Die Gartenlaube (1878)/Heft 15
Das ganze erste Stockwerk des Regierungsgebäudes war glänzend erleuchtet. Bei dem Gouverneur fand alljährlich am Geburtstage des Landesherrn eine große Festlichkeit statt, wo die Elite der Stadt und der Umgegend zu erscheinen pflegte. Diesmal sollte sich dem üblichen Empfange noch ein Ball anschließen, eine Neuerung, die man wohl hauptsächlich der Anwesenheit der Baronin Harder und ihrer Tochter verdankte, die aber von der Damenwelt Rs. entschieden beifällig aufgenommen wurde.
Es war noch zu früh für die Ankunft der Gäste, aber die Festräume strahlten schon in vollem Glanze, und die Diener hatten sich, nachdem die letzten Vorbereitungen beendigt waren, in das Vorzimmer zurückgezogen. Gabriele war mit der Toilette früher fertig geworden als ihre Mutter, die noch immer die Geduld ihres Kammermädchens auf eine harte Probe stellte und fortwährend an dem Anzuge zu ändern und zu bessern fand. Die junge Baronin betrat also allein den kleinen Salon, am Anfange jener Zimmerreihe, die nur bei festlichen Gelegenheiten geöffnet wurde. Die Hauptwand dieses Salons schmückte ein Bild, dessen reich vergoldeter Rahmen sich effectvoll von der dunklen Sammettapete abhob. Es stellte die verstorbene Gemahlin des Freiherrn von Raven dar und war von einem der berühmtesten Künstler gemalt worden. Aber auch dessen Hand hatte es nicht vermocht, den nicht unangenehmen, aber völlig apathischen und geistlosen Zügen irgend ein Interesse zu verleihen; eine gewisse Vornehmheit der Haltung und eine überreiche Toilette-Entfaltung war das Einzige, was den Beschauer flüchtig zu fesseln vermochte. Wer dieses Bild sah und sich daneben die bedeutende, energische Persönlichkeit des Freiherrn vergegenwärtigte, der fühlte heraus, wie tief die geistige Kluft zwischen den beiden Gatten, wie unmöglich eine gegenseitige Annäherung derselben gewesen sein mußte.
Gabriele war vor dem Bilde stehen geblieben und betrachtete es noch, als sich die Thür öffnete, die am Ende der langen Zimmerflucht zu den Gemächern des Freiherrn führte. Raven selbst trat heraus. Er war heut, zu Ehren des Tages, in voller Galakleidung, und die reiche Hoftracht mit dem breiten Ordensbande über der Brust hob noch das Imponirende seiner Erscheinung, als er langsam, in gewohnter stolzer Haltung durch die Säle schritt und sich dem jungen Mädchen näherte.
„Sieh da, Gabriele! Schon fertig? Was stehst Du so nachdenkend hier vor dem Bilde?“
Es sprach ein deutliches Mißvergnügen aus den letzten Worten. Gabriele bemerkte es nicht; sie antwortete unbefangen: „Ich wundere mich, das Portrait der Tante hier zu finden. Hast Du denn in Deinen eigenen Zimmern keinen Raum dafür?“
„Nein!“ war die kurze, aber sehr bestimmte Antwort.
„Aber die Gesellschaftsräume werden ja kaum einige Male im Jahre geöffnet. Weshalb hängt das Bild nicht in Deinem Arbeitszimmer?“
„Wozu das?“ fragte Raven kalt. „Deine Tante hat es nie betreten. Ich habe ihr Portrait in die Salons bringen lassen, wo es jedenfalls besser an seinem Platze ist. – Wie gefallen Dir die Festräume des Schlosses? Du siehst sie ja zum ersten Male in voller Beleuchtung.“
Sein jähes Abbrechen verrieth, wie lästig ihm das Gespräch war. Er nahm ohne Weiteres den Arm Gabrielens, führte sie weg von dem „Portrait ihrer Tante“, und begann mit ihr eine Wanderung durch die Gemächer, um ihr Verschiedenes zu zeigen und zu erklären. Die Flügelthüren waren überall weit zurückgeschlagen, und man übersah die ganze Reihe der Zimmer und Säle. Es waren wahrhaft fürstliche Räume, die dem Gouverneur zu Gebote standen, und ihnen entsprach die schwere, etwas alterthümliche Pracht der Einrichtung. Die reichen Wand- und Deckenverzierungen, die tiefen Fensternischen und hohen Marmorkamine gehörten noch der früheren Zeit des Schlosses an. Man hatte sie unverändert gelassen, aber dazu gesellten sich kostbare Damast- und Atlastapeten, schwere Sammetvorhänge, reiche Vergoldungen, und das Alles, strahlend im hellsten Kerzenglanz, machte einen wahrhaft blendenden Eindruck.
Die junge Baroneß Harder war am wenigsten geschaffen, sich solchen Eindrücken zu entziehen. Sie gab sich ihnen mit voller Seele hin, während sie, ganz erfüllt von Freude und Erwartung, an der Seite ihres Vormundes dahinschritt. Sie hatte ihm gegenüber schnell genug die frühere Unbefangenheit wiedergefunden. Jene seltsame Stunde am Nixenbrunnen war längst vergessen, ebenso wie der flüchtige Ernst, den sie wachgerufen. Das war wie ein Traum an ihr vorübergegangen und schnell und spurlos wie ein Traum auch wieder verschwunden. Auf diesem sonnenhellen Grunde haftete nun einmal nichts, was einen Schatten ähnlich sah. Gabriele empfand es allerdings, daß der Freiherr seit jenem Tage eine ganz ungewohnte Güte und Nachgiebigkeit gegen sie zeigte, hatte er doch den heutigen Ball nur beschlossen, um, wie er sagte, gewissen tanzlustigen Füßchen Gelegenheit zu geben, sich endlich einmal müde zu tanzen. Das
[240] war unerhört bei ihm, der alle Festlichkeiten nur als lästige Etiquettenpflichten betrachtete, aber die junge Dame war es so gewohnt, von den Eltern und der Umgebung verzogen zu werden, daß ihr das alles nicht besonders auffiel. Sie nahm die Güte ihres Vormundes hin, wie sie früher seine Strenge hingenommen hatte, mit dem Uebermuthe und der Launenhaftigkeit eines Kindes, und heute drängte nun vollends der Gedanke an das kommende Fest alles Uebrige bei ihr in den Hintergrund. Sie sprühte von allerlei neckischen Einfällen, und ihr helles Lachen klang immer wieder von Neuem durch die feierliche Stille der Prachträume.
Raven war ernst und schweigsam wie gewöhnlich, aber er hörte mit offenbarem Vergnügen dem Geplauder zu, und dabei haftete sein Blick wie selbstvergessen auf dem jungen Wesen, das so rosig blühend an seinem Arme hing und mit den leuchtenden, glückstrahlenden Augen zu ihm aufblickte. Gabriele hatte nie reizender ausgesehen, als an diesem Abende, in dem duftigen weißen Ballanzuge, durch den sich hier und da blühende Gewinde schlangen, und mit dem vollen Blüthenkranze in den blonden Haaren; ihre ganze Erscheinung war von einem so bestrickenden Zauber, von einer so thaufrischen Anmuth, als sei eine der lustigen, neckischen Elfengestalten der Sage lebendig geworden. In dem Lichtmeer, das heute durch die Säle floß, war sie das Hellste und Lichteste von Allem.
Sie hatten ihren Rundgang beendet und betraten jetzt den großen Empfangssalon, der mit den Portraits verschiedener historischer und fürstlicher Persönlichkeiten geschmückt war. Der blendende Glanz der Kronleuchter floß nieder auf die prachtvollen, aber noch völlig öden Räume, die trotz des festlichen Schmuckes in ihrer Leere und Stille einen beinahe unheimlichen Eindruck machten. Man vernahm nichts, als den Schritt des Freiherrn und das Rauschen des Kleides seiner Begleiterin.
„Wir sind wirklich wie in einem verzauberten Schlosse,“ sagte Gabriele muthwillig. „Die einzigen lebenden Wesen in all der todten Pracht ringsum. Ich habe nicht geglaubt, daß Dir so viel Glanz zu Gebote stände, Onkel Arno; es muß doch schön sein, sich als Herr darüber zu fühlen.“
Der Freiherr sandte einen prüfenden, aber sehr gleichgültigen Blick durch die Gemächer, als er antwortete: „Du findest das wohl sehr beneidenswert? Ich habe von jeher auf diese Seite meiner Stellung wenig Gewicht gelegt.“
„Auch auf diese nicht?“ Gabriele deutete auf das Ordensband. Es war einer der höchsten Orden des Landes, den der Freiherr trug, eine Auszeichnung, wie sie nur in den seltensten Fällen gewährt wurde.
„Auch darauf nicht,“ sagte Raven ruhig, „obwohl ich beides nicht entbehren möchte. Der äußere Glanz ist nun einmal unzertrennlich von jeder Machtsphäre; den meisten Menschen verkörpert sie sich ja nur in solchen Aeußerlichkeiten; also muß man ihnen Rechnung tragen. Ich habe das von jeher gethan, aber mein Streben selbst ging nach anderen Zielen.“
„Die Du doch auch erreicht hast, wie Alles im Leben.“
Der Freiherr schwieg einige Secunden lang. Es war ein rätselhafter Ausdruck, mit dem sein Auge aus dem Antlitze des jungen Mädchens ruhte, als er endlich entgegnete:
„Ich habe Viel erreicht. Alles – nein!“
„Willst Du noch höher hinaus?“ fragte Gabriele mit naiver Verwunderung.
Er lächelte. „Nein, diesmal möchte ich um zwanzig Jahre rückwärts schreiten.“
„Und weshalb denn?“
„Um wieder jung zu sein. Ich habe es in der letzten Zeit oft genug empfunden, daß ich – alt geworden bin.“
Die junge Baroneß deutete neckend auf den großen Wandspiegel, der sich ihnen gerade gegenüber befand. „Sieh dorthin, Onkel Arno, und dann sage es noch einmal, daß Du alt bist!“
Raven folgte der Richtung ihrer Hand. Das helle Glas warf in voller Klarheit sein Bild zurück, die hohe, gebietende Gestalt in reifster Manneskraft. Er musterte es mit einem Gemisch von Befriedigung und leiser Unruhe.
„Und doch stehe ich bereits an der Schwelle der Fünfzig,“ sagte er langsam. „Weißt Du das, Gabriele?“
„Gewiß! Aber weshalb legst Du einen solchen Nachdruck darauf? Du fühlst doch sicher noch nicht einen einzigen der Vorboten des Alters.“
„Eben deshalb komme ich bisweilen in Versuchung, es zu vergessen, und das kann unter Umständen gefährlich werden. Du solltest mich am wenigsten dazu ermuthigen.“
Raven brach plötzlich ab, als er den fragenden Blick des jungen Mädchens gewahrte, das die Aeußerung offenbar nicht verstand. Er wandte sich weg von dem Spiegel und fuhr in leichterem Tone fort:
„Es gefällt Dir also bei mir im Schlosse?“
„Wenn Alles so licht und hell ist wie heute Abend, gewiß,“ versicherte Gabriele. „Am Tage finde ich das Schloß recht düster. Diese hohen Wölbungen, diese tiefen Nischen und breiten Pfeiler geben nichts als Schatten, und Dein Arbeitszimmer ist nun vollends der düsterste Ort, den ich kenne. Die schweren Vorhänge lassen ja auch nicht einen einzigen Sonnenstrahl hinein.“
„Die Sonne stört mich beim Arbeiten,“ wandte der Freiherr ein.
Die junge Dame warf ärgerlich das Köpfchen zurück. „Aber mein Gott, man lebt doch nicht blos, um zu arbeiten.“
„Es giebt aber Naturen, denen die Arbeit Nothwendigkeit und Bedürfniß ist, wie mir zum Beispiel. Ein Schmetterling, wie Du, begreift das freilich nicht. Der fliegt und flattert im Sonnenschein, glänzt in tausend Farben – und ist hin, sobald der bunte Staub von den Flügeln fällt. Es ist etwas Schönes, aber auch etwas Vergängliches um solch ein Schmetterlingsdasein.“
Es lag wieder etwas von dem alten Sarkasmus in den letzten Worten des Freiherrn. Gabriele nahm eine höchst beleidigte Miene an.
„Ah so, Du meinst, ich bin auch so ein buntes Nichts? Nicht wahr, Onkel Arno?“
„Ich meine, daß es ein Unrecht wäre, von Dir zu verlangen, Du solltest Leiden oder Kämpfen gewachsen sein,“ sagte Raven ernster. „Wesen wie Du sind nun einmal nur für Glück und Sonnenschein geschaffen und können in keinem anderen Elemente leben. Die Arbeit und den Kampf überlasse mir und meines Gleichen! Es ist auch eine Bestimmung, der Sonnenstrahl für seine Umgebung zu sein und alles Dunkle licht und hell zu machen; Du hast ganz Recht, es ist töricht, ihn so streng zu verbannen, aus Furcht, man könne dadurch geblendet werden. Warum soll er nicht auch einmal den Herbst vergolden?“
Er hatte sich zu dem jungen Mädchen niedergebeugt und sah ihr tief in’s Auge, als die Flügelthüren geräuschvoll geöffnet wurden und die Baronin Harder über die Schwelle rauschte. Der Freiherr richtete sich jäh empor und warf seiner Schwägerin einen nichts weniger als freundschaftlichen Blick zu, den sie zum Glück nicht gewahrte. Sie passirte gerade den großen Wandspiegel und prüfte darin den Effect ihrer Erscheinung. Die Dame hatte von der Freigebigkeit ihres Schwagers einen sehr ausgiebigen Gebrauch gemacht; ihre reiche Toilette war nur etwas zu überladen, um schön zu sein. Die kostbare Atlasrobe verschwand fast unter all dem Sammet und den Spitzen, die sie bedeckten. Das Haar schmückte ein förmlicher Blumengarten, und die gleichfalls durch die Großmuth des Freiherrn aus dem Ruin geretteten Diamanten funkelten an Hals und Armen. Was Toilettenkünste nur leisten konnten, das war aufgeboten worden, und mit deren Hülfe wäre es der Baronin vielleicht auch gelungen, am heutigen Abende noch für eine schöne Frau zu gelten, wenn nicht die jugendlich blühende Gestalt der Tochter neben ihr gestanden hätte. Vor der Anmuth und Frische des siebenzehnjährigen Mädchens hielt keiner jener künstlichen Reize Stand, und daneben erschien die Mutter als das, was sie in der That war, als eine verblühte, alternde Frau.
„Verzeihung, wenn ich habe warten lassen!“ sagte sie, sich mit gewohnter Liebenswürdigkeit ihrem Schwager nähernd. „Ich wußte nicht, daß Sie bereits im Salon waren, Arno, und noch ist Niemand von den Gästen vorgefahren. Gabriele hat Sie hoffentlich während meiner Abwesenheit unterhalten.“
Raven erwiderte nichts. „Unsere Gäste müssen sogleich erscheinen,“ äußerte er nach einer Weile, sichtlich verstimmt durch die Unterbrechung, und in der That hörte man gleich darauf den ersten Wagen vorfahren. Der Freiherr bot seiner Schwägerin [241] den Arm, um sie zu ihrem Platze am oberen Ende des Saales zu führen, dabei ging sein Blick prüfend von der Mutter zur Tochter.
„Gabriele gleicht Ihnen doch gar nicht, Mathilde,“ sagte er plötzlich, und der Ton verrieth eine geheime Befriedigung.
„Finden Sie das?“ fragte die Baronin, die wahrscheinlich die entgegengesetzte Bemerkung lieber gehört hätte. „Es mag sein, daß sie mehr ihrem Vater –“
„Auch dem Baron gleicht sie nicht im Mindesten,“ fiel Raven ein. „Sie hat auch nicht einen einzigen Zug von ihren Eltern geerbt – Gott sei Dank!“ setzte er bei sich selber hinzu.
Die Baronin schwieg mit empfindlicher Miene, obwohl sie den verletzenden Schluß der Bemerkung nicht vernehmen konnte. Es ließ sich freilich nicht leugnen, daß Gabriele weder die Harder’schen Familienzüge, noch die ihrer Mutter trug, sie war beiden Eltern so unähnlich, wie nur möglich.
