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Die Gartenlaube (1878)/Heft 34

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[553]
Aufg’setzt.
Eine baierische Bauerngeschichte.
Von Herman von Schmid.
(Schluß.)
Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Inzwischen war Gertl von der Mutter und ihrem räthselhaften Retter nach Hause gebracht worden und lag noch immer besinnungslos auf dem Bette. Die Mutter hatte ihr ein in Wasser getauchtes Tuch über die Stirn gelegt und ging ab und zu. Die Frau gehörte noch zu jenem alten Geschlechte mit den durch Arbeit gestählten Nerven, welche wohl einer augenblicklichen Erschütterung nachgeben können, dann aber emporschnellen wie niedergedrückte Federn, um körperlich und geistig wie neugeboren zu erscheinen. Gertl war vollkommen unverletzt, nur der Schrecken und der Qualm hatten sie in einen Zustand schwerer Betäubung versetzt.

Eben hatte die Mutter die Stube verlassen, um den frischen Umschlag am Brunnen anzufeuchten. Der Retter saß neben Gertl am Bett; die Mutter ließ ihn gewähren; wenn auch der Mann wie sein Benehmen ihr wunderlich vorkamen, wollte sie doch nicht mit Fragen in ihn dringen – ihrem einfachen Gemüth wäre es wie eine Verletzung des Dankes erschienen, den sie dem Retter ihres einzigen Kindes schuldig war.

Es war stille in der Stube; man hörte nur den Gang der Schwarzwälder Uhr, als wollte sie die gleichmäßigen Schläge der Pulse andeuten, die im Herzen des Mädchens sich wieder zu regen begannen. Mit einem tiefen Seufzer richtete sie sich empor und blickte, auf den Arm gestützt, wie um sich zu besinnen, in der Stube umher. Es war Alles wie sonst, nur daß neben ihrem Bette eine fremde Männergestalt saß – daß mitten in der Stube auf dem Boden ein eigenthümlicher Gegenstand lag, der aussah fast wie ein vom Spinnrad gerissener Rocken, und daß der Mann neben ihr mit den braunen dichten Haaren und den funkelnden Augen sie so bekannt ansah.

„Was ist denn mit mir?“ sagte sie, die Haare aus der Stirn streichend. „Wo bin ich denn eigentlich?“

„Wo wirst sein?“ fragte der Mann. „Daheim bist; brauchst Dich nicht zu ängsten.“

Gertl kehrte allmählich zum Bewußtsein des Vorgefallenen zurück – in der Nachwirkung des Schreckens schrie sie auf und drückte die Hand vor die Augen, als wollte sie den Anblick des Feuers von sich abwehren.

„Ist’s denn möglich?“ rief sie. „Bin ich nicht verbrannt? Wie bin ich denn herausgekommen aus dem brennenden Stadel?“

„Nun,“ entgegnete der Nachbar, „es ist halt gerade glücklicher Weise Einer den Weg daher gekommen und hat Dich noch zur rechten Zeit herausgetragen.“

„Und wer ist das gewesen?“ fragte sie, allmählich immer klarer werdend. „Ich hab’ schon nichts mehr von mir gewußt und hab’ mich schon verloren gegeben.“

„Das wärst Du auch gewesen,“ sagte die Mutter, die mit dem Tuche zurückkam, und es ihr um die Stirne band, „wenn der Tiroler Stummerl Dich nicht gerade noch herausgetragen hätt’, eh’ das Dach eingestürzt ist. Da siehst Du einmal wieder, wie recht ich gehabt hab’ – Dein Eigensinn, im Stadel im Heu zu schlafen, hätt’ Dich bald das Leben gekostet.“

„Ja, ja,“ sagte Gertl, „jetzt fällt mir Alles wieder ein. Ich bin schon am Ersticken gewesen; die Thür war zu; Jemand muß sie von außen vermacht haben. Niemand anders als der Gori hat’s gethan.“

Wie vom Schauder geschüttelt sank sie auf das Kissen zurück, raffte sich aber ebenso rasch wieder empor.

„Aber wer hat mich denn herausgetragen?“ rief sie. „Hast Du nicht gesagt, der Tiroler Stummerl hätt’s gethan? Wo ist er denn, und wer ist das Mannsbild, das da neben mir sitzt, als wenn es hierher gehörte?“

„Das ist er ja,“ sagte lachend die Mutter. „Es ist kein Anderer, als der neben Dir sitzt. Du kennst ihn halt nicht mehr.“

Erstaunt richtete sie sich noch höher auf, indem sie den am Bett Sitzenden mit weit geöffneten Augen maß und abwechselnd das am Boden liegende Falschhaar betrachtete. „Der?“ stammelte sie, und während sie den Mann betrachtete, schlug eine Gluth in ihr empor, als wäre sie nicht aus dem Feuer gerettet, sondern läge noch mitten in demselben, ringsum von Flammen umzüngelt. Wenn der Stummerl sie aus dem Feuer gerettet, so schoß es ihr blitzartig durch den Sinn, wenn der Mann mit dem braunen Kraushaar und mit dem freundlichen offenen Gesicht der Tiroler Stummerl war, dem sie gestern in der Capelle begegnet, dann bekam ja das Orakel plötzlich eine ganz andere Bedeutung, dann war es doch nicht unmöglich, daß – „Aber wer bist Du denn eigentlich?“ fragte sie wie verloren. „Wenn Du der Tiroler Stummerl sein willst, bist Du dann nicht ein alter Mann, ein Krüppel und ein Täpp?“

„Glücklicher Weise bin ich das Alles nicht,“ antwortete der Mann. „Es ist Alles nur Verkleidung und Verstellung gewesen. – Mußt mich halt nicht verrathen, Madel; es braucht Niemand zu wissen, was hinter dem Stummerl steckt.“

„Wie kannst Du denken, daß ich Dich verrathen werd’?“ sagte Gertl, indem sie den Mann verwundert anblickte und vor

[554] dem feurigen Blick seiner Augen die ihrigen niederschlug. „Was sollt’ ich auch verrathen? Ich weiß gar nichts von Dir.“

„Auch gut – was Du nicht weißt, will ich Dir sagen, damit Du Dich auskennst,“ erwiderte der Fremde. „Ich bin in Tirol daheim, bin von weitschichtigen Gefreundten aufgezogen, weil ich Vater und Mutter verloren hab’, wie ich noch ein Bübel gewesen bin. Ich bin immer eigentlich unter fremden Leuten herum gekugelt, und sie haben gesagt, ich wär’ nie viel nütz gewesen und hab’ nie was lernen wollen, nur das Waldlaufen und das Wildpretschießen hat mich g’freut – das wird wohl in meinem Blut liegen, denn mein Vater ist ja ein Jäger gewesen.“ –

Forschender ruhte Gertl’s Blick auf dem Erzählenden, der nach kurzem Innehalten fortfuhr:

„Drinn’ in Tirol ist’s gar zu gefährlich mit dem Wildern – es ist auch nicht viel zu haben, und Alles ausgeschossen in den Wäldern; deswegen bin ich über die Grenz’ herüber nach Baiern, und damit ich nicht aufgekommen bin, hab’ ich mich als Stummerl und Troddel verkleidet. So bin ich im Land als Bettler ’rumgezogen, und hat Niemand einen Argwohn auf mich gehabt, ich aber hab’ Alles ganz gemüthlich ausspioniren können. Droben im Falkenstein, im Keller, hab’ ich mir einen Unterschlupf eingerichtet; da hab’ ich mein Gewand und mein Schießzeug versteckt und mich allemal umgekleidet; dort hat mich Niemand gesucht; es getraut sich ja Niemand in den Keller hinunter, weil ein Schatz drunten liegt, den ein feuriger Drach’ hütet.“

Er hielt inne, denn er gewahrte, daß Gertl wie geistesabwesend vor sich hin sah und ihn gar nicht zu hören schien. Es war ihr, als vernehme sie die Worte wie durch einen Traum, denn wie zuvor der Blick des Erzählers sie befremdete, lag auch in seiner Stimme etwas Eigenthümliches, wie man oft im Leben einem Laut begegnet, den man längst gehört zu haben glaubt, ohne daß man sich erinnern kann, was er bedeute und von wannen derselbe stamme.

„Aber wie soll’s denn jetzt werden?“ sagte sie, wie erwachend. „Jetzt haben Dich die Leut’ in Deiner wahren Gestalt gesehen; jetzt kennen sie Dich als Wildschütz und daß Du sie betrogen hast – was willst jetzt anfangen?“

„Ja freilich,“ entgegnete er, „wenn sie mich erkannt, ist die Komödie aus; dann darf ich nur gleich die Füße unter den Arm nehmen und schauen, wie ich geschwind nach Tirol hinein komm’.“

„Und willst nimmer wiederkommen?“ fragte Gertl hastig und wie erschrocken.

„So bald nit!“ war seine Antwort. „Es könnte schlecht ausfallen für mich. Ich fürcht’, ich hab’ mich schon jetzt zu lang verhalten. Ich bin gestern in der Früh mit dem Förster zusammengetroffen und sorge, er hat mich jetzt ausgegangen.“

„Warum bist nachher nit gleich fort?“ fragte Gertl mit dem sichtbaren Ausdruck der Unruhe.

„Ich hab’ den Tag abwarten wollen und hab’ mich in meinem Keller versteckt, und es ist ein Glück gewesen, daß ich das gethan hab’. So war ich doch in der Nähe und hab’ Dir helfen können. Und nachher, – daß ich’s recht sag’,“ fuhr er etwas zögernd fort, „nachher hat’s mich nit fortgelassen; ich hab’ Dich noch nur etwas fragen wollen.“

„Mich?“ entgegnete Gertl, deren Befangenheit mit jedem Laut, Wort und Blick wuchs.

„Ja, Dich! Schon – wie ich Dich vorgestern im Garten hab’ reden hören, – wie ich Dich gesehen hab’, da ist mir etwas eingefallen, um das ich Dich fragen möcht’. Drum bin ich Dir auf dem Heimweg nachgeschlichen und bin gerade recht gekommen wie der Lump Dich angepackt hat.“ –

„Und was wär’ denn das für eine Frag’?“

„Ich hätt’ sie gestern schon gethan, wie Du mir am Kirchel auf dem Petersberg begegnet bist, aber Du bist mir zu schnell davon, bist wohl erschrocken vor mir. – Kannst es nit errathen?“ fuhr er fort, während Gertl bei Erwähnung des Kirchleins sich abwechselnd von Gluth und Kälte überrieselt fühlte; sie war so verwirrt, daß sie keine Antwort auf die Frage fand, und doch war es ihr, als ob sie die Antwort darauf wissen müßte, als ob dieselbe in ihrem Gemüth verborgen liege, wie ein vergessenes Lied.

„Ich hab’ Dich fragen wollen,“ begann er wieder, „ob Du mich vergessen hast, mich gar nicht mehr kennst?“

Er hielt einen Augenblick inne – sie schwieg ebenfalls, den Blick fest auf ihn gerichtet, und wie hinter verschwebendem Nebel das Bild einer schönen Gegend erscheint, kehrte ihr plötzlich die Erinnerung wieder.

„Franzl!“ rief sie, schwankend zwischen Besorgniß und Lust. „Wär’s möglich – Du?“

„Ja,“ entgegnete er freudig, „ich bin’s, der Jägerfranzl. Weißt es noch? Der Bub, der Dich immer in die Schul’ begleitet hat, der mit Dir auf dem Steinkreuz gesessen ist und der, weil der Vater knall und fall fort gemußt hat, nicht einmal hat B’hüt Gott! sagen können. Also Du kennst mich doch noch? Du hast mich doch nicht ganz vergessen?“

„O nein, gewiß nit,“ war Gertl’s freudige Antwort. „Wie kannst denken, daß ich Dich hätt’ vergessen können?“

„Ich hab’s auch nicht zuweg gebracht,“ begann er wieder. „Siehst Du, was ich da am Uhrgehäng’ hab’? Das kleine bleierne Ringel? Das hast Du mir gegeben, selbigesmal, wie Du Dir den Fuß verstaucht hast und ich Dich heimgetragen hab’.“

Er reichte Gertl den Ring.

„Und das hast Du noch?“ stammelte sie. „O Du – Du –“

Sie konnte nicht vollenden – das so lange leer gewesene Herz quoll über von dem ganzen Glück der ersten, ungekannten Liebe. Sie wußte nicht, wie ihr geschah: vom Lager heruntergleitend, lag sie in Franzl’s Armen und ließ seine Küsse über sich ergehen wie ein süßes, unvermeidliches Schicksal.

Eben trat die Mutter, die sich wieder auf einen Augenblick entfernt gehabt, in die Stube, eine Schüssel voll Wasser in der Hand. Bei der Ueberraschung, die sich ihr bot, kam sie etwas aus der gewohnten Fassung und die Schüssel entglitt beinah ihren Händen, den Stubenboden mit ihrer klaren Fluth überspülend.

„So ist’s recht,“ sagte sie, auf die Bank zusammenknickend. „Hab’ ich nicht immer gesagt, Du machst noch eine recht Dalkerei mit Deinem Spreizen und Zieren? Soll das jetzt der Schatz sein, nach dem Du so lang’ auf der Such’ gewesen bist?“

„Ja, Mutter,“ rief Gertl, überströmend vor Freude. „Wie kannst denn so reden? Es ist ja der Franzl.“

„Da ist er was Recht’s,“ entgegnete die Mutter.

„Weißt denn nicht? Es ist derselbe, den ich schon als Kind gern gehabt hab’. Ich hab’s nicht verstanden und nicht gewußt, jetzt aber versteh’ ich’s, und jetzt weiß ich’s; der heilige Petrus hat mir’s gesagt und die entsetzliche und doch so glückliche Stund’, in der er mich aus dem Feuer getragen hat. Jetzt hab’ ich den gefunden, dem ich gehör’; bei dem will ich bleiben.“

„Das ist eine schöne Geschichte,“ jammerte die Frau, indem sie die Hände zusammenschlug. „Was soll denn daraus werden? Wie wollt Ihr denn mit einander hausen? Du hast nicht viel, und er hat gar nichts.“

„Nichts – als ein Paar tüchtige Arme und ein treues Gemüth,“ sagte Franzl, indem er vor die Frau hintrat und ihr die Hand darreichte. „Ich kann und will wohl arbeiten, wie’s recht ist, und das Wildern lassen. Ich hab’ noch nie ein Madel angeschaut; es ist mir nit eingefallen, daß ich eine gern haben könnt’, aber wie ich vorgestern im Wirthsgarten zu Flintsbach hinter der Stauden gelegen bin und die Gertl wieder gesehen und die Stimm’ wieder gehört hab’, die liebe gute Stimm’, da ist mir auf einmal gewesen, als wenn am G’wand der Nebel weggeht; die Sonn’ kommt heraus, und die Hörner und Eiszacken stehen da, als wenn sie mit lauter Gold gemalt wären – da hab’ ich gewußt, warum mir kein Madel gefallen hat – ich hab’ ja schon ein Bildl unter’m Brustflecken sitzen, das nimmer zum Auslöschen ist.“

Ergriffen schmiegte sich Gertl an den Burschen – nun war es ihr vollkommen klar, weshalb er sie immer so angestarrt, und daß die eigenthümliche Scheu, die er ihr erregte, eigentlich nichts war, als eine Vorahnung des Geheimnisses, das sie an ihn band. Aber so genau sie ihn betrachtete, kannte sie doch immer noch nicht recht begreifen, daß der stattliche Bursche derselbe lahme, rothhaarige, stammelnde Krüppel war, vor dem sie immer ein solches an Grauen grenzendes Gefühl empfunden.

„Es wär’ Alles recht,“ begann die Mutter wieder. „Wenn ich auch alles Krumme gerad’ sein lassen wollt’, so kann doch nichts daraus werden. So viel ich von der Sach’ versteh’, bist Du ein Wilddieb, der sich nicht sehen lassen darf. Jetzt kennen sie Dich und werden Dich ein paar Jahrl’ einkasperln, und wie soll’s nachher werden? Soll sich das Madl noch länger versitzen? [555] Soll – – Da haben wir’s schon,“ unterbrach sie sich, „da ist der Förster schon und ein Haufen Bauern mit ihm; sie haben Dich richtig schon auskundschaftet und holen Dich ab.“

„Heilige Anna, hilf!“ rief Gertl, indem sie Franzl um den Hals fiel. „Hilf, Mutter! Sie dürfen ihn nicht finden. Sag’, wo wir ihn verstecken? Oder das Beste wird sein – mach’, daß Du fortkommst, Franzl! Ich laß’ Dich durch den Kuhstall hinaus; da passen sie nimmer auf.“

Der Bursche trat kaltblütig an’s Fenster und überblickte die Umgebung des Hauses.

„Es ist zu spät,“ sagte er, „sie haben das Häusel umstellt, ich kann nimmer fort – sie würden mir eine Kugel nachschicken.“

Es war wirklich zu spät; im nächsten Augenblick schon öffnete sich die Thür, und auf der Schwelle stand der Förster mit der Büchse im Anschlag liegend.

