rund“ wurde. –

Aber endlich ward er doch rund, und Creek kam.

An einem Morgen trat Wilson in mein Zimmer und sagte: „Creek ist unten; er geht nach der Station. Wenn es Euch recht ist, so begleiten wir ihn.“ Als ich in die untere Stube trat, saß Creek auf einem niedrigen Stuhle und streichelte Wilson’s schwarzen Hund. „Creek,“ sagte ich, „Ihr seid lange fort gewesen, und wir haben rechtes Verlangen nach Euch gehabt.“

„Hätte Creek etwas helfen sollen?“ fragte er.

„O nein! Aber wir hätten Euch gern gesehen; wir haben Euch lieb, Wilson, Eleanor und ich.“

„Creek ist dankvoll,“ erwiderte er leise.

Wilson und Eleanor kamen nun herein. Das Mädchen war sehr bleich, als sie zu Creek hintrat und, ihm die Hand reichend, mit ihrer sanftesten Stimme sagte: „Guten Morgen, Creek!“

Der junge Indianer blickte scheu zu ihr auf, ergriff flüchtig ihre Fingerspitzen und sagte dann mit gesenktem Blick und schüchtern: „Guten Morgen, Mädchen!“

Dann setzten wir uns zum Frühstück. Creek verschmähte den Thee, den Rum und das Fleisch; er aß einen Teller voll Gerstenmus und ein Stück mit Salz bestreutes Brod und trank ein Glas Wasser, welches ihm Eleanor mit zitternder Hand einschenkte. Sie selbst aß nichts; sie schlürfte langsam eine Tasse Thee. So oft Creek sprach, wurden ihre blassen Wangen roth wie die Nelken, die sie an ihrer Brust trug, und in ihren Augen schimmerte es dunkel.

„Wie ist es mit den Saugees?“ fragte Wilson. „Ich habe gehört, Ihr spüret wieder Unruhen.“

„Ja,“ sagte Creek, „Saugee schleichen herum.“

„Da kann es bald wieder ernsthaft werden,“ meinte Wilson. Creek’s Augen leuchteten, wie die Nacht voll Blitze. „Und Du weißt,“ fuhr Wilson fort, „die Saugees sind zahlreich, wie ein Heuschreckenschwarm.“

„Die Creek werden die Heuschrecken aufessen,“ erwiderte der Indianer.

„Ach, da fällt mir die Antwort ein, die Creek einmal einem Saugeehäuptling gab, zu dem er geschickt wurde, als die Saugees die ersten Unruhen begannen,“ sagte Wilson. „‚Warum laßt Ihr uns nicht ruhig?‘ hatte Creek gefragt. Der Häuptling erklärte sich: ‚Wir haben viele lachsreiche Flüsse und große lebendige Wälder, aber wenig grasreiche Ebenen, wo Büffel leben. Gebt uns von Eurem Gebiet die Grasstrecken, oder wir nehmen sie. Wir wollen Büffel haben.‘ – ‚Tapferer Hirschtödter,‘ sagte Creek zu ihm, ‚wir werden unsere Büffel bis vor Eure Zelte jagen, und wenn dann Einer ohne Speer im Leibe bei Euch ankommt, so mögt Ihr ihn haben!‘ – Nicht wahr, Creek, so hast Du geantwortet?“

„Ja, und die Saugees haben nicht einen Büffel bekommen.“

Wilson’s Knecht führte nun zwei gesattelte Pferde vor die Thür, und wir erhoben uns. Hector, der schwarze Hund, sprang zu leidenschaftlichem Abschiede an Creek hinauf, und als er ihn endlich ließ, zerriß er ihm die feine Haut des Hemdes. „Da schritt Eleanor zu ihrem Nähzeuge und dann zu Creek und sagte, auf die beschädigte Stelle seines Hemdes zeigend:

„Creek, laß mich dies zunähen!“

Er erwiderte nichts, blieb aber vor ihr stehen; sie nähte nun langsam und mit zitternden Fingern den Riß über seiner linken Brust zusammen. Ihr Athem ging schwer und stürmisch. Creek’s Gesicht wurde dunkler und dunkler; er schaute mit zuckender Wimper auf die feinen rosigen Finger, die so nahe seiner Brust so liebliche Bewegungen machten, und es trat ein süßer Schrecken auf seine Lippen. Ich sah sein Herz hämmern und ich sah ihn die Augen schließen.

„Es ist gleich fertig,“ hauchte Eleanor und zitterte, und ihr Haar streifte seine Wange. Da zuckte Creek und faßte mit der Hand die Lehne des Stuhles. Die Lippen auf einander gepreßt, den halb erloschenen Blick auf Eleanor’s goldenes Haar geheftet, stand er mit zurückgehaltenem Odem und kämpfender Brust.

„Jetzt ist es fertig, Creek,“ sagte sie und zog sich zurück, den Blick auf ihn gewandt.

„Creek ist dankvoll,“ erwiderte er fast ohne Stimme und schritt zur Thür.“

„Dein Tomahawk, Creek!“ rief sie leise und reichte es ihm.

Sie hielt es in der Mitte, er aber nahm es beim Ende, wie um ihrer Hand nicht zu begegnen.

„Wann kommst Du wieder, Creek? Wann?“ fragte Eleanor und ihre Augen fragten noch zärtlicher, als ihre Stimme.