Den ersten Gästen, die jetzt eintraten, folgten bald mehrere. Wagen auf Wagen rollte in das Portal des Regierungsgebäudes, und die Säle begannen sich allmählich zu füllen. Die Einladungen waren diesmal in so ausgedehntem Maße ergangen, daß die weiten Festräume sich kaum ausreichend erwiesen für die glänzende Versammlung, die sich darin bewegte. Inmitten der Civiltracht, welche die meisten der Herren trugen, sah man auch zahlreiche Uniformen und die zum Theil prachtvollen Toiletten eines reichen Damenflors. Die Spitzen sämmtlicher Behörden, der Commandant und die Officiere der Garnison, wie die der nahegelegenen Festung waren vollzählig erschienen; ebenso das ganze Beamtenpersonal des Freiherrn und überhaupt Alles, was in den Gesellschaftskreisen von R. nur irgendwie aus Stellung oder Bedeutung Anspruch machen konnte. Da die Veranlassung des Festes eine officielle war, so galt die Annahme der Einladungen als selbstverständlich, und aus diesem Grunde waren auch der Bürgermeister und die übrigen Vertreter der Stadt anwesend, trotz des Conflictes, der zwischen ihnen und dem Gouverneur schwebte und an jedem Tage an Schärfe und Ausdehnung gewann.
Freiherr von Raven schien diesen Conflict für heute gänzlich zu ignoriren. Er empfing die Gäste, wie alle Uebrigen, mit vollendeter Artigkeit, aber auch mit jener kühlen Zurückhaltung, die ihm eigen war und stets eine unsichtbare Schranke um ihn zog. An seiner Seite machte die Baronin Harder die Honneurs des Hauses und nahm mit großer Befriedigung wahr, daß sie und ihre Tochter im Vordergrunde des allgemeinen Interesses standen. Beide Damen hatten bisher noch keine Gelegenheit gehabt, an dem Gesellschaftsleben von R. theilzunehmen, das erst jetzt mit dem beginnenden Herbste seinen Anfang nahm. Erst mit dem heutigen Feste traten sie in die Kreise ihrer neuen Heimath, die ihnen zum Theil noch fremd waren und in denen ihre nahe Verwandtschaft mit dem Gouverneur ihnen gleichfalls den ersten Platz anwies. Es war natürlich, daß sie den Mittelpunkt für die sämmtlichen Gäste bildeten, aber während die Baronin all die Artigkeiten und Aufmerksamkeiten in Empfang nahm, die der Dame des Hauses gebührten, feierte die Schönheit und Anmuth ihrer Tochter wahre Triumphe; die junge Baroneß war fortwährend umringt, gefeiert, bewundert, und besonders die jüngeren Herren wagten einen förmlichen Sturm, um die Zusage irgend eines Tanzes zu erhalten. Raven blickte bisweilen zu den Gruppen hinüber, die sich immer wieder von Neuem um sein reizendes Mündel bildeten, aber es lag nur ein halbes Lächeln auf seinen Lippen. Er sah, mit welchem Vergnügen, aber auch mit welcher Unbefangenheit sie die Huldigungen entgegennahm, die ihr von allen Seiten dargebracht wurden.
In der That waren Triumphe und Huldigungen das beste Mittel, die Ungeduld zu beschwichtigen, mit der Gabriele die Annäherung eines Einzigen erwartete, während immer neue Gestalten vor ihr auftauchten und eine unendliche Menge von Namen an ihrem Ohre vorüberschwirrte. Georg Winterfeld war längst im Saale, aber sie hatte kaum einige flüchtige Worte mit ihm wechseln können. Er hatte eben erst ihre Mutter und sie begrüßt, als der Oberst herantrat, um seine beiden Söhne vorzustellen, und die Aufmerksamkeit der Damen vollständig für sich und die jungen Officiere in Anspruch nahm. Einige hochgestellte Persönlichkeiten, die gleichfalls zu den näheren Bekannten des Hauses gehörten, gesellten sich dazu, und der junge Beamte, der völlig fremd und isolirt in diesem Kreise war, mußte sich zurückziehen, wollte er nicht aufdringlich erscheinen. Es war ihm noch nicht möglich gewesen, sich Gabrielen wieder zu nähern; sie befand sich fortwährend in unmittelbarer Nähe des Freiherrn und ihrer Mutter und nahm mit Beiden an dem Empfange der Gäste Theil. Aber jetzt galt kein längeres Zögern; bereits erklangen die ersten Tacte der Musik, und Georg, der sich um jeden Preis noch eine Begegnung für den heutigen Abend sichern wollte, gab die Zurückhaltung auf. Er trat heran und bat Baroneß Harder, ihm einen Tanz zu gewähren.
Gabriele hatte das vorhergesehen und dafür gesorgt, daß wenigstens einer der Tänze frei blieb. Sie sagte sofort zu; der Freiherr, der soeben mit dem Hofrath Moser sprach, hörte die Zusage, er wandte sich um und sah die Beiden befremdet an.
„Ich dächte, Du hättest keinen einzigen Tanz mehr zur Verfügung,“ sagte er. „Ist wirklich noch einer davon frei?“
„Das gnädige Fräulein war so gütig, mir den zweiten Walzer zu versprechen,“ erklärte Georg.
Der Freiherr runzelte die Stirn. „In der That, Gabriele? So viel ich weiß, hast Du diesen Tanz vorhin dem Sohne des Oberst Wilten verweigert.“
„Allerdings, aber ich hatte ihn bereits vorher dem Herrn Assessor versprochen.“
„So?“ sagte Raven langsam. „Nun, wer der Erste war, hat allerdings das Vorrecht. Baron Wilten wird es sehr bedauern, zu spät gekommen zu sein.“
Es war ein seltsam forschender Blick, mit dem der Freiherr bei diesen Worten das Antlitz Gabrielens streifte und der dann auf Georg haften blieb. In diesem Moment erschien der Cavalier, dem es gelungen war, die Zusage des ersten Tanzes von der jungen Baroneß zu erhalten, und bot ihr den Arm. Georg verneigte sich und trat zurück. Es kam jetzt eine lebhaftere Bewegung in die Gesellschaft. Der jüngere Theil derselben fluthete nach dem Ballsaal hin, aus dessen weitgeöffneten Thüren die Musik erklang, während die Aelteren sich in den übrigen Gemächern zerstreuten. Der Empfangssaal begann sich zu leeren, und die Baronin Harder war soeben im Begriff, ihren Platz dort zu verlassen, als ihr Schwager zu ihr trat.
„Sie kennen den Assessor Winterfeld näher?“ fragte er halblaut.
Die Baronin machte eine bejahende Bewegung. „Ich sagte Ihnen ja bereits, daß wir im Sommer in der Schweiz seine Bekanntschaft machten.“
„Kam er oft in Ihr Haus?“
„Ziemlich oft. Ich habe ihn stets gern empfangen und hätte das auch hier gethan, wenn Sie sich nicht so bestimmt dagegen ausgesprochen hätten.“
„Ich liebe es nicht, die jungen Beamten in meine Privatkreise zu ziehen,“ entgegnete der Freiherr schroff, „und ich begreife überhaupt nicht, Mathilde, wie Sie in Ihrer damaligen Zurückgezogenheit dem ersten besten Fremden den Zutritt in Ihr Haus und den unbeschränkten Verkehr mit Ihrer Tochter gestatten konnten.“
„Es war ein Ausnahmefall,“ vertheidigte sich die Baronin. „Der Assessor hatte uns einen großen Dienst geleistet, als wir auf dem See in Gefahr geriethen. Sie wissen es ja, daß er mich und Gabriele –“
„Durch das seichte Wasser, ohne alle Schwierigkeit, an das Land brachte,“ ergänzte Raven. „Ja, das weiß ich, und zweifle durchaus nicht, daß er diesen Dienst, den jeder Fischerbube Ihnen hätte leisten können, benutzt hat, um als Lebensretter bei Ihnen zu debütiren, wie es scheint nicht ohne Erfolg. Gabriele gewährt ihm einen Tanz, den sie dem jungen Baron Wilten verweigert hat und der vermuthlich eigens für den Herrn Assessor aufgehoben wurde. Das ist eine Vertraulichkeit, die sich jedenfalls auf die frühere Bekanntschaft stützt, die ich aber im höchsten Grade unpassend finde. Die einmal gegebene Zusage kann allerdings nicht zurückgenommen werden, ich bitte Sie aber, dafür zu sorgen, daß Gabriele nicht öfter mit dem jungen Manne tanzt. Ich wünsche es durchaus nicht!“
Er sprach in gedämpftem, aber offenbar gereiztem Tone. Die Baronin war etwas überrascht von dieser Gereiztheit, die sie sich nicht zu erklären vermochte, beeilte sich aber, zu versichern, daß sie mit ihrer Tochter sprechen werde, und nahm dann den [242] Arm des Oberst Wilten, der soeben kam, um sie gleichfalls nach dem Tanzsaal zu führen.
Inzwischen schritt der Freiherr durch die anderen Säle, wo die übrige Gesellschaft sich meist in lebhafter Unterhaltung befand. Raven trat zu den einzelnen Gruppen, indem er hier am Gespräch theilnahm, dort nur wenige flüchtige Bemerkungen hinwarf und am dritten Orte wenige Artigkeiten austauschte. Auch mit dem Bürgermeister sprach er in verbindlicher Weise, ohne den schwebenden Conflict auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Er war zuvorkommend gegen Einzelne, herablassend gegen Andere, höflich mit Allen, aber mit keinem Einzigen vertraulich. Sein Benehmen zeigte nur die Ruhe und Sicherheit eines Mannes, der gewohnt ist, den ersten Platz einzunehmen, und sich von vornherein über seine Umgebung stellt. Und die Umgebung war es längst gewohnt, ihm diese Stellung unbedingt einzuräumen.
„Man sollte meinen, wir wären bei unserem Landesherrn selbst zu Gaste, nicht bei seinem Vertreter,“ sagte der Bürgermeister zum Polizeidirector, als er mit diesem zusammentraf. „Die Airs, die sich Excellenz bei solchen Gelegenheiten zu geben liebt, sind wirklich bewundernswürdig, aber sie passen besser für einen Souverain, als für den Gouverneur einer Provinz. Sind Sie auch schon mit einer allergnädigsten Anrede und huldreichen Entlassung beehrt worden?“
Der Gefragte lächelte in seiner verbindlichen Weise, ohne die Bitterkeit bemerken zu wollen. „Ich bin wirklich überrascht, Sie hier zu sehen,“ entgegnete er. „Bei der schroffen Stellung, die Sie und die übrigen Herren von der Stadt jetzt dem Gouverneur gegenüber einnehmen, fürchtete ich, daß Sie die Annahme der Einladung verweigern würden.“
„Können wir das?“ fragte der Bürgermeister mit unterdrückter Heftigkeit. „Das Fest gilt dem Landesherrn; unser Fernbleiben wäre eine Demonstration, die in gehässigster Weise gedeutet und ausgebeutet werden könnte, und wir möchten gerade nach dieser Seite hin am wenigsten verletzen. Der Freiherr weiß es so gut wie wir, daß nur diese Rücksicht unser Erscheinen veranlaßt. Zu seinen Festen wären wir schwerlich gekommen.“
„Sie sollten den Conflict Ihrerseits nicht auch noch auf die Spitze treiben,“ mahnte der Andere. „Sie kennen ja den Freiherrn von Raven; von ihm ist keine Nachgiebigkeit zu erwarten.“
„Von uns noch weniger! Wir halten fest an unseren Rechten, und es wird sich ja zeigen, ob ein Gouverneur, der in solcher Weise uns gegenübersteht, sich auf die Dauer behaupten kann.“
„Er wird sich behaupten,“ sagte der Polizeidirector mit Bestimmtheit. „Hoffen Sie nichts in dieser Beziehung! Noch ist sein Einfluß an maßgebender Stelle ein unumschränkter.“
Der Bürgermeister stutzte und warf einen forschenden Blick auf den Sprechenden. „Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Freilich, Sie kamen ja aus der Residenz zu uns und haben dort jedenfalls Freunde und Verbindungen.“
„Durchaus nicht,“ lehnte der Director in kühlem Tone ab. „Ich meine nur, das Auftreten des Freiherrn zeigt zur Genüge, wie sicher er sich in seiner Stellung fühlt, und wie allmächtig sein Einfluß in gewissen Kreisen ist. Sie thäten besser, es nicht zum offenen Bruche zwischen ihm und der Stadt kommen zu lassen; noch wird eine Katastrophe ja zu vermeiden sein.“
Damit ging er. Der Bürgermeister schaute ihm ärgerlich nach. „Jawohl,“ murmelte er, „die Katastrophe soll um jeden Preis vermieden werden, damit es dem Herrn Polizeidirector möglich ist, die schöne Neutralität zu bewahren, die er so offenbar zur Schau trägt. Er hat es wirklich fertig gebracht, zugleich der gehorsame Diener des Freiherrn zu sein und in der ganzen Stadt für den liebenswürdigen, maßvollen Vermittler zu gelten, der nur gezwungen seinem Chef gehorcht. Da ist mir ein offener Gegner wie Raven noch lieber; ihm gegenüber weiß man doch wenigstens, woran man ist, aber diese Neutralen, die es mit beiden Parteien halten und es mit keiner ehrlich meinen – ich traue ihnen nun einmal nicht.“
Südafrika ist für den Europäer in gewissem Sinne noch immer ein Land der Wunder, mindestens ein Land des Seltsamen und Fremdartigen, und die nicht gerade reichhaltige Literatur über dieses der modernen Cultur noch ziemlich verschlossene Weltgebiet hat in weiteren Leserkreisen bisher kaum Eingang gefunden. Es dürfte daher nicht uninteressant sein, an der Hand eines viel erfahrenen Reisenden[1] Einblick zu thun in einen der eigenthümlichsten Staaten des afrikanischen Erdtheils. Thaba-Nchu ist es, wohin uns unser Gewährsmann führt, die Haupt- und Residenzstadt des Königs Moroka, des Beherrschers der Barolongs. Das von etwa achtundzwanzigtausend Negerunterthanen bewohnte und nur wenige Meilen umfassende Ländchen dieses patriarchalisch waltenden Potentaten liegt wie eine Insel mitten im Oranje-Freistaate, ist aber politisch und administrativ von demselben durchaus unabhängig und nur durch ein Schutz- und Trutzbündniß mit ihm verbunden. Es bietet in seinen seltenen Naturschönheiten und den eigenartigen Lebensgewohnheiten seiner schwarzen Bewohner gar manches Fesselnde und Ungewöhnliche.
„Als die Sonne sich neigte,“ sagt unser Autor gelegentlich seiner Schilderung des Barolong-Landes, ließ ich ausspannen, mein Zelt aufschlagen und ein leckeres Abendessen kochen. Die weite grüne Fläche ringsherum war über und über mit wohlriechenden Kräutern und Sträuchern bedeckt, sodaß man hätte vermeinen können, etwa in einer Apotheke zu sein; so sehr war die ganze Atmosphäre mit stark riechenden, übriges höchst angenehmen Düften angefüllt.
Bei einem Spaziergange nach dem Abendessen ergötzte ich mich an der merkwürdigen Nachtmusik, welche zahllose Frösche von eigenthümlicher Art anstimmten. Ihr Quaken imitirte unglaublich genau das tactgeregelte Castagnettengeklapper andalusischer Tänzerinnen.
Am andern Morgen ging es weiter vorwärts. Die spärlich hier und da erscheinenden kleinen Farmhäuser nahmen nun gar bald ein Ende, und das Grenzwachthaus des Maroka’schen Landes wurde passirt, dem ich natürlich meinen Besuch abstattete, nicht etwa um meinen Reisepaß mit dem Stempel der betschuanischen Duodezmonarchie versehen zu lassen, sondern um Milch und Eier zu kaufen, die mir mit der größten Bereitwilligkeit verabfolgt wurden. Der Grenzwächter war ein langer schmächtiger Neger von intelligentem Gesichtsausdrucke. An den weißgetünchten Wänden seines Lehmhauses waren verschiedene Flinten und eine Guitarre aufgehangen, und nackte, fette, quabbelige Kinder mit weit hervorspringenden Bäuche krabbelten auf dem Fußboden herum und beobachteten mich mit großen verwunderten Augen.
Das Land blieb fortwährend wunderschön grün, denn es war ja Sommerszeit, die Zeit der Regen. Der hohe schwarze Bergstock, von dem Thaba-Nchu seinen Namen hat, und die man schon von Bloemfontein aus sehr deutlich wie eine Mauer am östlichen Horizont aufragen sieht, rückte immer näher und näher und zeigte sich als eine immer bedeutendere, großartige Gebirgsmasse. Am dritten Tage wurden auf den Hügeln zu den Seiten des Weges erst kleinere, dann immer größere und dichtere Ansammlungen von heuschoberähnlichen Negerhütten sichtbar, bis endlich eine unabsehbare Menge von solchen, dicht hingesäet über mehrere Hügelreihen, mir die Ankunft in der großen Negerstadt Thaba-Nchu verkündete.