„Rühr’ Dich nicht, Wilddieb, vermaledeiter!“ rief er. „Jetzt ist’s Dein Letztes. Gieb Dich oder ich schieß’!“

„Thu Deinen Schießprügel weg!“ entgegnete Franzl kaltblütig und drängte Gertl sanft von sich, die, wie um ihn zu schützen, sich an seine Brust geworfen hatte. „Du siehst, ich hab’ kein Gewehr; ich kann mich nicht wehren und muß wohl mitgehen, ob ich will oder nicht.“

„Das ist Dein Glück,“ sagte der Förster, indem er das Gewehr absetzte und den Hahn in Ruhe stellte. „Packt ihn, Bauern! Bindet ihm die Händ’ auf den Rücken!“

„Was?“ rief Franzl zurückspringend, indem helle Gluth über sein Angesicht emporschlug. „Bandeln wollt Ihr mich? Wer mir auf drei Schritte zu nah’ kommt, der fliegt zum Fenster hinaus. Was stellst Dich denn so wüthig an, Förster?“ fuhr er, ihm näher tretend, fort, „warum sollt ich mich denn wehren, wo’s doch nichts hilft? ‚Heut mir, morgen Dir!‘ das ist ein altes Jägersprüchl – ich hab’ Dich auch schon einmal bei der Falten gehabt und hab’ Dich laufen lassen; heut’ hast Du mich und hältst mich fest – ein Jeder nach seiner Meinung. Jetzt aber macht, daß wir weiter kommen!“

Er wandte sich den Bauern zu, die den kühnen Burschen nicht ohne eine gewisse Theilnahme betrachteten.

„Behüt’ Dich Gott, Gertl!“ sagte Franzl, indem er zu dem Mädchen trat und unbekümmert um die staunenden Zeugen den Arm um sie schlang. „Behüt’ Dich Gott! Das ist eine kurze Zeit, daß mir zwei wieder zusammengekommen sind – aber ich mein’, es könnt’ nit so weit gefehlt sein mit mir. Wart halt eines kurz’ Zeitl auf mich, bis ich wiederkomm’!“

Gertl weinte leise an seiner Brust, er aber fuhr, eine leichte Rührung niederkämpfend, fort: „Und wenn ich nit wiederkomm’ – wenn’s wirklich aus sein sollt’ mit der glückseligen Stund’, in der wir uns wiedergefunden haben – nachher vergiß mich nicht ganz und denk dieweilen an mich!“

„Ich hab’ kein anderes Gedenken mehr, als Dich, Franzl,“ sagte Gertl, „und werd’ kein anderes haben – aber ich sag’ Dir nur auf kurze Weil’ Behüt’ Gott! Du kommst wieder, Du mußt wieder kommen, und ich wart’ auf Dich, und wenn ich darüber ein altes Mütterl werden müßt’. Ich hab’s nit glauben wollen; ich hab’ gefrevelt, aber jetzt weiß ich, Du mußt wieder kommen, es ist uns aufg’setzt, daß Du wieder kommst.“

Franzl legte die weinende Tochter in die Arme der mitweinenden Mutter, und im nächsten Augenblick war der Zug mit seinem Gefangenen in der Nacht verschwunden. Die Fackel, die einer der Bauern trug, zeigte, wie sie den Bergweg hinunter wandelten – auch die erlosch endlich in der Ferne wie ein letzter Leitstern in dem Dunkel der Hoffnungslosigkeit, das mit der Nacht sich auf die Zurückbleibenden niedersenkte.


5.

Ein Jahr später schaute der graue Römertthurm des Falkensteins auf die fröhliche Zurüstung zu einem Feste herab, das in seinen Räumen und Trümmern sich vorbereitete.

Noch der Herbst hatte Lina und Linkow vor dem Altare durch ein heiliges Band vereint, etwas, das Beiden noch vor kurzer Zeit so unmöglich geschienen wie die Erfüllung eines Märchentraumes. Der Kreislauf des Jahres hatte den Tag wieder gebracht, der das erlösende Wort über sie ausgesprochen hatte; er fand das Paar in glücklicher Vereinigung. Es wurde beschlossen, einen Ausflug in das Innthal zu machen und auf dem Falkenstein einige festliche Stunden der Erinnerung zu begehen. Traf es sich doch auch, daß ein Fest der Gegenwart mit demselben zusammenfiel.

Der Wirth von Flintsbach hatte sich’s nicht nehmen lassen, den Platz herzurichten, zu schmücken und mit Allem zu versehen, was nöthig ist, daß über den Freuden des Gemüths auch der Körper nicht leer ausgehe. Im untern Burghofe waren einige Tische und Bänke ländlich zusammengezimmert; in dem Bergeinschnitt des Baches unter dem dichtesten Ahornschatten lagen in der Kühle ein paar Fäßlein voll jenes Labetrunks bereit, ohne welchen in baierischen Gauen kein Fest begangen wird, und am Fuße der von der einstigen Burgcapelle noch übrigen Giebelwand waren Steine zu einem Feldherde zusammengetragen, auf welchem ein lustiges Feuer emporprasselte. Mit vergnügter Miene ging der Wirth hin und wider, die getroffenen Anstalten überblickend, rieb er sich die Hände und rief: „So, jetzt kann der Zug jeden Augenblick kommen. Der Rehbraten ist in einer Viertelstunde gar, und die Hühner stecken schon am Spieß; die Stadtherrschaften werden wohl zufrieden sein … da fehlt sich nichts.“

„Sie werden auch bald kommen, Wirth,“ erwiderte einer der Grenzjäger, der eben durch den Thorbogen hereingekommen war. „Ich bin fort, wie die Predigt angefangen hat – es war ein großes Gewühl von Menschen, aber dennoch war es schön und feierlich, und wie das Paar copulirt wurde, war es ringsum so still, man hätte eine Nadel fallen gehört.“

„Glaub’s wohl, daß es schön gewesen sein muß,“ sagte der Wirth, „daß der Herr Propst selber gepredigt, wär’ allein werth, daß man sich ein paar Sohlen wegläuft. Ueber was hat er denn gepredigt?“

„Ich habe nur den Anfang gehört,“ antwortete der Grenzer. „Er hat gesagt, er wollte von der göttlichen Fürsichtigkeit predigen und an dem Schicksal der Brautleute zeigen, wie der Mensch niemals verzweifeln sollte und wie der, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt, auch da noch einen Ausweg zu finden vermöge, wo uns die ganze Welt mit Brettern vernagelt scheine.“

„Er hat Recht,“ sagte kopfnickend der Wirth; „es ist auch eine merkwürdige Geschichte, die wir da erlebt haben. Wer hätte damals, wie wir in meinem Schankgarten gesessen sind und ich den Tiroler Stummerl hinterm Zaune aufgestöbert habe und die Gertl so an ihm erschrocken ist, wer hätte sich damals einfallen lassen, daß die Zwei über’s Jahr die Ringe wechseln würden!“

„Jawohl,“ rief lachend der Grenzer, „es ist merkwürdig, was man in einer so kurzen Zeit, wie ein Jahr ist, Alles erleben kann, Lustiges und Trauriges! Gestern hat es sich auch wieder gejährt, wie der Gori seinen grauslichen Tod genommen hat. Wenn ich an der Hütte vorbei muß, möcht’ ich immer lieber einen Umweg machen.“

Der Wirth lachte. „Ihr seid mir auch der rechte Wächter,“ sagte er, „der einer halbverfallenen Hütte aus dem Wege geht und einem alten Weib, das drin logirt hat.“

„Ich fürcht’ mich nicht, Wirth,“ entgegnete der Grenzer, „zum wenigsten vor etwas Lebendigem – aber es giebt doch Sachen, bei denen den Couragirtesten eine Gänsehaut überläuft. Die Alte war eine scheusame Person, von der man gar nicht einmal weiß, wo sie hin gekommen ist. Wie wir die Hütte visitirten und sie erfahren hatte, was mit dem Gori geschehen war, that sie gar nicht dergleichen, daß sie die Nachricht verstanden hätte, und kurze Zeit darnach, wie sie mir in der Nacht begegnete, sagte sie mir, ich solle sie nicht aufhalten, ihr Mann habe ihr Botschaft gethan, er werde nächstens mit einem Schiffzug kommen und sie abholen – sie solle ihn nur draußen am Wasser erwarten. Sie ist auch etliche Tage am Gestad gesessen, und wie man sie hat wegholen wollen, ist sie nicht mehr da gewesen, und kein Mensch hat weiter etwas von ihr gehört.“

„Das alte Weibel wird halt in seiner Narrheit in den Inn gefallen sein,“ sagte der Wirth. „Sie ist am besten aufgehoben – Gott geb’ ihr die ewige Ruh’ und dem Gori auch!“

„Horch, sie kommen!“ rief der Grenzer, als aus weiter Ferne und Höhe schallende Trompetenklänge in den hellen Morgen hinein schmetterten. „Sie müssen schon um die Ecke am Petersstein herum sein, weil man die Musik schon so deutlich hört.“

„Fehlt sich nichts!“ rief der Wirth und winkte ein paar nebenan beschäftigten Burschen zu, sich bereit zu machen. „Seppel, schlag’ den Spund auf – zapf an! Und Du, Hies, lauf’ in [556] den obern Burghof hinauf und brenn’ den ersten Böller los! Sie müssen’s wissen, daß wir sie schon kommen hören, und das ganze Innthal mit; – solch eine Hochzeit hats in hundert Jahren nicht gegeben.“

„Das muß wahr sein,“ sagte der Grenzer, „und ich begreif’ immer noch nicht, wie sich Alles so leicht und so geschwind geschickt hat. Der Franzl ist doch processirt und auf ein paar Jahr verurtheilt worden und nach einem halben Jahr war er schon wieder frei.“

„Das ist leicht zu begreifen,“ erwiderte der Wirth. „Es ist halt leichter bei ihm genommen worden, weil er sich gutwillig gegeben und nicht widersetzt hat und weil er den Förster selbiges Mal, wie er ihn in der Hand gehabt hat und hätt’ erschießen können, wegen seinem Weib und seinen Kindern verschont hat. Der König, heißt’s, hat die ganze Geschicht’ erfahren und hat ihm die übrige Strafe geschenkt.“

Näher und näher tönte die Musik, und bald schwenkte die Spitze des Zugs beim Seitenthörlein über den die Brücke bildenden Bogenrest herein, ein paar Bauernbuben mit weißblauen und schwarzrothgoldenen Fähnlein voran, hinter ihnen die Musikanten von Flintsbach und der Umgegend, denn der Maler-Anderl hatte es durchgesetzt, daß seine Genoveva an ihrem Ehrentage von der ganzen Komödiantenbande, deren Zierde sie gewesen, nach Gebühr gefeiert werde. Am nächsten Sonntag sollte das Stück wieder gegeben werden und die junge Frau die Genoveva spielen. Dem Unermüdlichen war es auch gelungen, einen andern rothköpfigen Burschen für die Rolle des Golo zu gewinnen.

Nach der Musik kamen die Kranzlerinnen der Braut und die Mantelträger des Bräutigams, unter einander wetteifernd an Stattlichkeit der Erscheinung; hinter ihnen folgte Gertl, gesenkten Blickes, mit hochgerötheten Wangen und feuchten Augen; die Freudenthränen wollten ebenso wenig schwinden, wie die innere Gluth, die wieder und wieder ihr Antlitz überflog. Am Halse trug sie das Sammetbändchen mit den Henkelducaten.

Neben ihr schritt ihre Mutter, zur andern Seite, wenn es auch nicht genau dem Gebrauch entsprach, der alte Maler-Anderl. Ihnen folgte in der kleidsamen Landestracht Franzl, der Bräutigam; der Oberforstrath und der Förster waren seine Beistände. Linkow und Lina, die Glücklichen, schlossen sich den Glücklichen an, umgeben und umdrängt von einer zahllosen Menge von Landleuten, die das Brautpaar sehen wollten, das durch eine so seltsame Verkettung von Umständen zusammengeführt worden war.

Schon wollte der Zug an der seitwärts paradirenden Musik vorüber sich an den Tischen vertheilen, als eine überraschende Erscheinung ihn aufhielt. Unter dem alten schief gewachsenen Nußbaume, auf einem Mauerbrocken, saß ein Männlein in dunkler Mönchskutte, mit kahlem Haupte und silberweißem Barte, das den Paaren entgegentrat. Es war Karl, der Gymnasiast, der, dem Zuge unbemerkt voraus eilend, das Gewand, das er sich aus der Theatergarderobe von Flintsbach zu verschaffen gewußt, überwarf und so den Versammelten mit begeisterter Anrede einen mächtigen Humpen zu Gruß und Willkommen darbrachte. Er sei der Burggeist vom Falkenstein, sagte er; der Ton der Freude habe ihn aus seiner Gruft geweckt; wenn auch die Burg gefallen und die Kleidung eine andere geworden, er finde sich in die alten Zeiten versetzt, als noch die muthigen Harnischträger im weitblickenden Rittersaale ihre Gelage feierten: in den Ruinen des Einst, der eigenen Vergänglichkeit gedenk, sollten sie der Gegenwart sich freuen.

Jubelnd wurde die sinnige Ueberraschung angenommen; Böller krachten; Musik und Zuruf erschollen darein. Gertl bot dem Jüngling die Rechte, die er rasch ergriff und herzlich drückte; er hatte einsehen gelernt, daß es nicht immer auf gelehrtes Wissen ankomme und daß ein echtes Menschenherz unter’m Bauernkittel so viel werth sei, wie eines unter seidener Weste.

Bald begann das Mahl und fröhliches Geplauder, heiteres Lachen, munterer Scherz machten um dasselbe die Runde. Man hatte bereits das alte und das neue Paar, den Propst vom Petersberg und den Burggeist leben lassen, als der Oberforstrath sich erhob; an seinem Glase anklingend, sagte er:

„Ich habe Ihnen eine Mittheilung zu machen, Herr Förster. Sie haben um Versetzung in den Ruhestand nachgesucht, Seine Majestät der König wollen aber einen so braven Forstmann noch nicht entbehren und haben deshalb zu verfügen geruht, daß Sie im Dienste bleiben, daß Ihnen aber ein tüchtiger Gehülfe beigegeben werden soll, der Sie unterstütze und das Revier so genau kennt, wie Sie. Ihr neuer Gehülfe ist unser Bräutigam. Seine Majestät haben von seinem eigenthümlichen Lebenslauf vernommen und wollen ihm Gelegenheit geben, Vergangenes gut zu machen und auf redliche Weise seine Geschicklichkeit als Jäger zu erproben.“

Er vermochte kaum zu Ende zu sprechen, denn die ganze Versammlung brach in lauten Jubel aus.

„Da hat der König freilich Recht,“ sagte der Förster lachend. „Der kennt das Revier so gut, wie ich – der Schlankel. – Ja, Herr Oberforstrath, ich nehm’ die königliche Gnad’ an; ich will im Dienste bleiben, so lang’ mich meine alten Füß’ tragen – ich nehm’ den Gehülfen an. Ich hab’s ihm nicht vergessen, daß er mich selbiges Mal verschont hat – er ist ein guter Kerl, und ich denk’, wir werden uns schon vergehen mit einander.“ Er trat zu Franzl und bot ihm die Hand, die dieser wohl ergriff, zugleich aber ihm um den Hals fallend und einen schallenden Kuß auf den Schnauzbart drückend.

„Gute Freundschaft, Forstner,“ sagte er bewegt, „laß mich halt fortkommen – ich hab’ ja so keinen Vater mehr.“

Gertl, zu der Lina, der alten Freundschaft eingedenk, glückwünschend getreten war, schwamm wie mit geschlossenen Augen in einem Meere von Seligkeit: sie vermochte vor Rührung kaum zu antworten. Desto redseliger war die Mutter, die mit dem erst so gefürchteten Schwiegersohne sich längst ausgesöhnt und ihn fast so lieb gewonnen hatte, wie die Tochter. Die Erhebung zum Forstgehülfen setzte alle dem vollends erst die Krone auf. „Das ist ein Glück,“ rief sie ein über das andere Mal, „das hätt’ ich mir im Traum nit einfallen lassen. So hab’ ich’s doch noch erlebt, Gertl, daß ich auf Deiner Hochzeit tanzen kann – und muß sagen, zuletzt hast Du doch Recht behalten und hast den richtigen Hochzeiter erpaßt. Und wie ihm erst die Jägeruniform schön anstehen muß! – Der erste Tanz freilich, der gehört Dir – aber den zweiten laß’ ich mir nit nehmen.“

Ihr Wunsch sollte bald erfüllt werden: bald reihten sich die Paare und flogen auf dem kurz gemähten Rasen des Burghofes so leicht dahin, wie auf dem feinstgetäfelten Boden.

Freudiges Gespräch, laute Musik, schlichter Volksgesang wechselten damit ab; auch der alte Anderl hatte seine Cither kommen lassen, und als die Reihe der Trutzgesangeln und Schnaderhüpfeln an ihn kam, da schlug er frisch die Saiten an, stampfte mit den alten Beinen, als wären sie wieder jung geworden, und sang:

„Hab’s alleweil g’sagt,
Sag’s noch zu guter Letzt:
Schön freudi – schön schneidi,
So ist’s mir aufg’setzt!“



Ein Wort an die deutschen Arbeitgeber.
Von einem ihrer Genossen.