Er schlug das Auge zu ihr auf, und sein Blick trank eine Secunde lang ihre Züge, die in Vergessenheit das Geheimste, das Allerheiligste des Herzens kund gaben – dann senkte er den Blick und that einen tiefen Athemzug. Als er stumm blieb, fragte Eleanor wieder:

„Wann, Creek? Wann?“

Da sagte er leise und mit Anstrengung: „Mädchen, Creek kommt bald,“ und schritt zur Thür hinaus.

Als ich mit Wilson einen Augenblick später vor die Thür trat, lehnte Creek an der Mauer des Hauses – er zitterte am ganzen Körper wie ein erschrockenes Kind. Wilson’s Stimme brachte ihn zu sich; er schritt langsam dem Walde zu und wir folgten ihm. Ehe wir um die Ecke bogen, blickte ich um: Eleanor stand auf der Schwelle des Hauses und blickte uns nach; ihr linnenes Röckchen flatterte im Morgenwinde. „Wann?“ hatte sie gefragt. Wann? Das ist das Wort der Sehnsucht; es spricht sich schnell aus, aber es hat einen langen Nachhall.

„Wilson,“ sagte ich, „blickt doch um, Eleanor schaut uns nach.“

Wilson grüßte sie mit der Hand. Dann sprang sie leicht wie ein Reh zu uns heran und gab uns die Hand; sie gab sie auch Creek, der dastand wie gebannt.

„Creek, vergiß nicht, bald zu kommen!“ flehte sie ängstlich.

„Creek vergißt nicht,“ sagte er weich – dann riß er sich von ihr los.

Wilson und ich ritten, Creek, der Schnellfüßige, ging. Der Morgen war frisch, voll stählender Kraft, aber auch voll streitender Lüfte. Es ging ein gewaltiges Brausen durch den Wald; der Wind schwoll und bog die jüngeren Stämme wie schwankende Aehren und blies Vögel von den Zweigen herab und wirbelte Laub und Nadeln über unseren Köpfen hin. Und viele Stimmen bekam der Wind; der Wald brauste gleich einer Riesenorgel, von Geisterhänden gespielt.

Klein, müde, mißhandelt stiegen Wilson und ich von unseren Pferden und legten uns auf die Erde, den Orkan über uns weggehen zu lassen. Creek aber erkletterte einen Baum und setzte sich in die Aeste, und das furchtbare Schwanken und Schütteln schien ihm so angenehm zu sein, wie einem Kinde das Schaukeln der Wiege. Der ganze Wald erzitterte jetzt; die grüne Wölbung über uns wogte gleich einem gährenden Meere; Aeste krachten und brachen, die Stämme bis in’s Mark hinein aufschlitzend; eine Hymne, von hunderttausend rasenden Dämonen geheult – so tobte der Sturm und riß Bäume aus der bebenden Erde. Noch ein Stoß voll entzückender Schreckniß – dann ward der Wald plötzlich stille, wie in tödtlicher Ermattung, und ein blitzender Sonnenstrahl schaute in die Vernichtung herein.

Wilson und ich erhoben uns betäubt und ermuthigten die zitternden Pferde; Creek sprang vom Baume herab und schüttelte sein schwarzes Haar.

„Creek,“ sagte ich, „das war gefährlich, was Ihr thatet; der Sturm konnte Euch aus dem Baume heben oder mit dem Baume zu Boden schlagen.“

„Nein,“ sagte er, „Creek kennt die Bäume, die Sturm nicht ausreißt, und Creek sitzt auf dem Baume so fest, wie der Zahn in des Bären Munde.“

Wir hatten an vielen Stellen Noth, durch die Verwüstung hindurchzukommen; wenn ich sage: wir, so meine ich nur Wilson, mich und die Pferde, denn Creek sprang über die gefallenen Aeste und Bäume und ihre knorrigen Wurzeln hinweg, so leicht, als ob er einen Sprung über das Gras der Prairie thäte, und als mein Pferd, an solche Hindernisse nicht gewöhnt, nur zögernd und strauchelnd vorwärts kam, schwang sich Creek darauf, und das Pferd, als ob es plötzlich mit Feuer durchglüht wäre, setzte nun verwegen über Wurzeln und Knorren hinweg und verschwand mit seinem Reiter in wenigen Augenblicken.

Als Wilson und ich endlich aus dem Walde traten, sprang Creek, welcher unter einem Zuckerahorn auf uns gewartet hatte vom Pferde herunter und gab mir dessen Zügel mit den Worten:

„Euer Pferd ist gutes Thier, aber zu zahm, Ihr müßt ihm manchmal Feuer zu essen geben.“ Dann lief er mit gleichmäßigen, [685] leichten Schritten vor uns her; seine Ferse hob sich mit Anmuth, und die ganze kräftige Gestalt war stramm und geschmeidig, wie eine Bogensehne.

Es war Mittag, als wir zur Station kamen. Die Beamten schüttelten Wilson und Creek die Hände und gingen gleich an die Zahlungen. Creek setzte sich auf eine Bank und zählte die ihm übergebenen Summen, ehe er sie in kleine hirschlederne Säckchen band, die er dann sorgfältig im Innern seines Gürtels befestigte. Nachdem die Geschäfte beendet waren, nahmen wir mit den Beamten ein zweites Frühstück ein, wovon Creek nur wenig genoß. Er zog sich dann wieder auf die Bank zurück und entkleidete sich geräuschlos, während wir über Handel und Politik sprachen. Ich sah mit Vergnügen seinen raschen, gewandten Bewegungen zu. Er rollte seine Kleider, nachdem er sie sorgfältig zusammengelegt, eng zusammen und band die Rolle mit einem Riemen um seine Schulter. Außer dem mit Federn verzierten Gürtel und den Mocassins, die seine schmalen Füße bekleideten, trug er nun nichts. Neben ihm auf der Bank lagen seine Büchse und sein Tomahawk, von welchem eine blutrothe Quaste niederhing.