Ich fuhr bis in die Mitte eines weiten Wiesenplatzes, in dessen Nähe einige europäisch gebaute Häuser standen, und ließ hier ausspannen und mein Zelt aufschlagen, auf dessen Spitze ich demonstrativ meine schwarz-weiß-rothe Flagge wehen ließ, die wohl noch niemals in diesem ignorirten Weltwinkel erschienen
[243][244] war. Eine schöne und ganz originelle Aussicht hatte ich ringsum: die zahllosen über die verschiedenen Bergabhänge hingesäeten und die Gipfel krönenden Negerhütten mit ihrem bienenkorbartigen runden Baue und ihren zugespitzten Grasdächern gaben ein ganz reizendes Bild auf dem smaragdgrünen Wiesenteppich ab, der die Grundfarbe der ganzen Landschaft bildete. Dieses Paradies ländlichen Friedens wurde überragt von einer gewaltigen steilen Gebirgsmauer, auf deren höchsten Gipfeln man die Spuren einer fortificatorischen Anlage, Mauern mit Schießscharten erblickte.
Nachdem ich meine Feldwohnung wieder in aller Ordnung hergerichtet, das ist Stühle, den Feldtisch und das Eisenbett auseinandergeklappt und letzteres durch Roßhaarmatratzen, Schakal- und Tigerkarrossen zu einem eleganten weichen Divan umgewandelt hatte, machte ich einen Spaziergang in die Stadt.
Ich sah eine große, in sehr bunte Farben gekleidete Menschenmasse einen Hügel herabwallen, die einen weithin hörbaren Mordspectakel machte. Als ich näher kam, sah ich, daß es lauter tanzende und springende Gruppen waren, die in langer wie zu einer Polonaise geformter Doppelreihe ihre polkaartigen Sprünge mit tactmäßigem Händeklatschen und grellem Unisonogesange begleiteten. Das Schauspiel interessirte mich ungemein und ich begab mich daher in die Mitte der jubelnden, nach offenbarem Augenschein sich unendlich glücklich fühlenden und sich königlich amusirenden Negermasse. Es waren lauter regelmäßige Paare von Männlein und Fräulein, und alle in blühendster Jugend, bis zu ganz kleinen Kindern herab, die mit gleicher Leidenschaft die rhythmischen Bein- und Handbewegungen mitmachten. Die Männer wie die Frauen und Mädchen waren mit halbeuropäischer Kleidung angethan.
Eine große Masse augenscheinlich niedrigern Volkes, meist Frauen und Kinder, und blos mit Fellen von wilden Thieren bekleidet, standen um die Tanzenden herum als passive Zuschauer.
Einzelne der Tänzerinnen hatten rothe und blaue baumwollene Regenschirme in der linken Hand, mit denen sie sehr graziös während des Tanzes in der Luft herumfuchtelten. Das tolle Durcheinanderspringen aller dieser komischen Gestalten war ungemein amusant, und ich konnte mich daran gar nicht satt sehen. Ein Ballet von Störchen, Gänsen, Enten und Krähen würde ungefähr einen ähnlichen Eindruck auf mich hervorgebracht haben. Und der Gesang! Noch heute summt es mir davon in den Ohren. Aber das Schönste waren die fabelhaft vergnügten, freudenseligen Gesichter. Ein Jubel, eine Lust von solcher Innigkeit, eine Ausgelassenheit von solcher Seligkeit, wie man nur eben bei Negern sie finden kann! Bei einer solchen festlichen Gelegenheit – es war nämlich eine Hochzeit – zeigt sich die primitive, einfache, kindliche Natur der Neger in aller ihrer Liebenswürdigkeit. Wahrlich, das waren nicht mehr die verdorbenen, aufgeblasenen, trunksüchtigen und diebischen schwarzen Halunken von den Diamantfeldern, die jedem, der mit ihnen geschäftlich zu thun hatte, einen Ekel vor der schwarzen Race einflößten, – es war die noch reine, unverfälschte und unverzogene, gutmüthige und liebenswürdige kindliche Natur der schwarzen Race, wie sie nur da sich glücklich erhalten hat, wo dieselbe für sich allein und getrennt von den Weißen hat bleiben können.
Die Anwesenheit eines fremden weißen Gesichts konnte natürlich der ausgelassenen Menge nicht unbemerkt bleiben, aber trotz der allgemeinen Losgebundenheit und Aufregung benahmen sich die Leute mit so auffallender Anständigkeit und rücksichtsvollster Höflichkeit gegen mich, daß ich dadurch die allervortheilhafteste Idee von der Höhe ihres Culturstandpunktes erhielt.
Man machte mir überall respectvoll Platz, wo ich mich aufstellte, um das afrikanische Ballet besser zu übersehen, und als sich dann die ganze Gesellschaft in einen großen Garten begab, in dem verschiedene Hütten, die Hütten der Eltern der Braut, standen, wurde ich sehr freundlich eingeladen, dahin mit zu folgen. Die Zuschauermasse mußte draußen bleiben, nur die Elite von circa zweihundert Personen wurde eingelassen, und jetzt ging für diese eine große Schmauserei an. Den auf winzigen Rohrsesselchen sitzenden oder einfach auf dem Boden kauernden Gästen wurden in aus Gras geflochtenen Schüsseln Rindfleisch und Brei von Kaffernkorn herumgegeben. Nach diesem folgte sogar noch ein höchst wohlschmeckender Kaffee mit Zucker. Um den fremden Gast zu ehren, forderte der Vater der Braut die Masse auf, das Lied „God save the Queen“, übersetzt in die Betschuanensprache, zu singen. Alle erhoben sich und sangen die englische Nationalhymne mit ganz richtiger Intonation, was mir eine hohe Meinung von den musikalischen Talenten dieses Volksstammes beibrachte. Als ich dann die fröhliche Gesellschaft wieder verließ, fesselte mich ein neues interessantes Schauspiel draußen an der Umzäunung des Gartens.
Hunderte von jungen Mädchen, darunter ein Theil mit ganz allerliebsten Gesichtern, hatten sich dort der aus Zweigen geflochtenen Zaunwand entlang aufgestellt, um wenigstens als Zuschauerinnen bei dem Feste mit gegenwärtig zu sein. Keine einzige davon aber hatte europäische Kleidung, sondern alle trugen das primitive, aus alten Zeiten auf heute überkommene, mir viel interessantere Nationalcostüm der echten Kaffermädchen. Die Hüften umschließt eine kurze weiche, mit der Haarseite nach innen gekehrte Karroß von Schakal- oder Wildkatzenfellen. Busen und Arme (und von welcher entzückenden Plastik waren sie, die jeden Künstler bezaubern würde!) sind ohne Verhüllung, ebenso die Beine bis hoch über die Kniee. Ein Gürtel von zierlichen Perlenfransen umgiebt die schlanke dünne Taille; Arme und Beine, sowie Hals und Brust sind mit buntem Perlenschmuck behangen, und eine kokett, wie ein Husarendolman, über die linke Schulter geworfene Karroß (Pelzmäntelchen von den Fellen wilder Thiere) ist ebenfalls auf der auswendigen braunen Lederseite reichlich mit lang herabhängenden Perlenschnüren und hübsch ornamentalen Perlenstickereien verziert.
Das wollige Haupthaar ist zur unteren Hälfte weggeschoren und der darüber stehen gelassene, an eine Cardinalskappe erinnernde Haarwulst zierlich von einer Perlenschnur umfaßt, wovon wieder eine Menge kleinerer Perlenschnüre lockenartig herabfallen. Diese obere Haarbedeckung des Kopfes wird von den Mädchen fleißig mit wohlriechenden Oelen gesalbt, und so kommt es, daß die hübschen Köpfchen so glänzen und glitzern, als wären Brillanten darüber ausgesäet.
Und was die Hauptsache ist, im großen Durchschnitt hatten alle diese Mädchen so feine und intelligente, ja vornehme Gesichtszüge, daß ich mich in ihrer Gegenwart beinahe so befangen fühlte, als seien es lauter englische oder deutsche Balldamen; wenigstens kam ein ganz eigenthümliches Gefühl der Scham über mich, als ich sie mit meinem goldenen Kneifer auf der Nase eine nach der anderen musterte, und in ihren erstaunten, ernsten, edelgeformten Gesichtern etwas wie zürnende Indignation über meine aufdringliche und ihrerseits ganz unprovocirte Beobachtung zu entdecken glaubte.
Ich ging an eine der hübschesten, deren prächtige brennende Augen mich besonders anzogen, heran und bot ihr fünf Schillinge, wenn sie ihre Gefährtinnen veranlassen wolle, zu meinem Wagen zu kommen und dort nach ihrer Art ein Tänzchen aufzuführen. Sie sah mich mit großen, verwunderten und fast zürnenden Augen an und gab mir das Geld zurück. Offenbar hatte sie mein schlechtes Holländisch gar nicht verstanden. Es gelang mir jedoch später, einen jungen Neger zu finden, der ein wenig englisch sprach; diesem theilte ich meinen Wunsch mit, und er versprach mir, die ganze Gesellschaft der reizenden wilden Schönen würde in einem halben Stündchen zu meinem Camp kommen. Dies geschah denn auch, und nun hatte ich ein paar Stunden lang das Schauspiel eines so prächtigen Ballets neben meinem Wagen, wie ich es sicherlich nicht schöner bei einer Aufführung der „Afrikanerin“ in Berlin oder St. Petersburg hätte sehen können: ein graziöses, ausgelassenes und dabei doch vollständig decentes, rhythmisches Durcheinanderspringen dieser heiteren und anmuthigen Kinder der Wildniß, begleitet von fröhlichem Gesange und Händeklatschen in sehr schnellem, an das Gehämmer einer Dampflocomotive in langsamem Laufe erinnerndem Tacte. Und dieses Schauspiel kostete mir nur einige Ellen von buntem Zeuge, die ich aus einem der europäischen Läden hatte bringen lassen und den feurigsten und schönsten der Tänzerinnen präsentirte. Die graziösen, schlangenförmigen raschen Bewegungen dieser so harmonisch und schön modellirten Mädchen hatten etwas von den elastischen Springen der Tigerkatze, und man hätte glauben mögen, daß eine lange Reihe von elegant aus Ebenholz geschnitzten Statuen, durch einen Zauberring berührt, plötzlich zu einem elektrisirten und jubelnden Leben erwacht seien. Wenn ein europäischer Bildhauer auch vielleicht die Gesichtslinien nicht fehlerfrei gefunden haben würde, so [245] hätte er doch an dem gazellenartig zierlichen Bau und den anmuthigen, weichen Wellenlinien ihres schlanken feinen Körpers unmöglich etwas aussetzen können.
Nach vollendetem Tanze zeigte ich den liebenswürdigen Ballerinas von Thaba-Nchu vor meinem Wagen allerhand Curiositäten und Seltenheiten, namentlich aber meine Sammlung von afrikanischen Photographien. Vorher ließ ich sie mein eigenes Bild beschauen, das von den umstehenden schwarzen Gazellen sofort erkannt wurde, wie mir die nächststehende und kühnste deutlich dadurch zu verstehen gab, daß sie mich mit schelmischem Lächeln an meinem langen Schnurrbarte zupfte und dabei auf das Bild wies. Nun brachte ich mein einen Fuß im Durchmesser großes Vergrößerungsglas heraus, welches die Photographien vollständig bis zur Lebensgröße darstellt. Wie soll ich aber den immensen Jubel beschreiben, welcher unter meinen schönen Zuschauerinnen entstand, als ich einige Dutzend von Photographien von Negermädchen eine nach der anderen hinter das Glas hielt! Es war ein solches reines und kindliches Entzücken ohne Ende, daß ich gewünscht hätte, meine Bildersammlung möchte nie ein Ende nehmen.
Dann kam das Brennglas an die Reihe, womit ich einigen mitanwesenden schwarzen Jungen ein wenig die Haut versengte – zu ihrem panischen Schrecken, aber zur großen Genugthuung der übrigen Gesellschaft – dann meine Uhr, meine Kleider, mein Zelt, mein Bett, mein Spiegel — alles wurde befühlt und betupft und bewundert, am meisten aber das Innere meines Wagens, welcher in seiner wirklich eleganten Ausschmückung den Eindruck eines fahrenden Königspalastes zu machen schien.
Nachdem meine liebenswürdigen Gäste sich an allen diesen fremdartigen Herrlichkeiten recht satt gesehen hatten, sagte ich ihnen gute Nacht und zog mich in meinen Wagen zurück, von dessen Fenstern aus ich noch lange die fröhlichen Gesänge der in langer Procession heimkehrenden ‚Rosen von Südafrika‘ zu mir herüberhallen hörte.
Am nächsten Morgen hatte ich wieder eine drollige Ueberraschung. Als ich meinen Kopf zum Fenster hinaushielt, sah ich meinen Wagen umgeben von ungefähr einem Dutzend junger Mädchen, die mich ehrfurchtsvoll und mit bittenden Geberden ansahen. Mein Hottentott Isaak, den ich befragte, was sie denn von mir wollten, antwortete mir, sie wünschten – man erschrecke nicht! – daß ich ihnen den Dung meiner Ochsen überlassen möchte, und zwar habe eine jede von ihnen die specielle Bitte, ihr allein, mit Ausschluß der andern, diese ehrenvolle Vergünstigung – jedenfalls ein sehr eigenthümliches Monopol – zu gewähren.
Das einzige Brennmaterial im Lande ist nämlich getrockneter Rinderdung, und solchen zu sammeln ist bei einer so dicht zusammengedrängten Bevölkerung von 25000 Schwarzen keine leichte Sache, denn alle Frauen und Mädchen der ganzen mit dem gemeinsamen Namen Thaba-Nchu belegten Ansammlung von Negerdörfern sind von früh bis in die Nacht auf der Jagd nach diesem kostbarsten aller Stoffe.
Ich war nun freilich bei der mir zugemutheten Entscheidung und Wahl zwischen so liebenswürdigen Bewerberinnen fast in einer ähnlich üblen Lage wie einst Paris mit dem verfänglichen Apfel, und ich gab zuletzt den mir am weisesten scheinenden Richterspruch, daß der Dung immer derjenigen gehören solle, die am ersten an der Stelle sei, um ihn wegzunehmen.
Der frische Dung wird von den Negerinnen zunächst in ihren Gärten an der Sonne getrocknet und dann in dicke harte Scheiben geformt und gepreßt. Den Rest, den sie nicht für sich selbst brauchen, pflegen sie an solche zu verkaufen, die nicht persönlich mit auf die Düngerjagd ausziehen, also an die vornehmeren Einwohner der Stadt und an die wenigen hier wohnenden Weißen. Welchen hohen Werth der getrocknete Dung hier hat, ist daraus zu ersehen, daß ich für meinen spärlichen Küchengebrauch jeden Tag für zwei bis dreieinhalb Mark kaufen mußte, nur um das nothwendigste Küchenfeuer dreimal täglich zu unterhalten.
Es war für mich ein großes Vergnügen, Morgenspaziergänge innerhalb dieses interessanten Chaos von Bienenkörben und Heuschobern zu machen, den man Thaba-Nchu nennt. An einen regelmäßigen Stadtplan ist natürlich nicht zu denken; die Hütten sind ohne alle Ordnung durch einander gewürfelt, und zahlreiche schmale Fußwege krümmen sich in allen Richtungen durch dieses bunte Labyrinth.
Der Bauplan aller Hütten ist ganz genau derselbe: ein kreisförmiger Bau von mit Lehm beworfenem Rohr, gedeckt mit spitz auslaufendem Grasdach. Das Innere ist ein dunkler Raum ohne Fenster, so hoch, daß ein Mann darin bequem aufrecht stehen kann. Er ist in mehrere, durch thürartige Oeffnungen verbundene, kleinere Räume getheilt, von denen der eine als Schlafgemach, die anderen als Küche und Besuchszimmer dienen. Um die Hüttenwand herum geht eine Art enger verandaartiger Gallerie, welche noch von dem vorspringenden und rings herum auf schmalen Holzsäulchen gestützten Grasdach gedeckt wird und so bei Regenwetter trockene Unterkunft bietet.
Die Hütten und ihre sie umgebenden, von Lehmmauern oder Zäunen eingefaßten Höfe sind durchweg sehr sauber und reinlich gehalten, und es sind mir überhaupt diese Barolongs als eins der reinlichsten Kaffernvölker erschienen.
