Die Gartenlaube (1877)/Heft 7
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No. 7. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Toni war sichtlich verlegen, was sie aus diesen erregten Aeußerungen machen sollte. Frau Hornemamn hatte ihre beiden Hände mit der Linken erfaßt, und mit der Rechten streichelte sie ihr über das glänzende dunkle Haar, das so weich war wie Seide.
Plötzlich horchte sie auf. Im Nebenzimmer gab es ein dumpfes Geräusch. Zugleich kam das Dienstmädchen eilig herein und trug ein Glas Wasser auf dem Tablet.
„Wer hat das Wasser bestellt, Lisa?“ fragte Toni etwas erschrocken.
„Nun, der Herr selber.“
„Aber wann denn? Er ist ja ausgegangen.“
Das Mädchen sah sie erstaunt an. „Er war doch vor einer kleinen Weile noch hier.“ Und sie rüttelte noch einmal an der Thür.
„Mir war, als hörte ich drinnen etwas,“ flüsterte Toni Frau Hornemann zu. Diese sah mit einem Gesicht voll bitteren Hohnes nach der Thür und sagte laut: „Nehmen wir an, der Herr Commerzienrath wäre nicht da! Mich däucht, wir werden zu keinem andern Resultat kommen.“
Das Wasser wurde hinausgetragen, und Toni wandte sich wieder zu ihrem Besuch. „Ich verstehe oder glaube zu verstehen, daß Sie nicht ganz glücklich sind,“ meinte sie ein wenig zaghaft. „Aber jetzt sollten Sie doch nichts als Freude im Hause haben? Mir ahnt so etwas wie ein Verlobungsfest.[1] Leugnen Sie nur nicht! Die Spatzen auf den Dächern haben mir davon erzählt.“
„Ein Verlobungsfest?“ fragte Frau Hornemann mit eigenthümlicher Betonung und forschenden Augen. „Vielleicht, ja.“
Toni lehnte sich an eine Spiegelconsole und stieß mechanisch an die Nase eines Porcellan-Pogoden, der dort stand, daß der Kopf des Chinesen auf und nieder zu nicken begann. „Ich weiß mehr, als Sie denken, denn seit gestern Abend bin ich die sogenannte Vertraute. Eine merkwürdige Rolle! Man darf mit ansehen, wie zwei Menschen sich küssen, und muß dabei stehen und die Augen schließen. Das ist alles.“
Frau Hornemann wurde aufmerksamer. „Wie? Und das haben Sie mit angesehen?“
„Mein Himmel, Sie machen ja Augen wie ein Justizrath, liebe Frau Hornemann; ist denn das etwas Böses? Oder habe ich etwa ausgeplappert, was ich nicht sollte? Aber nein, wenn Sie selber ‚vielleicht, ja‘ sagen, brauche ich’s wohl nicht in die Beichte zu tragen. Und ich will nun einmal die Vertraute sein; kein Mensch hat mich bisher dazu machen wollen, aber der Himmel hat eingesehen, daß ich mich wohl dazu eigne, und mir gestern einen Zufall zur Hülfe geschickt. Nun laß ich mir die Würde nicht nehmen. Daß Sie’s nur wissen,“ sprach sie mit komischem Ernst und schnippte wieder an den Pagodenkopf, „ich will gar nicht immer Kind sein, wie alle Leute gern möchten und Sie auch. Warum soll ich immer nur Sonne sehen und froh sein? Ich weiß wohl, daß es viel süßer ist, traurig zu sein. Das Leben soll Tiefen haben und Abgründe, und es soll allerlei Merkwürdiges passiren – nur ich darf nichts sehen und nichts erleben, und dabei komme ich mir so dumm vor, wie dieser dicke Herr da“ – und sie zeigte auf den Chinesen vor’m Spiegel. „Ich will noch schweigen wie das Grab, wenn ich mich zur Verlobungsfeier einladen darf – die Bedingung stelle ich.“ Sie lächelte wieder mit Kinderanmuth, und zwischen den frischen Lippen glänzten die weißen, kleinen Zähne hervor.
Die alte Frau ergriff ihren Arm und preßte ihn heftig. „Es ist nicht möglich,“ sagte sie mit unterdrückter Stimme und mit einem Gesicht, aus welchem die tiefste Verzweiflung sprach. „Wen haben Sie gesehen?“
„Milli und den Doctor Urban,“ war die zögernde Antwort.
Die alte Frau bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und stöhnte: „Also doch! Also doch! Und hier ist es, wo sie sich treffen?“
„Zum ersten Male; ich begegnete gestern Milli zu Wagen und habe sie mir entführt. Nachher kam der Doctor in den Garten – – Aber liebe Frau Hornemann, ich begreife nicht –“ sagte Toni fast weinend. „Warum sind Sie so außer sich?“
Nebenan wurde eine Thür geöffnet, und man vernahm rasche Männertritte.
„Leben Sie wohl, Fräulein Toni! Ich muß doch wiederkommen, und ich fühle mich nicht wohl.“ Sie nahm die Hand Toni's und schritt dann entschlossen zum Ausgang.
„Fräulein Toni ist drin und hat Besuch,“ sagte draußen das Mädchen. „Er ist gewißlich fortgegangen, Herr Doctor.“[2]
Eine Gegenrede verhallte im Geräusch der zugeschlagenen Thür.
Einen Augenblick später trat Doctor Urban der alten Frau entgegen, die ihn wie einen Geist anstarrte, während ihm die Ueberraschung kaum anzumerken war. „Ah,“ sagte er mit ironischer Verbeugung, „sehr angenehme Begegnung! Guten Morgen, Fräulein Toni! Hat Ihre Tante wieder Migräne?“
Frau Hornemann blickte zu Boden, bis der Doctor an ihr [110] vorbeipassirt war; dann schritt sie stumm und stolz aufgerichtet durch die Thür.
„Was war das?“ fragte das zurückbleibende junge Mädchen den Arzt. „Erlösen Sie mich, Herr Doctor. Ich bin ganz wirr im Kopfe. Mir war, als rede sie eine Sprache, die ich nicht verstehe, Kalmückisch oder Kafferisch. Ist es denn so schrecklich, daß Sie gestern mit Milli bei uns zusammengetroffen sind?“
„Haben Sie das der Frau Hornemann gesagt?“ lautete die etwas spöttische Gegenfrage.
Toni nickte.
„Nun – haben Sie schon einmal Ricinusöl genossen oder Leberthran getrunken? Nein, ich glaube nicht, mein Fräulein. Aber Sie wissen, daß Wermuth und Galle ausnehmend bitter sind. Sie Aermste haben der guten Frau eine tüchtige Dosis von beiden verabreicht. Aber ich möchte wissen, ob Ihr Herr Papa – ah, Herr Commerzienrath!“
Der Commerzienrath hatte aufgeriegelt und stand mit verstörtem Gesichte in der Thür.
„Laß uns allein, mein Kind!“
Urban nickte ihr zu und verschwand im Zimmer des Commerzienrathes.
Sie blickte ihm mit glänzenden Augen nach, und ihre Brust hob und senkte sich immer rascher, wie sie da stand, die kleinen Hände übereinander gelegt. Endlich holte sie tief Athem, wie Einer, der aus dem Traume erwacht. „Wie seltsam!“ sprach sie vor sich hat. „Er war noch drinnen. Warum hat er sich vor der Frau Hornemann eingeschlossen?“ Sie stand vor dem hohen, prachtvollen Trumeau und betrachtete sich darin mit einem stillen Seufzer. „Wie kann ich Jemandem gefallen – brrr!“ Und sie schüttelte sich. Der Chinese vor ihr nickte noch immer, und sie nickte endlich auch und gewann ihre Laune wieder. „Was hilft’s?“ meinte sie halblaut; „es scheint wirklich der Lauf der Welt zu sein: Was des Einen Glück ist, das macht dem Andern das Herz schwer, oder wie Johannes im Stalle sagte: ‚Fräuleinchen, Einer ist dem Andern sein Teufel‘; ja wohl, mein Herr Chinese, au revoir, mon bijou!“ Sie gab dem Pagoden noch einen Stoß und flatterte zum Zimmer hinaus.
Der Commerzienrath hatte inzwischen den eintretenden Arzt bei den Rockaufschlägen gefaßt. „Gott sei Dank, daß ich Sie bei mir habe, Doctor! Wenn Sie wüßten, welche Höllenqual ich ausgestanden habe! Ich hatte einen Anfall, einen kleinen Schlaganfall, glaube ich. Ich vermochte plötzlich nichts mehr zu sehen und empfand Stiche hier in der Seite.“
„Ah bah,“ sagte Urban ziemlich rücksichtslos. „Sie müssen ja natürlich hier ersticken bei den geschlossenen Fenstern.“ Er zog mit rascher Hand ein Rouleau nach dem andern empor und riß die Fensterflügel weit auf, daß die linde Sonnenluft einströmte. Dann betrachtete er den Commerzienrath, prüfte seinen Puls und lachte.
„Hypochondrie, nichts als Hypochondrie, werther Herr! Vielleicht eine kleine Leberaffection. Kein Gedanke an Sterben!“
„Lieber Doctor, ich bitte Sie dringend, die Sache nicht leicht zu nehmen,“ erwiderte der Fabrikant mit zweifelnder Aengstlichkeit. „Meinen Sie nicht, daß etwas Ernstliches geschehen muß? Daß ich vielleicht gut thue, in ein Bad zu reisen? Ich fürchte immer, es nimmt bei einem solchen Zufalle ein plötzliches Ende mit mir.“
Er setzte Urban einen Stuhl hin und nahm selber Platz. Jener besann sich.
„Wenn es Sie beruhigt – vielleicht würde eine Cur nichts schaden. Nur gebe ich Ihnen zu bedenken, ob Sie in dieser aufgeregten Zeit Ihre Fabrik verlassen wollen.“
„Nein,“ fiel ihm der Commerzienrath hastig in’s Wort; „Sie haben Recht. Wissen Sie auch, daß ich vorhin meinen Leuten in’s Gewissen geredet habe? Ich kann mich auf Bandmüller verlassen; er wird die räudigen Schafe schon zu rechter Zeit herausgreifen. Sie werden sehen, wohin es mit Ihrer Freiheit und Ihren Menschenrechten kommt.“
„Ereifern wir uns nicht über Politik! Sie dürfen sich heute keinesfalls aufregen. Machen Sie eine Spazierfahrt und nehmen Sie Fräulein Toni als Friedensengel mit sich! Steigen Sie ein wenig auf die Berge! Es wird Ihnen gut thun.“
Der Fabrikant sah unzufrieden aus, obschon seine Angst in der Gegenwart des Arztes so ziemlich verflogen zu sein schien.
„Doctor, ich habe das größte Vertrauen zu Ihrer Kunst,“ meinte er nach kurzem Besinnen. „Professor Mitterer hat mir sicher nicht ohne Grund gesagt, daß Sie sein bester Schüler seien, und das ist soviel, als wenn er gesagt hätte, Sie wären der Erzengel Raphael. Aber ich fürchte, Sie haben kein Herz für mich, keine Sorge um mich. Ich bin Ihnen gleichgültig, ein Patient, der Sie bezahlt. Ich wollte, ich hätte einen Sohn, der Ihnen gliche; ich gäbe wer weiß was darum.“
„Seien Sie zufrieden!“ sagte Urban, seltsam angemuthet von diesem Einfalle des hypochondrischen alten Herrn. „Sie haben einen so reizenden Arzt, einen wahren Specialarzt für Ihr Leiden im Hause, und ich wünschte nur, daß Sie sich mit vollem Herzen in seine Cur begäben; Sie errathen: ich meine Fräulein Toni. Uebrigens dürfen Sie auch meiner Theilnahme für Sie völlig vertrauen.“
„Ich wollte, wir wären wenigstens Parteigenossen; dann würden Sie mich vielleicht aus Nützlichkeitsrücksichten conserviren. Schlagen Sie ein, Doctor, kommen Sie zu uns in die Union! Sie wissen, wie man Sie dort aufnehmen wird.“ Und er streckte dem Arzte die Hand hin.