Gewiß ist es recht traurig, und sicher spricht es nicht für unsere auf ihre Erleuchtung so stolze Generation, daß wir trotz aller mahnenden und warnenden Stimmen so lange verständnißlos und gleichgültig einer revolutionären Unterwühlung gegenüberstanden, die unsere ganze Cultur mehr und mehr bedroht; daß wir die Gefahr erst gewahr wurden, als eine jener furchtbaren Thaten geschehen war, welche doch nur natürliche Consequenzen einer solchen Bewegung sind. Weit trauriger aber wäre es noch, wenn wir nun, nachdem wir endlich zum Bewußtsein der Sachlage gekommen sind, nicht Alles thun würden, um das früher Versäumte, so weit dies möglich ist, nachzuholen. Unsere bisherige Versäumniß war Schwäche; erfüllen wir jetzt unsere Aufgabe nicht voll und ganz, so würde das noch viel mehr sein als Schwäche; es würde ein Verbrechen sein.

Diese Aufgabe aber ist eine doppelte: einmal muß die socialistische Agitation erstickt werden, dann aber – und das ist bei

[557]

Die Nymphe des Brunnens.
Scene aus dem gleichnamigen Märchen von Musäus. Nach seinem Gemälde auf Holz übertragen von A. von Grundherr.



weitem das Wichtigste – müssen wir Vorsorge treffen, daß die Verhältnisse, welche das Umsichgreifen dieser Agitation ermöglichten und begünstigten, so umgestaltet werden, daß wir vor einer Wiederkehr der heute zu Aller Schrecken bloßgelegten Krankheit unseres gesellschaftlichen Organismus gesichert sind. Es muß hier nur so mehr etwas Durchgreifendes geschehen, als die Ergebnisse der letzten Reichstagswahl darthun, daß die Socialdemokratie bedeutend an Anhängern gewonnen hat.

[558] Daß man zunächst an die gewaltsame Abwehr denkt und vor Allem nach Mitteln sucht, die socialdemokratischen Agitationen zu beschränken, ist nicht zu verwundern und schadet auch einstweilen nichts, denn ein Gegendruck dürfte sich als nöthig herausstellen, um die Bahn frei zu machen für die auf dauernde Wirkung berechnete vorbeugende Thätigkeit. Stets muß man sich aber in diesem Kampfe bewußt bleiben, daß mit seiner siegreichen Durchführung die gestellte Aufgabe nicht gelöst ist, sondern daß damit nur die befriedigende Lösung vorbereitet wird. Die gewaltsame Erstickung kann nicht auf die Dauer wirken. Reiheten sich nicht andere Maßregeln daran, so würde die jetzt öffentlich betriebene Agitation im Geheimen um so energischer fortgesetzt und zwar unzweifelhaft mit Erfolg, da in den Massen nun erst recht das Gefühl erstarken würde, daß das Bürgerthum und der dasselbe schützende Staat nicht Gegner der Socialdemokratie allein, sondern, wie letztere es darstellt, Feinde der arbeitenden Classe überhaupt sind. Der Classenhaß würde also nicht beseitigt, sondern unter Umständen noch verschärft werden. Wollten wir dies geschehen lassen, es wäre, wie gesagt, ein Verbrechen, ein Verbrechen vom nationalen Standpunkte, der uns mehr noch als andere Völker darauf hinweist, Einigkeit im Innern zu suchen, damit wir stark bleiben gegen äußere Feinde, ein Verbrechen aber auch vom Standpunkte der wirthschaftlichen Interessen, welche nur gedeihen können bei friedlichem Handinhandgehen von Arbeitern und Arbeitgebern. Ausnahmegesetze, Bedrohung socialistischer Arbeiter mit Entlassung von Seiten der Arbeitgeber und ähnliche Maßregeln dürfen, sofern man sie für angemessen hält, nur den Zweck verfolgen, die Organisation der Hetzerei zu zersprengen, die willenlosen und verschüchterten Massen, auf welchen der Bann der Agitatoren lastet, deren Urtheil getrübt ist durch die Einwirkung der Vereine, ganz besonders aber der Presse der Socialisten, sich selbst wiederzugeben, sie zugänglich zu machen der Stimme der Vernunft. Nicht als Mittel zur Bekämpfung der großen Zahl der von den Socialdemokraten verführten Arbeiter sind jene Maßregeln aufzufassen, sondern umgekehrt als Mittel, sie davor zu schützen, daß sie in eine Bewegung gerissen werden, welche sie unglücklich macht und schließlich mit dem Ruin der Gesammtheit auch ihren eigenen herbeiführen müßte.

Von diesem Gesichtspunkte aus haben wir den unvermeidlichen Kampf zu führen und die weiteren Schritte zur dauernden Sicherung des erworbenen Friedens zu thun. Einen dauernden Frieden aber können wir nur dann erwarten, wenn wir diejenigen Classen der Gesellschaft, welche durch die Socialdemokratie dahin gebracht wurden, daß sie das Bürgerthum als ihnen naturgemäß feindlich betrachten, überzeugen, daß sie irre geführt wurden, daß ihre Interessen und diejenigen der ihnen als ausgemachte Gegner dargestellten Arbeitgeber meist zusammenfallen und daß wir dort, wo dies nicht der Fall ist, wenigstens ernstlich bemüht sind, einen beiden Theilen möglichst gerecht werdenden Mittelweg einzuschlagen. Mit anderen Worten, wir müssen sie davon überzeugen, daß wir Arbeitgeber bei der Verfolgung unserer Interessen nicht rücksichtslos gegen das Wohl unserer Arbeiter vorgehen, sondern diesem überall nach Möglichkeit Rechnung tragen.

Es wird sich bei Lösung dieser Aufgaben hauptsächlich um zweierlei handeln. Einmal wird es nöthig sein, die Arbeiter über die Natur der wirthschaftlichen Verhältnisse aufzuklären und sie zu überzeugen, daß die ihnen von den Socialisten gepredigten Grundsätze undurchführbar sind, ja daß schon der Versuch, sie zu realisiren, den größten Schaden für sie nicht weniger als für die Arbeitgeber haben würde. Ferner wird es nöthig sein, gleichzeitig mit dieser Erkenntniß das stark erschütterte Gefühl der Pflicht in den Arbeitern zu wecken. Sodann aber gilt es, nicht nur durch Worte, sondern durch Thaten für die Verbesserung ihrer wirthschaftlichen und socialen Lage nach Kräften zu wirken. Wir werden bei letzterer Thätigkeit, deren beide Richtungen naturgemäß mehr oder weniger zusammenhängen, der Mitwirkung der Gesetzgebung – um den mißverständlichen Ausdruck „Staatshülfe“ zu vermeiden – nicht ganz entrathen können, bei weitem der größere Theil der Aufgabe fällt aber der Selbstthätigkeit des Bürgerthums zu; es soll daher im Folgenden etwas näher darauf eingegangen werden, was diesem in der angedeuteten Richtung zu thun obliegt. –

Wenn ich übrigens die hierher gehörigen Pflichten des Staats in Bezug auf die Gesetzgebung und die Handhabung der Gesetze etc. nicht in Erörterung ziehe, so kann ich doch nicht umhin an dieser Stelle beiläufig wenigstens den einen Punkt hervorzuheben, daß die Regierenden die schwerste Verantwortung trifft, falls sie dem Treiben der neuentstandenen Secte der „Christlich-Socialen“ länger mit gekreuzten Armen zusehen. Es steht unzweifelhaft fest, daß die sogenannten „Christlich-Socialen“ nur Wasser auf die Mühle der Socialdemokratie führen. Würde ihrem gemeinschädlichen Wirken von oben her ein Freibrief ausgestellt, der unter den obwaltenden Umständen einer Begünstigung sehr ähnlich sähe, so würde das weit und breit nur ein verbitterndes Mißtrauen in Allen erzeugen, die das Recht und die Pflicht haben, an der Bekämpfung einer Krankheit sich zu betheiligen, welcher die Regierung allein und ohne diese Mitwirkung sicher nicht Herr zu werden vermag.

Die Weckung wirthschaftlicher Erkenntnisse, erhöhter Sittlichkeit, insbesondere eines lebhafteren Pflichtgefühls bei den arbeitenden Classen wird in erster Linie Sache der Volksschulen, der Elementar- und allgemeinen Fortbildungsschule sein. Sorgen wir also dafür, daß sie dieser Aufgabe gerecht werden, daß die hier bestehende Lücke unseres Erziehungswesens verschwinde! Die Arbeitgeber tragen wesentlich mit Schuld daran, wenn unsere Volksschule überhaupt so wenig den heute unbedingt an sie zu stellenden Anforderungen entspricht. Wären sie, die ja in den Gemeinden den Ausschlag geben, wie es sich gehört, eingetreten für die Bildungsanstalten, es wäre besser bestellt um unsere Elementarschulen, welche zum großen Theil wegen Mangels an Opferwilligkeit von Seiten der Bürger ihre Aufgabe nur ganz ungenügend zu lösen vermögen. Auch hätten wir alsdann längst überall die allgemeine Fortbildungsschule, welche unentbehrlich geworden zur zeitgemäßen Erweiterung der in der Elementarschule erworbenen Kenntnisse und zur Aufrechthaltung der Zucht und Sitte der heranwachsenden Jugend in den Jahren, in denen sie am meisten der Verführung zugänglich ist; wir hätten endlich Bildungsanstalten mehr fachlicher oder technischer Natur für Landwirthe, Handwerker etc. Daneben aber wäre es eine hohe Pflicht jedes Arbeitgebers, Alles zu thun, was in seinen Kräften steht, um den ihm anvertrauten jugendlichen Arbeiter zu einem in jeder Richtung tüchtigen Menschen heranzuziehen. Im Handwerk ganz besonders ist in dieser Beziehung viel gesündigt worden, was sich heute schwer rächt.

Auch aus die Sittlichkeit und Erkenntniß der erwachsenen Arbeiter wird der Arbeitgeber nicht selten einzuwirken vermögen durch mündliche Belehrung, sei es bei der Arbeit, sei es im persönlichen Verkehr außerhalb derselben, so besonders in Bildungs- und ähnlichen Vereinen, wo alle Mitglieder gleichberechtigt sind und sich dadurch einander wesentlich näher treten. Ich sage „nicht selten“; immer wird ein derartiges Vorgehen im Augenblicke nicht möglich sein, nicht etwa blos, weil manche Arbeitgeber selbst nicht die Aufklärung besitzen, die sie den Arbeitern gewähren sollen, sondern weil die Arbeiter nur dann einer derartigen Belehrung zugänglich sind, wenn sie Vertrauen zu den Belehrenden haben, was jetzt leider sehr häufig nicht der Fall ist. Es liegt dies gewiß zum Theile an den Verhetzungen der Arbeiterschaft durch die Socialdemokratie, da bekanntlich selbst die wohlmeinendsten, aufrichtigst für ihre Arbeiter besorgten Arbeitgeber mitunter nicht vermochten, das unter jenen herrschende Mißtrauen zu überwinden. Zum Theil aber liegt der Schaden auch darin, daß die Arbeitgeber bisher durchaus nicht immer ihre Pflichten gegenüber ihren Arbeitern erfüllten, ja die letzteren manchmal in rücksichtsloser Weise ausbeuteten. Daß solche Arbeitgeber auch bei Leuten, welche noch nicht als Anhänger der Socialdemokratie zu betrachten sind, mit Worten wenig ausrichten werden, liegt auf der Hand; die Hauptsache fehlt ihrer Botschaft – der Glaube. Selbst die Männer, welche von vornherein ihre Stellung gegenüber ihren Arbeitern richtig auffaßten und ihnen wohlwollend entgegenkamen, leiden ebenso wie ihre Bestrebungen unter den Folgen der den oben genannten Arbeitgebern zur Last fallenden Fehler. Es ist durchaus nicht unbedeutend, was bereits bei uns in Deutschland gebessert worden; daß es weit bedeutender ist, als die Socialisten Wort haben wollen, dafür haben wir unter Anderm einen Beweis in der vom preußischen Handelsministerium vor einiger Zeit veröffentlichten Zusammenstellung der von Privatunternehmern für ihre Arbeiter getroffenen Wohlfahrtseinrichtungen. Diese Zusammenstellung ist noch lange nicht vollständig; ich selber weiß, daß viele Fabrikanten, welche ganz Vorzügliches auf diesem [559] Gebiete leisteten, die seiner Zeit vom Handelsministerium an sie gerichteten Fragen nicht beantworteten, und zwar meist aus einer Art von falscher Bescheidenheit.

Der Gesammterfolg dieser Bestrebungen (in Süddeutschland ist verhältnißmäßig noch mehr geschehen) blieb aber bisher unbefriedigend, weil sie vereinzelt auftraten, weil der allzu spärlich gesäete gute Samen von dem überwuchernden Unkraut zum Theil wieder erstickt wurde.

Den Glauben, das Vertrauen des Arbeiters zu erringen, das muß erste Aufgabe des Arbeitgebers sein, und diese Aufgabe ist keine leichte, weil wir leider bisher im Großen und Ganzen zu wenig dafür thaten; aber eben darum wird sie nur dann gelingen, wenn wir nicht mit wohlfeilen Phrasen, sondern durch opferfreudige That ihnen zeigen, daß wir uns mitverantwortlich fühlen für sein geistig-sittliches und materielles Wohl. Ersteres müssen wir zu fördern suchen nicht nur durch werkthätiges Eintreten für entsprechende Gestaltung der Bildungsanstalten, sondern auch durch das mahnende Wort und vor Allem durch das gute Beispiel. Ueberall seien uns die Gebote der Sittlichkeit und Ehre, des Anstandes und der guten Sitte Richtschnur für unser ganzes Thun und Lassen! Die Verwendung unserer reichlicheren materiellen Mittel sei eine zweckentsprechende; nicht zur Entfaltung eines Neid und niedrige Genußsucht erregenden Luxus dürfen wir den uns gewordenen Reichthum mißbrauchen; wir müssen ihn benutzen zu würdigerer, auch Geist und Gemüth hebender Gestaltung unseres Lebens, und vor Allem zu umfangreicherer Unterstützung der weniger günstig Gestellten und zu regerer Theilnahme an dem nur den Bemittelten möglichen Ehrendienst für das Gemeinwohl. Unsere Frauen und Töchter müssen uns in unseren auf Hebung der Arbeiter, besonders in sittlicher Beziehung, gerichteten Bestrebungen unterstützen. Abgesehen davon, daß ihnen die Aufsicht über die weiblichen Dienstboten und Arbeiterinnen in erster Linie zusteht, haben sie, wenn die Arbeiter den Tisch und vielleicht gar die Wohnung des Arbeitgebers theilen, wie dies ja im Kleingewerbe häufig der Fall ist, in hervorragender Weise Gelegenheit, den Arbeitenden persönlich näher zu treten und erziehlich auf sie einzuwirken. Selbst aber wo dies nicht der Fall ist, wo nur männliche, mit ihren Familien außerhalb wohnende Arbeiter da sind, kann die Hausfrau unendlich viel zur Anbahnung und Unterhaltung ersprießlicher persönlicher Beziehungen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber thun. Wenn die Gattin oder Tochter des Brodherrn das Kind des Arbeiters oder dessen Frau in Fällen der Noth mit Rath und That unterstützt, wird dieser nicht leicht mehr in seinem Arbeitgeber den ihn rücksichtlos ausbeutenden, herzlosen Egoisten erblicken, den er ohne alle Gewissensbisse übervortheilen zu dürfen glaubt. Ueberhaupt wird das Verhältniß sofort ein anderes, die Arbeiterfrage verliert ihren revolutionären Charakter, sobald Verständniß und Sinn auch für die Interessen der Gegenpartei erwachen.

Bei den auf Beförderung des materiellen Wohls der Arbeiter gerichteten Maßregeln kommt die Bemessung von Arbeitszeit und Arbeitslohn in erster Linie in Betracht; hier das richtige Maß einzuhalten ist nicht nur durch die Pflicht der Humanität, sondern auch durch das eigenste Interesse des Arbeitgebers geboten.

Die Zeit, die der Mensch täglich seiner Berufsarbeit ohne Ueberanstrengung widmen kann, ist natürlich sehr verschieden (abgesehen von individuellen Verschiedenheiten), je nachdem die Arbeit leicht oder schwer ist, je nachdem sie Abwechslung bietet oder nicht; für jede Arbeit giebt es aber ein Maximum der Zeitdauer, bei dessen Ueberschreitung die Leistung nicht nur verhältnißmäßig zur aufgewandten Zeit, sondern absolut abnimmt. Dies tritt jedenfalls ein, sobald es nicht gelingt, die durch die Arbeit eines Tagewerks verzehrte Kraft bis zum Beginn des nächsten voll zu ersetzen. Und der Arbeiter ist mehr als eine Maschine, die unterhalten werden muß, um volles Arbeitsvermögen zu behalten. Er ist Mensch und muß im Stande sein, seine Pflichten als solcher, sich selbst, seinem Hauswesen, dem Staate und der Gesellschaft gegenüber, zu erfüllen. Ihm dies zu ermöglichen, liegt im wohlverstandenen Selbstinteresse des Arbeitgebers; denn es ist die ganze Entfaltung von Arbeitsliebe und Arbeitstüchtigkeit die nöthige Bedingung für wirklich werthvolle Leistungen, welche unsere nationale Arbeit zu Ehren bringen, wie für deren wachsende Vervollkommnung.