Bei schönem Wetter (welches dort immer das vorherrschende ist) finden alle häuslichen Arbeiten: Küche, Wäsche, Zerstoßen des Korns etc., im Hofe statt. Ein Spaziergang durch dieses Labyrinth von Hütten und Gärtchen (denn jede Hütte hat ihr Gemüse- und Fruchtgärtchen neben sich) ist deshalb so interessant, weil man in allen Höfen über die niedrige Lehmmauer hinweg das volle Familienleben und die ganze Hauswirthschaft in Thätigkeit sieht. Perlengeschmückte Frauen bereiten das stereotype Mittagessen zu: Brei aus Kaffernkorn; nackte Kinder spielen mit Hunden neben ihnen; der Mann liegt rauchend vor der Hütte oder ist in eifriger Unterhaltung mit Gästen begriffen. Ein tiefer Friede scheint überall zu herrschen; ich hörte nie einen Streit, ein Gezänk oder einen heftigen Wortwechsel. Es begegneten mir immer nur wenige Wanderer in den stillen und engen gewundenen Straßen; entweder war es ein junges Mädchen mit frischem und lachendem Gesicht und reizend elastischem, an das Hingleiten der Schlange erinnerndem Gange (das, was die Spanierinnen ‚Schwimmen‘ nennen, indem sie den Gang der Engländerinnen Marschiren, den der Französinnen Trippeln nennen, für sich aber das Schwimmen in Anspruch nehmen), oder es war ein altes Weib, bedeckt von einer langen, nach inwendig getragenen Karroß und auf dem Kopfe eine unförmige Pelzmütze von sehr altväterischer Form, oder einen zugespitzten Grashut à la chinoise, der mit seinen herabhängenden Seiten sehr an einen Champignon oder Steinpilz erinnert. Aus Gras wissen die Frauen hier alle möglichen Dinge zu flechten: Hüte, Schüsseln, Krüge, Töpfe, Teller etc.
Das Innere der Hütten ist im heißen Sommer sehr kühl, im kühlen Winter recht angenehm warm und daher ganz dem Klima des Landes angemessen. Ich sah öfter vor den Hütten ungeheuere Haufen von einer braunen Masse aufgethürmt. Als ich sie näher untersuchte, fand ich, daß es getrocknete und geröstete große Heuschrecken waren, deren Wohlgeschmack mir sehr gerühmt wurde, und die in solchen Feimen für lange Zeit aufbewahrt werden.
Alle Morgen um sechs Uhr hörte ich das Betglöckchen der wesleyanischen Mission die Gläubigen zusammenrufen und dann harmonischen Kirchengesang von daher ertönen. Ich machte dem Missionar, einem gewissen Herrn Daniels, meinen Besuch und fand in ihm einen sehr gebildeten und angenehmen Mann. Er sagte mir, daß König Maroka, wenn er auch selbst nicht persönlich das Christenthum angenommen habe, doch demselben im Ganzen sehr günstig gesinnt sei und der Mission keine Hindernisse in den Weg lege; auch sei seine erste Frau, die Königin, eine Christin.
Auf meine Bitte, mich dem Könige vorstellen zu wollen, ging Herr Daniels bereitwillig ein und ersuchte mich, am folgenden Morgen um zehn Uhr mit ihm den Besuch zu machen. Er holte mich zur bestimmten Zeit in einem Wagen ab, und nach zehn Minuten hielten wir vor dem königlichen Platze, einer weiten Umzäunung, in deren Mitte mehrere mit Gras gedeckte Hütten standen, die sich in der Bauart durchaus nicht von dem allgemeinen Typus dieser Negerhütten unterschieden, wohl aber im räumlichen Umfange, denn sie schienen mir wenigstens zehnmal größer zu sein.
Eine Art Empfangssalon unter sehr hohem Grasdache befand sich in der Mitte; derselbe hat für ein paar Hundert Personen Platz und dient für große Versammlungen und feierliche [246] Gelegenheiten. König Maroka, ein alter Herr mit freundlichem Gesicht und weißem Vollbarte – so viel oder vielmehr so wenig als ihn der Haarwuchs eines Betschuanen hergiebt – empfing mich in der Mitte seines Rathes, einiger bejahrten schwarzen Herren in europäischem Costüm, während der König selbst nach afrikanischer Mode nur mit schönen Karrossen bekleidet war. Nur bei seinen seltenen Besuchen in Bloemfontein trägt auch er einen europäischen Paletot und Cylinderhut.
Zwei Lehnstühle waren vor dem Empfangssalon in’s Freie gestellt, worauf Herr Daniels und ich eingeladen wurden, Platz zu nehmen, und nun begann eine den Umständen angemessene, durchaus den feinsten europäischen Höflichkeitsformen entsprechende Unterhaltung. Dann stellte mich der König seiner ersten Gemahlin vor, der Königin die als solche den Vorrang vor allen seinen anderen Gattinnen hat. Sie befand sich im gegenüberliegenden Winkel des Hofes und präsentirte sich als eine freundlich blickende Frau von einigem Embonpoint. Auch sie war nur mit kostbaren Karrossen von Goldschakal und grauer Zibethkatze bekleidet. Sie wird von ihren Unterthanen allgemein ‚die Mutter des Volkes‘ genannt und muß also diesen Ehrentitel wohl auch verdienen.
Ich fragte nun nach dem Wohlsein der Kinder. Maroka hat deren nicht weniger als fünfundsechszig; sie waren daher wie Orgelpfeifen in allen Größen vorhanden. Je älter ein afrikanischer Fürst wird, desto reicher pflegt er zu werden, durch das natürliche Zunehmen seiner Heerden und das Verhandeln seiner Töchter an reiche und einflußreiche Männer, wodurch seinen Heerden (da das Kaufgeld nur in Vieh gezahlt wird) immer neuer Zuwachs zufließt. Auch die Strafen für von Unterthanen begangene Verbrechen müssen, da Gefängnisse in den Ländern der Schwarzen eine vollständig unbekannte Sache sind, an den König stets ausschließlich in Vieh entrichtet werden, sodaß seine Heerden in einem fort anschwellen und ihn dadurch in den Stand setzen, immer noblere, schönere, jüngere und daher theuerere Weiber zu kaufen. Eine natürliche Folge hiervon ist, daß das letzte Weib gewöhnlich das jüngste und geliebteste ist, und daß der älteste König, wenn keine anderen Umstände ihm solches Glück versagen, oft noch ganz winzig kleine Kinder hat.
Als ich bat, mir einige der Kinder zu zeigen, wurden mir mehrere Mädchen vorgeführt, die mir höchst liebenswürdige europäische Knickschen machten und halb europäisch, halb kafferisch gekleidet waren. Eine davon, die etwa neunjährige Prinzessin Marguerite, abgekürzt Magi, war ein ganz reizendes kleines Wesen. In einem feingeschnittenen, intelligenten und edel geformten Gesicht hatte sie ein paar Augen – nun, in meinem Leben habe ich nie solche Augen gesehen, von einer Größe, einer Schwärze auf schneeweißem Grunde, einem solchen Lichtglanze wie ein paar brennende kleine Sonnen. Dabei hatte sie einen sehr üppigen Haarwuchs, ähnlich dem der Zulus und Mulatten, der ihr mehr die Erscheinung einer sehr dunkelfarbigen Italienerin oder Spanierin gab, als die einer Negerin.
Als ich nun dieses prächtige, für ein Negerkind unvergleichlich schöne kleine Wesen sah, fuhr mir plötzlich eine romantische Idee durch den Kopf. Wie, wenn ich versuchte, den kleinen schwarzen Engel unter meine Obhut zu bekommen, ihn mit nach Europa zu nehmen und dort durch eine ausgesuchte Erziehung und durch sorgfältig gewählte deutsche Lehrer alle Talente, die in dem klugen rehäugigen Köpfchen etwa schlummern konnten, zum Leben zu erwecken? Wenn Magi z. B. ein Talent für Musik hätte, wäre nicht die Idee, eine schwarze Opern- oder Concertsängerin heranzubilden, eine vielversprechende und zukunftsreiche? Würde eine solche nicht, wenn dabei noch so hübsch in ihrer äußeren Erscheinung, mit der Zeit ein großes Vermögen in Europa erwerben, und so eine viel höhere Existenzstufe erreichen können, als ihrer in Afrika als Frau Nummer so und so viel eines untergeordneten Kaffernhäuptlings wartete? Und außerdem, welche freundliche Aussicht, einem so anmuthigen kleinen Wesen durch liebevolle Pflege und Fürsorge mit der Zeit ein Gefühl kindlicher Liebe und Anhänglichkeit einzuflößen, und sich daran zu ergötzen, wie die zarte tropische Wunderblume in den europäischen Salons von aristokratischen Damen caressirt und gehätschelt werden würde!
Ich gab meiner Idee sofort Ausdruck und fragte den König, ob er, da er ja so außerordentlich zahlreiche Kinder habe, eventuell nicht eins davon, und zwar Magi, würde meinem Schutze und meiner Pflege zum Zwecke einer europäischer Erziehung anvertrauen wollen? Da meine Person seinem großen Freunde, dem Präsidenten des Oranje-Freistaates, wohl bekannt sei, so würde ihm jede mögliche Garantie für die gewissenhafte Erfüllung meiner Zusicherungen gegeben werden.
Die Antwort des Königs war kurz und entschieden. Er rief Magi zu sich heran, nahm sie auf seinen Schooß, küßte sie herzlich und ließ mir verdolmetschen, daß er jedes andere Kind, nur nicht dieses mir abtreten würde, denn es sei sein Augapfel und die größte Freude seines Herzens. Magi war offenbar mit dieser Entscheidung gar nicht unzufrieden, denn sie schmiegte sich liebkosend an die Brust des greisen Vaters und warf mir aus dessen Armen einen lieblich schelmischen Blick zu – das war im wunderschönen Land der Barolongs.“
Nicht leicht einen Zweiten wird es geben, welcher bei der ernstesten wissenschaftlichen Forschung sich bis in das höchste Alter eine so urwüchsige Lebensfrische erhalten hat, wie Professor Franz von Kobell in München. Ziemlich weiß ist freilich das Haar, etwas nachlässig seine Haltung geworden, aber noch schreitet die Gestalt oftmals rüstigen Schrittes durch die Straßen. Ist auch Kobell’s Blick um einen Grad ernster geworden, so leuchtet sein Gesicht doch noch heute bei dem ersten Worte des Gespräches von herzlichem Wohlwollen, zunächst mit einer guten Portion Schalkhaftigkeit, und von ungetrübter Heiterkeit. Wie sonst entfaltet sich noch eine Fülle von Humor, dessen Färbung eine so echt süddeutsche harmlos heitere ist, daß man die Tiefe des Grundes ganz vergißt, auf welchen er wurzelt. Längere Vertrautheit mit seinen poetischen Arbeiten ist ja auch erforderlich, um deren verborgenen ethischen Gehalt immer und überall herauszulauschen. Selbst den Nahebefreundeten drängt sich auch immer und immer wieder die Frage auf, ob es denn möglich sei, daß der auf dem Gebiete der Mineralogie und Chemie in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannte Forscher und Erfinder, der populäre mineralogische Schriftsteller, der phantasievolle, selbst von einem Alexander von Humboldt neidlos bewunderte poetische Geologe ein und dieselbe Person ist mit dem Jagdhistoriographen, mit dem lyrischen Dichter, mit dem Sänger lustiger Volksstücke und heiterster Volks-„Gesangln“, mit dem volksthümlichen Epiker und prosaischen Fabulanten, mit dem liebenswürdigsten Erzähler weit und breit, gleichviel, ob er die harte oberbaierische oder die zungengeläufige pfälzische Mundart als Werkzeug wählt. Dabei haben wir noch gar nicht in Anschlag gebracht, daß Ebenderselbe auch ein unermüdlicher Jäger, besonders im Hochgebirge, ist und an Gemsen allein nicht weniger als zweihundertvierundvierzig Stück geschossen hat, daß er, wie männiglich bekannt, jederzeit zu geselligen Freuden aufgelegt und bereit ist und in sich ein gesellschaftliches Talent herangebildet hat, welches überall seines Gleichen sucht, und daß er bei keiner Volksvereinigung zu Scherz und Erholung je fehlt, sodaß der Mann in der Lodenjoppe, die nie verlöschende Cigarre im Munde, zu einem lebendigen Wahrzeichen der Stadt München geworden ist.
Franz von Kobell wurde in München am 19. Juli 1803 geboren. Sein Vater, welcher ebenfalls Franz von Kobell hieß, war Generalsekretär im Ministerium daselbst, stammte aber aus Mannheim. Seine Mutter, ein Fräulein von Burger, war eine geborene Münchnerin. Im zwanzigsten Lebensjahre (1823) erhielt der Sohn Franz seine erste Anstellung als Adjunct an dem Conservatorium der mineralogischen Sammlungen des Staats und rückte hier später zum Conservator vor. Im dreiundzwanzigsten Lebensjahre (1826) war er bereits außerordentlicher, acht Jahre später ordentlicher Professor der Mineralogie an der Hochschule in München. Die baierische Akademie der Wissenschaften hat ihn 1827 zum außerordentlichen, 1842 zum ordentlichen Mitglied erwählt.
[247] Werfen wir, um diesem reichen Leben näher zu treten, vor Allem den Blick in seine Wohnung! Trifft es zwar auch bei Kobell zu, daß der Rock den Menschen zeigt, so ist doch heutzutage die Wohnung ein noch viel zuverlässigerer Prüfstein, als die Kleidung. Wie schlicht ist doch dieses mit Geschenken und Zeichen der Liebe und dankbarer Verehrung von überall her reich versehene Wohn- und Studirzimmer (denn es ist beides in Einem)! Die Photographien ohne Zahl aus lieben Händen, Bild an Bild, ernste und heitere, besonders die in Laune und Witz unübertrefflichen Farbenscherze des unserem Kobell engbefreundeten Geistesverwandten Grafen Franz Pocci – alles ist einfach aufgenagelt an Thüren und Wänden. Nur ein paar kleine Oellandschaften haben sich zu einem Goldrahmen aufgeschwungen und einige Lithographien wurden unter Glas gebracht. Stolz tritt nur die Jagdlust auf. Da hängt in einer Ecke eine stattliche Zahl trefflicher Jagdgewehre und nicht weit davon das einzige große Oelgemälde, einen gewaltigen Nimrod vorstellend, den Großvater Kobell’s; eine ganze Wandseite ist überdeckt mit „Gamskrickeln“ und anderem Gehörne selbsterlegten Wildes. An der anderen Wand ferner stehen auf zwei Bretterlagen Becher und Humpen ehrwürdigster Gestalt bedächtig neben einander. Den besten Platz im großen Zimmer mit dem hellsten Lichte aber nimmt der massive Schreibtisch ein, auf ihm ein paar Regale voll Bücher. Ihm gegenüber ein gewaltiger verschließbarer Kasten für Mineralien, Bücher und Schriften. Ueberall Ordnung, aber prunkloseste Einfachheit. Zuhöchst über dem Kasten schaut auf uns ein schöner Jagdhundkopf hernieder, das Zeugniß derjenigen Erfindung Kobell’s, deren unschätzbarer Werth als Vervielfältigungsmittel für die zeichnende und malende Kunst nur dadurch zurücktrat, daß sie von der neuen Erfindung der Photographie überholt worden ist. Wir meinen die Galvanographie. Für Bequemlichkeit ist im Zimmer auffallend schlecht gesorgt. Rohrstühle mit kerzengrader hoher Rücklehne sind die einzigen gebotenen Ruhesitze. (Ein Divan bleibt unbenützt.) Nur ein Luxus fällt in die Augen – auf die Fensterbretter gestellte Scherben mit Blumen und Blaupflanzen. Und nun erst das anstoßende Schlafzimmer! Das einfachste Bett von der Welt, mit einem Musselindeckel zugedeckt, ein paar weitere kolossale Kästen – das ist so ziemlich Alles, was das schlichte Zimmer birgt. Die Wände sind hier ohne jeden Schmuck gelassen. Kurz, wir können uns nie des Eindruckes erwehren, als befänden wir uns in der Wohnung eines sehr „soliden“ Studenten.
Freilich etwas anders sieht es in den anstoßenden, von der liebenswürdigen, zart- und feingebildeten und – wie der Gatte – noch geistesfrischen Gemahlin Karoline bewohnten Räumen aus. Eine wärmere Behaglichkeit waltet in ihnen, aber auch hier fehlt all der raffinirte Luxus der Neuzeit, welchen die junge Generation für eine unerläßliche Nothwendigkeit anzusehen liebt.
Frau wie Mann, Jedes in seiner Weise, zeigen schon auf den ersten Blick dem Fremden wie dem Freunde ein Wesen gerade so einfach und schlicht – wie die vorhin geschilderte Häuslichkeit. Kobell hat bekanntlich jüngsthin sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum gefeiert. Es hatte für mich sein Tiefrührendes, Beide die Ueberraschung schildern und die tiefempfundene Dankbarkeit äußern zu hören über die in jenen Tagen gehäuften und beinahe bis zur „Strapaze“ gesteigerten Beweise von Anerkennung und Theilnahme, und wie sie vor Allem es rühmten, daß selbst König Ludwig ihn, „den einfachen Professor“, zu einer Hoftafel geladen hätte, an der außer ihm lauter hohe Würdenträger gesessen seien.