Dieser lachte: „Ei, so thun Sie doch besser, zu uns zu kommen, wie wir wünschen. Aber lassen wir das!“ fuhr er ernst fort, und sein Auge ruhte beobachtend auf dem Antlitze seines Gegenüber. „Bei Ihrem Leiden kann und muß ich Ihnen den dringenden Rath geben: entsagen Sie vorläufig auf ein halbes Jahr aller Politik! Weisen Sie Jeden ab, der Sie damit aufregen will, vermeiden Sie in die Union zu gehen! Ich stehe bei Ihrer nervösen Constitution für nichts.“ Er zog die Uhr. „Eine indiscrete Frage noch: ich fand soeben Frau Hornemann hier. Verkehrt die Mutter auch in Ihrem Hause wie die Tochter?“
Der Commerzienrath wurde ein wenig blässer, und seine Augen suchten verlegen umher. „O,“ sagte er endlich in dehnendem Tone, „wir verkehren in Geschäften miteinander.“
Der Arzt schied mit der Versicherung, er werde im Hofe das Anspannen bestellen. Er durchschritt rasch die Räume und stieß in einem der vorderen Zimmer auf Toni und die Tante, ein Fräulein von der Herberge, eine ältliche, würdige Dame mit grauen Locken an den Schläfen. Nachdem er die wortreiche Begrüßung der Letzteren mit ein paar scherzenden Worten abgefertigt, wandte er sich an Toni, welche mit einer zierlichen Reitpeitsche leise gegen das Kleid klätschelte und durch das Fenster in den Hof hinab sah.
„Wollen Sie eine Vorstellung in der Reitkunst und höheren Pferdedressur geben, Fräulein Toni?“ fragte er.
„Wie ungezogen!“ sagte sie und wandte sich um. „Gehen Sie nur! Es wartet gewiß schon Jemand auf Sie. Uebrigens werde ich Ihnen zum Tort ausreiten.“
Das Gesicht des Arztes war plötzlich ernst geworden, und er sagte fast rauh: „Das Reiten ist Ihnen nicht zuträglich heute. Ihr Herr Papa wird in einer Viertelstunde einen größeren Ausflug in’s Freie machen, und ich verordne als Hausarzt, daß Sie ihn begleiten. Ich habe die Ehre mich zu empfehlen, meine Damen.“
„Ist es nicht unerträglich, Tante, wie er mich behandelt?“ klagte Toni, als sein Schritt auf der Treppe erklang, und sie warf ihre Reitpeitsche in die Ecke. „Immer wie ein ungezogenes Kind.“
„Der Herr Doctor ist etwas sehr brüsk, liebe Antonie,“ erwiderte die Dame mit Würde, „aber diese Herren Aerzte haben das meist so an sich; ich versichere Dich, mein Engel, ich kenne sie.“
Toni drückte ihr Gesicht hart an die Scheiben und stand ein Weilchen, ohne sich zu regen.
„Was fehlt Dir, Antonie? Mein Himmel, Du zitterst am ganzen Körper!“
„Ach Tantchen, mein Herz!“ klang es mit unterdrücktem Schluchzen vom Fenster. „Ich glaube fast, daß ich krank bin.“
Unten kam der Doctor vom Stalle her und ging über den Hof, ohne sich umzublicken.
Der Polizeicommissar Donner hatte seinen geduldigen Arrestanten im Stadtgefängniß untergebracht und war von da in seine Wohnung gegangen.
Die Blüthezeit der eigentlichen Demagogenfängerei war [111] vorüber, aber es war noch immer nichts sonderlich Auffälliges, wenn unterm Schleier der Nacht ein politisch Verdächtiger in ein Arrestlocal geschafft ward, der eine halbe Stunde zuvor noch darauf geschworen hätte, daß er die Nacht zwischen feinen Kissen und Decken weich und warm schlafen würde. Der übereifrigen Polizeiorgane, welche in solchen Verhaftungen Heldenthaten erblickten, gab es besonders in großen Städten noch manche. Was hätte sie hindern sollen? Die Willkür genoß alle Arten von Ausnahmeprivilegien, um „den Bestand des Staatswesens gegen Verschwörungen zu sichern“; es war die Zeit, wo die alte Abschreckungstheorie, welche die raffinirten Martern der mittelalterlichen Justiz erzeugt, ihre letzte Probe bestehen sollte, um dann für das Bewußtsein der modernen Civilisation in der großen Todtenkammer menschlicher Irrthümer, Geschichte genannt, beigesetzt zu werden. –
Es war gegen Mitternacht.
Donner saß in seinem Wohnzimmer bei einer Oellampe, deren grüner Blechschirm nur eine Erhellung der Tischplatte zuließ, den Lichtfleck an der Stubendecke abgerechnet, in welchem das Schattenspiel des Rauches kräuselte. Er hatte sich weder seines Uniformrockes noch seiner schweren Stiefeln entledigt; diese harte und zähe Natur wußte nichts von Bequemlichkeit und Behagen. Sein Weib schlief nebenan in der Kammer, und man hörte ihre tiefen Athemzüge; Kinder hatten sie nicht.
Vor ihm stand der Kasten, welchen er aus dem Sterbezimmer des alten Zehren entnommen und durch den Wächter hatte fortschaffen lassen. Der Deckel war offen; Donner besaß in seiner Wohnung das gesammte Handwerkszeug eines Diebes, und der Zufall hatte ihm überdies vor einiger Zeit eine Partie Schlüssel in die Hände geführt, deren einer in das Schloß des Kastens paßte.
Mit gierigen Augen blickte er über ein Packet Scripturen, welches er auf den ersten Griff herausgerissen hatte. Das Papier sah größtentheils nicht eben frisch aus. Die Schriftzüge waren vielfach vergilbt, aber Donner beschloß, sich dadurch nicht vom Lesen abhalten zu lassen, denn er kannte die Kunstgriffe, mittelst deren man unverfängliche Correspondenzen abzufassen wußte in jener gefährlichen Zeit. Er hatte erfahren, daß es nicht schwer sei, Papier von altem Aussehen zu beschaffen, vergilbte Tinte herzustellen und in Briefen mit alten Daten, welche scheinbar längst vermoderte Verhältnisse behandeln, Verschwörungen zu spinnen. Er brannte darauf, in den Scripturen dieses Kastens den Beweis für die Schuld Zehren’s zu finden, denn er fühlte heimlich, daß sein ungemessen entwickeltes Amtsbewußtsein ihn zu einer Uebereilung verleitet hatte.
Er begann aufmerksam zu lesen, und das hatte keine sonderlichen Schwierigkeiten, denn die Briefe, welche er nacheinander vor sich ausbreitete, trugen die leserlichen Züge kaufmännischer Correspondenzen. Einige in englischer Sprache abgefaßte, aus englischen oder amerikanischen Seestädten datirte Schriftstücke legte er bei Seite; er verstand sie nicht. Die Adresse richtete sich zumeist an Herrn Christian Zehren, nur in vereinzelten Fällen an eine Firma C. Frickhöffer; die Briefe letzterer Art waren sämmtlich über zehn Jahre alt, und der Commissar erinnerte sich gehört zu haben, daß der verstorbene Zehren die Fabrik vor etwa zehn Jahren erst übernommen habe und daß der frühere Inhaber, muthmaßlich jener Frickhöffer, zuvor durch einen Pistolenschuß den freiwilligen Tod gesucht.
Soweit Donner sah, waren die Briefe der Mehrzahl nach als Geschäftsbriefe zu bezeichnen. Der alte Herr Christian Zehren mußte ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen sein, denn vielfach handelte es sich um Maßnahmen, auf kürzestem Wege über Conjuncturen Nachricht zu erhalten und günstige Gelegenheiten schleunigst zu benutzen, welche sehr außer der Sehweite des Rheinländers lagen. Andere Briefe setzten einen früheren persönlichen Aufenthalt des Verstorbenen jenseits des Oceans voraus, freundschaftliche Beziehungen pflegend und an Vergangenes erinnernd, meist nur in Andeutungen, welche dem Polizeimanne bei ihrer Dunkelheit kaum mehr Interesse abgewannen, als die Briefe der erstbezeichneten Art. Das Leben eines Heiligen hatte Christian Zehren in der Fremde nicht geführt.
Das Gesicht des Commissars begann sich zu verfinstern. Er schüttete den gesammten Inhalt des Kastens auf den Tisch. Ein paar veraltete Contracte und Quittungen ausgenommen, wollte sich auch hier nichts finden, was sich inhaltlich von den Bestandtheilen der ersten Partie unterschieden hätte. Der fieberhaft Suchende wühlte sich ungeduldig in dem kurzen, spärlichen Haar und drehte die Enden seines Schnauzbartes. Aber lesen mußte er. Die Kukuksuhr, welche über dem Tische an der Wand hing, rückte mit gleichmäßiger Sicherheit die Zeiger vorwärts, und der Commissar fuhr auf, wenn nach dumpfem Knarren der Ruf des Vogels sich hören ließ. Draußen krähten in der Ferne die Hähne, und bellende Hunde antworteten einander durch die lichte Sommernacht, aber er wußte nichts davon.
Er las noch immer, als die Morgendämmerung das Mondlicht ablöste und die Kühle des erwachenden Tages ihn frösteln machte. Eine Zeit lang beachtete er diese Empfindung nicht; dann stand er auf und suchte seinen Mantel, den er sich umlegte. Er spürte, wie seine Augen übernächtig brannten, goß aus einer Caraffe Wasser in ein Glas und benetzte die Augen damit. Dann setzte er sich wieder.
Unter den nächsten Briefen fanden sich einige, welche sich durch die nämlichen, merkwürdig verschnörkelten Schriftzüge auszeichneten. Sie stammten aus der Mitte der dreißiger Jahre, und waren an die Adresse C. Frickhöffer gerichtet. Es waren dies die ersten, welche Donner's Aufmerksamkeit erregten, obschon sie nichts von Dem enthielten, was er eigentlich suchte.
Der Unterzeichner nannte sich Hendricks. Er kündigte im ältesten der Briefe an, daß er bereit sei, Herrn C. Frickhöffer von einer gefährlichen Geschäftsconcurrenz zu befreien, wenn dieser auf gewisse Bedingungen eingehen würde, über welche er sich mündliche Rücksprache vorbehalte. Zwischen diesem und dem nächsten Schreiben mußten die Verhandlungen stattgefunden haben und zu einem Abschlusse gediehen sein, denn der nämliche Hendricks erklärte des Genaueren, wie weit er mit den Vorbereitungen gediehen sei, um die Wattenfabrik H. und H. zu Falle zu bringen. Diese Buchstaben fanden sich auch in den folgenden Briefen wiederholt vor. Der Plan war im Grunde ein teuflischer: der mit Hendricks Unterzeichnete mußte in vertrauter Verbindung mit der bedrohten Firma stehen und die Mittel zur Verfügung haben, ihr jeden Credit zu rauben, ihre pecuniären Verhältnisse zu zerrütten und ihren Verrieb zu unverhältnißmäßigen Opfern anzuspannen. Es hieß an einer Stelle, daß die neuen Maschinen richtig angeschafft seien und daß der Erfinder, dem gegebenen Rathe entsprechend, die horrende Summe beansprucht und erhalten habe. Daneben fanden sich genaue Zahlenangaben über eingezogene Gelder vor, welche bei Seite geschafft und bei einem Londoner Banquier deponirt worden seien, sowie Namen von Kunden der Firma H. und H., welche ihre Geschäftsverbindung mit derselben zu Gunsten der Erzeugnisse des Adressaten aufgelöst hätten. Zuweilen wurden Klagen beschwichtigt, Zahlungsraten gefordert.
Das wichtigste unter diesen Schriftstücken war ein kurzes, eilig geschriebenes Billet. Es lautete: „Ich besitze noch ein paar Wechsel, die H. in blanco unterschrieben hat, mit einem Accept der Firma S. und Compagnie von meiner Hand versehen. Todte können nicht reden, und H. ist, sobald Sie wollen, der Schuldige. Die Blättchen liegen für Sie bereit; zahlen Sie den Rest gegen Tausch, dann haben Sie die Sache in der Hand, und ich verschwinde in einem Urwalde, um über den Leichtsinn nachzudenken, der mich genöthigt hat ein Schurke zu werden.“ Die Frage zu entscheiden, wer jener H. war, dafür existirte ein einziger, aber genügender Anhalt. Der vorletzte Brief sprach mit einem gewissen Triumphe von einem Todesfalle, und an einer Stelle war der Name des Todten, wahrscheinlich durch Unachtsamkeit, ausgeschrieben. Dieser Name lautete: Hornemann.