Als er uns eine Weile schweigend zugehört, trat er zu Wilson und sagte, ihm die Hand auf die Schulter legend: „Creek muß jetzt gehen.“

„Warum eilst Du so?“ fragte Wilson.

„Creek muß gehen. Die Saugees schleichen herum; Creek muß zu Hause sein, wenn Saugees kommen.“

„Glaubst Du denn, daß die Heuschrecken heute noch über Euch herfallen werden?“

„Creek weiß es nicht, aber Creek will nicht auf der Bank sitzen und weißen Männern zuhören, wenn rothe Männer daheim Pfeile spitzen für Saugeeherzen und Scalpmesser schleifen für Saugeeköpfe. Creek will gehen.“

Wilson sagte nach einem Augenblicke des Nachdenkens: „Gut, Creek! Wir gehen auch. Es ist zwei Uhr Mittag: ich muß zu Hause sein, wenn die Mäher das Gras hereinbringen.“

Wir verabschiedeten uns rasch von den Beamten und traten den Heimweg an. Der Officier und die Soldaten der Station grüßten Creek mit vieler Achtung, als er an ihnen vorbeischritt. Er nickte stolz und kaum zur Seite blickend.

Als wir etwa zweihundert Schritte vom Walde entfernt waren, blieb Creek stehen und sagte: „Creek geht jetzt nicht mit Euch; Creek geht andern Weg.“

„Welchen Weg?“ fragte Wilson.

Der Indianer zeigte mit der Hand nach links, weit ab.

„Creek! Dort? Das ist ja feindliches Gebiet, Saugeegebiet!“ rief Wilson.

„Creek macht sich nichts daraus. Jener Weg ist kürzer; Creek kommt schneller heim.“

„Thu’ es nicht!“ sagte Wilson, sorgenvoll die Stirn faltend. „Was thut es, ob Du eine Stunde früher oder später heimkommst!“

„Creek hört rothe Männer daheim eine Stunde lang sagen: ‚Wenn doch Creek da wäre! Kommt Creek noch nicht?‘“

„Du willst durch feindliches Gebiet gehen? Bedenke doch!“

„Creek hat schnelle Füße und Büchse und Tomahawk.“

Mit diesen Worten fing er an zu laufen.

„Creek,“ rief ihm Wilson nach, „halte Dich fern von den Zelten! Denke an mich!“

Der Indianer drehte sich um und rief: „Creek denkt an Wilson!“

Schon flog er über die Wiese hin; dann und wann blitzte sein Tomahawk in der Sonne.

„Welch prächtiger Mensch!“ sagte Wilson, indem er ihm nachblickte, und lenkte dann sein Pferd dem Walde zu.

Die dunkle Gestalt des Indianers eilte um eine Waldesecke. Als sie verschwand, fiel jähe Traurigkeit in mein Gemuth.

„Wenn Creek im bevorstehenden Kampfe –“ sagte ich.

Wilson blickte mich erschrocken an und erwiderte: „Ich würde ihn beweinen wie meinen Sohn. – Aber,“ fuhr er nach einer Weile fort, „Creek ist gegen die Gefahr gefeit; kein Pfeil, keine Kugel, kein Messer, keine Klaue, kein Zahn hat ihn je verwundet.“

Ich weiß nicht, Wilson, wie es kommt, aber ich bin traurig, beklommen. Ich bin es seit dem Augenblicke, wo er um die Waldesecke bog.“

Wilson sagte nichts darauf, und wir ritten wohl eine halbe Stunde, ohne zu sprechen. Plötzlich hielt er sein Pferd an.

„Kommt!“ sagte er, „wir wollen umkehren, schnell reiten, Creek nachreiten. Traurigkeit ist auch über mich gekommen. Die Saugees sind mir nicht feindlich gesinnt; wir haben nichts für uns zu fürchten, können aber vielleicht Creek beschützen.“

Wir gaben den Pferden die Sporen und ritten zurück. Es schien noch etwas von Creek’s Feuer in meinem Pferde zu sein, welches jetzt flog, wie es noch nie unter mir geflogen war. Bald ritten wir über die Wiese dahin und in den Wald hinein, wo der Saugees Gebiet war und wo ich Creek hatte verschwinden sehen. Dieser Wald war ungeheuer dicht, zwischen den Stämmen wuchs hohes Gesträuch; hier und dort ragten beträchtliche Steinblöcke aus dem Boden, was ihm einen unruhigen, einen drohenden Charakter verlieh. „Die Zelte der Saugees liegen weit ab, und ich vermuthe, ich hoffe, daß Creek diesen Weg einschlug, der oft von weißen Jägern begangen wird,“ sagte Wilson.

Wir ritten schnell, sprachen wenig und späheten nach Creek. Es war furchtbar still im Walde; meine Seele sagte mir, wie ahnend: Es kommt etwas. – Auf einem Baumstumpf, der seine Wurzeln über den Weg gespannt hatte, saß furchtlos und unheimlich, wie eine Unheilsverkünderin, eine Eule. Ich mußte noch einmal nach ihr umblicken – da fiel ein Schuß, dann mehrere – und dann gellte ein kurzer, entsetzlicher Schrei durch den Wald, und es erhob sich ein Geheul von mehreren Stimmen. Wir sprengten hinan und sahen – wehe! daß wir es sehen mußten – wir sahen Creek in einem Regen von Kugeln und Pfeilen stehen und seine rauchende Büchse fortwerfen und mit beiden Armen sein Tomahawk über dem Kopfe schwingen und gegen einen Felsblock anklimmen und schwanken – und taumeln und – fallen.