Die Gratulanten waren zahlreich. Da war vor Allem die Alma mater Erlangen mit einem großen lateinischen Festdocumente gekommen. Die Universität München wetteiferte mit der Schwester und ließ unter Anderem eine Festabhandlung durch Oberbergrath Gümpel eigens als Festschrift drucken. Gleiches geschah Seitens der Akademie der Wissenschaften, welche ebenfalls eine Jubelschrift durch Prof. Dr. August Vogel verfassen ließ. Andere gelehrte Gesellschaften drückten in gleicher oder ähnlicher Weise dem Jubilar ihre Theilnahme aus. Daß auch Dichter mit ihren Glückwünschen anrücken würden, war nicht anders zu erwarten. Scheffel sang aus Schwaben herüber, und Bodenstedt grüßte aus sächsischen Landen.
Betrachten wir nun das Schaffen Kobell’s selbst, so können wir nur einige aus der großen Masse der wissenschaftlichen Arbeiten berücksichtigen und auch sie nur – nennen. Die weiteste Verbreitung haben wohl die „Tafeln zur Bestimmung der Mineralien mittelst chemischer Versuche“ gefunden, da sie seit ihrem ersten Erscheinungsjahre (1833) schon die neunte Auflage erlebt haben und in’s Französische, Englische, Italienische und Russische, sodann die populären „Skizzen aus dem Steinreiche“, welche in’s Englische und Dänische übersetzt worden sind. Von der „Leicht faßlichen Mineralogie“ (1847) ist bereits die vierte Auflage (1871) erschienen. Zu den einflußreichsten Schriften Kobell’s gehörten ohne Zweifel auch die, welche sich „Mineralnamen und mineralogische Nomenclatur“ (1853) betitelt, sowie die krystallographischen und krystalloptischen Abhandlungen, und besonders die über das von Kobell erfundene Stauroskop (1855). Bahnbrechend endlich war auch die „Geschichte der Mineralogie“ (1864), von welcher jene Göttinger Adresse sagt, daß ihr Autor sich schon durch dieses Werk allein ein unvergängliches Verdienst erworben haben würde. Schließen wollen wir diese Bemerkungen mit der Erinnerung daran, daß Kobell zu Ehren ein Mineral Kobellit benannt worden ist.
Unter den poetischen Arbeiten Kobell’s und zwar denen der ernsten Gattung nimmt das Lehrgedicht „Die Urzeit der Erde“ (1856) die erste Stelle ein. In demselben werden mit einer nur der Phantasie des Dichters möglichen Lebendigkeit und Anschaulichkeit die einzelnen Perioden der Erdbildung an der Hand der Ergebnisse der Geologie geschildert. Mit einem wunderbaren Geschicke [248] und zum Theile in packender Weise weiß er hierbei die lehrhafte Monotonie zu vermeiden, indem er mit zwei von verschiedenen Standpunkten der Betrachtung ausgehenden Stimmungen, theils an die Urzeit, theils an die Gegenwart sich anschließend, und mit zweierlei Versbau abwechselt.
Am Schlusse der sogenannten Schöpfungsgeschichte singt Kobell folgende zwei sein ganzes Wesen kennzeichnende Endstrophen:
D’rum gieb dich vertrauenden Herzens hin
Und – werde was da werde! –
Mit dankender Seele pflücke den Tag;
Vom Himmel ja kommt er zur Erde!
Und lausche und lern’ von der Vöglein Gesang,
So friedlich tönend und labend!
Sie grüßen den Morgen und, sorglos der Nacht,
Auch grüßen sie freudig den Abend.
Als classisches Werk gilt in sachverständigen Kreisen Kobell’s illustrirtes Prachtwerk „Der Wildanger, Skizzen aus dem Gebiete der Jagd und ihrer Geschichte“ (Cotta 1859). Lange vorher schon hatte aber Kobell im Vereine mit Pocci als Illustrator das Herz der Jäger durch seine „Alten und Neuen Jägerlieder mit Bildern und Singweisen“ (1843) erfreut.
Ein Band ernster, hochdeutscher Gedichte (1852) fand ebenfalls warme Aufnahme. Was jedoch den dichterischen Ruf Kobell’s zunächst fest begründet hat, das waren seine Gedichte in oberbaierischer (6. Auflage 1862) und pfälzischer Mundart (5. Auflage 1862). Die Beherrschung beider, selbst der letzteren Mundart, welche Kobell nur seinen Kindsmägden ablernte, die der besorgte Vater wegen ihrer Zuverlässigkeit aus der Pfalz nach München hatte nachkommen lassen, ist eine vollständige. Ganz in demselben Grade gelang es ihm auch, in das Denken und Treiben beider Volksstämme sich zu versenken und eine solche Lebenswahrheit und Anschaulichkeit in der Darstellung zu erreichen, daß man die einzelnen Personen der Gedichte, möge es nun Burschen oder Mädchen, Junge oder Alte sein, leibhaftig agiren zu sehen oder sprechen zu hören glaubt, ein Eindruck, welcher überdies von den betreffenden Volkstheilen selbst nach einstimmigem Zeugnisse ebenfalls getheilt wird. Reichthum in Erfindung, Bestimmtheit in Charakterisirung und Individualisirung einerseits, dann heitere, aber edle Lebensphilosophie, offener und warmer Sinn für Natur und Genuß ihrer Güter, tiefes, aber kräftiggesundes Gefühl, harmloser und doch scharftreffender Spott, urkomische Selbstironie andererseits, sind nur einige der Vorzüge, deren Zusammenwirken den unsäglichen Reiz erzeugen, welcher diesen Gedichten beinahe allen in gleichem Grade eigen ist und welcher im Stande ist, wohl selbst den Traurigsten aufzuheitern. Wahre Perlen des deutschen heiteren Dichtungsschatzes aus alter und neuerer Zeit sind z. B. „der Verdruß“ (oberbaierisch) und „die Gemsjagd“ (pfälzisch). Was die einzelnen Arten von Gedichten betrifft, so sind es theils lyrische theils epische, theils Idyllen, Stimmungs- und Genre- besonders Jagdbilder, theils Erzählungen, darunter patriotische Abrisse aus der specifisch baierischen Geschichte und ein paar längere novellenartige Erzählungen. Auch an Sagen und am Hereinragen einer dämonischen Welt fehlt es nicht. Das Originellste bilden die sogenannten „Schnadahüpf’ln“, das heißt die im Gebirge heimische Spott-Strophen, welche zumeist, wie ähnlich ernste Dichtungen in Italien von Zweien oder von zwei mehrköpfigen Parteien gegen einander gesungen werden. Kobell sitzt als volksthümlicher Stegreifdichter so fest im Sattel, daß er selbst schon solche Wettkämpfe mit den reim- und singfertigen Burschen des Gebirgs aufnahm. Einmal sollten zwei als solche Sänger bekannte Holzknechte sich bei Gelegenheit einer Jagd vor dem König hören lassen. Beide standen verdutzt da und waren nicht zum Anfangen zu bringen. Da verhalf ihnen Kobell in’s Geleise und zwar dadurch, daß er in ein paar kräftigen Schnaderhüpf’ln sie selbst angriff, ihnen vorwarf, daß ihre Kunst nicht weit her sein müsse, weil sie nicht die „Schneid’“ (den Muth) hätten, vor ihrem König zu singen. Da gingen sie los, packten erst Kobell wacker an und sangen dann gegen einander frisch und lustig fort. Ein anderes Mal griff in St. Bartholomä ein solcher Sänger ihn von freien Stücken an und forderte ihn förmlich auf einen Wettgesang heraus; Kobell mußte sich stellen. „Ich habe,“ erzählte er, „eine Zeitlang mit ihm gesungen, es ging mir aber doch früher das Trumm aus, wie ihm.“ – Er selbst stellt das Wesen des Schnaderhüpfels in folgenden zwei „Stuckeln“ dar:
Und a Schnadahüpfei
Is’ an offa’s Briefei,
Und da steht’s deutli’ drinn,
Wie dir is in dein Sinn.
Und a Schnadahüpfei
Hat an lustinga Stand,
Und macht überall auf,
Is a Landmusikant.
Zur Erleichterung des Verständnisses oder wenigstens zur Anbahnung eines solchen bei Fremden, der süddeutschen Dialekte Ungewohnten, sind den Schnadahüpf’ln Register der fremdartigsten Ausdrücke beigegeben.
Die Vorzüge der obenerwähnten Gedichtsammlungen theilen im Allgemeinen auch die späteren Erzeugnisse der Kobell’schen Muse. Es erschien nämlich in dem bekannten Münchener Verlage von Braun und Schneider, theilweise in Wiederholung aus den „Fliegenden Blättern“ eine „Sammlung von (neuen) Schnadahüpf’ln und prosaischen Erzählungen“ (ohne Jahreszahl). Unter letzteren ist besonders die „G’schicht’ von’ Brandner-Kasper“ und der „Türken-Hansl (Turco), a G’schichtl aus’n Krieg vo’ 1870“ in die weitesten Volkskreise gedrungen. Werthvoll ist eine Beigabe, auf welche wir besonders aufmerksam machen; es ist dies die längere Abhandlung: „Zur Charakteristik oberbaierischer und verwandter Dialektpoesie“.
Auch ein Büchlein mit prosaischen Novellen im pfälzischen Dialekte hat Kobell uns geschenkt. Der Titel lautet: „P’älzische G’schichte’“ (1863). Die neueste Gabe endlich ist das besonders von den Volkstheatern freudig begrüßte „G’schpiel“, das heißt eine Sammlung von Volksstücken und (neuen) Gedichten in oberbaierischer Mundart (1868). Theaterstücke von Kobell giebt es vier: „Der Roaga“ (Recher), „Der Rauba“, „Die Untersberger Maannl’n“ und „Brugger-Marie“.
Uebrigens ist unserm Dichter die Gabe der Identificirung mit der Volkssprache im weitesten Sinne eigen. Kobell hat sich auch im Schwäbischen wie im Englischen bereits mit Erfolg versucht. Sein Nachahmungstalent ist auch noch in anderer Richtung ein wahrhaft staunenswerthes. Wer das Glück gehabt hat, Kobell auch nur Eines seiner dialektischen Gedichte selbst declamiren oder sogar nur vorlesen zu hören, vergißt die frappante Täuschung nie mehr. Je näher man die Bauern des baierische Gebirges, die pfälzischen Spießbürger ober endlich unsere Schwaben kennt, um so mehr glaubt man sie selber zu hören und mit allen ihren eigenartigsten Manieren zu sehen, wenn man Kobell’s Werke liest.
Franz von Kobell gehört zu den originellsten Dichtererscheinungen der Gegenwart.
O du glückliche Zeit des ersten Katzenjammers!
Ein freundlicher Genius führt mich in meine Knabenjahre zurück; er zeigt mir einen rothbäckigen Buben in Gesellschaft von Altersgenossen, eine Gruppe von Knaben, welche „fern von Madrid“, vor den Späheraugen mißgünstiger Menschen, speciell der neugierigen Herren Lehrer gesichert, den bittern Studien des Cigarrenrauchens ob- und nach mannhaftem Kampf und Sträuben unterliegt. „Es weicht der Mensch der Götterstärke“. Auch jenen rothbäckigen Buben, mein ehemaliges glückseliges Ich, sehe ich erbleichen und seine Erfahrungen durch die Empfindung des ersten Katzenjammers bereichern.
Wohl Manchem von uns mag es ähnlich ergangen sein. [249] Aber Beharrlichkeit führt zum Ziel und zum Schmied wird man durch Schmieden. Dem Schiffbruch des ersten Rauchunternehmens folgten neue Versuche; die Tugend trug endlich den Sieg davon; wir gewöhnten uns allmählich an des Tabaks gefährliche Natur und siehe, im Laufe der Zeiten gelangten wir zur Meisterschaft. Und endlich kamen die Tage, wo wir nach zurückgelegtem Examen der Reife die erlangte Kunstfertigkeit frei und öffentlich der staunenden Mitwelt zeigen durften.
Das ist die Geschichte des Tabakrauchens beim Einzelnen; ähnlich gestaltet sie sich im Entwickelungsgange der Völker im Großen. Alle civilisirten Nationen fröhnen dem seltsamen Gebrauche. Seit den Tagen des Columbus, dessen Augen auf der Insel Guanahani zuerst menschliche Wesen rauchen sahen, also seit dem fünfzehnten Jahrhunderte hat diese Sitte sich auf der ganzen cultivirten Erde mit unaufhaltsamer Schnelligkeit eingebürgert – und zwar trotz der dagegen erlassenen polizeilichen Verbote, trotz der liebenswürdigen, bei Türken und Russen ehemals üblichen Strafe des Nasendurchstoßens und Nasenabschneidens, trotz der Verdammungs- und Donnerpredigten der Geistlichkeit gegen den „höllischen Rauch“. Ja, jene Verbote haben zweifellos nur, wie bei den Schulknaben, das Gegentheil von dem bewirkt, was sie bezwecken sollten.
Bei dem Knaben ist es zum großen Theile Nachahmungstrieb und die Sucht, männlicher zu erscheinen, was ihn, trotz allem anfänglichen Jammer, veranlaßt und anspornt, den Genuß des verdächtigen Krautes zu cultiviren. Was aber trieb die Völker dazu?
Diese Frage findet ihre Beantwortung in dem Hang des Menschengeschlechts, in der geheimen, mit der wachsenden Cultur immer mächtiger und gebieterischer auftretenden Sehnsucht desselben nach Erregungsmitteln, nach Stoffen, welche eine erhöhte Lebens- und Nerventhätigkeit hervorzubringen vermochten. Thee, Kaffee, Wein, Spirituosen und andere Substanzen gehören zu dieser Kategorie. Der Tabak nun zählt zu den interessantesten seiner Gattung, und es verlohnt sich daher wohl der Mühe, wenn wir ein Weilchen von der Naturgeschichte unseres alten Freundes und Wohlthäters plaudern.
Wenige von allen unsern Nahrungs- und Genußmitteln begleiten uns in so verschiedenen Formen, unter so mannigfaltiger Maske durch’s Leben, als der Tabak. Welche Unterschiede zwischen der echten „braunen Tochter der Havanna“ und der sogenannten Volkshaufenauseinandersprengungscigarre, zwischen dem köstlichen Varinasaroma und dem fürchterlichen Bauernkneller eigener Zucht! Welche Mannigfaltigkeit endlich unter den diversen Schnupftabaken!
Und doch waltet ein und dasselbe Princip in allen diesen Metamorphosen ob, nur daß die Wirkung auf die Consumenten und die Ansprüche der letzteren, je nach ihrer Beziehung, Gewöhnung und socialen Stellung, verschiedengradig sind.
Die Verbreitung und der allgemeine Verbrauch des Tabaks wurde und wird durch den Umstand außerordentlich erleichtert, daß die denselben liefernde, in äquatorialer Zone heimische Pflanze sich mit der größten Leichtigkeit in alle gemäßigten Klimata schickt und ihrem Anbau dadurch keine Schwierigkeiten entgegenstellt. Da man zudem nur die Blätter, nicht die Früchte, erntet, so braucht das Gewächs nicht das Stadium seiner völligen Entwickelung zu erreichen. Der beste europäische Tabak wird in der Türkei, in Bosnien und dem südlichen Rußland producirt; ferner cultivirt man denselben in Holland, Belgien und Frankreich, wo Fabrikation und Verschleiß bekanntlich Regierungsmonopol ist; in Deutschland sind besonders das Elsaß, die Rheinpfalz, Franken, Schlesien, Sachsen, Thüringen und Westfalen zu nennen.
Veranschaulichen wir uns die Cultur dieser merkwürdigen Pflanze in den allgemeinsten Umrissen!
Wegen der Kleinheit der Samen (ein Cubikcentimeter enthält deren 6000) säet man den Tabak zunächst in reichgedüngte Mistbeete, aus denen dann die Pflänzchen in parallelen Reihen und in Abständen von etwa je zwei Fuß von einander auf die Felder verpflanzt werden. Je nach der Fruchtbarkeit des Bodens, je nach dem Product, das man zu erzielen beabsichtigt, besetzt man die Hektare Landes mit 10,000 bis 55,000 Individuen. Dieser Anbau findet im Laufe des Mai bis Juni statt. Die meiste Gelegenheit zur vergleichenden Beobachtung bietet die durch eine genaue Controle und centrale Verwaltung geregelte Tabakscultur Frankreichs dar, und viele der hier mitgetheilten Daten verdanken wir den eingehenden Studien des Directors der Ecole d’Application der französischen Tabaksindustrie, des Herrn Theodor Schlösing.
Nach etwa drei Monaten beginnt die Ernte. Während dieser kurzen Zeit ist der Boden per Hektare um dreihundert bis fünfhundert Kilogramm an mineralischen Materien und fünfzig bis neunzig Kilogramm an Stickstoff ärmer geworden. Es leuchtet daher ein, daß die Düngung eine vortreffliche sein muß. Die Wartung außerdem und die Pflege der Pflanzen erstreckt sich auf tausenderlei Kleinigkeiten und findet in ihrer beschwerlichen Art nur bei der mühsamen Behandlung des Weinstocks Aehnliches, der überhaupt manche Analogieen mit der Tabakspflanze bietet.