Es war eine schreckliche Sprache, welche diese vergilbten Blätter redeten. Sie erzählten im Lapidarstyle die Geschichte eines Wildes, das von einer Parforcejagd zu Tode gehetzt wird. Es klang wie die Zurufe von Jägern, welche das Wild in Sicht haben und verloren wissen, wie wildes Hussah! und Peitschenknallen und Kläffen der Meute, und zum Schlusse scholl das Hallali! und blinkte das Messer. Aber wer diese Blätter las, der hörte noch etwas Andres, nämlich die Angst der Creatur, das Lechzen und Stöhnen, den fliegenden Athem und das verzweifelte Hasten, um zu entrinnen, den Sturz und das Röcheln des Todes; von alledem stand nichts geschrieben, aber zwischen den Zeilen hervor quollen die furchtbaren Bilder und Töne.
Der Commissar empfand nichts von den allgemein menschlichen Gefühlen des Mitleids und der Entrüstung; ein Criminalfall [112] flößte ihm kein anderes als ein rein sachliches Interesse ein. Indessen regte das Raffinirte dieser Schurkerei ihn so lebhaft an, daß er dieselbe einen Augenblick wie etwas Gegenwärtiges betrachtete und während des Lesens seiner Müdigkeit vergaß. Erst als er mit dem letzten Blatte zu Ende war, dachte er daran, noch einmal die Daten zu vergleichen. Die Geschichte war eben alt, fast fünfzehn Jahre. C. Frickhöffer, aus dessen vergessenen Papieren Herr Christian Zehren das aufgehoben haben mochte, was ihm bemerkenswerth erschienen, moderte mit zerschossenen Schläfen im Grabe; jener Hendricks war allem Vermuthen nach für immer verschollen, und die unterschlagenen Gelder waren jenseits des Oceans durch tausend Hände gewandert; Hornemann war ja auch todt. Die Sühne des Todes lag über dem Verbrechen. Aber Hornemann – wer war das? Donner kannte die Familie dieses Namens, den wunderlichen Pascha vom Wiedenhofe, welcher als Agent einer Anzahl überseeischer Firmen thätig war, dessen schöne Schwester und die Mutter, welche den Droguenladen am Canal besaß. Stand diese Familie in Beziehung zu dem dunklen Geheimnisse, von dem jene Blätter dort plauderten? War das verstorbene Familienhaupt mit dem Hornemann dieser Briefe identisch? Wenn dies der Fall war, dann lag wohl die Möglichkeit offen, auch hinter die Buchstabenräthsel der angedeuteten Firmen zu kommen.
Aber was für ein praktisches Interesse konnte es haben, ein fünfzehn Jahre altes criminalistisches Räthsel zu lösen, dessen Folgen allem Anscheine nach verwischt waren und wobei es Niemanden mehr zu bestrafen gab?
Donner legte die Briefe getrennt von dem großen Haufen und stöberte, von Neuem seiner eigentlichen Fährte nachgehend, den Rest durch. Die schlafende Frau nebenan in der Kammer beschäftigten mancherlei Morgenträume, und ihre unzusammenhängenden Worte verschmolzen mit dem Knistern der Blätter.
Endlich sprang der Commissar auf und preßte einen Fluch zwischen den Zähnen hindurch: seine Mühe war vergeblich gewesen. Er warf eine Faust voll Briefe nach der andern, sie rücksichtslos zusammenknitternd, in den Kasten, nur die einzigen, welche sich auf den Fall Hendricks’ bezogen, ließ er zurück; zuletzt schlug er den Kasten heftig zu und schloß ihn ab, worauf er eine Weile überlegte.
„Ich behalte diese Briefe,“ murmelte er entschlossen. „Ich werde erfahren, ob sie auf jene Hornemann’s Bezug haben und ob sie zu irgend etwas zu brauchen sind.“ Er nahm die Briefe auf und barg sie in einem Schubfache seines Schreibsecretärs; dann schritt er in die Kammer und schüttelte die Schlafende am Arme, der über den Bettrand herunterhing, bis sie erwachte.
„Bist Du schon aufgestanden?“ fragte sie verwundert, indem sie sich halben Leibes aufrichtete und die Augen rieb.
„Ich will erst schlafen,“ entgegnete er verdrießlich. „Vor sieben Uhr brauchst Du mich nicht zu wecken, Marie; es müßte denn etwas ganz Besonderes passiren. Vorläufig kümmere Dich weiter um nichts, was mich betrifft!“ Er warf sich in voller Kleidung auf die Steppdecke und zog den Mantel über sich. Wenige Augenblicke später verkündigten seine schnarchenden Athemzüge, daß er fest eingeschlafen war. –
Es war bereits acht Uhr vorüber, als sich Donner schon wieder auf dem Wege nach dem „Fuchseisen“ befand, wie der Volkswitz das Polizeigefängniß benannte. Von den Folgen einer durchwachten Nacht spürte er nur wenig; das Nervensystem dieses Mannes schien aus Fäden von Stahl zu bestehen, wie es denn Niemand in der Stadt gab, der da hätte behaupten können, ihn leidend gesehen zu haben. Dennoch war seine Laune keine rosenfarbene. Um vieles deutlicher als in der verflossenen Nacht sah er jetzt im Sonnenlicht, wo die Morgenluft so frisch und nüchtern um ihn wehte, das Voreilige der Verhaftung Zehren’s. Dazu bewegte sich allerlei vor seiner Erinnerung, was die Behörde betraf, vor welcher er diese Verhaftung rechtfertigen mußte. Die politische Gesinnung der städtischen Obrigkeit lag für ihn völlig im Nebel, und das allein genügte, einen stillen Verdacht in ihm aufkeimen zu lassen, der in Worte umgesetzt etwa lautete: Wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Aber um diesen Verdacht schossen sofort einige Reminiscenzen an wie Eisenfeilspähne um den Magnet, und wie diese magnetisch werden, so hauchte jene der Verdacht an. Warum war vor Kurzem erst so dringend die Verlegung von Militär in die Stadt abgewehrt worden? Warum hatte man ihn wenige Wochen zuvor plötzlich in einer unbedeutenden Commission nach auswärts gesandt, während er drei flüchtigen Polen so nahe auf den Fersen gewesen? Die einzigen Aufträge, welche sich auf politische Vergehungen bezogen, waren seinem Collegen übertragen worden, der sich ebenso durch bemerkenswerthe Ungeschicklichkeit ausgezeichnet hatte, wie er selber Eifer und Glück zu zeigen pflegte. Warum? Weshalb war er überhaupt nicht beliebt und bevorzugt bei seiner Brauchbarkeit und Pflichttreue?
Er hatte noch nie an die Möglichkeit gedacht, daß die letztere Eigenschaft ihn mit seinen Vorgesetzten in Conflict bringen könnte, und er hätte nicht die Träume von Carrière und Auszeichnung im Kopfe haben müssen, um nicht eine gewisse innerliche Schwüle bei diesen Gedanken zu empfinden. Dieser Zehren im Polizeigefängniß konnte ihm fatal werden, und es war das Klügste, wenn er dessen Entlassung bewirkte und die ganze Angelegenheit vertuschte, bis er zum mindesten besser mit Belastungsmaterial gerüstet war.
Der Entschluß machte ihn ruhiger. Er kam auf den Marktplatz, in das Gewühl eines Wochenmarktes. Während der Duft von frischem Gemüse und Blumen, zwischen die er trat, seine Nüstern streifte und durcheinander wirrendes Schreien und Summen sein Ohr umtönte, spähte er mit übergehaltener Hand nach einem Polizisten, den er hier mit Sicherheit vermuthen durfte. Der nächste war zwischen den Strohhüten und rothen Kopftüchern der Butterweiber sichtbar, und Donner schritt, ziemlich unbekümmert um das Geschick der Waare, durch welche seine plumpen Stiefel sich den Weg bahnten, auf denselben zu. Er gab ihm den Auftrag, sofort den Kasten, welcher in seiner Wohnung bereit stände, in das Zehren’sche Haus abzuliefern. Dann verließ er den Markt, um das Polizeigefängniß aufzusuchen.
Das „Fuchseisen“ war ein schmaler, hoher Bau, dessen Aeußeres ziemlich verwahrlost aussah. Der Kalkbewurf hatte stark von der Feuchtigkeit gelitten; große Stücke waren herausgefallen. In den Fugen der steinernen Fensterumrahmungen und da, wo die Eisenvergitterung in den Stein mündete, hatte sich fettgrünes Moos angesetzt. Der Invalid, welcher den Schließerposten bekleidete und welcher den Commissar durch das Fenster bemerkt hatte, kam Donner entgegen, als derselbe eben die schwere beschlagene Eichenthür aufgedrängt hatte, und grüßte militärisch.
„Was macht der Gefangene, Marquard?“ fragte der Commissar kurz.
„Sehr ehrenwerther Mann; nicht gemuckst, Herr Commissar,“ war die stramme Erwiderung des Freiheitskriegers. „Wollte bei Nacht noch Billet an gewissen Hornemann schreiben; ging natürlich nicht an. Heute Morgen Frühstück besorgt für sein Geld.“
„Es ist gut. Schließen Sie mir seine Thür oben auf und lassen Sie mich allein mit ihm!“ Donner stieg langsam voraus, die schmale steinerne Wendeltreppe empor, und der Alte stampfte ihm nach, sobald er die Schlüssel geholt hatte.
Zehren saß beim Eintritte der Beiden auf einem Holzschemel und blickte durch’s Fenster in den engen Gefängnißhof. Er hatte weder das Geklirr der Schlüssel noch das Knarren der Thür vernommen und gewahrte die Anwesenheit des Commissars erst, als ihm dieser die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Sein Aeußeres war etwas vernachlässigt im Gegensatze zu seiner sonstigen Erscheinung, sein schlichtes Haar nur oberflächlich geordnet. Die lichtblauen Augen richteten sich fragend, ohne sichtliche Aufregung, auf den Beamten, der ihm mit einem Anfluge von Verlegenheit zunickte. Zehren griff wieder zu seiner Tafel, während der Schließer die Thür einklinkte.
„Sie sind frei,“ sagte Donner deutlich.
Der Fabrikant hatte dies verstanden, aber die Eröffnung machte durchaus nicht den gehofften Eindruck. „Frei?“ wiederholte er; „frei, ohne Verhör, ohne vor einen Richter gestanden zu haben? Sie scherzen, Herr.“
Der Commissar zuckte die Achseln.
„Auf diese Art Freilassung werden Sie mir erlauben zu verzichten,“ fuhr Zehren sehr kühl fort. „Ich denke, der Richter wird entscheiden, ob ich das Recht habe frei zu sein; ich begehre keine Freiheit von Ihrer Gnade, mein Herr Commissar, nachdem Sie mich gezwungen haben, eine Nacht in dieser elenden Zelle zuzubringen. Ich wünsche vielmehr ein- für allemal einen Verdacht auf Ihrer Seite zu entkräften, der mir eine geheimnißvolle Warnung eingetragen hat.“
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In der westfälischen Grafschaft Mark bei Haspe führt von der Ennepe eine schattige Straße an industriellen Anlagen vorbei durch eine Thalsenkung hinauf zur Höhe, auf der das Haus und Gut Harkorten liegt. Das Haus ist merkwürdig durch sein Alterthum und durch seine gesunde herrliche Lage mit überraschender Aussicht. Aber nicht diese Lockungen für einen Touristen führten mich hinauf, sondern ein tieferes innigeres Interesse; die Pietät und Verehrung für einen der verdienstvollsten Männer Westphalens leiteten meine Schritte. Ich wollte die Stätte sehen, aus der Friedrich Wilhelm Harkort, Hauptmann außer Diensten, am 22. Februar 1793 als einer der sechs wackren Söhne Johann Caspar Harkort’s das Licht der Welt erblickte. Die Nr. 2 der „Gartenlaube“ von 1870 brachte das gelungene Portrait dieses „alten Fritz in Westphalen“ mit dem trefflichen Charakterbilde aus der schwungvollen Feder des Dichters Emil Rittershaus.