Wir schossen unsere Revolver ab nach der Richtung, wo die Pfeile hergeschwirrt waren. Da sprang ein Haufen Indianer hinter dem Felsen herab, und der Vorderste, als er Wilson erkannte, rief:

„Halt! – Wilson, gebt Eure Waffen!“

„Fluch über Euch Meuchelmörder!“ schrie Wilson. Der Indianer entriß ihm den Revolver und ein anderer mir den meinigen.

„Laßt mich sehen, ob er todt ist!“ rief Wilson und beugte sich über Creek.

O, wie könnte ein Mann noch leben, der siebenzehn Pfeile und Kugeln in der Brust und den Lenden hat? Ich trat auch hinzu. Es kam kein Hauch mehr zwischen Creek’s verbleichenden Lippen hervor; seine Augen waren gebrochen; die Erde trank sein Blut.

„Herrlicher, so ist’s aus mit Dir?!“ rief Wilson; er erhob sich und griff ingrimmig nach seinem Jagdmesser.

Ein Indianer entwand es ihm. „Wilson,“ sagte er, „die Saugees haben geschworen, daß sie nicht eher ruhen werden, bis sie Creek’s Scalp haben, und wir werden ihn haben, und Ihr sollt Zeuge davon sein, denn dieser Scalp ist unser Ruhm.“

„Ich Zeuge?“ rief Wilson.

Wir wurden von den Indianern gefaßt und Jeder an einen Baum gebunden, und dann – o Schauder, o Schmerz, o Schmach! – dann nahmen sie von der edlen Leiche, unter feierlichem Schweigen, die Kopfhaut mit den schönen langen schwarzen Haaren. Wilson und ich schlossen die Augen – ich weinte Thränen ohnmächtiger Wuth. – Ein wildes Siegesgeschrei verkündete uns, daß es geschehen war.

Einer der Indianer schoß unsere sechsläufigen Revolver vollends ab, gab sie uns zurück, durchschnitt die Seile, mit welchen wir angebunden waren, und sagte:

„Wilson und Ihr, fremder Mann, saget im Lande überall, daß Ihr gesehen habt, wie die Saugees Creek’s Scalp genommen!“ Dann lief der Haufe durch das Dickicht den fernen Zelten zu.

Wilson und ich warfen uns bei der Leiche auf die Kniee. Creek – zwei Männer haben auf Deinen durchbohrten Leib geweint. –

„Fassung!“ sagte Wilson. Er nahm den Todten bei den Schultern; ich nahm ihn bei den Füßen; so trugen wir ihn bis zur nächsten Lichtung, wo eine Jägerhütte stand.

„Gebt mir ein Pferd!“ bat Wilson. Er erhielt es und ritt davon, den Creeks die entsetzliche Nachricht zu bringen. Der Sohn des Jägers und ich wuschen die Leiche, legten sie nackt auf eine [686] Bahre von Tannenzweigen und deckten das gemarterte Haupt mit einem weißen Tuche zu. Dann trugen wir die Bahre vor die Hütte und ich setzte mich zu Creek’s Füßen. Die Dämmerung kam schnell, wie ein flüchtiger Schatten, und dann kam die Nacht.

Wir zündeten zwei gefällte junge Tannen an; die Flammen warfen ihren Schein über die weite Lichtung des Waldes hin und auf Creek’s starre Glieder. Zuweilen stand ich auf und fühlte seine Hände an – o wie waren sie kalt! Im Walde hinter uns und zur Seite, am Grunde und in den Wipfeln war die Stille des Schlafes. Um Mitternacht flammte ein Nordlicht am Himmel auf, hoch, weit und blutroth.

Beim ersten fahlen Morgenscheine kamen mit Wilson zwanzig Indianer und stellten sich um die Bahre herum; ein Häuptling nahm das weiße Tuch von Creek’s Angesicht und ein Schmerzensruf entrang sich zwanzig Lippen und der Häuptling sprach:

„Tapferster der Tapferen! Creek, Furchtloser, Schweigsamer, Schnellfüßiger, Starkarmiger, Gutherziger, unseres Stammes Stolz und unserer Feinde Schrecken, hier schwören wir zu Deinem Angesicht: wir wollen Dich rächen, wie noch nie ein Mann gerächt wurde. So viel Tropfen Blut aus Deinen Wunden flossen, so viel Pfeile und Kugeln sollen in die Saugees-Zelte fliegen; so viel Haare von Deinem geraubten Scalpe niederhängen, so viel Saugees sollen ihr verfluchtes Leben am Boden verhauchen, und für jeden Tag Deiner gemordeten Jugend soll Dir ein Saugee-Scalp geopfert werden. Dann, Creek, schaue Du auf unsere Rache nieder und jage fröhlich Bär und Büffel in den Wäldern des großen Geistes!“

Sie trugen den Todten fort; der Morgen schüttete sein goldenes Licht auf den Trauerzug. Wilson und ich ritten etwas später heim. Als wir sein Häuschen sahen, sagte Wilson:

„Eleanor wird es schmerzen; sie hielt viel auf Creek, weil er so tapfer und so gut war.“

Ich schwieg. Eleanor war nicht daheim.