Bei den landwirthschaftlichen Arbeiten, welche in freier Luft ausgeführt werden und meist die Kräfte nach verschiedenen Richtungen anspannen, indem abwechselnd bald diese bald jene Muskeln und hier und da der Kopf in Thätigkeit kommen, tritt eine einseitige Ueberanstrengung nicht leicht ein, ebenso wenig bei den meisten Handwerkern; bei manchen der letzteren, so bei den Schneidern und Näherinnen, bei Webern und ähnlichen Gewerben, bei denen die Arbeitenden, gebückt sitzend, ohne kräftige Bewegung verharren, entsteht jedoch diese Gefahr. Hier wird man allzu lange Arbeitszeit vermeiden müssen, das Uebermaß hat dann nicht allein ein Nachlassen der Leistungsfähigkeit im Gefolge, sondern nicht selten die Untergrabung der Gesundheit des Arbeiters.

Der Lohn des Arbeiters muß so bemessen sein, daß er sammt Frau und Kind bei wirthschaftlicher Verwendung davon leben und sich für Zeiten der Erwerbslosigkeit in Folge von Unfällen, welche seine Arbeitskraft treffen, sichern kann. Der Lohn muß also nicht nur hinreichen zur Beschaffung genügender, gesunder Nahrung, Kleidung und Wohnung, sondern der Arbeiter muß damit auch die Beiträge zu den verschiedenen Hülfscassen decken, und auch zu guter, erziehender und wirklich aufweckender Erholung das Nöthige erübrigen können. Nur wenn dies der Fall ist, erhält sich der Arbeitgeber einen kräftigen, arbeitsfrischen, berufsfreudigen Arbeiterstand, wie er ihn braucht, um Tüchtiges zu leisten. Ein Arbeitgeber, der die Lohnfrage von diesem Standpunkte aus behandelt, der nicht jede ihm günstige Conjunctur zur Herabdrückung der Löhne mißbraucht, darf dafür erwarten, daß seine Arbeiter das Höchste leisten und daß sie auch ihrerseits, wenn ihnen die Umstände einmal günstig sind, keine mit dem Bestehen des Geschäfts unverträgliche Lohnforderungen stellen.

Da die richtige Verwendung des Erworbenen für das Wohlergehen des Arbeiters ebenso wichtig ist, wie die Höhe des Erwerbes, wird der Arbeitgeber auch hierbei hülfreiche Hand bieten müssen, indem er dazu beiträgt, den Arbeitern die Befriedigung ihrer nächsten leiblichen Bedürfnisse zu erleichtern und ihnen Schutz zu gewähren gegen die Gefahren, welche zeitweilige oder dauernde Erwerbsunfähigkeit und sonstige Unglücksfälle bringen. Die Art und Weise, wie dies zu erreichen ist, wird, je nachdem es sich um Dienstboten, Handwerksgesellen, landwirthschaftliche oder Fabrikarbeiter handelt und je nach den örtlichen Verhältnissen, sehr verschieden sein. Eine alle Fälle erschöpfende Zusammenstellung praktischer Vorschläge zu geben, wird kaum möglich sein; der einzelne Arbeitgeber wird, unter Festhaltung der eben gekennzeichneten Gesichtspunkte, selbst herausfinden, was gerade für ihn am zweckmäßigsten ist. Einzelne hierher gehörige, bereits erprobte Einrichtungen und Maßregeln will ich aber doch als Beispiele vorführen.

Bei den Dienstboten und denjenigen Arbeitern, welche Kost und Wohnung bei ihren Arbeitgebern erhalten, ist ganz besonders darauf zu achten, daß sie ihren Lohn nicht zu überflüssigen oder gar schädlichen Ausgaben anwenden, hingegen möglichst viel für die Zukunft erübrigen. Bei den Männern und jungen Burschen ist es hauptsächlich das Wirthshaus, bei den Mädchen der Putz, welche einen unverhältnißmäßigen Theil der Einnahmen verschlingen. Diesen Mißständen entgegen zu wirken, dazu wird sich mehr noch als die Mahnung das gute Beispiel des Arbeitgebers und seiner Familie eignen. Bei der Anlage des Ersparten sei man behülflich. Es ist eine bekannte Sache, daß eine Menge von Beutelschneidern, die sich Banquiers oder ähnlich nennen, auf die Unwissenheit der kleineren Leute, und zwar besonders der Dienstboten, speculirend, diese zum Ankauf von ganz ungeeigneten Werthen, z. B. von nicht zinstragenden Anlehensloosen zu viel zu hohen Preisen gegen ratenweise Abzahlung verlocken, indem sie durch Colporteure, welche meist noch andere Dinge vertreiben, das Papier den Leuten aufdrängen lassen. Mir ist ein Fall bekannt, in dem ein braves Dienstmädchen auf diese Weise über ein Drittel seiner Ersparnisse verlor, und ich bin überzeugt, daß es mitunter noch schlimmer zugeht. In Oesterreich ist dies sogenannte Ratengeschäft gesetzlich verboten, bei uns leider noch nicht. Die Anlage in Werthpapieren sollte überhaupt erst stattfinden, wenn ein größerer Betrag erreicht ist; die erste Ansammlung läßt sich am besten durch Einlagen in eine öffentliche Sparkasse bewerkstelligen. Schon jetzt besitzen wir eine große Anzahl dieser höchst segensreich [560] wirkenden Anstalten; tritt aber einmal erst das Institut der Postsparcassen[1] in’s Leben, und dazu ist ja, wie es scheint, alle Aussicht vorhanden, so ist die Anlage für den kleinen Sparer an allen Orten sehr bequem gemacht.

Leuten, welche nicht Wohnung und Tisch ihres Arbeitgebers theilen, wird dieser die Befriedigung ihrer Nahrungsbedürfnisse in manchen Fällen dadurch erleichtern können, daß er gewisse Dinge, die bei Masseneinkauf billiger oder besser zu haben sind, im Großen beschafft und dann zum Selbstkostenpreis vertheilt (auch gewisse Kleidungs- und Feuerungsmittel sind mitunter zweckmäßig auf diese Weise einzukaufen). Ebenso ist die Anlage von Garküchen, in welchen den Arbeitern, besonders den unverheiratheten, für einen verhältnißmäßig niedrigen Betrag eine gute kräftige Nahrung geboten werden kann, für größere Arbeitgeber mitunter sehr empfehlenswerth, hauptsächlich da, wo die Leute nicht ganz nahe bei der Arbeitsstelle wohnen. Man vermeide es aber hier, wie bei Allem, was man thut, die oft schon allzu wenig innigen Beziehungen des Arbeiters zu seiner Familie noch mehr zu lockern!

Die Familie ist die erste und wichtigste aller Erziehungsanstalten. Von der Gestaltung des Familienlebens hängt mehr noch als von derjenigen des Schulwesens die geistige, vor Allem die sittliche Stellung des Arbeiterstandes ab; jede Einrichtung, welche die heiligen Bande der Familie lockert, ist daher zu vermeiden, selbst wenn das nächstliegende persönliche Interesse des Arbeiters durch solche Lockerungen gefördert zu werden scheint. Die Nothwendigkeit der Heilighaltung der Familie wird auch – das sei bei dieser Gelegenheit noch erwähnt – diejenigen Arbeitgeber, welche weibliche Kräfte beschäftigen, veranlassen müssen, den Frauen, als den wichtigsten Trägern der Familienerziehung, besondere Rücksicht zu widmen.

Ganz allgemeine, für jeden selbstständig wirthschaftenden Arbeiter empfehlenswerthe Einrichtungen sind Consumvereine, dieselben sind also nach Kräften zu fördern. Consumvereine erleichtern nicht nur dem Arbeiter die Beschaffung der erforderlichen Nahrungsmittel und sonstiger Gebrauchsgegenstände, sie sind gleichzeitig vortreffliche wirthschaftliche Erziehungsanstalten und Sparcassen. Den Arbeitern allein wird es meist schwer werden, einen Consumverein zu gründen und besonders zu leiten; betheiligen sich die Arbeitgeber mit ihrer größeren Geschäftskenntniß, so wird die Sache wesentlich erleichtert, und es wird zudem ein neues Mittel gewonnen, Arbeiter und Arbeitgeber zusammenzuführen zu gemeinsamem versöhnendem Wirken. Hier wie bei allen Veranstaltungen zum Wohle der Arbeiter, welche gleichzeitig einen erziehlichen Charakter haben, muß man jedoch der Selbstthätigkeit der letzteren möglichst weiten Spielraum lassen. Eine zu weit getriebene Bevormundung ist durchaus vom Uebel. Die Veranstaltung büßt damit ihre erziehliche Kraft ein und verliert meist das Vertrauen der Arbeiter.

Auch um die Beschaffung geeigneter Wohnungen für ihre Arbeiter werden die Arbeitgeber sich bekümmern müssen. Die besonders in den rasch angewachsenen Orten bestehende Wohnungsnoth ist zum nicht geringen Theil mit schuld an der Demoralisation der Arbeiterwelt. Wer kein behagliches Heim hat, sucht im Wirthshaus Ersatz und wird so nur allzu oft ein Opfer von Trunk, Spiel und sonstigen Lüderlichkeiten. Die Wohnung des verheiratheten Arbeiters muß nicht nur den Ansprüchen der Gesundheitspflege genügen, sie muß auch so beschaffen sein, daß sie die Entfaltung der zur Behaglichkeit nöthigen Reinlichkeit und Ordnung, ja womöglich eines gewissen Schönheitssinnes erlaubt. Nur dann wird der Familienvater sich hingezogen fühlen zum häuslichen Herd, wird er sich wohl fühlen im Schooße der Familie, nur dann wird die Mutter mit Lust und Eifer ihren Pflichten als Hausfrau entsprechen, werden die Kinder im elterlichen Hause sittliche Förderung finden können.

Durch Actiengesellschaften und Baugenossenschaften zur Errichtung von Arbeiterhäusern läßt sich, wie das Beispiel einer Reihe von Städten – Mühlhausen im Elsaß in erster Linie – beweist, viel in dieser Richtung thun. Auch die zweckmäßige Verbindung des Centrums der großen Städte mit der Peripherie ist von Wichtigkeit. Die Wohnungsnoth in Berlin wäre seiner Zeit gewiß nicht so groß geworden, wenn man rechtzeitig für Verkehrsmittel gesorgt hätte, welche es den Arbeitern gestatteten, außerhalb der eigentlichen Stadt zu wohnen, wie dies in England der Fall ist.

Die Erkenntniß der demoralisirenden Einwirkung, welche es auf den Arbeiter hat, wenn seine und seiner Familie Zukunft gegen unverschuldete Nothstände, wie sie so häufig eintreten, nicht gesichert ist, muß uns veranlassen, dem Versicherungswesen unsere Aufmerksamkeit und werkthätige Hülfe angedeihen zu lassen. Bisher wurde nur das Krankencassenwesen gesetzlich geregelt. Es wurde den Gemeinden überlassen, für Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter den Cassenzwang einzuführen, beziehungsweise Zwangscassen für diese Gattungen von Arbeitern zu errichten. Haben die Gemeinden und die hinter ihnen stehenden Arbeitgeber hier ihre Pflicht gethan? Nein, nicht einmal diese Institute, welche noch weit davon entfernt sind, dem bestehenden Bedürfnisse zu genügen, wurden in dem nöthigen Umfange in’s Leben gerufen.

Mögen wir uns dieser unserer Schuld bewußt werden und sie wieder gut machen! Gehen wir überall voran mit der Bildung nicht nur von Kranken-, sondern auch von Pensions-, Wittwen- und Waisencassen für Arbeiter und sorgen wir so dafür, daß eines derjenigen Verhältnisse, welche mit am meisten dazu beitragen, den Arbeiter zum Proletarier herabzudrücken, verschwinde! Zeigen wir den guten Willen, voran zu gehen, so wird die Volksvertretung nicht zaudern, die nöthige gesetzliche Basis zu schaffen. Auch auf die Nothwendigkeit, ihre Habe, und sei sie noch so gering, gegen Feuersgefahr zu versichern, müssen wir die Arbeiter hinweisen. So lange die Leute nicht davor gesichert sind, durch Unfälle dieser Art zu Bettlern gemacht zu werden, kann kein Ehr- und Rechtsgefühl und auch keine rechte Berufsfreudigkeit bei ihnen Platz finden.

Von der Nothwendigkeit, den Spartrieb anzuregen, sprach ich bereits; ich bin der Ansicht, daß der Arbeitgeber zur Erreichung dieses Zieles alle ihm zu Gebote stehenden Mittel anwenden sollte, so z. B. Prämien für die Sparer, hohe Zinsen u. dergl. m. Es ist klar, daß derjenige, der die moralische Kraft gewonnen hat, seine Einnahmen nicht ganz für den Genuß des Augenblicks aufzuwenden, etwas zurückzulegen für die Zukunft, daß derjenige, der sich als Besitzer zu fühlen beginnt, schon durch diese Thatsache allein unbewußt an Selbstständigkeit gewinnt und Interesse an dem Bestehen der Verhältnisse bekommt, sodaß er den Verführungen der den allgemeinen Umsturz predigenden Demagogen fortan weit weniger zugänglich sein wird, als der ganz Besitzlose. Jeden Arbeiter, der zum kleinen Capitalisten wird, haben wir zum Bundesgenossen gewonnen. Wo dies möglich ist, wird die Anlage des Ersparten um Ankauf von Grundstücken oder eines eigenen Hauses zu unterstützen sein. Es wird damit gleichzeitig der Erfolg erreicht, daß der Arbeiter an seinen Arbeitgeber gefesselt wird, was im Interesse beider Theile nur erwünscht ist; mit bekannten und eingeübten Arbeitern läßt sich eine höhere Leistung erzielen, während andererseits die Gewohnheit des Herumziehens die Arbeiter im höchsten Grade in ihrem Vorwärtskommen schädigt.

Es ist klar, daß alle Maßregeln, von denen ich hier einiges beispielsweise anführte, um so besser durchführbar sind und um so mehr Aussicht auf Erfolg haben, je allgemeiner und systematischer sie in’s Leben gerufen werden; es wäre daher dringend erwünscht, daß sich freie Vereine der Arbeitgeber zur Erfüllung der vorliegenden Aufgaben bildeten, Vereine, welche, wenn sie auch nur die Arbeitgeber eines Ortes oder selbst nur die engeren Fachgenossen eines Bezirks umfassen, doch in eine gewisse Verbindung zu einander treten, selbst wenn diese nur in gegenseitiger Anregung, in Austausch von Erfahrungen u. dergl. beständen. In solchen Vereinen wird der Einzelne seine Kenntnisse der Thatsachen ergänzen und sein Pflichtbewußtsein stärken; in der Helle, welche die öffentliche Besprechung verbreitet, wird den Kurzsichtigen erst klar werden, daß und wie sie sündigten, und die Uebelmeinenden werden sich hüten, bei einer Handlungsweise zu verharren, die ihnen nun, da ihre Verwerflichkeit an’s Tageslicht gezogen ist, nicht nur den Haß ihrer Arbeiter, sondern auch die Verachtung ihrer Standesgenossen zuziehen würde. Es [561] braucht kaum erwähnt zu werden, daß es nicht überall des Schaffens neuer, besonderer Vereine bedarf, daß in sehr vielen Fällen bereits bestehende Vereinigungen verschiedener Art, auch dann, wenn die Mitglieder nicht lediglich Arbeitgeber sind, die Arbeit, um die es sich hier handelt, aufnehmen können, so z. B. Gewerke, Innungen, Handwerker, Fabrikanten- und selbst Bildungsvereine.

Diejenigen, welche über Organisation derartiger Vereine und die einschlägige Literatur Aufklärung wünschen, werden gewiß unschwer in ihrer Nähe Männer finden, welche ihnen mit ihrem Rathe zur Seite stehen. Wo dies nicht der Fall ist, giebt ohne allen Zweifel das Secretariat des „Mittelrheinischen Fabrikantenvereins“ in Mainz gern auf einzelne specialisirte Fragen Auskunft.[2]

Möge dieser Mahnruf an meine Genossen nicht ungehört verhallen! Ich wiederhole nochmals: wir Arbeitgeber haben die moralische Pflicht und es liegt in unserem eigenen Interesse, dafür zu sorgen, daß der sociale Friede wiederkehre und dauernd gesichert bleibe. Sorgen wir dafür, daß diejenigen Mißstände unseres socialen und wirtschaftlichen Lebens, über welche die Arbeiter mit Recht sagen, beseitigt werden, sichern wir uns das Vertrauen der Letzteren und ihre Mitwirkung bei unseren Bestrebungen zu ihrem Wohle, und der Erfolg kann nicht ausbleiben.

F. Kalle.



Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

„Jetzt bin ich frei!“ sagte der Freiherr eintretend. „Ganz frei, meine Gabriele. Jetzt gehöre ich Dir allein.“

Gabriele sah zu ihm auf. Sein Antlitz war bleicher als sonst, aber es lag eine tiefe, ernste Ruhe darauf.

„Der Oberst hat Dir doch nichts Unangenehmes gebracht?“ fragte sie besorgt.

„Nein, nur etwas Nothwendiges!“ erwiderte Raven mit vollster Gelassenheit, aber zugleich entzog er sich, wie zufällig, dem hellen Lichtkreise der Lampe und trat mit dem jungen Mädchen an das Fester. Die Luft wogte herein, kühl zwar, aber mild wie an einem Frühlingsabende, und draußen lag die Gegend im hellsten Mondlichte.