Harkorten, seit etwa drei Jahrhunderten die Wiege und der Sitz der Familie Harkort, liegt prächtig da oben; der Blick beherrscht die Höhen diesseits und jenseits des Ennepethales und ruht auf den abwechselnden Bildern von Tannenwald, Buchen und Eichen, Feldern und Wiesengrün. Quellwässer rieseln von verschiedenen Seiten durch Wiesen und Gärten und bilden Fischteiche in mehreren Etagen das waldige Thal hinunter bis zur Ennepe. Dort rechts vom Stammhause, an einem Fischteiche und Obstgarten staunt der Wandrer über die ehrwürdige Eiche, deren Stamm sechsundzwanzig Fuß im Umfange hat und die, knorrig, fest und zäh, wohl über fünfhundert Jahre den Stürmen der Zeit getrotzt hat.
Es ist ein ausgedehnter Besitz, den die Meisterhand der Natur so mannigfaltig gestaltet hat. Alles erscheint hier so ursprünglich, so naturwüchsig. – Die Gebäude der Familie bilden ein Conglomerat aus den letzten Jahrhunderten. Da steht eine Scheune aus dem sechszehnten Jahrhundert mit dem Namen des Erbauers, Heinrich Harkort, ein Haus vom Jahre 1686 und ein anderes großes Haus von 1705, in dem Joh. Casp. Harkort, der älteste zweiundneunzigjährige Bruder von Fritz Harkort, lebt.
Das Stammhaus, welches obiges Bild darstellt, wurde 1756 erbaut. Eine breite steinerne Treppe führt zur Hausthür und in einem großen Hausflur, an den sich rechts und links die geräumigen Zimmer anschließen. Bemerkenswerth ist die kräftige, schöne Arbeit in Eichenholz an den großen Flügelthüren, Wandbekleidungen, zahlreichen Schränken und Treppen. Um den breiten Kamin im oberen Stocke sind die Geschäftsbücher von circa zweihundert Jahren aufgestellt. In einem der Wohnzimmer sah ich die Oelgemälde von Fr. Harkort’s Mutter geb. Elbers, von seinem ältesten Bruder und dessen Frau, deren Sohn, auch Joh. Caspar genannt, mit seiner Familie dieses Haus bewohnt. Derselbe [114] ist in der industriellen Welt besonders durch seine Brückenbauten und durch die riesige eiserne Rotunde der Wiener Weltausstellung berühmt; er hatte den Schmerz, seinen einzigen Sohn als ein Opfer des letzten französischen Krieges, in welchem derselbe als Officier mitkämpfte, zu verlieren.
Aus Harkorten, diesem sozusagen patriarchalisch verehrungswerthen Familiensitze, ist unser Fritz Harkort hervorgegangen; hier verlebte er seine Jugend, der Veteran der Befreiungskriege, welcher 1815 in der Schlacht von Ligny von zwei Kugeln verwundet wurde, ein ganzer echter Volksmann, dem das Land eine rastlose Thätigkeit von sechszig bis siebenzig Jahren für das Volkswohl verdankt. Eine lebendige Ehrensäule Westphalens! Er hat vielseitig in das industrielle Leben eingegriffen und dem Gewerbefleiße, dem Handel und Verkehre die Wege gezeigt und gebahnt. Er reiste nach England und schaffte Maschinen in Stücken über See, weil engherzige Handelspolitik zu der Zeit die Ausfuhr der Maschinen verbot; die einzelnen Stücke wurden dann in seiner Heimath zusammengefügt. Er errichtete um’s Jahr 1822 eine Maschinenwerkstatt in Wetter, aus welcher im folgenden Jahre die erste Dampfmaschine hervorging; er errichtete das erste Puddlings- und Walzwerk im Jahre 1826 und um’s Jahr 1830 legte er die Schlebusch-Harkorter Industriebahn, eine Pferdebahn, an, die heute noch besteht und in der Folge mit Locomotiven befahren wird. Für Förderung der Bergwerke machte er die ersten Tiefbau-Anlagen in Zechen. So war er auf verschiedenen Gebieten für Industrie und Handel, Schifffahrt und Verkehr thätig. Reich an Ideen, seiner Zeit vorauseilend, machte er Pläne und Entwürfe, immer bedacht, seine Kenntnisse und Erfahrungen dem Wohlstande des Landes zu widmen. Sein Wirken und seine Anregungen haben sichtbare, großartige Früchte gezeitigt. Wie er im öffentlichen Leben, in den Landtagen, in Versammlungen, durch Wort und Schrift für Freiheit und Recht, für Wahrheit, Bildung und Gesittung, für die Schulen und für die Verbesserung der Lage der Lehrer unermüdlich gewirkt, ist allgemein bekannt und wird dankbar anerkannt.
Als nach dem letzten Kriege die traurigen Symptome der Verwilderung besonders unter der Arbeiter-Bevölkerung hervortraten, veröffentlichte Harkort in den Blättern eine Brutalitäts-Statistik, sodaß die Aufsichtsbehörden und Gesetzgeber auf Abhülfe hingewiesen wurden.
Vortrefflich ist der Arbeiter-Katechismus, welchen Harkort vor zwei Jahren herausgab. Das sind goldene Lehren. In dem kleinen Buche ist nichts zu viel und nichts zu wenig, keine leere Phrase, Alles aus dem Leben, aus der Erfahrung gegriffen, Alles so wahr und klar und so volksthümlich geschrieben. Wenn die Arbeiter, statt den Lockungen und Hirngespinnsten der Socialdemokraten zu folgen, die Lehren und Wahrheiten dieser Schrift beherzigten, so würde es besser um sie, um ihre Familien und um das Gemeinwohl bestellt sein. Die schwere industrielle Krisis, welche jetzt auf dem Volke lastet, würde leichter überwunden und eine bessere Zukunft angebahnt werden.
Als nach den ruhmreichen Siegen des deutschen Heeres das langersehnte deutsche Reich erstanden war, ging aus dem deutschen Volksgewissen der Protest gegen die vaticanische Unfehlbarkeits-Erklärung hervor. Seit Hermannn’s Zeiten war es ja die Mission Deutschlands, gegen die römische Universalherrschaft der Cäsaren und der Hierarchie, für die nationale Unabhängigkeit und für geistige Freiheit zu kämpfen. War auf den Schlachtfeldern die äußere Freiheit errungen, so mußte eine Bewegung, welche die innere geistige Befreiung vom Romanismus erstrebte, die deutschen Patrioten begeistern, und so kam auch Harkort im Jahre 1872 auf den Altkatholiken-Congreß nach Köln. Damals sagte er mir: „Ich kann nicht von dannen gehen, ohne Ihnen zu versichern, daß das, was ich auf dem Congreß und in der Predigt des Herrn Pfarrers Tangermann vernommen habe, mich mit großen Hoffnungen erfüllt. Ich nehme freudige Zuversicht für unsere deutsche Zukunft mit. Die Bewegung für die Reform der katholischen Kirche wird ihr Ziel erreichen, und ich werde in meiner Gegend dafür wirken.“
Zu Pfingsten vorigen Jahres erschien Harkort auf dem Hanseatischen Geschichtscongreß zu Köln und wohnte von Morgens bis Abends den interessanten Verhandlungen und der Besichtigung der vielen alten Baudenkmale bei. Abends veranstaltete die Lesegesellschaft ein Fest zu Ehren des Congresses. Welche Freude, als man die hochgewachsene Gestalt Harkort’s mit den Silberhaaren im Saale erblickte! Frau Lina Schneider begrüßte die Versammlung mit einem schwungvollen Prolog, in welchem sie eine Strophe für Harkort improvisirte, die mit rauschendem Beifalle erwidert wurde. Gegen Mitternacht erhob sich Harkort und richtete eine gediegene Ansprache an die zahlreiche Versammlung.
Da kam ein Herr an unsern Tisch, an dem Harkort saß; er betrachtete ihn und sagte mir dann: „Also das ist Harkort, der Mann, welcher das erste Puddlings- und Walzwerk in unserer Provinz errichtet, welcher die erste Dampfmaschine daselbst gebaut hat, welcher das erste Dampfschiff auf den Rhein und das erste Dampfschiff auf die Weser gebracht hat!“
Ich antwortetet „Ja, das ist derselbe Mann, und ich erinnere mich der Zeit des ersten Dampfschiffes; es war um’s Jahr 1825, als wir Jungen von der Schule zum Rheine liefen und das Wunder der Zeit, den Dampfer, die Wellen durchschneiden sahen. Das war der Anfang, welcher so riesige Folgen für den rheinischen Verkehr hatte; eine mächtige und prächtige Dampferflotte fuhr bald auf- und abwärts den deutschen Strom, und immer größer, schöner und schneller wurden die Dampfboote, bis zu den schwimmenden Palästen der neuern Zeit: ‚Humboldt‘, ‚Friede‘, ‚Deutscher Kaiser‘ etc.“
Etwa zehn Jahre später (gegen 1835) war Harkort beschäftigt, das Dampfroß für den Landverkehr in die Provinz einzuführen. Er machte das Project einer Eisenbahn von Köln nach Minden, welche von Köln nach Elberfeld in das industriereiche Wupperthal und über Hagen, Hamm nach Minden führte. Sein damaliger junger Lehrling Tangermann, im Zeichnen sehr geschickt, machte nach seiner Anleitung Karte und Plan. (Jener Lehrling ist der jetzige altkatholische Pfarrer und Schriftsteller Dr. Tangermann in Köln, dessen Charakterfestigkeit seines frühern Principals Harkort würdig ist; denn als Pfarrer von Unkel hatte er den sittlichen Muth, zuerst gegen das neue vaticanische Dogma öffentlich zu protestiren und eine schöne Pfarrstelle seiner Ueberzeugung zu opfern.) Die jetzige Köln-Mindener-Bahn wurde etwa zehn Jahre später ausgeführt.
Als wir am 24. November vorigen Jahres den rheinischen Volksmann, „den alten Fuhrmann“ Justizrath von Zuccalmaglio in Grevenbroich, einen alten Freund und Gesinnungsgenossen Harkort’s, zur Erde bestatteten, verbreitete sich die Kunde, daß Harkort erkrankt sei. Ich eilte den folgenden Sonntag zur Bahn; der Zug sauste an Harkorten, an Herdecke, wo Harkort den hohen Thurm auf dem Berge zu Ehren des berühmten Staatsmannes Freiherrn von Stein erbaut, und an Wetter, dessen Wohlstand durch Harkort’s industrielle Schöpfungen erblühte, vorbei; so näherten wir uns Barop, und aus dem Wagen blickten die Leute sympathisch hinunter auf das alte Haus mit den Worten: „da wohnt unser Harkort.“ Ich eilte hin. Das Haus liegt in der Nähe verschiedener industrieller Anlagen Harkort’s isolirt, umgeben von Wiesen, Obstgärten und schattigen Baumgruppen. Da stand auf grünen Rasen Tisch und Bank, wo eine seiner Enkeltöchter ihn im Sommer vorliest. Ich trat besorgt über die Schwelle, eine Dame begrüßte mich huldreich; es war seine jüngste Tochter Anna, jetzige Frau Generalin M. Sie sagte mir, ihr Vater befinde sich Gottlob besser und sie wolle mich anmelden. Sie kam zurück und bemerkte, er habe verlangt, daß sie ihm zuerst das sonntägliche Evangelium vorlese. Sie nahm die Bibel und erfüllte den frommen väterlichen Wunsch. Dann führte sie mich in sein Zimmer, und ich war erfreut, ihn auf dem Sopha sitzend wohl und munter zu finden. Mit vielem und lebhaftestem Interesse sprach er vom Geschichts-Congreß zu Köln und daß er nächstes Jahr mit dem Congreß auf Rügen tagen wolle; er sprach von Fortbildungsschulen für Mädchen, da die Bildung der Frauen für die National-Wohlfahrt von der größten Wichtigkeit sei. Wir gingen zu Tisch; die Unterhaltung war lebhaft, und die Krankheit schien überwunden. Beruhigt konnte ich mich verabschieden von den verehrten Freunde und von dem Hause Hombruch bei Barop, in welchem die musterhafte Einfachheit, der liebenswürdige Verkehr der Familie und die herzlich biedre Gastlichkeit den wohltuendsten Eindruck auf mich gemacht hatten. Ich versprach seinen fünfundachtzigsten Geburtstag am 22. Februar mit Freund Emil Rittershaus bei ihm zu feiern und ein Glas Rheinwein auf sein Wohl zu trinken.