Wenn man eine Rheingauer Rieslingrebe nach Californien verpflanzt, so gedeiht dieselbe äußerlich vortrefflich, giebt aber ein vom Rheinwein total verschiedenes Getränk, das vollständig jener königlichen Blume der Heimath entbehrt. So auch die Tabakspflanze. Die havannesische Varietät, in unser Klima versetzt, erleidet scheinbar keine Veränderung. Ihr Aeußeres, das Zellengewebe und Geäder der Blätter bleibt dasselbe; selbst der Nicotingehalt erhält sich constant, aber das Hauptsächlichste, Werthvollste degenerirt, nämlich das Aroma, und keine Mittel der Kunst, kein Dünger, kein noch so penibles Nachahmen der heimathlichen klimatischen und Boden-Verhältnisse vermochte diesem kostbaren Verlust vorzubeugen. In Deutschland cultivirt man meistens Virginia und Maryland, selbst den gewöhnlichen Bauerntabak, in Frankreich noch verschiedene andere Varietäten.
Die Stärke des Tabaks hängt von seinem Gehalt an Nicotin ab. Je dicker, je üppiger die Blätter, desto größer der Gehalt an diesem eigenthümlichen Stoff. In Blättern von geringer Parenchymstärke beträgt derselbe ein bis drei Procent; in denen von dickerem Zellgewebe steigt der Gehalt bis zu neun und zehn Procent. Diese merkwürdige Thatsache weiß der rationelle Pflanzer wohl zu verwerthen. Indem er auf einem bestimmten Raum mehr Pflanzen zieht, mehr Blätter und damit, auf Kosten der Dicke derselben, eine größere Blattoberfläche erzeugt, vermindert er den zu großen Nicotingehalt. Ebenso vermag man durch zeitigere Ernten den Gehalt der Blätter herabzusetzen, da die Stärke desselben, mit der Entwickelung und dem Aelterwerden der Pflanzen Hand in Hand gehend, fortwährend zunimmt.
Auf dem gesegneten Cuba pflegt man dreimal im Jahr zu ernten. Die jungen Blätter des ersten Schnittes liefern kostbare, ja sogar kostbarste Regaliadecken; die des zweiten und dritten werden als Einlagen benutzt.
Das Nicotin ist das Hauptcharakteristicum der zur Gattung Nicotiana gehörigen Pflanzen. Im reinen Zustande und frisch bereitet, stellt es eine wasserhelle Flüssigkeit dar, von so betäubendem Geruch, daß ein Tropfen davon genügt, um die Luft eines Salons unathembar zu machen. Seiner stark giftigen Eigenschaften wegen hat es unserem Freund, dem Tabak, zu dem zweideutigen Ruf verholfen, in dem er noch immer, besonders bei Nichtrauchern, steht. In chemischer Hinsicht ähnelt es dem Ammoniak, als dessen etwas complicirter construirten Bruder man dasselbe betrachten kann. Seine Formel: N2 C10 H14.
Aber neben dem Nicotin haben die Gelehrten eine ganze Blumenlese von Substanzen in der Tabakspflanze aufgefunden. Außer den Mineralsubstanzen, welche etwa zwanzig Procent des bei hundert Grad getrockneten Blattes ausmachen und denen man in der zum größten Theil aus kohlensaurem Kalk, daneben aus Phosphaten, Silicaten, Chlorüren und Sulfaten des Kaliums bestehenden Asche wiederbegegnet, enthält unser Vegetabil (Nicotin) aromatisch-ätherisches Oel, Aepfel-, Citronen-, Oxal-, Essigsäure, Pektin, Stärke, Zucker, Cellulose, grüne oder gelbe harzige Materien, endlich stickstoffhaltige Substanzen von dunkler Zusammensetzung. Die letzteren sucht man bei der Fabrikation möglichst durch Gährung zu zerstören, da gerade ihre Gegenwart jenen entsetzlichen Duft der sogenannten guten Freundes- und Jagd-Cigarren verursacht, welche man nur auf hohen Bergen und im Vollbesitz eines tüchtigen Schnupfens zu rauchen vermag.
Alle diese Stoffe spielen durch die Veränderung, welche sie durch die Fabrikation erleiden, eine mehr oder minder bedeutende Rolle. Wir vermögen hier natürlich nicht im Entferntesten auf die Details dieser Zubereitung der Blätter zu Rauchtabak, Cigarren oder Schnupftabak einzugehen, genug, daß die an der Luft oder in Trockenkammern getrockneten Blätter zum Zweck der [250] theilweisen Zerstörung eines zu großen Nicotingehaltes, zur Zersetzung ferner jener eben erwähnten stickstoffhaltigen Materien und zur Entwickelung eines schönen Aromas in große Haufen zusammengeschichtet und, nachdem man sie genügend mit Wasser, respective Salzlösung befeuchtet hat, einer Art von Gährung unterworfen werden. Diese und die Anwendung von sogenannten Saucen (jede Fabrik und jedes Fabrikchen hat ihre eigene als Staatsgeheimniß behütete Sauce) bereitet die Blätter für ihre nunmehrige Bestimmung vor.
Während die Geruchseigenschaften des Tabaks und der Cigarren eigentlich erst durch den Rauchproceß dem Geschmack des Consumenten erschlossen werden, ist das Aroma der Schnupftabake durch eine achtzehn Monate lang währende Präparirungsmethode, durch die im Verlauf derselben statthabenden Oxydationsprocesse, bereits in ganzer Vollständigkeit entwickelt. Hauptsächlich erleiden bei dieser Schnupftabaksgährung die Pflanzensäuren, die Aepfel- und Citronensäure, sowie das Nicotin eine theilweise Zerstörung, während die unlöslichen Stoffe, als oxalsaurer Kalk, Harze, Cellulose etc., kaum verändert werden. Aus den stickstoffhaltigen Materien entwickelt sich reichlich Ammoniak, nebst schwarzen, den Tabak dunkelbraun färbenden Substanzen von saurer Beschaffenheit. Außerdem treten als Gährproducte Essigsäure, kleine Mengen von Methylalkohol und ein angenehmes Aroma auf, dessen Parfüm in Verbindung mit dem des Nicotins und Ammoniaks den charakteristischen Grundgeruch aller Schnupftabake erzeugt.
Anders bei Cigarre und Rauchtabak. Welcher Art, fragen wir uns, ist der Vorgang des Rauchprocesses, der uns hier erst zum Genuß verhilft? Die Beantwortung ist nicht schwer. Zünden wir uns eine Cigarre an! Durch die von Zeit zu Zeit von uns wiederholte Manipulation des Rauchens glimmt dieselbe bis zu ihrer gänzlichen Verzehrung zu Asche ruhig fort. Der dabei auftretende bläuliche Rauch beweist uns zur Genüge, daß die stattfindende Verbrennung nur eine unvollkommene ist. Ehe die der Gluth zunächst liegenden Regionen durch das Feuer in Asche verwandelt werden, verkohlen sie unter Entwickelung von gasförmigen Materien. Sie erleiden eine Art Destillation. Es ist also nicht eigentlich der Tabak, welcher beim Rauchproceß verbrennt, sondern dieses Product der trockenen Destillation – die sich fortwährend erzeugende Kohle. Je mehr dieselbe nun, trotz des stetigen Wärmeverbrauchs, die Temperatur, bei welcher sie Feuer fängt, zu erhalten befähigt ist, desto besseren, desto länger anhaltenden Brand besitzt die Cigarre. Und dieses höchst nothwendige Erforderniß hat seinen Grund wiederum in der nöthigen Porosität unsrer Kohle. Je lockerer dieselbe ausfällt, desto schöner der Cigarrenbrand. Nun hat man die Beobachtung gemacht, daß die Verbrennungsfähigkeit eines Tabaks von dem mehr oder minder großen Gehalt an kohlensaurem Kalium in der Asche abhängt und daß dieser wiederum nur von der Verbrennung organischer Säuren, in unserem Fall von Aepfel- und Citronensäure, herrühren kann. Nicht ein Gehalt an Salpeter ist es, wie oft irrthümlich geglaubt wird, sondern die Gegenwart der genannten Pflanzensalze (äpfelsaures Kalium), welche dadurch, daß sie sich beim Erhitzen aufblähen, die Porosität der Tabakskohle und damit die Fähigkeit derselben erzeugen, längere Zeit die Wärme zu erhalten.
Eine Cigarre, welche Rauchpausen von zwei bis drei Minuten gestattet, gehört, in Bezug auf Brandfähigkeit, zu den besten ihrer Art, die Tugend dagegen, alle halbe Minuten bei Nichtbedienung zu erlöschen, haben die früher erwähnten hohen Berg- und Freundschaftscigarren. Uebrigens findet man unter den Tabaken aller Klimate schlecht brennende Sorten; selbst die geringeren Havanna-Importcigarren der letzten Jahrgänge erfordern eine lästige Aufmerksamkeit, um sie vor dem Erlöschen zu bewahren.
Das, was der Raucher, wenigstens der gebildete Raucher, welcher die Cigarre ohne sie zu zerkauen zwischen den trockenen Lippen hält, im Verlaufe des Rauchprocesses genießt, ist allein der Rauch, das heißt das Product der trockenen Destillation des Tabaks und der Verbrennung der Tabakskohle. Durch das Studium der Zusammensetzung dieser blauen, wohlriechenden Wolken wird das Geheimniß des Rauchgenusses seines Schleiers beraubt. Woraus besteht der Cigarrenrauch?
Nun, außer den gewöhnlichen Producten jeder Verbrennung vegetabilischer Substanzen, außer Kohlenwasserstoff, Kohlensäure, Wasser begegnen wir hier größeren, wahrscheinlich durch Zerstörung des Nicotins erzeugten Mengen von Ammoniak, einigen Säuren, als Essigsäure, Buttersäure, ferner jenen köstlichen, den Werth der Cigarre bestimmenden, brandigt-aromatischen Stoffen von unbekannter Natur, endlich auch außerordentlich geringen, fast unwägbaren Mengen von Nicotin. Ein anständiger Raucher hat daher keinerlei Befürchtungen wegen etwaiger Vergiftung zu hegen; freilich, wer dagegen seine Cigarre zerkaut und aussaugt, bei dem gestalten sich die Verhältnisse anders. Uns überfällt, offen gestanden, beim Anblicke eines solchen zerbissenen Cigarrenstummels immer eine Art von Grauen, aber über den Geschmack ist bekanntlich nicht zu streiten.
Jene brandig-aromatischen Destillationsproducte, das Entzücken des wahren Rauchers, erreichen ihren höchsten Grad von Feinheit und Delicatesse, wie bekannt, in den Cigarren der Havanna. Sie haben die gleiche Bedeutung wie die unerreichbaren Bouquetschätze unserer großen Rheinweine. Aehnlich wie der geschlürfte Johannisberger oder Rauenthaler durch sein kostbares Gewürz einen langwährenden Eindruck, ein nur langsam wieder vergehendes Parfüm im Munde zurückläßt, so erzeugt auch der Rauch einer echten Regalia eine gewisse Fülle auf der Zunge. Das Bedürfniß der Zungen- sowohl wie der Nasennerven wird in vollständigster Weise befriedigt, während man bei kleinen Weinen oder geringen Cigarren vergeblich eine ähnliche Empfindung hervorzuzaubern vermag, auch wenn man noch so viel davon genießt. Man wird wohl berauscht, aber nicht befriedigt.
Die feinen Havannacigarren sind die aromareichsten und nicotinärmsten von allen ihren Schwestern. Sie enthalten von letzterem Stoffe nur zwei Procent, Kentucky und Virginia sechs Procent, Maryland drei. Der Gehalt der heimischen Tabake variirt zwischen zwei bis zehn Procent.
Aber, werden Viele von uns mit Erstaunen fragen, wie reimt sich das eben Erwähnte mit unseren Erfahrungen zusammen? Gerade die Havannacigarren vermögen wir wegen ihrer Stärke kaum zu rauchen.
Diese Bemerkungen entbehren nicht der Wahrheit. Was wir in unsern Cigarrenläden zum Einzelpreise von dreißig bis fünfzig Pfennig pro Stück als Regalia erstehen, ist in der That, seines beträchtlichen Nicotingehaltes wegen, für viele Consumenten zu schwer. Die Verkäufer schützen in der Regel Mißernten auf Cuba vor und können allerdings nichts dafür. Die eigentliche Ursache dieser Erscheinung ist aber die, daß die guten, leichten, aromabeladenen Regalias heutzutage gar nicht mehr in den Kleinhandel gelangen. Jeder ältere Raucher erinnert sich aus früherer Zeit, daß man für verhältnißmäßig wenig Geld vorzügliche Importcigarren erhielt, daß dieselben jedoch mit jedem Jahre schlechter und theurer wurden. Ehemals war der Verbrauch von derartigen Cigarren ein begrenzter; man producirte auf Cuba in Ruhe und Behaglichkeit und bewahrte durch mäßige Anforderungen den Boden vor Erschöpfung. Heute aber will alle Welt Regalias rauchen, die Cultur dieses Tabaks ist in Folge dessen erweitert worden; man nutzt und saugt das Erdreich bis auf’s Aeußerste aus und sucht durch Düngung die Verluste zu paralysiren. Die alte Sorgfalt aber leidet unter der Ueberproduction auf das Empfindlichste, und das Resultat dieser auf Erzielung des höchsten Ertrages gerichteten Bemühungen ist eine bedeutend schlechtere Qualität der Ernten. Zudem gelangen, wie erwähnt, die feineren Sorten, ihrer hohen Preise wegen, nur noch in die Hände einzelner Privaten und der Fürsten.
Unleugbar hat sich indessen die Cultur und Fabrikation der heimischen Producte in den letzten Jahrzehnten bedeutend gehoben. Sie muß bestrebt sein, uns Ersatz für das Verlorene zu schaffen. Wünschen wir daher im eigenen Interesse der inländischen, tausende von Händen bereits beschäftigenden Industrie ein immer kräftigeres Emporblühen!
Der Tabak ist kein Ketzer, kein Verbrecher, sondern ein wahrer Freund, ein Tröster der Menschheit und die dargebotene Pfeife ein Zeichen des Friedens und der Freundschaft. [251]
Vieles von dem, was erzählt wurde und noch zu berichten sein wird, ist nur dann für möglich zu halten, wenn man versucht, in die damaligen öffentlichen und wirthschaftlichen Zustände sich einzuleben. Hier können selbstverständlich nur Andeutungen gegeben werden.
Jenes großartige Gesetz, welches die gesammte preußische Monarchie, einschließlich der neuerworbenen Rheinprovinz, in ein einziges Zollgebiet verwandelte, die zahlreichen Binnenzölle aufhob, die bis dahin innerhalb der einzelnen Landestheile bestanden, und damit die Grundlage zum künftigen deutschen Zollverein legte, ist erst 1818 erlassen worden. Seine Segnungen kamen mithin den Armen Köln’s in den Hungerjahren 1816 bis 1817 noch nicht zu Gute. Während der Hungerjahre stand der Preis eines Scheffels Weizen am Rhein um sechs Mark fünfundneunzig Pfennig, also beinahe sieben Mark höher, als gleichzeitig in Posen, so kolossal waren damals die Verkehrshindernisse. In den fünfziger Jahren war der höchste Preisunterschied innerhalb Preußens eine Mark sieben Pfennig. In den altpreußischen Landestheilen allein galten nach dem Frieden siebenundsechszig verschiedene Zolltarife, nahezu dreitausend Waarenclassen umfassend. Dazu kamen die besondern Zollsysteme der neuerworbenen sächsischen und schwedischen (Neuvorpommern) Landestheile, die Zollanarchie am Rhein.
Am schwersten litt das Rheinland unter allen preußischen Provinzen; denn kaum waren hier unter dem napoleonischen Mercantilsystem Fabriken aufgeblüht, so verloren sie nun mit der veränderten Gebietsabgrenzung des Friedens plötzlich ihr Absatzquellen nach Frankreich, Holland, Italien, den Niederlanden; sie waren durch die Provinzialzölle der altpreußischen Landestheile vom Osten abgeschlossen und schutzlos der übermächtigen Concurrenz Englands preisgegeben. Denn mit Aufhebung der
[252] von Napoleon drakonisch gegen England durchgeführten Continentalsperre wurden die seit Jahren aufgespeicherten englischen Waaren massenhaft auf den Continent geworfen. Der einzige Vortheil der deutschen Industrie gegenüber der englischen, der billige Arbeitslohn, ging während der schweren Hungerjahre 1816 und 1817 vollständig verloren. Die schwere Krisis, die wir jetzt durchleben, erscheint als eine Kleinigkeit gegenüber diesem wirthschaftlichen Elend.