„Ich habe das Fenster geöffnet,“ sagte Gabriele. „Es war so dumpf im Zimmer, und der Abend ist so schön.“

„Ja, sehr schön!“ wiederholte der Freiherr, in Gedanken verloren hinausblickend, dann wandte er sich plötzlich wieder zu seiner jungen Gefährtin. „Du hast Recht, man fühlt sich heute so beengt und gedrückt in den geschlossenen Räumen. Es drängt mich förmlich, einmal draußen im Freien aufzuathmen. Wollen wir hinunter in den Schloßgarten?“

Gabriele willigte sofort ein. Der Freiherr nahm ihren Reiseshawl, der noch auf dem Sopha lag, und hüllte ihn sorgfältig um die schlanke Gestalt; dann verließen sie beide das Zimmer.

Im Schloßgarten herrschte, wie gewöhnlich, Einsamkeit und Stille, aber seine Sommerpracht war längst dahingeschwunden. Das dichte Blätterdach, das ihn sonst in tiefen Schatten hüllte, hatte sich gelichtet; die mächtigen Linden standen halb entlaubt, und das Mondlicht lag voll und klar auf den Rasenflächen. Noch rauschte der Nixenbrunnen und warf unermüdlich die weißen Wasserschleier empor, und die Beiden, denen sein Rauschen so verhängnißvoll geworden war, standen jetzt wieder an seinem Rande, umsprüht von dem fallenden Tropfenregen.

Raven blickte mit einem seltsamen Gemisch von Zärtlichkeit und Düsterheit auf seine Begleiterin nieder. „Die ‚Nixenrache‘ hat mich doch erreicht,“ sagte er halblaut. „Warum wagte ich es auch, der Nixen und ihres Zaubers zu spotten! Ich habe den Ort seit jenem Tage nicht wieder betreten, heute aber zog es mich unwiderstehlich hierher. Einmal noch mußte ich den Quell sehen.“

Gabriele schreckte bei den letzten Worten empor. „Einmal noch? Was heißt das, Arno? Was willst Du damit sagen?“

Es lag eine ahnungsvolle Angst in der Frage. Arno lächelte und strich beruhigend mit der Hand über das blonde Haar des jungen Mädchens.

„Sei doch nicht so schreckhaft! Es heißt nur, daß ich das Schloß und die Stadt in den nächsten Tagen verlassen werde. Der Schlag, von dem Du meintest, daß er nur drohte, ist bereits gefallen – seit heute Morgen habe ich aufgehört, Gouverneur der Provinz zu sein.“

„Also haben sie Dich doch bis zum Aeußersten getrieben,“ sagte Gabriele leise. „Du hast Deine Entlassung genommen?“

„Nein – erhalten!“ Die Lippen des Freiherrn zuckten, aber er vermochte es doch jetzt, das Wort auszusprechen, das eine so grenzenlose Demüthigung für ihn einschloß.

„Erhalten?“ wiederholte Gabriele. „Ohne daß Du darum nachsuchtest? Das ist ja –“

„Beleidigung!“ vollendete Raven, als sie inne hielt. „Oder Verurtheilung, wie Du es nehmen willst. Man läßt dem Gestürzten sonst wenigstens der Welt gegenüber den Ausweg, seinen Abschied selbst zu verlangen. Mir ist auch das versagt worden.“

„Und was wirst Du nun thun?“ fragte Gabriele nach einer Pause.

„Nichts!“ entgegnete der Freiherr kalt. „Meine öffentliche Laufbahn ist zu Ende. Ich werde auf meine Güter gehen und dort – weiter leben.“

„Wirst Du es können, Arno? Du selbst sagtest mir einst, daß Wirken und Herrschen Lebensbedingungen für Dich seien, daß Du ein zweckloses Dasein in dem ruhigen, immer gleichen Kreise des Alltagslebens nicht ertragen würdest.“

„Vielleicht lerne ich es. Es lernt sich ja so Manches im Leben. Ich muß es wenigstens versuchen.“

„Und ich gehe ja mit Dir,“ flüsterte Gabriele mit vollster Innigkeit. „Ich bleibe an Deiner Seite, für immer.“

„Ja wohl – für immer!“ Raven lächelte, wie vorhin, aber er vermied es, Gabrielens Blicken zu begegnen. Er umfaßte sie sanft und zog sie nach der Bank in der Nähe der Fontaine. Dort warf die größte der Linden, die noch zur Hälfte ihren Blätterschmuck trug, ihren Schatten, und dort verrieth das helle Mondlicht nicht jede Bewegung der Züge. Der Freiherr konnte den besorgten, beobachtenden Augen nicht länger Stand halten. Sie waren gefährlich, diese Augen, die mit dem Instincte der Liebe durch alle Schleier hindurchsahen und denen doch etwas verschleiert werden mußte.

Arno saß eine Zeitlang schweigend an Gabrielens Seite. Er empfand den ganzen Frieden dieser Umgebung nach all den Stürmen der letzten Wochen und Monden. Auch in seinem Inneren hatte es ausgestürmt. So lange es noch etwas zu bekämpfen und zu vertheidigen gab, hatte er auf dem Kampfplatze gestanden, äußerlich unbewegt. Wie es in seiner Seele aussah, in dieser furchtbaren Zeit, wo die beiden vorherrschenden Leidenschaften seines Lebens, Stolz und Ehrgeiz, Tag für Tag verwundet, gemartert und durch tausende von Demüthigungen und Quälereien endlich bis zu Tode getroffen wurden – das wußte nur er allein. Jetzt waren Kampf und Qual zu Ende, und die Ruhe eines letzten unabänderlichen Entschlusses nahm auch der Erinnerung ihren schärfste Stachel.

„Gabriele, Du hast noch nicht einmal gefragt, was mich stürzte,“ begann der Freiherr endlich wieder, „und doch kennst Du die Anklage. Glaubst Du daran?“

„Wozu sollte ich erst fragen? Ich wußte ja, daß es nur Lüge und Verleumdung war.“

[562] „Also Du wenigstens glaubst noch an mich!“ sagte Raven mit einem tiefen Athemzuge.

„Ich habe nie auch nur einen Augenblick an Dir gezweifelt. Aber weshalb schweigst Du zu jener Anklage? Weshalb trittst Du ihr nicht mit voller Macht entgegen? Schon um Deiner selbst willen mußt Du sie niederwerfen.“

„Ich habe die Beschuldigung öffentlich für eine Lüge erklärt – Du siehst es, welchen Glauben mein Wort gefunden hat, und Beweise stehen mir so wenig zu Gebote, wie denen, die mich anklagen. Es gab nur Einen, welcher mich von dem Verdachte hätte reinigen können, Deinen Großvater, und den deckt längst das Grab.“

„Meinen Großvater?“ fragte Gabriele überrascht. „Er starb, als ich noch ein Kind war, aber ich hörte von meinen Eltern, daß Du sein Liebling und Vertrauter gewesen.“

Raven blickte, in düsteres Nachsinnen verloren, vor sich hin. „Er war eine durchaus ungewöhnliche Natur. Vielleicht war das der Grund, weshalb wir Beide uns stets verstanden, denn auch ich habe nicht die Alltäglichkeit zur Richtschnur meines Denkens und Handelns gemacht. Er war freilich auf den Höhen des Lebens geboren, die ich erst erklimmen mußte. Aristokrat durch und durch, besaß er doch Gerechtigkeit genug, um Begabung und Charakter anzuerkennen, auch wenn sie sich außerhalb seiner Sphäre regten, das habe vor Allen ich erfahren. Es war keine Kleinigkeit für den reichen, stolzen Grafen, für den allmächtigen Minister, die Hand seiner Tochter einem jungen bürgerlichen Beamten zuzusagen, der sich seine Zukunft erst erobern sollte. Dein Großvater wußte es freilich, daß ich sie mir erobern werde, und einem Andern meines Standes hätte er nie seine Tochter vermählt. Ihm verdanke ich alles, was ich geworden bin; er ist mir bis zu seinem Tode ein Freund und Vater gewesen, und doch wollte ich, seine Hand hätte damals nicht in mein Leben eingegriffen und mich gewaltsam auf eine andere Bahn gerissen. Sie führte nach empor zu der erträumten Höhe – aber der Preis, den ich dafür zahlen mußte, war zu hoch.“

Er schwieg und sah wieder in die duftverschleierte Ferne hinaus. Gabriele legte bittend die Hand auf seinen Arm.

„Arno, ich weiß es längst, daß irgend etwas Dunkles, Bitteres in Deinem Leben liegt, und ich weiß auch, daß es ein Unglück und keine Schuld ist. Willst Du es mir nicht enthüllen? Ich habe jetzt doch wohl ein Recht darauf.“

„Du hast es,“ sagte Raven ernst. „Du sollst es erfahren.“

Gabriele blickte in banger Erwartung zu ihm empor. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie näher zu sich.

„Du weißt, daß ich aus den einfachsten bürgerlichen Verhältnissen hervorgegangen bin. Der frühe Tod meiner Eltern lehrte mich, früh für mich selber einzustehen. Ich war in den Staatsdienst getreten und mußte meine Laufbahn von unten auf beginnen. In jener Zeit, wo der Sturm der Revolution durch das Land tobte und die Hauptstadt sich in offener Empörung, im Kampfe mit der Regierung befand, war ich in eine abgelegene kleine Provinzialstadt festgebannt, und das allein bewahrte mich vor der Theilnahme an jenen Bestrebungen, denen ich aus voller Ueberzeugung anhing. Schon im nächsten Jahre wollte der Zufall, daß ich nach der Residenz versetzt wurde; ich kam in nähere Berührung mit meinem Chef, der damals soeben erst das Ministerium übernommen hatte und die Reactionsperiode einzuleiten begann. Er mußte wohl entdeckt haben, daß ich mit einem anderen Maße gemessen werden durfte, als seine übrigen Beamten, denn er bevorzugte mich entschieden, und ich fühlte, daß er mich und meine Leistungen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte. Noch fehlte mir freilich jede Gelegenheit, mich auszuzeichnen. In der Residenz fand ich Rudolph Brunnow, meinen intimen Freund von der Universität, wieder. Noch gährte es überall, wenn man auch der Bewegung selbst Herr geworden war, und all die gewaltsam unterdrückten Elemente, die sich nicht mehr offen regen durften, fanden sich im Geheimen zusammen. Auch ich wurde durch Brunnow, der ein leidenschaftlicher Revolutionär war, in die Kreise gezogen, denen ich längst durch meine Ueberzeugung angehörte. Er stand an der Spitze einer geheimen Verbindung, deren Mitglied auch ich wurde. Wir glaubten an Ideale, Unmöglichkeiten, die in der Wirklichkeit nie eine bleibende Stätte gefunden hätten, aber wir hätten eher unser Leben hingegeben, als davon gelassen.“

Raven schwieg einen Moment lang. Die Erinnerung schien ihn tief zu erschüttern.

„Da kam die Katastrophe,“ fuhr er dann leidenschaftlicher fort, „wir wurden beargwöhnt und beobachtet, ohne daß wir es ahnten, bis der Minister selbst eingriff. Er mußte voraussetzen, daß ich irgendwie betheiligt sei, denn er ließ mich eines Tages rufen und stellte mich zur Rede, aber nicht wie einen Verbrecher, den man überführen will. Es geschah in gütiger, beinahe väterlicher Weise, und das entwaffnete mich. Ich kannte ihn damals noch zu wenig, um zu wissen, welch ein starrer, unversöhnlicher Gegner der Revolution er war; ich ließ mich, wie so Viele, durch die Mäßigung und Vorsicht täuschen, die er im Anfange zeigte. Ich ließ mich hinreißen, meine politischen Ansichten offen zu bekennen und zu vertheidigen – an dieser Stelle zu vertheidigen!

Es war eine schwere Uebereilung, und ich habe sie furchtbar büßen müssen. Zwar fiel kein Wort über das Geheimniß, das ich zu wahren hatte, und der Minister machte auch keinen Versuch, es von mir zu erfahren. Er kannte mich und wußte, daß mir weder Versprechungen noch Drohungen einen Verrath entreißen würden, aber mein leidenschaftliches Aufflammen selbst, meine unvorsichtige Parteinahme für jene Ideen zeigten dem erfahrenen Staatsmanne, wo die längst gesuchte Spur zu finden sei. Er entließ mich scheinbar wohlwollend, aber kaum hatte ich meine Wohnung wieder betreten, so wurde ich verhaftet; meine Papiere wurden mit Beschlag belegt und mir jede Möglichkeit genommen, meinen Freunden eine Nachricht zukommen zu lassen. Das nächste Opfer war Rudolph, den man als meinen Freund und Vertrauten kannte. Bei ihm fand man die Correspondenzen unserer Verbindung und damit den Schlüssel zu allem Uebrigen. Noch vier unserer Gefährten theilten unser Schicksal; der Schlag kam so unerwartet, daß Keiner sich zu retten vermochte.

Die Anklage lautete auf Hochverrath – wir mußten auf Alles gefaßt sein. Da, nach kurzer Zeit, wurde ich wieder zum Minister geführt, der mir ankündigte, daß ich meiner Haft entlassen sei. Er habe sich überzeugt, daß ich nur der Verführte, das Opfer Brunnow’s und seiner Genossen gewesen sei, und wolle das Geschehene verzeihen, sobald ich mein Ehrenwort gebe, ein- für allemal mit den revolutionären Bestrebungen zu brechen. Ich starrte meinen Chef wie betäubt an. Kannte er meine Stellung zu der Sache wirklich nicht, oder wollte er sie nicht kennen? Mein Name war allerdings nirgends genannt worden. Rudolph galt als unser Haupt, aber ein so scharfblickender Mann wie der Minister mußte wissen, daß die passive, unselbstständige Rolle eines blos Verführten meinem ganzen Charakter widersprach. Ich ahnte damals noch nicht, daß er blind sein wollte, um verzeihen zu können. Ich verweigerte entschieden das geforderte Versprechen, weil es Verrath an meiner Ueberzeugung sei, und erklärte, das Schicksal meiner Freunde theilen zu wollen.

Der Minister behielt seine unerschütterliche Ruhe und wiederholte sein Anerbieten. ‚Ich gebe Ihnen vier Wochen Bedenkzeit,‘ sagte er. ‚Ich setze zu viel Hoffnungen auf Sie und Ihre Zukunft, um Sie in diesem wüsten Demagogentreiben zu Grunde gehen zu lassen. Ihr Kopf kann dem Staate bessere Dienste leisten, als sich auf einer Festung oder im Exile mit unfruchtbaren Verschwörungsplänen abzumühen. Sie sind nicht der Erste, der einen begangenen Irrthum einsieht und später zum eifrigsten Verfechter der Sache wird, die er einst bekämpfte, und gerade der Trotz, mit dem Sie jetzt die gebotene Rettung von sich stoßen und die Umkehr verweigern, zeigt mir, daß ich die Verantwortung übernehmen darf, Ihnen wieder den Staatsdienst zu öffnen, wenn Sie wirklich umkehren. Noch hat Sie Niemand angeklagt, und es hängt von Ihnen ab, ob die Anklage überhaupt erhoben werden soll. Die wenigen Beweise, welche Sie compromitiren sind in meinen Händen und werden vernichtet, sobald ich Ihr Wort habe. In vier Wochen erwarte ich Ihre Entscheidung. Vorläufig sind Sie frei und haben die Wahl zwischen einer ehrenvollen, vielleicht glänzenden Laufbahn und dem Untergange‘ – damit entließ er mich.“

„Und Du hast die Wahl getroffen?“ fragte Gabriele.

„Ich – nein!“ entgegnete Raven bitter. „Für mich gab [563] es überhaupt keine Wahl mehr; man hatte dafür gesorgt, daß sie mir erspart blieb. Meine ersten Schritte galten dem Versuche, zu erfahren, wie viel von unserer Sache verloren, wie viel davon gerettet war. Ich suchte meine Freunde auf und fand einen Empfang, auf den ich nun freilich nicht vorbereitet war. ‚Verrath!‘ schrie man mir entgegen; ‚Verrath!‘ tönte es von allen Seiten, wo ich mich nur blicken ließ. Haß, Empörung, Abscheu wogten mir in allen Tonarten entgegen. Im ersten Augenblicke begriff ich nicht, was das zu bedeuten habe – ach, es wurde mir nur zu bald klar.

Man hielt mich für den Verräther, der die Entdeckung herbeigeführt hatte. Meine amtliche Stellung, die offenbare Gunst meines Chefs hatten schon früher Anlaß zum Mißtrauen gegen mich gegeben; jetzt lag es klar am Tage: Ich war das Werkzeug, der Spion des Ministers gewesen; ich hatte ihm unsere Geheimnisse preisgegeben und verkauft. Meine eigene Verhaftung, so folgerte man, war nichts als eine Komödie, ein abgekartetes Spiel, um mich der Rache der Verrathenen zu entziehen, und meine Freilassung bewies ja sonnenklar, daß ich mit den Feinden im Bunde sei – ich erkannte es jetzt, daß die Großmuth meines Chefs keine so unbedingte war, wie ich glaubte. Er hatte sich gesichert, als er mich freiließ, und mir die Rückkehr in das ‚Demagogentreiben‘ ein für alle Mal verschlossen.