Von Fr. Helbig.
Jetzt, wo bei Carolinen auch noch die Sprache des Herzens offenkundig redete, drängt der Gedanke, daß die Schwester weit mehr zu Schiller’s Wesen passe, daß sie sein, des Geliebten, Glück weit eher begründen könne als sie, immer mehr sich bei Lottchen vor. Sie zieht ihr Herz immer scheuer zurück und giebt sich den Schein der inneren Gleichgültigkeit. Unter diesem Eindrucke erfolgt ein zweiter Besuch Schiller’s in Rudolstadt in der Mitte des Juni. Er war mit dem sichern Vorsatz gekommen, Lottchen sich zu erklären. Es war ein schöner warmer Sommertag. Die weißen Lilien im Garten verbreiteten weithin ihre berauschenden Düfte. Die Rosen glühten, und wie Liebesgeflüster zog die Luft durch das herzförmige Blättergezweig der Pappeln, welche vor dem Gartenhäuschen standen. Glühend lag es dem Dichter auf den Lippen und drängte zum Ausdruck, aber der große Kenner des weiblichen Herzens, der Schöpfer heißliebender Frauengestalten hatte nicht den Muth des eigenen Geständnisses. Auch dieser Besuch verlief wieder resultatlos. Die Zurückhaltung Lottchens deutete Schiller als Kälte, als Abneigung. Der Dämon des Zweifels an ihre Liebe stieg in ihm auf und setzte an die Stellen der freien Leidenschaft ein grübelndes Empfinden. Er redete ihm ein, daß sein Geständniß „die schöne Harmonie der Freundschaft zerstören könne, daß er mit ihm auch das verlieren könne, was er schon besaß, an Beiden besaß“, und doch mußte er sich wieder sagen; „sie kann ohne dich vielleicht glücklich sein, aber durch dich nie unglücklich werden; sie kann sich wohl einem Andern schenken, aber Keiner kann sie reiner und zärtlicher lieben als du; Keinem kann ihre Glückseligkeit heiliger sein, als sie es dir ist und sein wird“. Dann meinte er wohl wieder, es bestehe eine geheime Abmachung zwischen den Schwestern, „die eigenen Herzenswünsche dem Zwange der Freundschaft zu opfern, die gemeinsame Freundschaft nie zur Liebe zu kehren, sondern sie sich ohne Liebe vollenden zu lassen“.
In gleicher Weise hob sich in der Seele Lottchens das Gefühl, daß sie „ihm nichts, gar nichts mehr wäre, und die Schwester mehr, weit mehr – Alles“, und doch sagte auch sie sich wieder, daß „sich kein fremdes Wesen außer ihr befände, das ihn durch wahre innige Liebe beglücken, so beglücken könne wie sie“.
So wogte der Kampf selbstquälerisch hin und her, und nirgends zeigte sich der Pfad zum Siege.
Im Juli reisten die Schwestern Lengefeld nach Lauchstädt, einem in der Nähe von Merseburg liegenden Bade, das durch die sommerliche Anwesenheit der weimar-goethischen Schauspieltruppe einen gewissen classischen Nimbus erhalten hat. Auf dem Wege dahin wurde Jena berührt. In dem rosenduftenden Garten der Frau Kirchenräthin Grießbach trafen sich Abends wieder die Drei. „Nie,“ schrieb später Schiller; „hatte ich Ihnen so viel sagen wollen, wie an diesem Abende, und – nie habe ich Ihnen so wenig gesagt. Was ich so bei mir behalten mußte, drückte mich nieder, und ich wurde Ihres Anblickes nicht froh.“ Freilich traf dabei die Hauptschuld die redselige Frau Kirchenräthin. Sie sorgte dafür, daß die Liebenden, von deren Liebe sie nichts ahnte, weder zu sich, noch überhaupt zum Worte kommen konnten. Eine noch größere Hoffnung schien Lottchen auf die Zusammenkunft gesetzt zu haben. Dies folgt aus der Größe ihrer Enttäuschung. „Sie können nicht glauben,“ schreibt sie, „wie mir der Abend war. Wenn ich Ihnen je Unrecht gethan hätte und mich an Ihnen versündigt, so wäre dieser Abend eine Vergeltung des strafenden Himmels, und ich hätte gewiß für alle Sünden gebüßt.“ Die ungewollte Kälte Schiller’s rief in ihr die ganze Gewalt der Liebe wieder in’s Wachen. Nie war die Situation peinlicher, nie unbehaglicher gewesen. Sie erzeugte eine beiderseitige Verstimmung, die sich auf die ganze Umgebung ablagerte. Alles ist ihnen armselig, schaal und erbärmlich. Alles ist nur fade alltägliche Waare, und die armen Frauen in Jena besonders galten Schiller als ein „erbärmliches Geschlecht“. Jene Spannung, war noch dadurch erhöht worden, daß die Mutter mit Lottchen Heirathspläne vorhatte und sie zu einer standesgemäßen Heirath zu vermögen suchte. Alles drängte so peinlich zur Entscheidung.
Da besuchte Schiller auf einer Reise nach Leipzig zu Freund Körner die Schwestern in Lauchstädt. Am Morgen des dritten August, als er eben im Begriffe stand wieder abzureisen, erfolgte eine entscheidende Erklärung, aber nicht von seiner, noch weniger von Lottchens Seite. Vielmehr war es Caroline, welche ihm die tiefe Liebe der Schwester und seine nicht vergebliche Werbung um ihr Herz offenbarte. Sie zerriß mit einem Male die hochgehende Spannung. Die Großherzigkeit dieser Handlung wird dadurch nur noch mehr bestätigt, daß Caroline in ihrem „Leben Schiller’s“ sie verschweigt. Sie wies damit die Leidenschaft Schiller’s in ihre naturgemäße Bahn und zugleich – ihre eigene. Lottchen mochte ihr ihre tiefe Neigung zu Schiller wohl vertraut haben. Sie konnte ihrem scharfblickenden und vorahnenden Geiste ohnedies nicht entgangen sein. Längst gewöhnt an das Wünscheversagen, ergriff sie diese neue Gelegenheit, es zu bethätigen. Lottchen spielte bei dieser Eröffnungsscene, wenn sie überhaupt bei derselben persönlich. zugegen war, nur eine schweigende Rolle. In tiefer Erregung bestieg Schiller den Leipziger Postwagen. Noch am Abend schrieb er von Leipzig aus an Lottchen, um sich von ihr die Gewißheit dessen zu holen, was ihm der Mund der Schwester anvertraut hatte. „Ist es wahr? Darf ich hoffen, daß Caroline in Ihrer Seele gelesen hat und aus Ihrem Herzen mir beantwortet hat, was ich nicht getraute zu gestehen? … Vergessen Sie jetzt Alles, was Ihrem Herzen Zwang auflegen könnte, und lassen Sie nur Ihre Empfindungen reden! Bestätigen Sie, was Caroline mich hoffen ließ! Sagen Sie mir, daß Sie mein sein wollen und daß meine Glückseligkeit Ihnen kein Opfer kostet! O versichern Sie mir dieses und nur mit einem einzigen Worte!“
„Schon zweimal habe ich angefangen, Ihnen zu schreiben, aber ich fand immer, daß ich zuviel fühle, um es ausdrücken zu können. Caroline hat in meiner Seele gelesen und aus meinem Herzen geantwortet. Der Gedanke, zu Ihrem Glücke beitragen zu können, steht hell und glänzend vor meiner Seele. Kann es treue, innige Liebe und Freundschaft, so ist der warme Wunsch meines Heizens erfüllt, Sie glücklich zu sehen.“
Das war die einfach schlichte Antwort Lottchens. Und ein paar Tage später schreibt sie: „Noch oft ist es mir wie ein Traum, daß ich nun weiß, daß Sie mich lieben, daß Sie es nun klar fühlen können, wie meine Seele in der Ihrigen nur lebt. Ich möchte, Sie wären hier und ich könnte es Ihnen sagen, nicht durch Worte, sondern in meinen Augen könnten Sie’s lesen.“
Auf der Rückreise von Lauchstädt nach Jena trafen sie wieder im Grießbach’schen Hause zusammen. Hier erfolgte der mündliche Austausch des Geständnisses; das konventionelle „Sie“ verwandelte, sich fortan in das trauliche „Du“. Aus dem unglückseligen Abende von ehedem wurde diesmal ein um so glückseligerer.