„Sie ist wohl zu den Mähern hinübergegangen,“ sagte Wilson, „wenn ich etwas geruht habe, werde ich zu ihr gehen.“ Aber Eleanor war nicht bei den Mähern.

„Wilson,“ sagte ich, „in Eleanor ist ein heimliches Feuer – Eleanor hat Creek geliebt.“

Der Mann sah mir in’s Auge – dann rannte er zum Hause zurück, sattelte zwei Pferde, und wir sprengten den Zelten der Creeks zu.

Es war spät am Abend, als wir dort ankamen; die Luft dunkelte, und Fackelschein leuchtete von den Zelten her. Wir fanden nur Greise, Weiber und Kinder.

„Die Männer sind fort; sie rächen Creek, und weißes Mädchen ist mitgegangen; weißes Mädchen hat Creek geküßt und geschworen, Creek zu rächen,“ sagten sie.

Wilson war trostlos. Da es eine Unmöglichkeit war, bei Nacht durch die Finsterniß des Waldes zu gehen, so mußten wir uns entschließen, bis zum Anbruch des Tages bei den Zelten zu bleiben. In einem derselben lag Creek’s Leichnam, von zwölf Männern bewacht, während zweitausend gegangen waren, seinen Tod zu rächen.

Wilson schlief, als die Sonne heraufkam, und ich mochte den todtmüden Mann nicht wecken. Endlich gegen zehn Uhr erwachte er, und wir rüsteten uns. Aber es war nicht mehr nöthig: auf schwarzem Pferde ritt langsam ein Indianer daher und trug in den Armen ein weißes Mädchen, an welchem das Blut von der linken Brust herniederrann – – Wilson brach zusammen und verlor das Bewußtsein.

„Weißes Mädchen war tapferes Mädchen,“ sagte der Indianer. „Weißes Mädchen saß vorn auf dem Pferde eines Häuptlings, und er lud zwanzig Mal die Büchse und zwanzig Mal schoß weißes Mädchen die Kugel ab und jedes Mal rief weißes Mädchen: ‚Creek!‘ und die Stimme war so wehvoll, als sollte Mädchens Brust zerspringen.“

Die Weiber wuschen Eleanor’s zarten, todten Leib und hüllten sie in weiße und blaue Gewänder; dann legten sie die schöne Leiche in das Zelt, wo Creek lag. Wilson verbot den Weibern, die üblichen Wehklagen anzustimmen. Er setzte sich zu seinem Kinde und weinte still.

Am Abend kamen die Krieger zurück und brachten gegen ein halbes Tausend Scalpe mit. Mehr als zweihundert Creeks waren gefallen, aber auch siebenhundert Saugees. Die Creeks verbrannten die Saugees-Zelte und trieben, was vor ihnen floh, dem Flusse zu. Viele Saugees ertranken; die anderen flohen auf fernes Gebiet.

Am nächsten Morgen begruben wir Creek und Eleanor. Tausend Krieger und fünfzig Indianermädchen gaben ihnen das Geleite. Auf einer von Wald umschlossenen Wiese erhebt sich ein hufeisenförmiger Felsen und darüber rauscht ein Hain von weißen Cedern und Wallnußbäumen. In jenem Felsen ruhen der canadische Held und das weiße Mädchen. Sie hatten sich geliebt – und waren ohne Kuß gestorben.

Wilson hat sein Kind nicht lange überlebt. Der Stamm der Creeks vermindert sich, und bald wird ihre Spur verschwinden.

Rauschet sanft, ihr Cedern und ihr Wallnußbäume auf dem canadischen Felsen!




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 44.0 Mein erster Hase.


Der alte Gottfried Horn, einstiger Hirt und Flurwächter eines meiner Jugendstätte nahgelegenen Haidedorfes, hatte mich, der ich damals ein kaum zwölfjähriges Bürschchen war, sehr liebgewonnen, und ich vergalt ihm Gleiches mit Gleichem. Draußen, unter freiem Himmel, auf waldumschlossener Trift, wo mein wetterharter Kämpe jahraus, jahrein seinen täglichen Dienst verrichtete, namentlich aber zur Herbstzeit regelmäßig den Schatz seiner armen Gemeinde hütete, hatten wir uns gefunden und dabei Freundschaft geschlossen. So kam es denn, daß ich manch liebe Stunde, ja halbe Tage lang mit meinem alten „Hornfriede“, wie ihn die Leute schlichtweg nannten, durch Feld und Haide zog. Am liebsten aber vertrat ich ihn in seinem Hirtenamte. Während ich dann die Peitsche schwang, schlief der Biedere gemüthlich in seiner Hürde, ich aber hatte das Gefühl einer stolzen Wonne, durfte ich doch selbstständig und ganz wie ein ordentlicher Hirte ausgerüstet die mir anvertraute Hammelschaar über weite Stoppeläcker und Wiesen zur würzigen Brache geleiten. An stillen, sonnigen Spätherbsttagen, wenn noch die letzten Sommerfäden die milddurchwärmte Luft durchzogen, war das eine wahre Lust.