Anfangs stand ich fassungslos vor der furchtbaren Anklage, dann erhob ich mich mit vollster Empörung gegen dieselbe. Ich gestand offen meine Unvorsichtigkeit ein, die einzige Schuld, die ich mir beimessen konnte. Ich erzählte meine Unterredung mit dem Minister – es war umsonst, man hielt das für leere Ausflüchte. Das Verdammungsurtheil über mich war einmal ausgesprochen und wurde nicht zurückgenommen. Ein Einziger hätte mir vielleicht geglaubt – Rudolph Brunnow! Ihn traf der Schlag am schwersten und doch, hätte ich vor ihn hintreten können, Auge in Auge, und ihm sagen: ‚Es ist eine Lüge, Rudolph, ich bin kein Verräther!‘ er hätte mir die Hand gereicht und mit mir vereint die Verleumdung bekämpft. Aber er war im Gefängnisse. Ich konnte nicht bis zu ihm dringen. Ich gab den Uebrigen mein Ehrenwort, aber man antwortete mir, daß ich keine Ehre mehr zu verlieren habe, und verweigerte mir sogar die Genugthuung für diesen Schimpf, denn mit Spionen schlage man sich nicht. – Die verfolgten, gehetzten und bis zum Wahnsinn gereizten Menschen waren keines unbefangenen Urtheils fähig, und ich fürchte, ihr Verdacht ist absichtlich auf mich gelenkt worden. Erfahren habe ich es freilich nie, aber meine Begnadigung drückte das Siegel auf den Verdacht.

Nach vier Wochen stand ich wieder vor dem Minister. Ich hatte Alles versucht, mich von dem schändlichen Verdachte zu reinigen, und Alles war gescheitert. Ich blieb ausgestoßen, gemieden, verfehmt von meinen Parteigenossen, aber auch ich war jetzt fertig mit ihnen. Bis hierher war ich ohne Schuld. Noch lag ein letzter Ausweg vor mir: ich konnte mein Vaterland verlassen und anderswo ein neues Leben beginnen, um meiner Ueberzeugung treu zu bleiben, wie Rudolph es später that, als er frei wurde. Das hätte mich schließlich doch gerechtfertigt, wenn auch erst nach Jahren, aber für den Heroismus des Märtyrerthums habe ich nie Verständniß besessen. Auf der einen Seite stand das Exil, mit all seinen Entsagungen und Bitterkeiten, auf der anderen eine Laufbahn, die meinem Ehrgeiz volle Befriedigung verhieß. Ich täuschte mich nach den letzten Vorgängen nicht mehr darüber, was von mir verlangt wurde, wenn ich das Anerbieten meines Chefs annahm, aber Alles in mir gährte auf in glühendstem Hasse gegen die, welche mich verurtheilten, ohne mich auch nur zu hören. Der erlittene Schimpf, die Ungerechtigkeit der ehemaligen Freunde trieben mich geradewegs in das Lager der Feinde hinüber. Ich wußte, daß der Preis meiner neuen Laufbahn meine Ueberzeugung war, und – ich brach mit meiner Vergangenheit und leistete das geforderte Versprechen.“

Die Stimme des Freiherrn, seine kurzen, heftigen Athemzüge verriethen, wie furchtbar diese Erinnerungen in ihm wühlten. Gabriele hörte in angstvoller Spannung zu, aber sie wagte es jetzt nicht, ihn mit einer Frage zu unterbrechen. Er hatte sie aus seinen Armen gelassen, und sein Ton klang matt und dumpf, als er fortfuhr:

„Von diesem Augenblicke an kennst Du und die Welt meine Laufbahn. Ich wurde der Secretär des Ministers, wurde sein Freund und Vertrauter, schließlich sein Schwiegersohn. Sein mächtiger Einfluß räumte all die Hindernisse fort, die dem bürgerlichen Emporkömmlinge im Wege standen, und als die Bahn erst einmal frei war, da brauchte ich nur meine eigenen Kräfte zu regen. Daß meine ganze Vergangenheit dabei venichtet und verleugnet werde mußte, war selbstverständlich; ich hatte es ja gewußt und es lag nicht in meinem Charakter, irgend etwas halb zu thun. Meine Natur neigte ohnehin zum Despotischen, Macht und Herrschaft hatte stets für mich einen beinahe dämonischen Reiz gehabt, jetzt lernte ich sie kennen und eine unglaublich schnelle Carrière und glänzende äußere Erfolge halfen mir schneller, als ich glaubte, über die alten Erinnerungen hinweg. Der stete Einfluß meines Schwiegervaters, den ich aufrichtig verehrte, die Kreise, in denen ich fortan lebte, thaten das Uebrige. Ich mußte vorwärts, ohne umzublicken, und ging vorwärts. Der Weg führte freilich über die Trümmer meiner einstigen Ideale, aber ich erreichte das Ziel – um so zu enden!“

„Aber es ist ja nur eine Verleumdung, eine Lüge, die Dich stürzt!“ fiel Gabriele ein. „Das wird und muß doch offenbar werden.“

Raven schüttelte finster das Haupt. „Kann ich die Welt zu dem Glauben zwingen, den sie mir versagt? Ich habe es ja bereits aus dem Munde Rudolph Brunnow’s hören müssen, daß ich das Recht auf Glauben verwirkt habe. Er freilich kann jeder Anklage entgegentreten mit seiner reinen Stirn, seine Vertheidigung würde nicht ungehört verhallen, denn seine Vergangenheit, sein ganzes Leben zeugt für ihn – die meinige verurtheilt mich. Wer seine Ueberzeugung abschwor, der kann ja wohl auch seine Freunde verrathen haben. Der Fluch jener unseligen Stunde, in der ich mir selbst untreu wurde, fällt jetzt auf mich und macht mich ohnmächtig, der Verleumdung zu begegnen, die mich stürzt.“

„Und wer stürzt Dich?“ rief Gabriele aufwallend. „Die, um deren willen Du das Alles gethan, denen Du Alles geopfert hast. O, welche Undankbarkeit!“

(Fortsetzung folgt.)



Gefärbte Vögel.
Von Dr. Karl Ruß.

Auf der letzten großartigen Vogelausstellung in Berlin im Herbst 1877 fesselten unter mancherlei anderen interessanten Erscheinungen vorzugsweise eine Anzahl Canarienvögel, welche Herr A. F. Wiener aus London gesandt hatte, die Blicke der Kenner wie der Neulinge. Dieselben zeigte sich von allen uns bisher bekannten Canarien durchaus verschieden; weder das matte Weißlichgelb noch das kräftige Hochgelb, weder das schwärzliche Grüngrau noch die Isabellfarbe, welche wir bisher an den Canarienvögeln gesehen, weder die schlichte Gestalt des deutschen Vogels, die schlanke hochschulterige der holländischen Rasse oder die carrikirte des „Parisers“ oder „Trompeters“ mit Jabot und Epaulettes hatten diese Fremdlinge aufzuweisen, noch den wundervollen Gesang unseres Harzer Hausfreundes ließen sie hören – und trotzdem füllte sich der Raum vor ihnen immer mehr mit herandrängenden Beschauern.

Das Fesselnde in der Erscheinung dieser Vögel liegt zunächst in ihrer Färbung, die vom feurigen Dunkelgelb bis zum tiefen Orangeroth wechselt und dabei an den Exemplaren, welche nicht einfarbig sind, durch überaus gleichmäßige Abzeichen ausgeschmückt ist, sodaß der eine Vogel bei rein orangegelbem Körper eine schwarzgrüne Kappe und ebensolche Flügel, ein anderer eine breite dunkle Brille, ebenfalls mit Flügelzeichnung, und, ein dritter nur dieses oder jenes Abzeichen allein hat, während ein vierter am ganzen Körper gleichmäßig eidechsenähnlich geschuppt

[564] ist und über die Stirn bis zum Hinterkopf ein breites schön- und reingelbes Band trägt. Das Staunen der Bewunderer dieser Fremdlinge aber erreicht den höchsten Grad, wenn sie vernehmen, daß die Färbung solcher lebenden Vögel eine willkürlich durch Menschenhand hervorgebrachte ist. Diese Canarien werden in England nämlich einerseits durch sorgfältigste Zuchtwahl, Ausstich, wie es in der Züchtersprache heißt, andrerseits aber durch Fütterung mit rothem Cayennepfeffer erzielt.

Blicken wir im alltäglichen Leben um uns her, so bemerken wir wohl, daß der Mensch einen tiefeingreifenden Einfluß auf die ihn umgebenden, in seiner Gewalt, beziehentlich Pflege befindlichen lebenden Geschöpfe auszuüben vermag. Auch der Gleichgültige würde mit Staunen erfüllt werden, wenn plötzlich rings um ihn her alle Hausthiere und Nutzpflanzen in den ursprünglichen Naturzustand zurückgekehrt wären. Kaum würden wir glauben, wenn man uns dann das Gemüse und die Obstbäume des Gartens und das Getreide der Felder in der Ursprünglichkeit zeigte, daß wir in ihnen wirklich die Urahnen der gegenwärtigen Arten vor uns hätten. Immerfort aber gehen noch vor unseren dafür freilich wenig geöffneten Augen derartige Verwandlungen vor sich, die man eigentlich geradezu als naturgeschichtliche Wunder bezeichnen könnte – wenn sie nicht eben zu alltäglich wären.

Hier, in den rothen Canarienvögeln, haben wir nun eine ganz besonders günstige Gelegenheit zu anregenden Versuchen und Beobachtungen vor uns. Es ist von der Wissenschaft längst festgestellt und von der Erfahrung bestätigt worden, daß der Einfluß der Nahrung sich auf die körperliche wie auf die geistige Entwickelung des Menschen geltend macht. Diese Thatsache nach allen ihren Erscheinungen hin weiter zu verfolgen, fehlt mir hier die Gelegenheit; ich überlasse dies ebenso interessante wie wichtige Thema einer dazu mehr berufenen Feder. In der Thierwelt aber vermag ich doch recht beachtenswerte Beispiele in dieser Hinsicht aufzustellen. Man hat beobachtet, daß manche rein weiße Wasservögel, Enten, Möven, u. dergl. m., wenn sie zeitweise ausschließlich Fische fressen, eine rosenrothe Gefiederfärbung annehmen. Manche Vogelarten verlieren in der Gefangenschaft ihre schönen lebhaften Farben, und mit Recht führt man diese Erscheinung darauf zurück, daß ihnen gewisse Bestandtheile der Nahrung, welche sie im Freien finden und die man noch nicht kennt, in den Käfigen fehlen.

So schwindet namentlich die Schönheit rother Vögel in allen Schattirungen nur zu bald, und ein Beispiel, welches man unschwer vor Augen haben kann, gewährt der allbekannte Hänfling, indem sein schönes Roth an Brust und Stirn sich nach der ersten Mauser regelmäßig verliert; ebenso bleicht die Färbung bei den Kreuzschnäbeln, dem Karmingimpel, Papstfink und Anderen. Kürzlich hat man nun beobachtet, daß manche dieser Vögel, wenn ihnen frische zarte Schößlinge von Kiefern oder anderen Nadelhölzern längere Zeit hindurch zur Fütterung geboten worden, in dem Federwechsel oder der Mauser das schöne Roth wieder erlangten. Im Gegensatze dazu zeigt es sich, daß manche andere Vögel, wenn ihnen gewisse Nahrungsstoffe fehlen oder unpassendes oder auch wohl geeignetes, doch immer gleiches Futter ohne Abwechselung geraume Frist hindurch gegeben wird, immer dunkler, bis zuletzt ganz schwarz sich färben so z. B. die Reisvögel, Tigerfinken, manche Weber. Die Einflüsse der Züchtigung im Allgemeinen wirken indessen dahin, daß das Gefieder immer hellfarbener wird; dies sehen wir bei den Haustauben, dem Canarienvogel, Reisvogel u. a. Leider sind bisher derartige Erscheinungen noch keineswegs ausreichend aufgeklärt oder gar in ihren Ursachen ergründet worden. Die meisten Züchter, selbst wenn sie eifrig und verständnißvoll ihre Thiere behandeln, haben doch leider keineswegs Geduld und Geschick genug dazu, anhaltend zu beobachten, alle Ergebnisse aufzuzeichnen und zu veröffentlichen. Daher sehen wir auf den betreffenden Gebieten wohl reiche, herrliche Erfolge vor uns, aber nur zu spärlich finden wir das Material zur Erklärung der Vorgänge.

So steht es namentlich auch mit der Zucht der Farbencanarien in England. Man zieht dort diese Vögel mit größter Sorgfalt und streng nach den Gesetzen der Durchzucht; man erzielt also aus dem so und so gefärbten und gezeichneten Männchen mit grünen Weibchen die ganz bestimmt so und so ausfallenden Jungen; man erreicht dieses Ergebniß mit ganz gleicher Sicherheit, wie das der entsprechenden Tauben- oder Hühnerrassen. Der Züchter kennt seine Brutvögel ganz genau; er weiß, daß ein betreffendes Männchen „Farbe im Blute hat“ und daß es dem entsprechende Nachzucht erzeugen wird. Er vermag auch stets zu ermessen, welche Wirkung die Kreuzung hervorbringen kann. Dann, vor dem Beginn der Mauser oder des Federwechsels, füttert er die zarten jungen Vögel mit dem Gemisch von feingepulvertem Cayennepfeffer und aufgeweichtem Weißbrod, und durch die Aufnahme des intensivem Farbstoffs in’s Blut, durch die Ablagerung desselben in dem sich neubildenden Gefieder, wird die beabsichtigte Färbung hervorgebracht. Mit diesem Erfolge aber ist für ihn der Vorgang auch völlig abgeschlossen.

Der geniale Zeichner unseres heutigen Bildes hat uns eine Gruppe jener künstlich gezüchteten englischen Canarien in freilich farbloser Darstellung vor’s Auge geführt. Der werthvollste unter den Norwichvögeln ist der Clear yellow Norwich rein- und dunkelfarbig, in seinem tieforangegelben oder richtiger postrothen Kleide das schönste Bild aller mit Pfefferfütterung gezüchteten Canarien. Um ihn tadellos zu erlangen, bedarf es länger anhaltender Zucht bei außerordentlich aufmerksamer Pflege. Der Clead buff Norwich, ein rein- und hellgelber Norwichvogel, ist ebenso, jedoch ohne den tiefen, kräftigen Pfefferfarbenton, mehr goldig gefärbt. Dann folgt der Evenly marked buff ebenfalls ein Norwichvogel mit ungemein gleichmäßigen Abzeichen, und zwar je einem dunkelbraunen Augenfleck und Schwalbenzeichnung an den Flügeln, während die großen Schwungfedern reinweiß und nur zartgelb gesäumt sind. Ihm fast ganz gleich ist der Grey crested buff, nur fehlt ihm der Augenstreif und dafür hat er eine große, schöne, tief über’s Auge hängende dunkle Haube. Der Crested buff Norwich ist ebenso zierlich gehäubt, jedoch am ganzen Körper rein- und tieforangegelb. Diesen Norwichcanarien, welche in ihren schönen, durchaus regelmäßigen Zeichnungen das ergiebigste Material zur Züchtung der pfefferrothen Vögel bieten, stehen noch eine große Mannigfaltigkeit anderer verschiedenartiger Varietäten gegenüber. In der Yorkshire-Rasse wiederholen sich die erwähnten Farbenzeichnungen, nur sind die Vögel kleiner, schlanker, zierlicher und durchgängig von etwas hellerer Schattirung. Auch sie werden mit oder ohne Cayennepfeffer-Fütterung gezüchtet; im ersteren Falle zeigt sich das Vögelchen als Yorkshire clear yellow, Cayenne fed hellorangegelb, im letzteren Falle als Yorkshire clear buff, also reinhellgelb, und dies letztere hat mit der bekannten Brüsseler Rasse so große Aehnlichkeit, daß es auf der Berliner Ausstellung keineswegs als absonderlicher Vogel angesehen und deshalb nicht verkauft wurde, während nach allen übrigen reges Verlangen sich äußerte.

Als die schönsten unter Allen erschienen eigentlich die Lizards oder eidechsenartig gestreiften Canarien, wie schon erwähnt mit reingelber Kopfplatte und an Mantel, Brust und Bauch hübsch gestreift oder richtiger geschuppt. Sie werden in verschiedenen Schattirungen gezüchtet, als Golden spangeled Lizard, also Gold-Lizard oder eidechsenartig gestreifter Canarienvogel mit gelbem Ton, und Silver spangeled Lizard, also Silber-Lizard oder derselbe mit weißgelbem Grundton. Unter den zahlreichen übrigen Farbenvarietäten sind dann die zimmtbraunen Canarien, ebenfalls in mehreren Schattirungen, als Buff Cinnamon, also ein hellbräunlich-zimmtfarbener Vogel, als Jonque Cinnamon ein rein isabellbräunlichgelber Vogel, u. a. m. interessant. Das größte Aufsehen unter ihnen allen erregte aber der Manchester Coppy, ein Riesencanarienvogel von Manchester- oder Lancashire-Rasse. Er hatte reichlich die doppelte Größe eines Harzer Canarienvogels, war im ganzen Gefieder einförmig goldgelb, an den Flügel- und Schwanzspitzen reinweiß. Seine zierliche Haube erstreckte sich nicht weit, nur bis an die Augen hinab. Im Ganzen ähnelte er einem recht großen „Trompeter“, doch hatte er weder Jabot noch Epaulettes. Seine Züchtung ist aber eine ganz besondere Specialität, und deshalb steht er auch im entsprechenden Preise; während die übrigen zwischen 27 bis 32 Mark schwanken, sollte er mit 212 Mark bezahlt werden. Es würde zu weit führen, wollte ich hier auch noch andere in England in großer Mannigfaltigkeit gezüchtete Canarien schildern, welche sich lediglich durch die Gestalt von den unserigen unterscheiden. Schon der große Coppy ist kein eigentlicher Farbenvogel mehr, und noch viel weniger sind dies die Scotch fancy canaries und die Vögel von belgischer und holländischer Rasse, welche dort als wahrhafte

[565]

Englische Zuchtcanarien: Norwich- und Lizard-Vögel.
Nach englischen Chromolithographien entworfen von Fedor Flinzer.