Nun ergießt sich frei und ruhig der lange verhaltene Strom einer warmen, wahren und reinen Liebe. An die Stelle des unruhvollen Zweifels ist in Lottchens Seele die Ruhe der Gewißheit getreten. „Nun denk’ ich Deiner mit einer Empfindung voll warmer inniger Liebe und doch mit Ruhe verknüpft, und ich fühle mich glücklich in der Idee, Dir zu gehören, zu den Freuden Deines Lebens beitragen zu können.“
Mit dem heitern Bewußtsein des erlangten Besitzes blickt sie zurück auf die einzelnen Stationen der Entwickelung dieser Liebe, versenkt sich behaglich in deren Werdeproceß. Da erscheint ihr jetzt Manches gar fremd und unbegreiflich, aber das Eine, steht klar und fest vor dem erkennenden Auge: daß sie niemals glücklich geworden wäre ohne ihn. „Ihre Hand hätte sie vielleicht einem Andern geben können nach dem Wunsche der Mutter, nicht aber ihr Herz voll warmer treuer Liebe.“ Und die Liebe gewinnt in ihr immer mehr Stärke, immer mehr Klarheit und Bewußtsein. Vorher war es nur eine wärmere Freundschaft, die sie vielleicht zu Einigen zog, aber nicht das Gefühl, das sie nun belebt – [116] „es war nicht das Streben in meiner Seele, was ich jetzt habe, dieses mächtige Gefühl, für Dich, für Dein Glück zu leben.“
In Lottchens Briefen tritt ebensowohl jener wunderbare seelische Rapport, jenes Nahgefühl der Seelen, jener Magnetismus der Herzen zu Tage wie jenes schmiegsame Hinaufranken an die hier wirkliche, sonst oft nur geträumte Größe des geliebten Mannes. „In jedem Augenblicke fühlte meine Seele Sehnsucht nach Dir, und nur Du bist mir gegenwärtig. … Mir deucht, Du wärest um mich und Du sähest mich überall. Nur dann ist mir wohl, wenn ich mir Dich denken kann, wenn Dein Bild vor mir schwebt. … Es giebt keine Entfernung für Seelen, die sich lieben. Ich fühle es klar, Du bist mir immer nahe. Oft ist mir der Gedanke so auffallend, daß ich Dich nicht sehe und doch Deine Nähe fühle. … Lieber, ich kann Dir so wenig sagen, wie lieb Du mir bist. Meine Seele umschließt Dich – fühle ihre Nähe in diesem Momente!“
„Reich in Deinem Geiste, wird der meine sich freuen dem Fluge des Deinen zu folgen, und in Deinem und meinem Herzen wird ewiger Frühling der Liebe uns blühen.“
Da fehlt auch nicht jener engumschränkte Egoismus der Liebe, der eine eigene Welt von Zweien sich aufbaut und an die ganze übrige Menschheit sich nicht kehrt, ja ihr stolzesfroh und selbstgenug den Rücken kehrt. „Ich vergesse die Welt ganz, wenn ich bei Dir bin, und wir brauchen nichts außer uns.“
Da fehlt auch nicht jene demüthige Selbstverkleinerung, welche in die Hochfluth der Freude einen Tropfen Wehrmuth mischt. „Wirst Du mich auch immer so finden, wie mein Wesen in Deiner Seele steht? Könntest Du Dir nicht zu hohe Begriffe von mir machen? Kann ich Dir auch wirklich so, wie meine warme Liebe zu Dir es möchte, Dein Leben verschönern helfen?“
Aber diese Liebe dringt auch vor bis zu jenem äußersten Höhepunkte, bis zu dem Gefühle der selbstlosen Hingabe des eigenen Lebens als Preis für das Glück des Geliebten. „Ich könnte mein eigenes Glück aufopfern, nur um Dich glücklich zu machen, Dir ein schönes ungestörtes Leben zu schaffen, wenn Du es ohne meine Liebe mehr sein könntest. Dein Glück, Deine Ruhe sind mir das Heiligste, was ich kenne.“
Um das vorgenommene Ziel des harmonischen Ineinanderlebens zu erreichen, giebt sie dem Geliebten eine Selbstkritik ihres Charakters, ihres inneren Wesens. Gern folgt sie ihm auf dem von ihm selbst vorgezeichneten Pfade philosophischer Selbsterkenntniß; deckt mit rückhaltloser Offenheit die Schwächen ihres Charakters auf, erklärt auch den Schein von Kälte und Verschlossenheit, in welchem sie dem Geliebten lange Zeit erschienen, und schließt mit dem Gelöbniß: „Auch in Dein Herz, Geliebter, will ich die geheimsten Gefühle meiner Seele legen, Dir jede Empfindung mittheilen.“
Im scharfen Gegensatze zu der heitern Ruhe Lottchens weckt die Offenbarung der Liebe in Schiller’s brausender Dichterseele eine wilde Unruhe, die sich einerseits in dithyrambischen Ausbrüchen gefällt, andererseits in erneuter Sehnsucht nach dem thatsächlichen Besitze der Geliebten, in lauter Klage über die Unsicherheit des Zeitpunktes der Vereinigung. „Es können darüber ja noch Jahre vergehen. Ungeduldig strebt meine Seele Alles zu vollenden, was noch nicht vollendet ist. Du siehst ruhig der Zukunft entgegen – das vermag ich nicht,“ schreibt er schon in den ersten Tagen nach, der Lauchstädter Erklärung. Da aber, wo das Gefühl seiner Liebe hervorbricht, umkleidet er es mit dem ganzen hohen Pathos, das ihn kennzeichnet. „In einer schönen Welt schwebt meine Seele, seitdem Du die Deine mir entgegenträgst. Du mußt sie mir erzählen, die Geschichte unserer werdenden Liebe … sie muß hinter sich wie vor sich Ewigkeit sehen. … Ich habe nie so frei und kühn die Gedankenwelt durchschwärmen können als jetzt, da meine Seele ein Eigenthum hat und nicht mehr Gefahr laufen kann, sich selbst zu verlieren. Ich weiß, wo ich mich immer wiederfinde.“
Dann wieder bringt er ihr die ganze Wahrheit und Offenheit seines Wesens vertrauend entgegen und heischt von ihr das Gleiche. Nie soll sie von andern Menschen erst erfragen wollen, ob sie glücklich sei durch ihn; ihm gegenüber soll sie es bei sich selber entscheiden; von ihm allein soll sie es erfahren, nie einen Dritten sich zwischen ihn und sich drängen lassen. Er soll ihr erstes Vertrauen haben, ihre erste Instanz sein. In dieser Hingebung, in diesem unmittelbaren Vertrauen findet er die nothwendige Bedingung ihres künftigen Glücks. „Die höchste Annäherung, welche möglich ist zwischen zwei Wesen, ist die schnelle ununterbrochene liebevolle Wahrheit gegeneinander. … Deine Seele muß sich in allen Gestalten vor mir verklären.“
Auf ihre zagende Selbstverkleinerung erklärt er: „Deine Liebe ist Alles, was Du brauchst, und diese will ich Dir leicht machen durch die meinige. “
Auch er legt frei und offen sein inneres Wesen mit all den ihm anwohnenden Schwächen bloß.
„Bereite Dich, edles Geschöpf, in mir nichts zu finden als die Kraft zum Vortrefflichen und einen begeisterten Willen, es zu üben. Deine schöne Seele will ich auffassen, Deine schönen Empfindungen verstehen und erwidern, aber ein Mißton in der meinigen muß Dich weder betrüben noch befremden. Glaube alsdann aber fest, daß diese fremden Gestalten meines Gemüths von außen herein gekommen sind. Bei allen meinen Mängeln wirst Du das immer finden, was Du einmal in mir liebst. Meine Liebe wirst Du in mir lieben.“
Und Caroline?
Man sollte wohl meinen, daß nach der Liebeserklärung Schiller’s gegen die Schwester sie nunmehr ganz in den Hintergrund gedrängt würde, daß sie sich scheide aus dem Dreibunde der Geister und Herzen. Mit nichten. In dem ganzen Entwickelungsprocesse seiner Liebe zu Lotten war sie ein viel zu wichtiger, fast unentbehrlicher Factor gewesen, sie war ihm schon zuviel geworden, als daß er sie hätte aufgeben und scheiden sehen können. Er hatte es wohl herausgefühlt, daß sie in der Hervorlockung des Geständnisses der Schwester das beste Theil ihres eignen Herzens geopfert hatte, und er mochte diese Großmuth nicht mit voller Gleichgültigkeit vergelten. Er glaubte, diese seither gleichsam nur ideell verfolgte Herzensgemeinschaft könne auch da noch bestehen, wo seine Liebe zu Lottchen bereits zur Realität geworden war. Auch jener glaubte er eine reale Basis verleihen zu können; er glaubte das Problem der sagenhaften Doppelehe des Grafen von Gleichen, um den Vergleich eines geistreichen Interpreten dieses Verhältnisses anzuwenden, in idealer Form wirklich durchführen zu können. Folgen wir ihm auf dieser fast Schwindel erregenden Bahn!
Schon unter’m 23. August. 1787, also unmittelbar nach der Lauchstädter Erklärung, schreibt er Carolinen auf deren leider nicht mehr vorhandenen, jedenfalls hochbedeutungsvollen Brief: „Dein Brief, theuerste, liebste Caroline, hat mich tief ergriffen und bewegt, und ich weiß nicht, ob ich Dir sogleich darauf etwas beantworten kann, aber vor meiner Seele steht es verklärt und helle, welcher Himmel in der Deinigen mir bereitet liegt. O was für himmlisch schöne Tage eröffnen sich uns! In mir lebt kein Wunsch, den meine Lotte und Caroline nicht unerschöpflich befriedigen können. Und wohl mir, Theuerste meiner Seele, wenn Ihr in mir findet, was Euch glücklich macht!“
Das Du verschwindet fast ganz aus den Briefen, um dem dualistischen Ihr Platz zu machen, selbst in den glühendsten Ergüssen.
Das heißt es: „Wie so anders ist Alles um mich her, seitdem mir auf jedem Schritte meines Leben nur Euer Bild begegnet! Wie eine Glorie schwebt Eure Liebe um mich, wie ein schöner Duft hat sie die ganze Natur verkleidet. Die Erinnerung an Euch führt mich auf Alles, weil Alles wieder mich an Euch erinnert.“ Und dann wieder: „Ja, eine schöne Harmonie soll unser Leben sein, und mit immer neuen Freuden sollen sich unsere Herzen überraschen. Unerschöpflich ist in ihren Gestalten die Liebe, und die unserige glüht in dem ewig schönen Feuer einer immer mehr sich veredelnden Seele. O, es ist jetzt das einzige Glück meines Lebens, daß Ihr mich in einem Herzen der Liebe tragt. Nur in Euch zu leben und Ihr in mir, o das ist ein Dasein, das uns über alle Menschen um uns hinwegrücken wird.“
Diese Gemeinschaft erstreckt sich sogar bis auf jene Vorrechte, welche Lottchen, die Braut, wohl für sich allein hätte beanspruchen können, auf Umarmung und Kuß, wenn anders die betreffenden Stellen nicht als bloße kühne Metaphern gelten sollen.
Die ausschweifende Einbildungskraft des Dichters sieht hie dreifache Seelengemeinschaft auch in der Zukunft gesichert, ergeht sich in dem Gedanken eines realen Besitzes. „Wäret Ihr schon [117] mein! Wäre dieses jetzige Erwarten das Erwarten unserer ewigen Vereinigung! Meine Seele vergeht in diesem Traume. Schon im lebhaften Gedanken an Euch fühle ich meine Seele reicher, göttlicher und reiner. Ich fühle, wie alles Streitende in mir in einer süßen Harmonie sich versöhnt. Was wird es sein, wenn Ihr mir wirklich gegeben seid, Ihr meine Engel, wenn ich Leben und Liebe von Euren Lippen athmen kann … Eure Liebe ist das Licht meines Lebens.“
Erinnerung aus meinem Wanderleben von F. Sch.[3]
Es war Abend geworden, und noch immer wollte sich das Ziel meiner diesmaligen Wanderung, ein einsames Steppendorf, nicht zeigen. Ermüdet warf ich mich in das kurze, graue, nach Regen lechzende Haidegras und blickte forschend umher, ob sich nicht irgendwo eine Spur von der Anwesenheit menschlicher Wesen entdecken ließe. Aber die ganze weite, nur von fernen Sandhügeln umsäumte Steppe schien öde und ausgestorben gleich der Sahara Afrikas.
Der Anblick war nicht tröstlich, und doch fesselte er mich bald so sehr, daß ich darüber Müdigkeit, Durst und Hunger vergaß, denn fand auch das suchende Auge keinen Strauch, keine Hütte, keinen Bach, keine Hecke und keinen Weg, ja nicht einmal einen Stein als Ruhepunkt, so bot diese monotone, graue Fläche, von den letzten Strahlen der scheidenden Sonne beleuchtet, dennoch ein Bild, unendlich reich an schwermüthiger Poesie und seltener Naturschönheit. Ueber die düstere, dunkelnde Wüstenei spannte sich eben ein unermeßliches, unbewegtes Gewölbe, dessen ganzer westlicher Theil vom Zenith bis zum Horizont in unbeschreiblicher Farbengluth prangte, vom tiefsten Purpurroth bis zum glänzendsten Goldgelb, an das sich wieder das dunkle Violett der Sandhügel abschließend reihte, während drüben im Osten ein silberheller Lichtstreifen auf schwarzblauem Hintergrunde das Erscheinen der nächtlichen Himmelsleuchte verkündete, all diese farbenprächtigen Gebilde aber warfen auf die dunkle Haidefläche ihre riesigen Schattenbilder, über welche ab und zu einzelne Sumpfmöven dahin huschten, mit eintönigem klagendem Schrei nach Atzung haschend für die hungernden Kleinen drüben im fast vertrockneten Moor, wogegen dort am wasserlosen Tümpel um so resignirter ein einsamer Reiher stand, unbeweglich mit gesenktem Kopfe – eine Stellung, ganz entsprechend seinen zweifellos pessimistischen Betrachtungen über die Vergänglichkeit irdischer Frösche.
Wer die Steppe zu solcher Stunde sah, dem wird der mächtige Einfluß der Landesbeschaffenheit auf den Charakter der Bewohner einleuchten; er wird die Schwermuth ungarischer Lieder wie das wilde Feuer der Tänze, des Magyaren fanatische Vorliebe für sein Vaterland wie seinen Stolz, seine gutmüthig eitle Gastlichkeit wie seine Zügellosigkeit begreiflich finden, wird aber auch erkennen, daß ein Volk, welches während einer Jahrhunderte langen Herrschaft inmitten seiner Heimath so riesige, culturfähige Flächen in poetischer Oede erhalten konnte, ein zwar höchst interessantes, nie und nimmer aber ein Culturvolk ist.