Unter allen Städten des Rheins war nun aber wieder Köln vielleicht am schwersten durch die Franzosenzeit und die veränderte Staatsangehörigkeit heimgesucht worden. Schon mit dem Eindringen der als Retter aus aller Noth begrüßten Jacobiner war das städtische Eigenthum Nationalgut geworden, der beste und wohlhabendste Theil der Bürger geflohen, die Aufhebung der Klöster und mancher milden Stiftung beschlossen. Nach Beendigung der Fremdherrschaft konnten nur noch wenige alte Convente und klösterliche Institute Zeugniß ablegen von der Art, wie im alten Köln die Noth gelindert, die Krankenpflege betrieben worden war.
Damit dürfte zur Genüge erklärt sein, wie das Elend der Hungerjahre sich zwei Jahre lang in der großen Stadt behaupten, wie Robert Blum auf seinem ferneren Lebenswege so gut wie gar keine unterstützende Aufmerksamkeit von Seiten der Vaterstadt finden konnte.
Wir sahen, daß der junge Robert schon mit dem siebenten Jahre lesen, schreiben und rechnen konnte. Er hatte sich bis zum zehnten Jahre in diesen und allen sonstigen Künsten, die in seiner Pfarrschule gelehrt wurden, so weit vervollkommnet, daß er anfing, manchem Lehrer als unbequemer „Ueberflieger“ zu gelten, das heißt als ein Bursche, dem Alles zu leicht wird, dem nichts mehr gelehrt werden kann.
In diesem Stadium seiner Bildung bethätigte seine Tante Agnes Blum (wie wir sahen, die einzige Tochter seines Großvaters Robert) die volle Staatskunst der Frauen, indem sie nach dem alten machiavellistischen Grundsatz den gefährlich-oppositionellen Denker in das Ministerium ihres Lehramtes berief und ihm zunächst das Portefeuille der Mathematik verlieh – mit zehn Jahren!
Das ging so zu. Die gute Tante Agnes hatte sich niemals träumen lassen, Lehrerin zu werden. Sie war vielmehr Jahre lang blos Pflegerin einer alten Dame, welche in dem Gebäude der Elementarschule der St. Mariä-Himmelfahrts- oder Jesuiten-Pfarre wohnte. Als diese Dame das Zeitliche gesegnet hatte, wurde Agnes die Universalerbin der Verstorbenen und als solche sehr wohlhabend. Sie übernahm nun gleiche Samariterdienste bei der Lehrerin der genannten Schule, wohnte ihrem Unterrichte vielfach bei, vertrat sie in der Schule, als die Lehrerin kränker und kränker wurde, und erhielt – wahrscheinlich zu ihrem eigenen nicht geringen Schrecken – die Lehrerinstelle der hochehrwürdigen Jesuiten-Pfarr-Elementarschule angetragen, als die Lehrerin die Augen für immer geschlossen hatte. Freilich tobte damals noch nicht der Culturkampf. Auch der Schulzwang und die Schulordnung hatten die Pforten der Hölle noch nicht überschritten. Jeder konnte nach seiner Façon Lesen, Schreiben und Rechnen lehren. Jeder, der zahlen konnte, schickte seine Kinder wohin ihm beliebte. Wer nicht zahlen konnte, schickte sie – in die Stecknadelfabrik zum Verdienen. So war’s unter dem menschenfreundlichen Krummstab gewesen. So war’s auch noch Anno 1817. Das Geld, welches für die Schulstunden zu entrichten war, gehörte der „Lehrperson“. Dieser letztere Gesichtspunkt scheint für Tante Agnes entscheidend gewesen zu sein, als sie sich entschloß, ohne jegliche ausreichende Vorbildung zum Amte einer Elementarlehrerin, dem an sie ergangenen Rufe Folge zu leisten. Immerhin blieb ja doch der große Trost, daß in der Hauptsache, in der Religion, die armen Kinder von der Pfarrgeistlichkeit direct unterrichtet wurden. Nur in einem Punkte konnte sich ihr zartes Gewissen mit dem übernommenen Amte nicht abfinden: im Einmaleins, in den vier Species, vollends im Bruchrechnen, der Regeldetri etc. Diesen Geheimnissen gegenüber war sie völlig rathlos. Um so besser, daß der kleine Neffe Robert so ausgezeichnet darin bewandert war. Er wurde also als Rechenlehrer der Tante Agnes angestellt.
Die Einkünfte, die er für diese Thätigkeit genoß, waren verhältnißmäßig bedeutend. Denn Tante Blum überzeugte ihre Schülerinnen natürlich mit Leichtigkeit, daß die wunderbare Kunst des Rechnens nicht für den gewöhnlichen Unterrichtspreis mit verabreicht werden könne, daß vielmehr zur Aneignung dieser ungewöhnlichen Kenntnisse Privatstunden nothwendig seien. Selbstverständlich konnten auch nur die reiferen Schülerinnen an dieser Sahne des Unterrichts der Pfarrschule naschen. Der Preis von einem Stüber (vier bis fünf Pfennig) für zwei Rechenstunden in der Woche erschien als eine Kleinigkeit gegenüber der Errungenschaft dieses Wissens, welches – die Lehrerin selbst nicht besaß. Für Robert aber, der an vier Tagen der Woche Nachmittags von vier bis fünf Uhr zwei Classen der Tante unterrichtete, waren diese Kupfermünzen gerade ausreichend, um seiner guten Mutter die Ausgabe für einen Communionanzug zu ersparen. Denn Tante Agnes sammelte ihm die Einnahmen seines Rechenunterrichts auf das Genaueste. Sie gab ihm aber außerdem durch eine bei ihrer Genauigkeit wahrhaft splendide Naturalleistung schamhaft zu verstehen, aus welcher Verlegenheit er sie durch seinen Rechenunterricht erlöste: sie verabreichte ihm nämlich, wenn er um vier Uhr aus seiner eigenen Schule zum Unterricht in die ihrige kam, eine ganze Tasse Kaffee und ein Brödchen. Die Tasse Kaffee mußte er nun schon als unübertragbare persönliche Rechtswohlthat für sich selbst hinnehmen. Aber das Brödchen allein zu genießen, ging über seine brüderlichen Begriffe. Sein Schwesterchen besuchte ja dieselbe Schule als Schülerin, in der er lehrte. So oft es ging, suchte er ihr das kleine Gebäck zuzustecken. War sie im Garten, auf dem Spielplatz, im Schulzimmer, so scheute er keinen Vorwurf, um seinem Liebling den hohen Genuß frischen Weißbrods zuzuwenden.
So war das elfte Jahr seines Lebens herangekommen, in welchem Robert zum ersten Male das heilige Abendmahl empfing. Wohl der Einzige unter den gleichalterigen Genossen, hatte Robert die Festkleidung, die er am Altar des Herrn trug, sich selbst redlich verdient. Aber auch der kindlich tiefe Glaube an das Wunder des Gnadenmahls des Heilandes mochte vielleicht keinem seiner Gefährten so rein und kräftig innewohnen, wie ihm. Diesen schon seit seinem vierten Jahr durch täglichen Messebesuch und Messedienst bethätigten Glauben bezeugte Robert nun auf’s Neue, indem er seine Eltern nach der Communion bat, ihm zu gestatten, daß er in der St. Martinskirche (seiner Pfarrkirche) in die Reihe der Meßdiener eintreten dürfe. Da mit diesem Amte kleine Einnahmen verbunden waren, die Robert seiner Mutter zuzuwenden hoffte, und außerdem das Recht, die Pfarrschule der Kirche zu besuchen, so gaben die Eltern mit Freuden ihre Zustimmung.
Robert wurde also Meßdiener. Da dieser Dienst die Knaben nur in frühen Morgenstunden und an Sonn- und Feiertagen beschäftigte, so hinderte er nicht am Schulbesuch. Aber aus diesem Dienst, der Alles in sich zu vereinigen schien, was Robert glücklich machte, erwuchsen dem Knaben zum ersten Male in seinem jungen Leben seelische Leiden, die ihn mit tiefem Schmerz erfüllten und in ihrem Verlaufe den festen, treuen Kinderglauben Robert’s zerstörend ergriffen und vernichteten. Den ersten Anlaß hierzu bot folgender Vorgang. Die jungen Meßdiener verweilten in der Kirche schon ehe sie den Gläubigen geöffnet wurde und noch nachdem sie von den Kirchenbesuchern verlassen war. Die Jungen – mindestens aber Robert – beobachteten genau das Benehmen der Geistlichkeit in diesen Momenten, wenn diese unter sich zu sein glaubte. Klagend und weinend berichtete Robert der Mutter: „Er habe die traurige Bemerkung gemacht, daß die stets mit dem Heiligen beschäftigten Leute nicht frömmer als die Andern seien, ja noch viel weniger fromm. Es falle Keinem derselben ein, vor dem Hochaltar das Knie zu beugen, wenn die Kirche von Menschen leer sei. Sie gingen vielmehr lachend und schwatzend vorbei. Er wolle aber versuchen, durch sein besseres Beispiel auf die Andern zu wirken.“ Bald klagte er der Mutter von Neuem: „Nein, nein, sie Alle sind nicht fromm. Sie haben keine Achtung und Ehrfurcht vor dem im Altar verborgenen Heiland. Es ist nur Scheinheiligkeit, wenn sie in der von Menschen gefüllten Kirche Ehrenbezeigungen an den Tag legen.“ Armes, reines Kindesherz! Du wußtest nicht, daß Jahrhunderte vor dir ein anderes Kind, aus so armem Hause wie du, am 10. November geboren wie du, denselben Weg zur Erkenntniß gewandelt war, dessen rauhe Bahn du nun betratest. Auch Martin Luther war nicht zuerst irre geworden an der Lehre der römischen Kirche, sondern an ihren geistlichen Dienern. Und als er diese voller Lug und Trug fand, erstreckte [253] sich sein Zweifel auch auf den von solchen Priestern verkündeten Glauben. Denselben Weg der Erkenntniß wandelte Robert Blum.
Jeder wahrhaftigen treuen Natur ist die erste Berührung mit Lüge und Heuchelei eine überaus peinliche Erfahrung. Hier wurde sie um so peinvoller, als die bisher untrügliche letzte Instanz in allen wichtigen Fragen, die Mutter, in ihrem blinden Glauben an die Heiligkeit und Frömmigkeit der Diener der Kirche, die Zweifel Robert’s nicht lösen konnte oder wollte. Er wurde daher nun auch der Mutter gegenüber einsilbig und verschlossen. Seine letzten Gedanken behielt er für sich. Finster und argwöhnisch ging er seinen kirchlichen Functionen nach. Immer weiter griff sein grübelnder Zweifel um sich. Das Nächste, was ihn aufregte, war zum Glück noch eine rein weltliche Betrachtung. Bei Trauungen, Kindtaufen, Begräbnissen etc. legten die Betheiligten Trinkgelder in eine für die Meßdiener bestimmte Büchse. Robert glaubte bemerkt zu haben, daß der Inhalt der Büchse, wenn er zur Vertheilung kam, mit den Einlagen nicht stimme, und seit der letzten Theilung begann er förmlich Buch zu führen über jeden Stüber, der eingelegt wurde. Bei der nächsten Vertheilung des Büchseninhaltes fand sich nicht einmal die Hälfte der von Robert berechneten Einlagen vor. Er nahm seinen geschmälerten Theil, brachte ihn weinend der Mutter, legte ihr sein Verzeichniß vor und berechnete ihr danach, wie viel jeder der jungen Meßdiener eigentlich hätte erhalten müssen.
Die Mutter nahm Geld und Verzeichniß, ging zum Hülfsküster, der die Büchse in Verwahrung hatte, und beschwerte sich über solchen „Betrug“. Dieser hörte die Klage staunend an; dann lachte er laut und rief ein Mal über das andere: „Also jetzt rechnen die Jungens nach, was in die Büchse kommt.“ Die gute Mutter mochte in diesem Gebahren des Küsters auf die schwere Anklage nur die Bestätigung Alles dessen finden, was Robert ihr bisher aus seinem vollen Herzen geklagt hatte, und war deshalb wenig geneigt, die Sache von der heiteren Seite aufzufassen. Sie nannte daher dem Küster die Namen aller Personen, die Geld in die Büchse eingelegt hatten, und gab genau die Summe an, die ein Jeder gegeben. Da legte sich der Küster auf’s Beruhigen. Er versprach, die Büchse solle in Zukunft besser aufgehoben, Veruntreuung dadurch unmöglich gemacht werden. Und er hielt Wort.
Für Robert war dieser Sieg, den sein Scharfsinn für sich selbst und die Cameraden erfochten, jedoch mit nichten erfreulich. Bot er ihm doch die traurige Bestätigung, daß er mit seinem Argwohn auf richtiger Fährte gewesen. Da die Mutter nur einen Theil seiner Zweifel zu lösen vermochte und sein Glaube ihm gebot, alles Herzeleid und alle seelische Bedrängniß in der Beichte dem verschwiegenen Priester anzuvertrauen, so flüchtete er mit seinem stillen Weh in den Beichtstuhl. Alles, was er der Mutter geklagt, und mehr noch, so namentlich auch den Zweifel an dem Glauben, daß der mächtige Herrgott in Person sich tagtäglich leiblich von den Gläubigen werde verzehren lassen wollen, schüttete er vor dem lauschenden Ohre des Beichtigers aus. Rauhe Worte und Drohungen mit ewiger Verdammniß waren die Antwort. Er ging nun von einem Beichtvater zum andern. Manche gaben ihm freundlichen Zuspruch, liebevolle Ermahnungen. Aber harte Zurechtweisung war vorherrschend. Der letzte Beichtvater namentlich, an den er sich gewandt, nannte ihn einen verstockten Sünder und verweigerte ihm die Absolution.
Kurze Zeit darauf wurde er zum Pfarrer beschieden. Er ging natürlich hin und fand eine ganze Anzahl Geistliche beisammen, unter ihnen auch Denjenigen, bei dem er, von Zweifeln gefoltert, Trost, Beruhigung, Glauben suchend, gebeichtet hatte. Vor Allen nimmt dieser Beichtvater das Wort und schildert Robert als einen frechen, anmaßenden Buben, der sich unterstehe, den Lauscher und Aufpasser abzugeben, sich erdreiste zu beurtheilen, ob das Betragen eines geweihten Priesters passend oder unpassend sei, der Rebellion unter den Meßdienern gestiftet und sie gelehrt, ihren Vorgesetzten zu mißtrauen, ihnen aufzupassen, sie wohl gar zur Rechenschaft zu ziehen. Der Knabe, aufgefordert sich zu rechtfertigen, stottert, verwirrt durch den ungeheuren Vertrauensbruch, die Worte heraus: daß er im Beichtstuhl sein Herz offenbart und nun unverbrüchliche Geheimnisse verrathen sehe. „Ach, wir wissen doch Alles,“ wird ihm höhnisch entgegengerufen, mit zeitlicher und ewiger Strafe, mit Hölle und Verdammniß ihm gedroht und, um sein Elend vollzumachen die Mutter gerufen, um auch sie von der Ruchlosigkeit ihres Sohnes in Kenntniß zu setzen. So endete Robert’s Rolle als Meßdiener.
Seine gute Mutter trug vor Allem Fürsorge für das Seelenheil ihres Kindes, dessen Herz sie so ganz anders geartet kannte, wie das grausame Ketzergericht, das nun gesprochen hatte. Sie brachte ihren Robert zu dem alten, würdigen, gutmüthigen Geistlichen, der sie und Robert schon so lange kannte, klagte diesem, wie Alles gekommen, und bat ihn, sich ihres armen Kindes anzunehmen und ihn auf den Weg des Glaubens zurückzuführen. Robert folgte lammfromm den Worten des Einzigen, dem er vertraute, erhielt die früher verweigerte Absolution, ging nach wie vor zur Beichte und Communion – aber trotzdem war für immer dahin die selige Glaubenswelt seiner Kindertage. Als er mehr als ein Vierteljahrhundert später sich öffentlich lossagte von der römischen Kirche und das praktischste und energischste Haupt der neuen Deutsch-katholischen Kirche wurde, hat, wie später an seinen eigenen Briefen an Johann Jacoby gezeigt werden wird, gewiß der Gedanke, politische Ziele durch die religiöse Bewegung zu fördern, vollen Antheil an seinen Entschließungen gehabt. Dennoch aber war dieser Schritt nur die letzte Consequenz jener Seelenkämpfe, die in ihm erregt wurden in Jahren, wo wir kaum über uns und Andere zu denken beginnen.