[566] Thiercarricaturen mit Buckel und zur Erde herabhängendem Kopf gezogen werden. Die Kunst, welche sie hervorruft, steht freilich, wenn ich so sagen darf, an Geschicklichkeit noch beträchtlich über der Farbenzüchtung, nimmer aber an Streben nach dem Schönen und Vollkommenen, welches doch, abgesehen von der Rücksicht auf den Nutzen das Hauptziel eines jeden Thier- und Pflanzenzüchters sein soll.

Ein tadellos pfefferfarbener Canarienvogel ist in der That eine allerliebste Erscheinung - und es liegt wohl ein ganz besonderer Reiz darin, diese künstliche Züchtung nachzuahmen. Daher brachte ich ein Männchen der reinen dunkel orangegelben Norwichrace mit mehreren Weibchen der schlicht gelben gemeinen deutschen zusammen. Zu meiner Verwunderung fraßen die letzteren bald eifriger von dem vorgesetzten Pfeffergemisch als das Männchen, ohne daß durch die doch so plötzlich bewirkte Futterveränderung ein übler Einfluß hervorgebracht wurde. Krankheitshalber mußte ich in jenem Sommer für längere Zeit mein Heim und desgleichen die Vögel verlassen, und unter fremder, wenn schon aufmerksamer Pflege war das Männchen doch eingegangen. Der weitere Verlauf des Versuchs ergab zur Genüge, wie schwer überhaupt Erfolge zu erzielen sind. Die alten Weibchen in meiner Vogelstube hatten in Folge der Pfefferfütterung zwar eine auffallend dunkler gelbe Färbung erlangt, zwei flügge gewordene Junge aber zeigten sich nur wenig gelb und nahmen auch bei reichlichem Pfeffergenuß während der Mauser keine kräftigere Färbung an. Die rationelle Zucht in England hüllt die jungen Vögel während des Federwechsels in Baumwolle oder Watte, sodaß das zarte hervorsprießende Gefieder unter Luft- und Lichtabschluß sich zur vollkommenen Ausbildung entwickelt. Zu derartigen mehr oder minder künstlichen Hülfsmitteln mochte ich aber nicht greifen, weil dieselben denn doch zu sehr an Thierquälerei streifen.




Die Insel der Aphrodite.
(Schluß.)

Eine große vollbrachte Thatsache ist auch die englische Annexion Cyperns. Man braucht nicht für die Ländergelüste Englands zu schwärmen; man kann die Gründe und die Art und Weise der Annexion der Insel Perim am Eingange in’s Rothe Meer, der Annexion der südafrikanischen Transvaal-Republik in recht frischem Gedächtniß haben und doch zugleich der letzten Annexion gerne zustimmen. Man braucht auch nicht zu glauben, daß England Cypern annectirt habe, um von hier aus dem „kranken Mann“ als barmherziger Samariter die moskowitischen Fliegen abzuwehren. Die Größe des Areals, die Bevölkerung, der Reichthum der Bodenproduction waren es nicht, welche Englands Gelüste nach diesem Eiland gereizt haben. Unzweifelhaft spinnt Englands hier größere Pläne, deren Bedeutsamkeit und Tragweite noch gar nicht zu bemessen sind. Früher oder später wird Cypern für Englands Besitz ein hohes weltgeschichtliches Gewicht erlangen und eine tiefe, nachhaltige, folgenreiche Einwirkung nicht allein auf das Schicksal des Osmanenreiches, sondern auch auf die Verhältnisse der von dem Mittelmeer bespülten Staaten ausüben. Erst durch den Erwerb von Cypern, im Verein mit dem Besitz von Gibraltar und Malta, sind die Engländer unbestreitbar Herren des Mittelländischen Meeres geworden. Wie wichtig auch Gibraltar und Malta für England sein mögen, beide Bollwerke werden von Cypern weit übertroffen. Nur dadurch, daß Gibraltar und Malta mit Cypern in eine strategische Vereinigung treten, erlangen sie erst ihre ganze militärische und politische Bedeutsamkeit.

Vor beiden aber hat Cypern den Vorzug seiner beträchtlichen Größe, die es besonders geeignet macht zur Basis und zum Ausgangspunkt für bedeutende kriegerische Unternehmungen. Es ist ein vortreffliches Militärdepot, eine Etappenstation, um hierher und von hier aus zahlreiche Truppen von und nach Indien leicht und schnell zu dirigiren. Auch können Famagusta im Osten, Larnaka im Süden leicht zu großen, starken Kriegshäfen befestigt werden. Cyperns Annexion ist daher ein unschätzbares Mittel zur Ausführung von Zwecken, die weit über den bloßen Landbesitz hinausgehen. Cypern ist seit der Landung Wolseley’s das Heerlager Albions geworden zur scharfen Beobachtung Rußlands in seinen stillen Plänen gegen die asiatische Türkei, wie in seiner Bedrohung der wichtigsten asiatischen Interesse Englands in Indien.

England wird daher auch wohl bald die alten schon in den dreißiger Jahren geplanten Entwürfe zu Eisenbahnen am Euphrat und Tigris wieder aufnehmen und ausführen, denn Cypern beherrscht nicht nur die Südküste Kleinasiens, ganz Syrien, die Mündungen des Nils und des Suezcanals, sondern es giebt seinem Besitzer auch noch den Schlüssel zu dem Gebiete der genannten Ströme Asiens. Die Entfernung der Insel nordwärts und ostwärts zu den Häfen von Kleinasien und Syrien ist nur etwa zwanzig geographische Meilen, die von der ägyptischen Küste etwa fünfzig. Wie schnell und leicht ist also von hier aus jede Einsicht in die örtlichen Vorgänge, jedes militärische Eingreifen in dieselben! Die Eisenbahnverbindung aber zwischen Indien und dem Mittelländischen Meere würde den Abstand der Insel Cypern von der vorderindischen Küste um fast die Hälfte vermindern. Jetzt beträgt er von Bombay aus auf dem Wege über die arabische See, das rothe Meer und durch den Suezcanal achthundertfünfundzwanzig geographische Meilen. Der Weg von Kuratschi an der nördlichsten der Mündungen des Indus, wo die britisch-ostindische Regierung während der letzten Jahre großartige Hafenwerke anlegen ließ, durch den nördlichsten Theil des Arabischen Meeres, den Golf von Oman, den Persischen Meerbusen und das Euphratthal bis nach Cypern ist nämlich dreihundertfünfzig geographische Meilen kürzer als der ersterwähnte. Das Zeitersparniß des kürzeren Weges führt aber selbstverständlich noch weitere Vortheile mit sich.

Eine Euphratbahn an der Grenze Persiens würde, wie sicher zu erwarten, auch den englischen Einfluß auf die Regierung von Teheran sehr wesentlich erhöhen.

Der Umstand aber, daß England durch seinen Vertrag mit der Türkei sich zum Schutze der asiatischen Besitzungen derselben verpflichtet hat, wird England auch in Indien zum Vortheil gereichen. Die fünfundvierzig Millionen Mohammedaner nämlich, welche hier dem britischen Scepter unterworfen sind, werden es England eben so hoch anrechnen, daß es als Beschützer des Padischah der Osmanen angetreten ist, welcher ihnen, wie allen übrigen Mohammedanern, noch immer als Haupt und vornehmster Fürst des Islams gilt, wie sie es schwerlich gleichgültig hätten geschehen lassen, wenn England direct zum Untergange der Türkei beigetragen hätte.

Was bisher gesagt worden, ist ein Ausdruck der allgemeinen Stimmung, welche die große, überraschende That der Annexion Cyperns hervorgerufen hat. Es ist hier nicht der Ort und nicht die Aufgabe, Erschöpfendes über die Natur und Geschichte des Eilandes und die politische Bedeutung des große Tagesereignisses zu geben. Nur einzelne orientirende Fingerzeige sollten geboten werden. Und so mögen denn schließlich hinsichtlich der Zustände Cyperns in der Gegenwart auch nur einige Blicke genügen.

Wie sehr auch die Bevölkerung sich verringert hat und verwahrlost ist, die Erzeugnisse des Bodes, die Cultur desselben sind noch mehr verkommen. Große Strecken des fruchtbaren Landes sind außer aller Cultur. Wer sollte wohl nach Erwerb arbeiten, wenn er weiß, daß ihm derselbe von den Behörden genommen wird; denn nach türkischer Algebra wird von den Feldfrüchten der vierte Theil als „Zehnter“ erhoben. So beschränkt sich die Ausfuhr der Landeserzeugnisse auf etwas Getreide, Wein, Krapp, Johannisbrod und Salz, und was hinausgegangen ist, kommt nicht in Form dafür eingehandelter anderer Güter zurück, sondern es wandert als Steuer etc. in die Cassen des Sultans, in die Taschen der Zwischenpersonen.

Für Auge und Gefühl, für stimmmungsvolle landschaftliche Schönheit sind indeß die verwilderten Strecken durchaus keine beklagenswerte Sache. Da zieht sich dichtes Gebüsch von Lorbeer und Myrthe, Klatschrosen und blühenden Oleander über Aecker, die einstmals sorgsam gepflegt waren. Wo das größere Gebüsch zurücktrat, da ist ein unvergleichlicher Blumenteppich ausgebreitet; Tulpen und Hyacinthen, Mohn und Orchideen in den reichsten

[567] und schönsten Farben streiten um den Vorrang. Auf verlassenen, verwilderten Gärten stehen hochragende Pinien mit weitgewölbtem Schirmdache, und schlanke Palmen wiegen ihre graziösen Wipfel in den Lüften. Am Fuße des Gebirges, wo ein rauschender Quell aus dem Gesteine hervorbricht, steht die weitästige, schattenreiche Platane, „der Quellenwächter“, im Schmucke des grünen Laubes; ausgestreckt auf dem Felsen, genießt der jugendliche Ziegenhirt der Kühlung, während seine Heerde das Lorbeer- und Ginstergebüsch durchstreift oder an den Abhängen hinaufklettert und leider jedes Bäumchen zerstört, ehe es Ziegenhöhe überragt. Höher hinaus am Gebirge, namentlich an der Nordseite der Insel, nach Kyreneia und Lapitho zu, wird dann der harte Ginster mit seinen Milliarden goldener Blüthen vorherrschend. Ganze Gelände schönen Ackerbodens hat er überzogen und mit einem dichten Gestrüpp bis zu halber Manneshöhe bedeckt, in welchem eine wimmelnde Menge von kleinem Wilde, Rebhühner, Wachteln, Schnepfen und hundert Arten kleiner Singvögel Futter, Nest und Versteck finden. Gerade hier, in den höheren Regionen des nördlichen Gebirges, wird die Scenerie großartig, erhaben.

Nach Süden sich wendend, sieht der Beschauer die grüne Ebene, die Messaria, mit ihren Städten und ihren Ruinen zu seinen Füßen, und hinter ihr baut sich der Olympos mit seinem bis tief in’s Frühjahr schneebedeckten Gipfel in schöner Linie auf; nordwärts dehnt sich in tiefer, gesättigter Bläue das ewige Meer, ruhig aber ohne Unterlaß seine oben unhörbaren Wellenkreise ziehend und schäumend an’s Gestein schlagend, sodaß es wie von den feinsten Spitzen umsäumt erscheint. Dahinter treten ragend die schneeigen Gipfel des cilicischen Taurus hervor, ungetrübt in der klaren Luft mit den reinsten Linien sich abhebend, um das Ganze abzuschließen.

Bei allem Mangel an statistischen Angaben werden immerhin an sechshundert Ortschaften auf der Insel gezählt, von denen folgende die wichtigsten: Levkosia, Lefkoscha der Türken, mit etwa zwanzigtausend Einwohnern, ist die Hauptstadt, mit Trümmern merkwürdiger Gebäude aus der venetianischen Zeit. Die Bewohner treiben verschiedene Gewerbe, Baumwollenwebereien, Gerbereien zu Maroquinleder und fertigen gefärbte und mit türkischen Mustern bedruckte englische Calicos, goldgestickte Stoffe, seidene Netze und Aehnliches. –

Wenig Städtebilder gewähren einen märchenhafteren, romantischeren Anblick als Levkosia. Rings umgeben von üppiger Vegetation, von lachenden Fluren erheben sich die hochthorigen Stadtmauern; drinnen scheint ein Häusermeer im Garten zu liegen, denn hunderte von Palmen wiegen ihre schmucken Kronen im Sonnenscheine, edle Cypressen und immergrüne Eichen ragen empor, schlanke Minarete mit blendend weißen Mauern beherrschen das Häusergewimmel, und zwischen ihnen ein mächtiger gothischer Dom. – Und wenn zu dem abendlichen Ave-Läuten der Goldpurpur des Sonnenuntergangs sich über die Stadt legt, so glaubt man vollends in ein Märchen der „Tausend und eine Nacht“ versetzt zu sein. Aber das Innere! Enge Straßen, starrend von Schmutz, hohläugige Armuth aus fast jedem Hause herausblickend, träumerische griechische Mädchen und junge Frauen an den hölzernen Altanen sitzend, tief verhüllte Türkinnen Wasser schleppend, bärtige Türken in der Hausthür kauernd, den langen Tschibuk rauchend, die Luft erfüllt mit den schönsten Wohlgerüchen blühender Orangen und Citronen, bizarre Zweige des Feigenbaumes aus den Gärten über die Mauer herüberragend, die reifen Früchte gleichsam dem Wanderer darreichend, dazu Rudel schmutziger, halbnackter Kinder, bettelnd oder mit stummem Anglotzen den Fremden unermüdlich verfolgend, das ist ein Bild des Orients, wie es zusammengedrängter, eigenartiger gar nicht gedacht werden kann. Jeder Blick sagt einem, daß die Stadt nur noch der Schatten ihrer früheren Größe ist. Schon durch die Venetianer wurde bei der drohenden Haltung der Türken ihr Areal auf ein Drittel verkleinert. Aber zahllose Häuser haben jetzt duftigen Gärten Platz gemacht; jedes Haus steht nun in einem Garten, im Schatten von Platanen und Cypressen, Maulbeerbäumen und Dattelpalmen. Die Häuser selbst zeugen von entschwundener Pracht nur noch in ihren untersten Mauerstumpfen.

Südlich davon, am Fuße des Hügelgeländes, liegt Dali, das alte Idalion, das einstige Heiligthum der Aphrodite, mit wenigen Trümmerstücken der antiken Tempelpracht. Oberhalb des Hafens Famagusta lag Salamis, das spätere Constantia, mit mittelalterlichen Bautrümmern des Doms der heiligen Sophia aus der Zeit der Lusignans. Eine Landstraße längs der Südküste verbindet Famagusta mit Larnaka, dessen See die Sommerhitze aufsaugt und eine sehr reiche Salzkruste zurückläßt, die als Regal einen Haupttheil der Landeseinnahme abgiebt. In dem nahen Hafen landen die österreichischen Lloyddampfer. Weiter südwestlich an der Küste liegt Amathus, reich an uralten Erinnerungen des Venuscultus und der hier gefeierten Amathusischen Feste. In den letzten Jahren wurden viele Quadern von den zahlreichen Trümmern zum Bau moderner Häuser nach Port Said am Suezcanal geführt. – Von Paphos, türkisch Baffo, an der Westküste, und von seinem herrlichen Venustempel ist alles verschwunden, nur das Geschlecht der Tauben, die einst den Wagen der Venus gezogen, hat sich hier in zahllosen Schwärmen erhalten.

Den modernsten Charakter hat Limasol oder Limissa an der Südwestküste mit siebentausend Einwohnern, wichtig durch seine großen Salzwerke, bedeutenden Weinbau und Seehandel mit Wein und Johannisbrod; der Wein ist unter der Bezeichnung Commanderie-Wein bekannt. In Limasol feierte Richard Löwenherz seine Hochzeit mit Berengaria von Navarra, die ihm auf schwankem Schiffe nachgefolgt war. Unweit Limasol ließ der amerikanische Consul, General de Cesnola, im Herbste 1875 ein Grabmal von ungewöhnlicher Größe öffnen und fand in demselben einen goldenen Scepter, etwa fünf Kilogramm schwer, goldene Armbänder und ein mit Edelsteinen geschmücktes Halsband. Die Armbänder trugen Inschriften, wie es schien, in cyprischen Charakteren.

Vielleicht findet auch Cypern einst seinen Schliemann. Zur Zeit freilich gemahnt inmitten der Zerstörung und Verwilderung, unter den überall zerstreuten Trümmern geschwundener Herrlichkeit und Pracht noch des Dichters Klage:

„Eine schöne Welt ist hier versunken,
Nur die Trümmer blieben oben stehn,
Lassen sich als goldne Himmelsfunken
In den Bildern uns’rer Träume sehn.“

England wird es indeß hier bei Träumen nicht belassen. Es hat hier eine große Aufgabe übernommen, auf deren Lösung die Augen aller Welt gerichtet sind. Schon rüsten sich von England, von Aegypten Schaaren von Speculanten zur Auswanderung nach Cypern. Die englisch-ägyptische Bank richtet hier bereits ein Zweiggeschäft ein und eine Telegraphengesellschaft hat sich erboten, von Cypern nach Alexandrien und Malta, selbst nach Bassora oder Bosra Kabel zu legen. – Möge sich denn von Cypern im besten, hoffnungsvollen Sinne des Dichters Wort bewähren:

„Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

J. Loewenberg.


Blätter und Blüthen.