Die ernsten, nicht mehr abzuweisenden Mahnungen des Magens entrissen mich endlich meinem Schauen und Sinnen und veranlaßten mich, die letzten Lichtreflexe im Westen zu einem nochmaligen Entdeckungsversuche mittelst meines Taschenperspectives zu benützen. Zu meiner angenehmen Ueberraschung gelang derselbe über Erwarten. In nicht allzu großer Entfernung gewahrte ich einen dunkeln Punkt, über welchem eine schlanke röthliche Rauchsäule die Thätigkeit menschlicher Wesen verrieth. Rasch schritt ich darauf los und erreichte nach kurzem Marsche das improvisirte Lager eines Csikos (Pferdehirten), der eben sein frugales Abendbrod bereitete. Eine passendere Staffage für das stimmungsvolle Steppenbild ließ sich kaum denken. Ich stand vor dem von malerischen Pferdegruppen umgebenen sogenannten „Lager“, einer Art spanischer Wand aus leichtem Rohrgeflecht, welche nur schwachen Schutz gegen Wind und Wetter gewährte. Hinter dem „Lager“ ruhete eine kräftige Männergestalt, mit dem nationalen Hemd bekleidet und mit sichtlichem Behagen die süßen Düfte vaterländischen Tabaks und bratender Kartoffeln gleichzeitig genießend. Bei meiner Annäherung schnaubten die Pferde wild auf über die fremde Erscheinung, und ein paar zottige Hunde fuhren grimmig auf mich los. Der Pfiff ihres Herrn rief sie jedoch alsbald zur Ordnung, worauf dieser selbst mir ein wenig mürrisch und mit dem schweren Fokos (eine Art Beilhammer mit langem Stiel) in der Hand entgegentrat.
Dem gemeinen ungarischen Manne scheint die Sympathie für militärisches Wesen angeboren, vielleicht als Erbe jener Zeit, wo jeder Magyar seinem Fürsten Heeresfolge leistete, wenn es galt, in den benachbarten deutschen Landen gute Beute zu machen. So wurde auch mein Csikos, als er den Militär in mir erkannt, sogleich freundlich und erwiderte auf meine Frage nach dem Dorfe, daß er selbst bald dahin aufbreche und mir als Führer dienen wolle, was mir selbstverständlich hoch willkommen war. Bald lagerten wir ganz traulich einander gegenüber in jener malerischen Stellung, welche Römer und Griechen bei ihren Gastmählern einzunehmen pflegten, und mein Wirth übte die Pflichten der Gastfreundschaft in der That mit nicht mindrer Freigebigkeit als Lucullus oder Alkibiades, indem er mir die Hälfte seiner Kartoffeln nebst einem ansehnlichen Stücke geräucherten Specks darbot. Ich kannte die Landessitte genügend, um zu wissen, daß gänzliches Zurückweisen des Gebotenen einer Beleidigung gleich geachtet würde. So ließ ich mir’s denn schmecken und erwiderte die Freundlichkeit des Gastgebers durch brüderliche Theilung meines Cigarrenvorrathes, was ebenso einfach angenommen wurde.
Während des Essens hatte ich genügend Muße, den Mann genauer zu betrachten. Die Züge desselben waren männlich ausdrucksvoll und angenehm wie bei den meisten seiner Landsleute, auch keineswegs unintelligent, doch schien sich diese Intelligenz bei jedem Worte, jedem Gedanken erst durch eine äußere Kruste von Starrheit oder Stumpfheit hindurch arbeiten zu müssen, ein Zustand, welchen ich geistige Verschlafenheit nennen möchte, die sich zwar im Gesichtsausdrucke Ungebildeter aller Nationen vorfindet, doch immer typischer wird, je weiter man gegen Osten vordringt.
„Wahrlich, Ihr lebt gar nicht übel da auf Eurer Haide,“ sagte ich, nachdem die Cigarren in Brand gesteckt worden waren, um den Mann zum Sprechen zu bringen.
Dieser schüttelte jedoch melancholisch den Kopf und blickte geraume Zeit in die Kohlengluth, ehe er antwortete:
„Einst, Herr, war das Csikosleben wohl schön, und damals hätte ich mit keinem Könige getauscht, mag er auch das ganze Jahr Tokayer trinken und in goldenen Stuben wohnen, aber da kam das Jahr Achtundvierzig und mit ihm die Freiheit, welche uns die Herren, wie sie sagten, zum Geschenke machten, und seitdem wird es schlimmer und schlimmer im Lande.“
„Wie das?“ fragte ich verwundert.
„Nun seht, Herr,“ fuhr der Csikos nach einigem Besinnen fort, „früher war der Bauer allerdings der Diener seines Herrn; er mußte für ihn Frohndienst thun, die Steuern für ihn zahlen, und auch an Prügel fehlte es nicht, aber vor Noth und Elend war er wenigstens sicher, denn hatte er selbst nichts mehr zum Leben, so mußte der Herr für ihn sorgen, wollte er seine Arbeiter nicht verlieren. Nun, die Frohn haben sie freilich abgeschafft; der Bauer ist ja frei, aber Prügel bekommt er doch, und sind sie auch, wie der Herr Notar meint, nur ungesetzliche, sie thun nicht weniger weh, die Steuern aber sind dreimal so hoch geworden, und kann der Bauer sie nicht zahlen, verkauft man ihm Hab’ und Gut; dann hat er die Freiheit, betteln oder unter die armen Bursche (landesüblicher Ausdruck für Räuber) zu gehen.“
Diese eigenthümliche Anschauungsweise über den Werth der erlangten Freiheit, eine Folge der herrschenden Mißwirthschaft und Indolenz unten und oben, war mir nicht neu, da sie unter den Bauern – die wohlhabenden ausgenommen – ziemlich allgemein [118] herrschte; daß sie aber auch von dem Sohne der Pußta getheilt wurde, dem die Freiheit das sein sollte, was dem Fische das Wasser oder dem Vogel die Luft, dies erregte meine Verwunderung, der ich unverhohlen Ausdruck gab.
Es kostete dem an Mittheilung seiner Gedanken wenig gewohnten Manne aber offenbar keine geringe Anstrengung, sich in dem durch meine Einwürfe entstandenen Ideenchaos zurecht zu finden, doch nachdem er ein Dutzend Rauchsäulen in die Luft gewirbelt, mehrmals energisch ausgespuckt und die Kohlengluth mit dem Fokos aufgefrischt hatte, sagte er mit trübem Lächeln: „Je nun, Herr, es mag schon sein, daß die gewonnenen Rechte, wie sie’s nennen, auch uns manchmal zu Gute kommen, bis jetzt aber brachten sie dem Csikos nur Schlimmes; denn freier konnte er nicht werden, als er war, und bei der Vertheilung von Grund und Boden erhielt er nur die Luft, die darüber streicht, und so lieb diese dem Csikos ist, sie sättigt ihn nicht. Wahr ist’s, sie that dies auch vor dem Jahre Achtundvierzig nicht, aber damals konnte der Csikos mit seinem Lohne von zwölf Gulden jährlich und den paar Stücken Vieh, die er halten darf, leben wie ein Graf, denn was er sonst noch brauchte, durfte er offen nehmen von jedem Felde. Niemand fiel es ein, ihm das zu wehren. Dem Bauer nicht, weil ja fast nichts sein war, dem Herrn nicht, weil er mehr hatte, als er verbrauchen konnte. Seitdem aber der Bauer weiß, daß der Ertrag seiner Felder ihm allein gehört, seitdem die Herren Steuern und Lohn an die Arbeiter zahlen müssen, wird jeder Kukuruzkolben, jede Kartoffel gezählt und bewacht; der Csikos mag nun sehen, wie er es anfange, nicht zu verhungern.“
Bei diesen Worten des Mannes gedachte ich mit Wehmuth der Kartoffeln, die mir so vortrefflich gemundet. Armer Csikos, was war Lucullus’ Gastfreundschaft gegen die deine, welche dir zwar sicher kein Geld, aber vielleicht einen blauen Rücken kostete!
„Wenn dem so ist, dann soll Euch der Herr jetzt besser lohnen,“ sagte ich nach kurzer Pause.
„So dachte auch ich,“ versetzte der Csikos kopfnickend, „und als mich die Bauern einmal fast halbtodt geschlagen, ging ich zum Herrn Grafen und brachte ihm mein Anliegen vor; der aber sagte:
‚Josi,‘ (Josef) sagte er, ‚was fällt Dir ein? Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen; wirst Du mir, wenn ich Dir auch doppelten Lohn gebe, das Vieh ersetzen, welches vier- und zweibeinige Wölfe stehlen?‘ ‚Das kann ich nicht, Herr,‘ sagte ich, ‚wenn aber alle Herren ihre Csikos doppelt bezahlen, so werden die zweibeinigen Wölfe nicht mehr stehlen, und diese sind die schlimmsten.‘
‚Gut, Josi, wenn Alle es thun, thue ich’s auch,‘ sagte der Graf, ‚aber Du weißt, sie thun’s nicht. D’rum geh’ und sei vernünftig! Eine Tracht Schläge sind für einen ganzen Kerl wie Du nicht der Rede werth; es thäte mir leid, müßte ich einen andern Csikos nehmen, denn Du bist ein braver Bursche, und ich bin Dir gut, Josi.‘
So ging ich wieder zu meinen Pferden, denn zum Bauernknecht tauge ich doch nicht mehr. Aber es wurde noch schlimmer, denn bald darauf kamen die Gensd’armen in’s Land, und jetzt muß der Csikos froh sein, wenn er einiger elender Kartoffeln wegen nur Schläge bekommt und nicht gar eingesperrt wird wie ein Dieb. Wahrlich, jeder arme Bursche ist jetzt besser daran als unser Einer, und lebte nicht die alte Frau, die mich zur Welt gebracht, wer weiß, was schon geschehen wäre.“
Der Mann schwieg finster, ich aber begriff jetzt die Aeußerung eines Gensd’armen, nach welcher sich sämmtliche Csikos und Hirten überhaupt in zwei Classen theilen: in solche, die schon Räuber sind, und in solche, die es werden wollen.
Eben wollte ich meinen Csikos zweiter Classe durch ein freundliches Wort seinem düstern Hinbrüten entreißen, als dieser aufhorchend den Finger auf die Lippen legte. Dann griff er nach dem an seiner Seite liegenden Fokos und verließ die „spanische Wand“. Jetzt hörte auch ich deutlich den Hufschlag eines galoppirenden Pferdes, das sich rasch näherte und nach einigen Secunden kaum zehn Schritte vom Lagerplatze des Csikos schnaubend stille stand.
Das dünne Geflecht, das mich verbarg, gestattete mir, ohne daß ich meine Stellung änderte, den Durchblick auf die jetzt vom Monde hell beleuchtete Steppe, indem ich das Auge dicht anlegte, und so sah ich denn, wie ein Mann von dem eben angekommenen schweißbedeckten Pferde sprang und ohne Weiteres dem nächsten der weidenden Thiere zuschritt.
In demselben Augenblicke aber trat der Csikos aus dem durch die Rohrwand gebildeten tiefen Schatten hervor, den Fokos wurfgerecht in der Faust, und sagte mit der dem Magyaren eigenen umfangreichen Modulation der Stimme: „Hast Du vergessen, Lajos (Ludwig), daß es für Dich hier kein Pferd giebt?“ Der Mann wendete sich sichtlich betroffen dem Sprechenden zu und zeigte sich nun im vollen Mondlichte als eine ungewöhnlich muskulöse Gestalt in der gemeinen Landestracht, die nur durch einen Ledergürtel vervollständigt wurde, aus welchem der Griff einer Pistole hervorblitzte.
Das bärtige Gesicht, von langem, wirrem, pechschwarzem Haar umwallt, hätte unbedingt für schön gelten können, wären die Züge nicht durch den düstern Ausdruck unbändiger Wildheit entstellt gewesen.
Der Mann, welchen der Csikos Lajos nannte, schien seinen Gegner einen Moment zu messen, während gleichzeitig seine Hand nach dem Gürtel griff. Aber schon schwang auch der Csikos seine in solcher Faust fast unfehlbare Waffe; da sank die Hand wieder vom Gürtel, und mit vor Zorn vibrirender Stimme sagte der Mann:
„Willst Du einen Landsmann in die Hände der Pickelhauben liefern?“ (Pickelhauben, Ausdruck für Gensd’armen.)