Den Besuch der Pfarrschule wegen dieser Ketzereien Robert zu verbieten, wagte man doch nicht. Er lernte hier mit gleichem Eifer fort. Da ließ eines Tages Robert’s Lehrer, der verwachsene, fleißige und hochgeachtete Herr Burg, die Mutter zu sich bitten und sagte ihr: „er sei jetzt fünfunddreißig Jahre lang Lehrer an einer und derselben Schule – aber ein Talent und solchen Fleiß, wie er bei Robert gefunden, sei ihm in dieser langen Zeit noch nicht vorgekommen. Er rathe der Mutter, Alles aufzubieten, um ihn studiren zu lassen.“ Die Mutter wendete ein, sie sei nur eine arme Frau, der Knabe habe einen Stiefvater, es werde ihr unmöglich sein, Robert studiren zu lassen. Da meinte Herr Burg: „gerade für strebsame und arme Kinder und Waisen habe ja die Stadt ihre reichen Stiftungen. Er rathe, ihren Sohn nach dem Gymnasium zu bringen und dann sich um Erlangung einer ‚Stiftung‘ zu bemühen.“
Robert war selig, als er von diesem Plane hörte, und ließ es natürlich an Bitten nicht fehlen, um das hohe Ziel zu erreichen. So brachte ihn denn die Mutter nach dem Kölner Jesuitengymnasium. Seine Freude, sein Fleiß waren grenzenlos. Immer hatte er zu wenig Arbeit. Als er die Sexta durchlaufen hatte und am Schlusse des Schuljahrs öffentliche Prüfung stattfand, wurde ihm, dem Fleißigsten und Aermsten, der erste Preis, das „goldene Buch“, zuerkannt. Vor mir liegt, unter all den ähnlichen Zeugnissen, welche Robert aus seiner Schulzeit davongetragen, auch das Zeugniß über dieses letzte Vierteljahr seines Schulbesuchs. Es lautet: „Vierteljährige Censur. Vorbereit. Classe des Jes.-Gym. Nro Ein. Schuljahr 1819–20, viertes Vierteljahr. Namen Robert Blum. Betragen gegen Mitschüler gut, gegen Vorgesetzte lobenswerth. Fleiß lobenswerth in allen Fächern; der häusliche Fleiß sehr groß, und mit dem beßten Erfolge. Fortschritte vorzüglich in allen Fächern. Abwesend und zu spät gekommen vacat. Also ausgestellt von den Lehrern Weiß, Breuer, Religionslehrer. Unterzeichnet von dem Director Heuser. Köln, 27. August 1820.“ An den Fuß dieses Zeugnisses hat die ungelenke Hand des Stiefvaters geschrieben: „Mit Freuden gesehen von Caspar Georg Schilder.“
Mit noch erhöhter Freude ging Robert natürlich zu Anfang des folgenden Jahres nach Quinta. Die Mutter hatte sich nun ein volles Jahr übermäßig angestrengt, um Schulgeld, Bücher, Kleidungsstücke etc. zu beschaffen. Aber trotz aller unablässigen Bemühungen wollte es ihr nie gelingen, eine Stiftung für ihren Sohn zu erlangen. Immer hieß es: es seien keine Gelder vorhanden. Jetzt wurde ihr eröffnet, es könne noch anderthalb Jahr währen, ehe er in den Genuß einer solchen Freistelle treten könne. Das war ein furchtbarer Schlag. Es fehlte an Allem, an Büchern, Geld, vor Allem an dem so nöthigen Anzuge. Aber es gab ja noch eine Hoffnungsaussicht, welche die Mutter um ihretwillen nie angerufen hatte, aber um des reichbegabten Sohnes willen nicht unversucht lassen wollte; die wohlhabende Verwandtschaft. Trostsuchend wandte sich die Mutter zuerst [254] an den früheren Lehrer Robert’s, Herrn Burg, und auch von diesem wurde sie vertrauensvoll gewiesen an Alles, was sich Robert gegenüber mit dem Namen „Onkel“ schmückte. Verheißungsvoll wiesen sämmtliche Onkels ihrerseits auf die reiche Tante Agnes, zumal da Robert sie ja in ihrer bekannten mathematischen schweren Noth über Wasser gehalten hatte. Diese treffliche Dame aber sagte: „Ich habe keine Kinder. Wer Kinder hat, mag dafür sorgen!“ Damit war die Entscheidung gesprochen. Robert mußte der Hoffnung, weiter zu lernen, entsagen und zu Hause bleiben.
Schweigsam und traurig, alle bisherige Genossen seiner Studien sorgsam meidend, schlich der sonst so muntere, frohe Knabe einher. Ernstlich fürchteten seine Eltern und Alle, die ihn damals sahen, er möchte in Gemüthskrankheit verfallen. Dann aber, als er, finster vor sich hinbrütend, Tag und Nacht sein Mütterlein an der Arbeit sah, um ihm und seinem Schwesterchen Brod zu schaffen, ohne ein Wort des Vorwurfs für seine Unthätigkeit, da warf er den letzten schmerzlichen Blick rückwärts nach den für immer verlorenen Gefilden der ewigen Jugend des Alterthums und beugte seinen kräftigen Nacken unter das Joch gewöhnlicher Handarbeit. Als er etwa zwanzig Jahre später um Aufnahme in den Freimaurerbund nachsuchte, faßte er selbst den Schmerz seiner Seele, der ihn damals bewegt, und die heroische Entscheidung, die er am Ausgange seiner Knabenjahre getroffen, in die schönen Worte zusammen: „So mächtig mich auch damals die Sehnsucht festhielt am Wissen, ich war gezwungen, ein Handwerk zu erlernen, und trat nach vollendetem siebenzehnten Jahre eine traurige Selbstständigkeit an, indem die Kindespflicht mich hinaustrieb in das Leben, um meinen Eltern die Sorgen für meinen Unterhalt abzunehmen.“
Auf der Insel Worms. (Mit Abbildung Seiten. 243.) Rußland! Man denkt bei dem bösen Worte an Eisberge, Bären, Wölfe, ewig dunkle Nächte. Aber fürchten wir uns nicht! Ein herrlicher nordischer Winterabend auf der estnischen Insel Worms! Klar steht der Mond am Himmel über der endlosen Schneefläche, und das herrliche Meer leuchtet tiefblau. Das Dorf zieht sich am Strande entlang; die Fenster einer Bauernhütte sind hell erleuchtet, denn Thio, des Bauern rosiges Töchterlein, feiert ihre Hochzeit.
Ado ist ein hübscher, mäßig großer Junge mit langen, mitten auf dem Kopf gescheitelten Haaren und blauen Augen; auch sieht er gewöhnlich in langem Rocke und Wasserstiefeln recht ehrbar aus. Heute freilich hat er die Festtracht, ein Mieder mit blanken Knöpfen, angelegt. Schon lange wußten im Dorfe die Bauern und Pächter, daß er die hübsche Thio liebe, aber zur Erklärung kam’s doch erst, als er im Hause ihres Dienstherrn, des Wolfspeter’s, nach Landessitte um sie anhielt, und das geschah also: Eines Abends saßen sie alle dort beisammen, er rauchend, die Frauen spinnend und Geschichten erzählend; da trat ein junger Bursche mit freundlichem Gruße ein und sprach sehr angelegentlich mit dem Wirthe. Aber seine Augen suchten einen anderen Gegenstand. Plötzlich brach er denn auch ab und fragte, ob sich nicht ein junges Vögelchen hierher verflogen habe, mit lieblichen blauen Augen, süßem Schnabel und prächtigem Gefieder. „Wollt Ihr mir suchen helfen? Ich lohn’s Euch reichlich.“ Hiermit schenkt er der Wirthin ein Glas Meth ein und bittet damit um ihren Beistand; sie nimmt es an. Das Vögelchen verbirgt sich indeß scheu hinter dem riesigen Ofen. Nun beginnt ein eifriges Suchen. Endlich holt er sie hinter dem Ofen hervor und schenkt auch ihr ein Glas Meth ein. Er will das Mädchen nicht für sich haben – nur für den Freund. Der glückliche Bräutigam vor der Thür darf nun herein, und der Abend fliegt unter allerlei Scherzen fröhlich hin. Die Hochzeit ließ nun nicht lange auf sich warten.
Der festliche Tag war erschienen, ein schöner klarer Herbstmorgen, und fröhlich auf schäumenden Pferden jagte die Hochzeitsgesellschaft zur fernen Kirche hin. Voran ritt stattlich, er wie sein Pferd mit Bändern geschmückt, der Hauptmarschall (das heißt Brautführer). Dreimal umritt er gewissenhaft jeden einzelnen Wagen; dann jagte er davon. Hinter ihm die Braut im Geleit des Brautbruders, meist eines Verwandten, der ihr Beschützer und zugleich verbunden ist, den Marschällen allerlei Possen zu spielen. Dann folgte der Wagen des Bräutigams, dahinter Verwandte und Gäste, je nach Rang und Stand. Nach beendigter, sehr einfacher Trauung reitet das Paar nach Hause. Die junge Frau sitzt auf einem oft recht muthigen Pferde ohne Zügel, in einem stuhlartigen Sattel, von einem nebenbei reitenden Marschall an der Hand gehalten, wobei die Pferde oft auseinandergehen – ein neuer Beweis für die alte Wahrheit, daß es nicht nur in unseren verschiedenen deutschen „Vaterländern“, sondern überall seine Schwierigkeiten hat, in den Hafen der Ehe einzulaufen, respective einzureiten. Vor ihr reitet ihr Geliebter mit dem Brautvater, in weißen Strümpfen, buntem Gurt, weitem, braunem Rock, ein rothes Band um den Hut. Sein Haar ist lang und lockig. Prächtig sieht auch sie aus: rothe Strümpfe, worüber die Pasteln oder pantoffelartigen Schuhe, am Knöchel zusammengeschnürt, eine weiße Schürze, ein blauer enggefalteter Rock, darüber ein weißleinenes Uebertheil mit steif stehendem Kragen bis zur Taille, die unter den Armen beginnt. Ueber allem trägt sie einen braunen kürzeren Ueberrock, am Hals von der einen Seite blau, von der anderen roth eingekantet. Am glänzendsten ist die Brautkrone, ein Aufsatz über den ganzen Kopf, mit Perlen reich besetzt, viele Bänder hängen auf den Nacken nieder, zwei große rothe nach vorn. Das Haar ist glatt gescheitelt und von hinten in zwei Zöpfen nach vorn gerichtet. Die Brust schmückt ein rothes Kreuz mit sechs Enden aus Band, und drei runde Broschen aus rothen Steinen halten das Oberkleid zusammen.
Auf dem kürzesten Wege eilt nun Alles dem Paare voraus nach Hause; denn nun giebt es meist einen Schwank. War nämlich schon unterwegs alles Mögliche zur Versperrung und Verhinderung geschehen, so kommt jetzt zu Hause der Hauptstreich: Thor und Thür sind verrammelt. Man reißt ohne Umstände Alles weg und fährt unter Schießen und Juchheien in den Hof.
Der seltsame Gebrauch, daß ein Marschall einen Degen in’s Dach stößt (etwa um böse Geister auszutreiben) und mit einer Kanne Meth die Gäste umreitet und sie bespritzt, den Rest aber auf des Brautpferdes Kopf gießt, hat wohl aufgehört. Heutzutage ist man realistischer, man trinkt lieber selbst; denn der Trunk (Meth, Bier, Branntwein) ist eine Hauptsache. Der Anfang geschieht mit einem Glase Branntwein zu Ehren des Paares. Vor Tische singt ein Kundiger ein geistliches Lied strophenweise vor; die Anderen fallen ein. Um das Paar sitzen die Gäste. Ueber ihnen hängen Kronleuchter aus Leisten oder Reifen, mit Blumen, Aehren oder Beeren umflochten. Die Tische tragen Speisen in Fülle, wobei salzige Fische und Schweinebraten eine Hauptrolle spielen. Obst ist selten: dafür giebt es Kartoffeln, auch Preißelbeeren. Bei Tische herrscht tiefes Schweigen; es wird wacker gegessen und getrunken. Man wundere sich aber nicht, wenn vielleicht das Tischtuch vergessen ist und die Knochen des Bratens unter den Tisch fliegen, oder wenn sich ein rechter Trunkenbold auf ein Bund Stroh zurückzieht, die Kanne neben sich. Es ist hier eben noch echte, reine Natur. Und dazu bietet vielleicht ein Gesang der Brautjungfern ein poetisches Gegenstück, der oft ganz angenehm klingt, denn die Sprache ist wohllautend, wenn auch der Vortrag eintönig ist. Nach Tische wechseln Gesang, Spiele und Erzählungen ab, zuweilen auch ein derber Schwank. Beim Tanz ging es zu, wie in unseren gewöhnlichen Tänzen. Nur ein kurzer Schleifer war bemerkenswerth. Auch das eigenthümliche Instrument – der Dudelsack nämlich, wird der Civilisation bald zum Opfer fallen.
Als man nun ruhte und zur Abwechselung Lieder sang, auch übertragene deutsche Lieder und Melodien, da entstand plötzlich ein Lärm und Aufbruch; der Brautbruder hatte einen seiner gewöhnlichen Streiche verübt: er hatte die Braut entführt. Sofort begann ein Wettrennen der nachsetzenden Marschälle, bis sie ihn eingeholt und die Braut zurückgebracht hatten. Damit sie aber nicht wieder geraubt werde, begann der Mittel- und Schlußpunkt des Festes, das Aufsetzen der Mütze (Haube). Die Braut sitzt allein in der Mitte, eine angesehene Frau tritt feierlich zu ihr und setzt ihr unter Segenssprüchen oder Versen die rothe, kegelförmige, bebänderte Mütze auf und bindet ihr die Schürze um. Darauf tritt der Brautbruder zu ihr, ergreift den Zipfel derselben und bietet nun allen Witz auf zu einer launigen Anrede an die Gäste. „Diese Schürze,“ so schließt er, „hat an Ecken und Enden viele große Löcher. An Euch ist es, sie zu flicken und diese Braut nicht so schmählich fortgehen zu lassen. Tretet also heran, und seid nicht karg oder blöde! Und was ist das auch, eine so kleine Schürze zu flicken!“
Darauf treten die Gäste vor und werfen nach und nach ihre Gaben hinein. „Ah, sieh zu!“ ruft der Brautbruder, „das soll ein Flick sein? Ein so großes Loch und ein so kleiner Flick! Der hält gewiß nicht; der bricht durch.“ Und damit holt er ohne Umstände den kargen Geber und beredet ihn, bis er sich bessert. „Ah, diese da (er zeigt auf eine wohlhabende Frau), die versteht’s, sag’ ich Euch! Gebt nur Acht! Aha, das ist ein blanker Flick (ein Silberstück), das lieb’ ich; das hält. Doch schon vorbei? O nein, das war nur der Anfang. Du willst nur ein bischen gestreichelt sein“ – und er schüttelt ihren Aermel so hartnäckig, bis sie mehr giebt. Darauf vertheilt die Braut gewöhnlich ihre Geschenke. – Der Festjubel dauert nun zwar oft noch mehrere Tage, ja eine Woche, bis die bedeutungsvolle Suppe mit ihren steinharten Klößen erscheint; es kommen auch noch allerlei Schwänke vor – namentlich der Kampf um die Kisten und Kasten der abziehenden Braut, um die weidlich geschrieen, gebalgt, wohl auch ein Wagen umgeworfen wird, aber im Ganzen ist die Feier beendet, und ehrbare Weiber führen die Braut dem Bräutigam unter geistlichen Liedern oder Segenssprüchen zu. Wir ließen unsern Renner auspannen, und – ade, Hochzeit auf der Insel Worms!
Schmarotzer des Schlachtfeldes (Illustr. S. 251). Unsere Abbildung führt die Leser nochmals auf ein Schlachtfeld des russisch-türkischen Krieges. Des Künstlers geschickte Hand stellt uns mit demselben eine Kehrseite des so hoch gepriesenen Heldentodes und Schlachtenruhmes dar: eine Rotte Türken, die den auf dem „Felde der Ehre“ daliegenden Feind ausplündert, gleichgültig dagegen, ob er schon todt ist oder, schwer verwundet, nach menschlicher Hülfe schmachtet. Solche Bilder sind bisjetzt leider eine Zugabe zu jedem Kriege gewesen (wir erinnern an die Hyänen der böhmischen Schlachtfelder), und sie sind um so mehr geeignet, das heilige Wort Frieden recht warm an jedes Herz zu legen. Möge es den Diplomaten des nächsten Congresses gelingen, die bereits von Neuem drohenden Schwerter in den Scheiden festzuhalten!
- ↑ Wir entnehmen die nachfolgenden Schilderungen dem höchst fesselnden Buche „Vier Jahre in Afrika“ von Ernst von Weber, welches in diesen Tagen bei F. A. Brockhaus in Leipzig erscheinen wird. Autor und Verleger haben uns die Benutzung der Aushängebogen freundlichst gestattet.
D. Red.
- ↑ Bei dem Interesse, welches die Frage der Tabaksbesteuerung augenblicklich in Anspruch nimmt, dürfte obiger Artikel unsern Lesern nicht unwillkommen sein. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Stichfehler: baltr.