Etwas aus der Werkstätte der amerikanischen Presse. J. H. Wehle weist in dem, kürzlich von der „Gartenlaube“ Jahrgang 1878, Nr. 8, aus seinem bald daraus erschienenen Buche „Die Zeitung“ mitgetheilten Abschnitt „Aus den Werkstätten der Presse“ mit Recht darauf hin, daß das Zeitungswesen in den Vereinigten Staaten von Amerika, so weit wenigstens die industrielle Seite in Betracht kommt, am höchsten entwickelt ist. Das zeigt sich nicht nur in so außerordentlichen Unternehmungen, wie es die durch den „New-York Herald“ ins Werk gesetzte Aufsuchung Livingstone’s war, sondern der viel bewunderte praktische Sinn des Amerikaners bekundet ich auch in dem Herstellungsproceß der Tagesblätter, selbst in den scheinbar geringfügigsten Dingen. Vieles hat die europäische, besonders die englische Presse, seither von „drüben“ gelernt und mit Vortheil verwerthet; aber es bleiben der amerikanischen Presse noch manche Vorzüge, welche zum Theil in den eigenthümlichen Verhältnissen des Landes gegründet sind.

Was den Fremden, der zum ersten Male den amerikanischen Boden in New-York betritt, am meisten überraschen wird, das ist das Geschrei der aller Orten die neu erschienenen Blätter ausrufenden Zeitungsjungen. Und die Presse hat dort nur wenige Stunden des Tages, in denen sie, wenigstens scheinbar, ruht. Die Redactionen der Morgenblätter setzen bei wichtigen Vorkommnissen ihre Thätigkeit häufig bis zur fünften Morgenstunde fort, um dann, mitunter ohne jede Pause, von den sogenannten Abendblättern abgelöst zu werden. Beides sind nämlich in Amerika gesonderte Kategorien: es giebt dort – und das wird Vielen [568] neu sein – keine Zeitung, welche regelmäßig Morgens und Abends erscheint. Dafür erscheinen aber die Abendblätter regelmäßig viermal täglich, nämlich die erste Ausgabe um zwölf Uhr, die zweite gegen zwei, die dritte um drei und die vierte um fünf Uhr Nachmittags; außerdem bleibt es ihnen fast ausschließlich überlassen, wichtige Nachrichten dem Publicum in Extra-Ausgaben mitzutheilen. Zur Veranstaltung solcher „Extras“ ist jeder Anlaß recht. Die Uebergabe von Sedan, der Brand von Chicago hatten keinen größeren Anspruch, die Zeitungsjungen schon um acht Uhr Morgens in Bewegung zu setzen, als ein „prize fight“, eine nach den Regeln der Kunst ausgeführte Prügelei zwischen zwei „Rowdies“. Es ist dies einer der Auswüchse des amerikanischen Zeitungswesens. Specialberichterstatter werden von den Zeitungen oft Hunderte von Meilen weggeschickt, um für das sensationshungrige Publicum Futter zu schaffen, und sie entledigen sich ihrer Aufgabe meist mit aller erdenklichen Umständlichkeit in spaltenlangen telegraphischen Berichten. Daß unter diesen Umständen die Localberichterstattung eine ganz außerordentliche Bedeutung in der amerikanischen Tagespresse hat, ist selbstverständlich. Ueber den Ausfall eines Concerts, über ein neues Theaterstück, über ein Meeting – Versammlungen und Vergnügungen fangen in Amerika erst um acht Uhr an – müssen die Zeitungen am nächsten Morgen bereits ausführlich berichten, und sie besorgen dies so gewissenhaft, daß Berichte über politische Meetings gewöhnlich – nicht Spalten, sondern ganze Seiten füllen. Im Polizeihauptquartier aber halten die Polizeiberichterstatter bis gegen drei Uhr Morgens Wacht, um die aus den verschiedenen Revieren einlaufenden Rapporte, die ihnen sofort zur Einsicht gegeben werden, zu prüfen und entweder selbst daraus Auszüge zu machen oder die Redactionen zu verständigen, damit sie einen Specialreporter an den Schauplatz eines größeren Unfalls oder Verbrechens entsenden. Auf diese Weise kann den Zeitungen nichts entgehen, was unter die genannte Rubrik gehört, und Alles, was sich bis um zwei Uhr in der Stadt ereignet hat, erfährt der Bürger beim Kaffeetisch aus der Zeitung. Es gehört auch keineswegs zu den Seltenheiten, daß noch nach zwei Uhr in der Nacht ein Reporter aus einer der vielen Städte und Ortschaften, welche New-York in fast ununterbrochenem Kranze umgeben, freudestrahlend in das Redactionsbureau gestürzt kommt, um noch einen „schönen Mord“ zu melden. Freilich ist dieser Liebe Müh’ nicht umsonst. Solche Berichte werden ohne Rücksicht auf ihren Umfang gut bezahlt, und alle Redactionen, denen sie angeboten werden, sehen sich veranlaßt, sie zu acceptiren, um hinter anderen nicht zurückzubleiben. Auch kann ein Reporter seine Tour durch die verschiedenen Zeitungs-„Offices“ sehr bald zurücklegen, weil sie sämmtlich in einem engen Bezirk, in der Nähe der City-Hall liegen. Am besten freilich fährt er, wenn ihm eine Zeitung seinen Bericht für ihren ausschließlich alleinigen Gebrauch abnimmt. Dafür werden oft Hunderte, für politisch wichtige Notizen auch Tausende von Dollars bezahlt.

Die in Europa den wichtigsten Theil der Zeitung bildenden Postsachen – Correspondenzen und Zeitungen – haben in der amerikanischen Presse nur eine untergeordnete Bedeutung, weil der Telegraph alle Nachrichten von Belang überholt. Die „New-York Associated Preß“ hat die Depeschenübermittelung an Zeitungen zu einer so ausgedehnten gemacht, daß selbst relativ interesselose Localnachrichten durch die ganze Union verbreitet werden. Wenn heute in Kentucky bei einer Rauferei zwei oder drei Halunken niedergestochen werden, weiß es morgen, vielleicht auch heute schon, sowohl New-York wie San Francisco. Die Jahresbotschaft des Präsidenten, welche in der Regel acht bis neun Zeitungsspalten füllt, kann man in New-York eine Stunde, nachdem sie in Washington verlesen worden, in den Zeitungen studiren. Früher wurde die gedruckte Botschaft von Washington aus schon vorher durch die ganze Union an die Regierungsbehörden versandt, welche sie dann auf telegraphische Anweisung den Blättern zustellten. Seitdem es aber einmal einem pfiffigen Reporter gelungen ist, sich vor der Zeit ein Exemplar zu verschaffen und in einer Zeitung zu veröffentlichen, ehe sie überhaupt dem Congreß zugegangen war – seitdem ist man vorsichtiger. Die „Message“ wie die anderen wichtigen Actenstücke werden jetzt von Washington nach New-York telegraphirt und zwar gleichzeitig auf zehn Drähten. Das geschieht so, daß das betreffende Document in zehn gleiche Theile getheilt wird, deren Uebermittelung je einem Draht überwiesen wird; die Zusammenstellung der numerirten Bruchstücke muß dann von den Redactionen besorgt werden. Hiernach wird es nicht weiter auffallen, daß die Zeitungen nicht selten an einem Tage drei bis vier Seiten Depeschen aus dem Inlande, das heißt aus Amerika, enthalten.

Der Kabeldepeschenverkehr hält mit dieser außerordentlichen Leistung gleichen Schritt. Durchschnittlich füllt der Raum der Kabeltelegramme in den Zeitungen nicht weniger als eine Spalte aus, häufig aber erstrecken sie sich auf drei bis vier Spalten, und zur Zeit des deutsch-französischen Krieges waren seitenlange Kabeldepeschen keine Seltenheit. Die in Wehle’s Buch citirte Bemerkung Grant’s, daß die Thronrede der Königin von England in New-York früher gedruckt erscheint, als sie im Parlamente verlesen worden, mag auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, erfährt aber täglich Bestätigung. Die Erklärung ist sehr einfach. Die Zeitdifferenz zwischen London und New-York beträgt nämlich ziemlich genau fünf Stunden. Eine Depesche, welche um zwei Uhr von London abgeschickt wird, kann also, wenn man zwei Stunden Zeitverlust bei der Uebermittelung in Anschlag bringt, in New-York bereits um elf Uhr Vormittags nach dortiger Zeit eintreffen. So ist es nichts Seltenes, daß Privatdepeschen aus Londoner Blättern, welche der dortige Correspondent der „Associated Preß“ um fünf Uhr Morgens aufgiebt, in New-York noch rechtzeitig ankommen, um in der ersten Ausgabe der Morgenzeitungen, welche ungefähr um drei Uhr zur Presse geht, Aufnahme finden.

Vollständig können allerdings die Kabeldepeschen die „Post“ nicht ersetzen – das wäre doch selbst für Amerika zu theuer. Aber auch hier hat die „Associated Preß“ Mittel erdacht, um die denkbar schnellste Zustellung der Postsachen an die Zeitungen zu ermöglichen, freilich nur die Postsachen, welche durch das Londoner Bureau des Instituts bezogen werden. Diese werden bereits in London den einzelnen New-Yorker Blättern zugetheilt und in Pakete gesondert, die mit den Namen der Zeitungen versehen werden. Bei der Ablieferung der Pakete kommt nun der Specialdampferdienst, welchen Herr Wehle ebenfalls erwähnt, in Anwendung. Sobald von Sandy-Hook aus die Ankunft eines Postdampfschiffes nach New-York signalisirt wird, fährt eine der stets bereit liegenden Dampfyachten zum Hafen hinaus dem Schiffe entgegen, nimmt die Postsachen in Empfang und stellt dieselben den Zeitungen sofort durch ihre Boten zu. Auf diese Weise geht den Redactionen die neueste europäische Post noch um zwei Uhr Nachts zu und wird dann noch für die kaum eine Stunde später erscheinende Zeitung ausgebeutet. Nachrichten aus Ländern, mit denen New-York nicht in directem telegraphischem oder Postverkehr steht, werden von dem entsprechenden Hafen aus telegraphirt; so werden die Neuigkeiten aus China und Japan z. B. von San Francisco aus nach New-York depeschirt. In ähnlicher Weise lassen sich die Londoner Zeitungen wichtige Correspondenzen und Actenstücke aus Amerika, welche für die Kabelbeförderung zu umfangreich waren, beim Eintreffen des Postdampfers von Queenstown aus telegraphiren und können dieselben so vierundzwanzig Stunden früher mittheilen, als wenn sie den gewöhnlichen Postweg abgewartet hätten.

Diese Mittheilungen werden einen kleinen Einblick in die Werkstätte speciell der amerikanischen Presse gewähren und im Anschlusse an den Eingangs citirten Artikel vielleicht nicht ohne Interesse gelesen werden.

– s.


Das Megaphon. Eine Notiz über die neueste Erfindung Edison’s, welche kürzlich durch die meisten Tagesblätter lief und von einer Art „schallenden Opernglases für Schwerhörige“, welches jeden Schall fünfzigmal verstärken soll, berichtet, hat der Redaction der „Gartenlaube“ so viele Anfragen von Gehörleidenden eingetragen, daß wir kurz berichten wollen, was über die Sache bekannt geworden ist. Schon das Telephon an sich, indem es die Töne neu erzeugt, hatte bei mehreren Physikern die Vermuthung erweckt, daß man die Schallschwingungen der kleinen Eisenplatte, die ja eine Art künstlichen Trommelfelles darstellt, unmittelbar zu den inneren Organtheilen des Ohres solcher Personen, die das Trommelfell verloren haben, oder sonst schwerhörig sind, würde leiten können. Namentlich stellt hierüber ein Herr Severn in New-Castle und der bekannte Fabrikant physikalischer Instrumente, Herr John Browning in London, Versuche an. Dieselben experimentirten mit gewöhnlichen Kindertelephonen, wie man sie schon vor Jahrzehnten auf den Berliner Straßen sehen konnte: tiefen Pappschachteln, in welche man hineinspricht, und von deren elastischem Cartonboden in der Mitte ein gespannter Faden zu einem gleichgestalteten Hörapparat geht. (Vergl. „Gartenlaube“ 1872, Nr. 8.) Wenn man nun diesen Faden, anstatt ihn in einem Apparate endigen zu lassen, direct mit den Zähnen erfaßt, oder das Ende mit einem Finger in den einen Gehörgang drückt, dann straff über den Vorderkopf führt und denselben auf der anderen Seite ebenfalls in’s Ohr drückt, so kann man bei ziemlich entwickelter Schwerhörigkeit verstehen, was Jemand, der über die Straße entfernt sein mag, in dieses einfachste aller Hörrohre hineinspricht. Das Bell’sche Telephon, wenn es mit einem Mikrophon verbunden wird, muß diese Dienste in einem bedeutend verstärkten Maße leisten können, und mag nun jene Notiz Humbug gewesen sein oder nicht – das Nähere müssen wir abwarten – jedenfalls bleibt es nur eine Frage der Zeit, ob das Mikrophon einmal die für schwerhörige Personen zweckmäßigste Form erhalten wird. Von verschiedenen Seiten ist auch schon darauf hingewiesen worden, daß das Gehörorgan mancher Thiere ganz dem Blyth’schen Mikrophon („Gartenlaube“ 1878, S. 488) ähnlich gebaut ist, indem es aus einer mit losen Gehörsteinchen (sogenannten Otolithen) gefüllten Kapsel besteht. Da wir speciell um die Angabe von Bezugsquellen für Mikrophone angegangen worden sind, so bemerken wir für diejenigen, welche einstweilen selbst Versuche in dieser Richtung anzustellen wünschen, daß Hughes’ Mikrophon nebst Batterie und Empfangstelephon für den Preis von zwanzig Mark (Schilling) von Alfred Chiddey in Bristol (England) angeboten wird. Eine deutsche Bezugsquelle ist uns nicht bekannt.


Unser Märchenbild. (Abbildung S. 557.) Illustrationen zu deutschen Classikern sind in die Mode gekommen; warum soll nicht auch das große Gemälde seine Motive aus den Phantasieschöpfungen unserer Dichter wählen? Hier ist eine Fundgrube für den Maler, deren reichlichere Ausnutzung um so dringender anzurathen ist, als die Stoffarmuth unserer Genremalerei fast sprüchwörtlich geworden ist. Um wie viel mehr muthet doch ein Bild an, dessen Gegenstand uns von der Lectüre her vertraut ist und die fruchtbarsten Vergleichungen zuläßt zwischen der Auffassung des Malers und der unserigen, als irgend ein Sujet, in welches man sich oft genug erst mühsam vertiefen muß, um Freude daran zu gewinnen. Und auf der andern Seite: wie vielfach würden jene Gemälde die Beschäftigung mit bisher unbekannten poetischen Schöpfungen veranlassen! Eine Kunst wurde so der andern zu Nutzen unserer Volkserziehung die Hand reichen. Das vorgeschlagene Bündniß ist um so gerechtfertigter, als unsere populären Classikerausgaben die Beschaffung der Texte wie nie zuvor auch dem wenig Bemittelten erleichtern. In wie vielen Händen befinden sich nicht heute die drolligen Märchenerzählungen des alten Schalks Musäus – und wie werth sind sie noch heute, gelesen zu werden! Möchte das anmuthige Bild der „Nymphe des Brunnens“, welche der edlen Frau Mathilde tröstend den glatten Bachkiesel überreicht, damit sie durch Hinabwerfen desselben in den Brunnen dereinst die wunderbare Freundin zur Pathe des zu erwartenden Töchterchens bitten lasse, recht viele unserer Leser wieder einmal zu jenen munteren Erzeugnissen eines sonnig-heiteren Dichtergemüths führen, deren Reiz, eben weil sie uns so frisch und gesund ansprechen, noch lange nicht verwelken wird.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Postsparcassen sind eine englische Erfindung und vor der Hand auch von Belgien, Holland und der Schweiz nachgeahmt. Sie erleichtern dem kleinen Manne das Sparen dadurch, daß die Postverwaltung des Staats es ist, welche Buchung, Aufbewahrung und Verzinsung der Einzahlungen besorgt. Von den 5337 Sparcassen Großbritanniens gehören nicht weniger als 4853 zu den Postsparcassen.
  2. Ueber die bereits erprobten Maßregeln zum Besten der Arbeiter findet man Vieles in der schon erwähnten Veröffentlichung des preußischen Handelsministeriums, in dem in Berlin bei Leonh. Simion erscheinenden „Arbeiterfreund“, in den bei „Duncker und Humblot“ in Leipzig herauskommenden Schriften des „Vereins für Sozialpolitik“, in den „Mittheilungen des Mittelrheinischen Fabrikantenvereins“ und in der „Société industrielle de Mulhouse“, in dem bei Chr. Limbach in Wiesbaden 1875 erschienenen Schriftchen: Maßregeln zum Besten der Fabrikarbeitern von F. Kalle etc.
    Die Red.