Eine nicht mindere Herzensfreude war es, konnte ich ein andermal bei meinem Alten vor der Strohhütte sitzen, welche er sich zu seiner Feldwacht, weit ab von jedem Weg und Steg, am Saume der Haide errichtet hatte. Hier, am harzigduftenden Waldhange, unter dem Schirme hoher Föhren, lauschte ich oft mit wahrer Andacht seinen Erzählungen aus dem eigenen Leben, wie den Belehrungen, die ich durch seine Naturschilderungen von Wald und Wild und allerhand Gethiere empfing. Einstmals aber weihte mich mein origineller Genosse sogar in die volle Praxis des edlen Waidwerks ein. Dies kam also:

Zu bereits später Nachmittagsstunde – es war einer jener zaubervollen, halbverschleierten Octobertage, die mich von jeher mit wahrer Zugvogelsehnsucht nach Hinaus erfüllten – war ich wieder einmal dem elterlichen Hause entwischt, um den hereinbrechenden Abend im Walde, am Feuerchen meines Alten zuzubringen. In purpurner Pracht war soeben die Sonne hinter dem Wipfelmeere der weiten Haide niedergetaucht und schon ward die erste dünne Mondsichel am Abendhimmel dem scharfen Auge sichtbar, als ich mich meinem Ziele nahte. Lautlos durch das Gehölz schreitend, das die ersehnte traute Hütte deckte, überraschte ich beim Heraustreten aus demselben meinen Freund in einer von mir nicht geahnten Lage. Mit einer plumpen, rostüberzogenen Flinte bewaffnet, stand er vor seinem Obdach und spähte unverrückten Auges durch die Lücken des vor ihm liegenden Stangenholzes nach der dahinter sich ausbreitenden Ackerflur, und bald ward ich auch den Gegenstand seines Ausluges gewahr – ein Hase war’s, der zwar noch weit im Felde, also viel über Schußweite hinaus, seinen [687] lauernden Blick fesselte. Leise schlich ich jetzt bis zur Baracke heran, und nun erst, durch das Knacken eines Aestchens unter meinem Fuße auf mein Kommen aufmerksam gemacht, ward mich Freund „Hornfriede“, nicht ohne sichtbaren Schreck, gewahr. Doch schnell gefaßt, winkte er mich stumm zu sich heran, und gern folgte ich diesem Gebote, trieb mich doch schon die angeregte Neugier mit aller Macht dazu, denn noch niemals hatte ich meinen Gönner bei solchem verdächtigen Thun erschaut. Noch mehr aber steigerte sich mein Interesse für den entpuppten Strauchritter und sein frevles Vorhaben, als mir dieser zu meiner kaum in die Grenzen der Ruhe zu bannenden Freude flüsternd erklärte: jener „Stiefelknecht“, mit welchem Ausdruck er den in’s Auge gefaßten Hasen bezeichnete, käme schon noch näher heran, und dann solle – ich ihn schießen! Ich!!

Mein erster Hase.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

Mit fieberhafter Aufregung betrachtete ich von jetzt ab Mosje Lampe, den auf grünem Rübenacker noch so fröhlich Aeßenden. Wie durch Zauber hingezogen starrte mein Auge auf das mir verheißene Opfer. Inzwischen näherte der nichts ahnende Langlöffel sich mir zu meinem wahrhaft dämonischen Behagen mehr und mehr, wenn auch, meinem heißen Verlangen nach, noch viel zu langsam. Freilich, wäre es allein auf mich angekommen, ich hätte getrost schon die Donnerbüchse nach dem Säumigen abgebrannt. Doch dem stummen, aber so beredten Geheiß meines heutigen Jagdherrn zum weiteren Abwarten mußte ich mich wohl oder übel fügen; hatte ich doch das Gewehr, um mich durch dessen Last nicht vorzeitig zu erschlaffen, noch nicht einmal in meine Hand bekommen. Endlich versetzte sich der Springinsfeld nach ein paar noch recht lustigen Seitenschnellern rasch und ohne weiteren Umweg auf ein saftig grünes Kleeplätzchen, das dicht an ein vor uns liegendes Stück Rodeland anstieß, und war somit nun wirklich auf Schußweite in meinem Bereich. Jetzt erst schob mir mein vorsichtiger Lehrherr leise und mit höchst bezeichnender Geberde die mir bis dahin vorenthaltene Flinte in die Hand und bedeutete mich dabei, gut zu zielen und dann zu schießen.

[688] Noch weiß ich heute nicht, wie ich das schwere Eisen an den Kopf gebracht, und nur das ist mir unverlöschbar im Gedächtniß geblieben, daß, nachdem mein Ohr noch einen leisen Pfiff aus dem Munde meines Gönners vernommen und der Hase daraufhin ein hochaufgerichtetes Männchen gemacht, ich furchtlos auf mein Ziel Feuer gegeben, dabei aber von dem Stoß der wahrscheinlich überladen gewesenen Kartaune beinahe zur Erde geworfen worden wäre. In der kurzen Frist, in welcher ich in regungsloser Befangenheit verharrte, war „Hornfriede“ schon der Wahlstatt zugeeilt und brachte – mir zur unbeschreiblichen Freude – von dort her den von mir also wirklich Niedergestreckten zur Hütte.

„Dunnerwetter, Du Mordsjunge hantirst ja mit so ’ner Spritze gerade wie ein Alter,“ belobte mich der von meinem Erfolg höchst befriedigte Anstifter meiner eben ganz harmlos ausgeführten „Blaupfeiferei“. Ich aber konnte mich nicht satt sehen an der gewonnenen weißbäuchigen Beute.

„Hornfriede“ warf sofort nach geschehener That den noch warmen Lampe aus und zog ihm auch gleich die Jacke herunter, wie er das Abstreifen des Balges nannte, bei welcher Gelegenheit er mir alle Handgriffe dieser Fertigkeit zeigte.

„Nu paß’ mal uff, Du Blitzkröte,“ erklärte er dabei, „daß Du so’n Karnutschge ooch einmal richtig abziehen lernst! Zuerst,“ fuhr er fort, „nimmst Du das Beest also so her und stichst ihm ein Loch hinger der Flechse in das eene Hingerbeen, um daran den ‚Krummen‘ an einen Ast oder sonst einen Haken hübsch aufhängen zu können. – So!“ – Und nun streifte er, nachdem er alles Gesagte auch gleichzeitig vor meinen Augen ausgeführt hatte, höchst geschickt, und wie ich erst später beurtheilen lernte, auch ganz waidgerecht, den Frischgeschossenen ab, verbarg darauf den Balg in seiner Hütte mit größter Vorsicht, wobei er mir zugleich ernstlichst verbot, hierüber, wie überhaupt über die ganze Geschichte, gegen irgend Jemand zu sprechen. Dann vergrub er auch das Gescheide, setzte Wasser an’s Feuer und steckte das nackende Wildpret, mit dem Kopfe, aus welchem noch die großen bloßgelegten, fischgelben „Lichter“ glotzten, zu unterst gekehrt, in ein Kochgeschirr. Nachdem er noch eine Hand voll Salz hinzugeworfen, ließ er den also Zugesetzten, dessen „Hingerbeene“ weit über den Topfrand herausstarrten, ruhig etwa zwei Stunden in der siedenden Brühe brodeln, nach welcher Zeit er das gar nicht übel duftende Gericht in einer großen irdenen Schüssel auftischte.

Himmel, welch’ eine Enttäuschung ward mir aber nun beim Genusse dieses Mahles! Hatte ich doch im elterlichen Hause oft genug, wenn von gutem Essen die Rede war, einen saftigen Hasenbraten rühmen hören, ohne daß mir bis dahin ein so kostspieliges Gericht auf unserem Tische vor Augen gekommen wäre. Und nun ein solches Hunde-Essen! „Hornfriede“ hatte dem „neunhäutigen“ Hasen diese ganze Anzahl der bekannten blauen Lederüberzüge höchst pietätvoll auf dem Leibe belassen! Eine gute Zumuthung an meine Zähne und – meinen Magen! Darum heute noch Fluch diesem Cannibalenschmause, dagegen dankbares Gedenken der mir unvergeßlichen Erlegung meines ersten Hasen!




Blätter und Blüthen.


Das arme Vacha! Was fragt das Unglück darnach, wie viele Ach und Weh’ es der Menschenbrust hart auf einander entpreßt! Gestern fuhr es mit Wolkenbrüchen und Gletscherströmen vernichtend über Hab’ und Gut Tausender dahin; heute zerstört es als Kriegsfurie Leben und Hoffnungen der Unschuldigsten, und ehe es Nacht wird, ragen die Trümmer einer fleißigen Stadt aus der glühenden Asche. Muß nicht hinter jedem Unglück die Menschenliebe herbeieilen mit der rettenden, helfenden, tröstenden Hand? Und, Gottlob, sie kann es, und sie thut es; denn zwischen den Stätten des Unglücks liegen weite Länderstrecken, deren Bewohner der Himmel, vor so großem Unglück bewahrt hat – und ihnen Allen, soviel auch der endlosen Sorgen des Tags den Einzelnen bedrücken mögen, ihnen Allen darf man zurufen: Habt Ihr den verarmten Tirolern und den Verwundeten und Verwaisten unserer Oesterreicher geholfen, so helft auch dem Städtchen, das mitten in Deutschland zur Hälfte in Asche liegt! Es ist ja ein altes gutes Wort, das zu uns spricht: „Das Eine thun, das Andere nicht lassen!“ und so arm sind wir in Deutschland, trotz aller Klagen, noch lange nicht, daß wir unserm Herzen seine reinsten Freuden versagen müßten.

Die kleinen Städte Mitteldeutschlands, die an den Heerstraßen lagen, haben von je viel Schweres zu ertragen gehabt, denn wenn diese Straßen im Frieden ihnen auch zum Wohlstand durch Handel und Verkehr verhalfen, so verwandelten sie sich im Kriege fast immer in Verheerungsstraßen. So ist auch an Vacha, einem weimarischen Städtchen im Eisenacher Oberland, an der Grenze Hessens, zu dem es früher selbst gehörte, seit den Tagen der Reformation kein Krieg ohne Spuren der Vernichtung vorübergegangen, bis ihm die französische Retirade nach der Leipziger Schlacht die letzten Wunden schlug. Im darauffolgenden langen Frieden hob sich die Stadt wieder und gelangte durch ihre Lage an der rastlos belebten großen Handelsstraße zwischen Frankfurt am Main und Leipzig zu Wohlstand. Da lenkte plötzlich die Eisenbahn allen Verkehr von ihr ab, und trotz allen Fleißes versank Vacha in Armuth; der Häuserpreis sank bis auf ein Viertel des früheren Werthes. Und gerade jetzt, in dem Augenblick, wo der Bau der Feldabahn die Stadt wieder mit dem Weltverkehr in Verbindung setzen wird, trifft sie das härteste Loos: am Abend des 1. September, zur Stunde, wo auf so vielen deutschen Thürmen die Glocken das große Siegesfest des kommenden Tages einläuteten, erscholl in Vacha die Sturmglocke, und als die Sonne des Tages von Sedan heraufkam, bildeten mit Haupt- und Nebenhäusern 239 Baulichkeiten eine große Brandstätte. – Nicht blos Haus und Hausrath, auch der Erntesegen ist den Armen mit vernichtet worden – so nahe vor dem schlimmsten Feind der Armuth, dem Winter.

Ist da nicht Hülfe nöthig? Man verzeihe uns diese Frage! Geschah sie doch nur, weil unsere Leser sie nicht anders, als mit ihrem „Ja!“ beantworten können. – Auch aus der Ferne möchten wir dieses „Ja“ vernehmen. Es ist so Mancher aus unseren kleinen Städten in der Fremde zum reichen Mann geworden, dem es nun wohl thut, in der alten Heimath ein Freudenspender zu werden. Die Redaction der „Gartenlaube“ darf ohne königl. sächs. Ministerial-Erlaubniß keine Sammlung veranstalten, die Noth drängt aber zur Eile, und darum bitten wir unsere Leser, ihre Gaben „an das Hülfscomité in Vacha im Eisenacher Oberlande“ zu richten. Den Dank der Beglückten werden wir seiner Zeit um so freudiger aussprechen.
H.     




Rüstow und Zimmermann. Sie gehen Einer nach dem Andern, die alten Mitarbeiter der „Gartenlaube“. Wieder haben wir das Erinnerungskreuz auf die Gräber zweier Männer zu setzen, die unserem Blatte nahe standen. Wilhelm Rüstow, der vielgenannte Militärschriftsteller, ein Mann der Feder und der That, hat, im ersten Viertel seines achtundfünfzigsten Jahres stehend, seinem Leben selbst ein Ende gemacht. Er war in Brandenburg am 25. Mai 1821 geboren. Wie seine zwei jüngern Brüder, Alexander und Cäsar, war er frühzeitig in’s preußische Militär getreten. Als die Revolution von 1848 ausbrach, packte sie auch den jungen Lieutenant des Ingenieurcorps, der damals in Posen garnisonirte. Er schrieb eine Broschüre: „Der deutsche Militärstaat vor und nach der Revolution“, wurde deshalb vor ein Kriegsgericht citirt und entzog sich dem Urtheilsspruch desselben durch die Flucht in die Schweiz. Seitdem ist er nicht wieder zu Ruh und Frieden gekommen. Seine Thaten in Garibaldi’s Corps ehren ihn, und ebenso diejenigen seiner Werke, in welchen nicht der Haß gegen Preußen ihm das Urtheil trübte. In seiner besten Zeit hat er unsere Leser mit mancher frischen, anregenden Arbeit erfreut; um so mehr bedauern wir es, daß er der deutschen Sache später fast feindlich fremd werden konnte.

Mit unwandelbarer Treue hatte der Andere, Wilhelm Zimmermann, an seiner Fahne, der des Vaterlandes und der Freiheit, festgehalten. Noch im vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“ (Nr. 47) hatten wir Gelegenheit, dieses deutschen Mannes zu gedenken. „Noch einer vom alten Schrot und Korn“ ist der Artikel überschrieben, den wir ihm als dem „Geschichtsschreiber der Wahrheit“ widmeten, wie unser Blatt ihn schon 1869 genannt hatte. Dort (S. 293) haben wir auch sein Bildniß mitgetheilt. Zimmermann starb am Morgen des 22. September im Bade Mergentheim an Lungenlähmung.




Berichtigung. In der Unterschrift zu unserem Bilde „Der Werbellin-See“ (Nr. 39) wolle man lesen: Nach der Natur aufgenommen von Wilhelm Claudius – nicht, wie irrthümlich angegeben wurde: von Otto Vollrath, von welchem nur der Holzschnitt stammt.




Kleiner Briefkasten.


Zahlreichen Fragestellern in Betreff der Fütterung der Canarienvögel mit Cayennepfeffer (s. Nr. 34). Hier das Recept: Sie kaufen aus einer großen Droguen- oder Specereiwaarenhandlung frischen, fein gepulverten rothen Cayennepfeffer, weichen altbackene hartgetrocknete Semmel (Weißbrod, also Weizengebäck ohne Milchzusatz) in Wasser auf, entfernen nach dem Aufquellen mit einem Messer die äußere Schale, drücken dann die Brodmasse tüchtig aus, sodaß sie nur feucht bleibt, und vermischen mit derselben so viel von dem Pfefferpulver, daß ein krümliches Gemenge gebildet wird. Auf die Portion des Pfeffers kommt es dabei nicht so sehr an; die Hauptsache ist, daß die Mischung nicht schmierig und unappetitlich für die Vögel wird. Zu beachten ist noch, daß der gepulverte Cayennepfeffer leicht heftiges Niesen erregt und daß man beim Mischen also vorsichtig sein muß.

Dr. K. R.     

V. von W. in Wien. Die Sage vom „Rattenfänger von Hameln“ ist allerdings auch dramatisch, und zwar als Textbuch zu einer großen Oper bearbeitet worden, deren Aufführung auf dem Leipziger Stadttheater soeben vorbereitet wird; Componist derselben ist der durch seine Oper „Irmingard“ und zahlreiche Liedercompositionen bekannte Victor Neßler.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Philip Henry Gosse „The Aquarium“. London.
  2. Bosnien. Das Land und seine Bewohner. Geschichtlich geographisch, ethnographisch und social-politisch geschildert von Amand Freiherr von Schweiger-Lerchenfeld. Mit acht Original-Illustrationen und einer Uebersichtskarte. Wien, L. C. Zamarski, 1878.