„Warum nicht, Lajos?“ lautete die kaltblütige Gegenfrage.
Der Zorn des Mannes schien in Folge dieser Antwort einer tiefen Niedergeschlagenheit zu weichen, denn er ließ den erst hochgetragenen Kopf wie ermüdet sinken und sagte in ganz verändertem, fast weichem Tone:
„Josi, mein Pferd ist lahm geritten.“
„Ich sehe es, Lajos,“ erwiderte der Csikos kurz.
„Josi, wir waren einst Freunde.“
„Ja, Lajos, wir waren es.“
„Weißt Du noch, Josi, wie wir zur Kirschenzeit über den Zaun des Herrengartens stiegen? Und wie der große Kettenhund Dich faßte? Er hätte Dich zerrissen, wäre ich ihm nicht mit der Faust in den Rachen gefahren – die Narben sind noch sichtbar, Josi.“
„Ich weiß es,“ entgegnete der Csikos, „aber wenn ich allein beim Feuer liege, denke ich oft, es wäre besser gewesen, der Kettenhund hätte mich damals zerrissen.“
Lajos zuckte jetzt plötzlich zusammen, horchte einen Augenblick nach der Richtung, in welcher er gekommen, und sprach dann hastig: „Josi, was verlangst Du für ein Pferd?“
„Nichts, Lajos, denn ich gebe Dir keines,“ klang es rauh zurück.
„Josi, gab ich Dir nicht meine ganze Baarschaft, als man Dich in den Soldatenrock steckte? Es waren zehn Zwanziger und ein Marienthaler, den ich von meiner Mutter hatte.“
„Und nahmst mir dafür, während ich im Soldatenrock steckte, mein Mädel,“ sagte der Csikos; „ich wollte, Lajos, Du hättest Dein Geld behalten – es war ein schlechter Handel.“
Abermals und jetzt noch heftiger schrak der Mann zusammen, und über sein blasses Gesicht rannen dicke Schweißtropfen. Unbekümmert um die drohende Haltung des Csikos, näherte er sich diesem und flüsterte: „Es ist wahr, Josi, ich nahm Dir Dein Mädel, aber Ilka ist jetzt mein Weib und trägt ein Kind unter dem Herzen; willst Du, daß Mutter und Kind Dir fluchen?“
Diese in leise zitterndem Klageton gesprochenen Worte des wilden, trotzigen Mannes erschütterten selbst mich, den unbetheiligten Zuhörer.
„Ist das auch wahr, Lajos?“ fragte der Csikos schwer aufathmend.
„Es ist wahr, Josi,“ betheuerte der Mann.
Noch zauderte der Csikos, mit sich kämpfend, dann aber entfiel der Fokos klirrend seiner Faust; unmittelbar darauf hatte Lajos mit einem Tigersprunge das weidende Pferd erreicht, und eine Secunde später flog er ohne Sattel und Bügel über die Steppe dahin.
Es war die höchste Zeit gewesen. Kaum hatte der Csikos das zurückgebliebene dampfende Thier des Flüchtigen mit einem kräftigen Hiebe abseits vom Lager unter die übrigen Pferde getrieben, als auch schon die weithin blitzenden Pickelhauben zweier berittener Gensd’armen sichtbar wurden.
[119] Jetzt trat der Csikos zu mir und sagte leise „Ihr werdet mich nicht verrathen, Herr?“
„Ich bin kein Spion,“ erwiderte ich[WS 1] ruhig.
Der Csikos nickte mit dem Kopfe, als hätte er keine andere Antwort erwartet, pfiff seinen Hunden, welche die Herannahenden mit wüthendem Gebell begrüßten, und postirte sich außerhalb des Lagers, indem er sich scheinbar unbekümmert und theilnahmlos auf seinen Fokos stützte. Ich blieb auf meinem Platze, fest entschlossen, das Vertrauen des Mannes auch dann zu rechtfertigen, wenn die Gensd’armen mich bemerken und befragen sollten. Wußte ich doch nicht einmal den Grund, weshalb jener Mann verfolgt wurde; zwar die Pistole in dessen Gürtel sprach ziemlich deutlich, allein ich hatte die Gastfreundschaft des Csikos genossen, und das entschied.
„Kam der schwarze Lajos hier vorbei?“ fragte jetzt einer der Gensd’armen, sein Pferd anhaltend.
„Ja, Herr,“ sagte der Csikos zu meinem nicht geringen Erstaunen.
Auch der Gensd’arm schien die Bejahung seiner Frage nicht erwartet zu haben und betrachtete den Csikos mit unverkennbarem Mißtrauen.
„Welche Richtung hielt er ein?“ fragte er weiter.
„Nach dem Dorfe,“ erwiderte der Csikos abermals wahrheitsgetreu, was mich fast vermuthen ließ, daß der Mann seinen Edelmuth bereute und den verhaßten Nachfolger nachträglich verrathen werde.
Die Gensd’armen wechselten leise einige Worte untereinander und trieben dann ihre Pferde in der angegebenen Richtung vorwärts.
„Warum habt Ihr den Mann verrathen?“ fragte ich den zu mir tretenden Csikos.
„Ich that es nicht,“ erwiderte dieser.
„Sagtet Ihr nicht die Wahrheit?“
„Ja, Herr, und aus gutem Grunde,“ versetzte der Csikos, „hätte ich geleugnet, daß er hier war, so würden die Pickelhauben die ganze Heerde visitirt und das schweißbedeckte lahm gerittene Pferd gefunden haben. Damit wäre dem Lajos nicht gedient gewesen, mich aber hätten sie als seinen Helfershelfer mitgenommen.“
„Warum aber verriethet Ihr die Richtung, die Lajos eingeschlagen?“ fragte ich begierig.
Der Csikos zeigte, verschmitzt in sich hinein lachend, seine beneidenswerth weißen Zähne.
„Weil sie ihn jetzt im Dorfe zu allerletzt suchen werden,“ sagte er, „denn der Gensd’arm glaubt einem Csikos so wenig, wie dieser ihm.“
„Sie schlugen aber doch dieselbe Richtung ein?“ bemerkte ich.
„Wohl, Herr, so lange wir sie sehen konnten,“ meinte der Csikos, „aber ich wette mein bestes Pferd gegen ein Ferkel, daß sie tausend Schritte weiter schon die Pferde wendeten.“
Die Gründe des Csikos waren schlagend, und eben so viele Beweise für dessen Schlauheit wie für die Schwierigkeit des Sicherheitsdienstes in diesem Lande. Der Csikos hatte während dieses Gespräches seine „spanische Wand“ abgebrochen und führte mir nun ein Pferd zu, dessen Rücken aus besonderer Aufmerksamkeit für mich mit einer Decke versehen war. So ritten wir denn bald wohlgemuth dem Haidedorfe zu, etwa ein halbes Hundert Rosse vor uns hertreibend.
Allen voran trabte ein vielgeprüfter lebenserfahrener Schimmel, gleichmäßig und gesetzt wie es dem Alter ziemt; er stammte, wie mir der Csikos sagte, von edlen Eltern und hatte einst eine bessere Zeit gekannt, hatte in der Herrenstallung köstlichen Hafer und süß duftendes Heu gespeist und manch stolzen Reiter hinter flüchtigen Füchsen und Hasen oder an der Spitze prachtvoller Banderien (berittenes Gefolge bei Festlichkeiten, auch Ehrengeleite) getragen – jetzt genoß er dafür das Gnadenbrod auf der grauen Steppe als Leitroß. Ihm folgte das übrige Volk behufter Vierfüßler in bunter Reihe, doch bildeten die in der Schule des Lebens gereiften und zugerittenen Thiere den Kern des Haufens, welchen die liebe Jugend, die weder Sporn noch Zügel, weder schwere Last noch verweichlichendes Wohlleben kannte, nach allen Richtungen ausschlagend, wiehernd und schnaubend umkreiste. Trieben sie es aber gar zu toll, dann blickte der Schimmel mißbilligend auf sie zurück, als wollte er sagen: „Na, wartet! Auch an euch wird bald die Reihe kommen; auch euch wird Zügel und Peitsche den Uebermuth austreiben, bis ihr, lebensmüde wie ich, dem Grabe zuhumpelt.“ Es war ein ebenso fesselndes wie charakteristisches Bild des Thierlebens oder vielmehr des Lebens überhaupt; ist doch dem allgemeinen Gesetze des Blühens und Verwelkens, Werdens und Vergehens selbst das Heer der Sterne unterworfen, deren Licht für ewige Dauer geschaffen scheint.
Während ich mich solcher Betrachtung als einem erprobten Mittel zur Wiedererlangung gestörter Gemüthsheiterkeit hingab, beschäftigte sich mein Csikos, dessen Seelenruhe dem äußern Anscheine nach nicht im geringsten gelitten hatte, mit den Gegenständen meiner Aufmerksamkeit ebenso eifrig, doch weit praktischer. Mit freundlichem Zurufe oder drohendem Peitschenknalle, je nach Erforderniß hippologischer Pädagogik, beschrieb er bald nach rechts, bald nach links weite Bogen, um seine ungeberdigen Pfleglinge in Ordnung zu halten, worauf er wieder einen raschen Blick nach dem himmlischen Rosselenker auf der Milchstraße warf, wohl um sich zu überzeugen, ob sich des alten Schimmels Führergeschick auch heute bewähre. Dieser aber war offenbar über jeden Zweifel erhaben und schien in seiner humpelnden Vorwärtsbewegung ebenso untrüglichen mathematischen Gesetzen zu folgen wie die Sterne in ihrer Himmelsbahn.
Anderthalb Stunde mochten wir so abwechselnd über Steppenflächen und Sandhügel unsern Weg verfolgt haben, als die Klänge eines Csardas uns die Nähe des Dorfes verkündeten. Mit freundlichen Dankesworten verließ ich nun den Csikos, der noch die Rosse zur Tränke trieb, und ging der Dorfschenke zu, überzeugt, dort meine Quartiermacher zu finden. Ich täuschte mich nicht. Selbst Landeskinder, tummelten sie sich mitten im lustigen Reigen mit den flinksten Burschen um die Wette, ich aber gönnte ihnen gern das Vergnügen und benutzte einstweilen den tiefdunkeln Schatten einer Eiche, um unbemerkt den Anblick der ländlichen Lustbarkeit zu genießen.
Auf festgestampftem Lehmboden unter dem grünen Dache geflochtener Eichenzweige bewegten sich etwa ein Dutzend Paare nach den bald melancholisch weichen, bald stürmisch brausenden Weisen des Csardas. Das Orchester bestand nur aus zwei Personen: einem alten graubärtigen, finster dreinschauenden Zigeuner, der das Cymbal auf einem umgestülpten Fasse handhabte, und einem blitzäugigen, struppigen Jungen, der den Fiedelbogen führte.
Zigeunermusik ist selten vollkommen gut, aber noch seltener ganz schlecht. Griff auch der zerlumpte Junge manchmal falsch, schlug auch der Alte bisweilen neben die Saiten – aus Beider Augen sprühte musikalischer Künstlergeist, dem Töne und Rhythmen nicht blos Mittel zum Erwerbe, sondern Selbstgenuß und Befriedigung gewährten, und oft erhob sich dieser Geist zu ganz wunderbar tönendem Klagen und Weinen, Jubeln und Jauchzen.
Auch Tänzer und Tänzerinnen zeigten meist schlanke, geschmeidige Gestalten, ja einige Mädchen waren sogar entschieden hübsch zu nennen. Feurig und gluthäugig aber waren sie alle, Bursche wie Dirnen, durchwogt von heißem Blute, mit Leib und Seele ergeben der Lust des Augenblickes. Während ich aber so die Paare musterte, entdeckte ich mitten unter ihnen eine Gestalt, deren Anwesenheit hier mir fast unbegreiflich schien. Oder täuschten mich die Augen? Aber nein, diese Züge waren zu markirt, zu ausdrucksvoll, um sie zu verwechseln; es war Lajos, der dort eine der hübschesten und üppigsten unter den anwesenden Frauengestalten umfaßt hielt und sie laut jauchzend mit seinen muskelkräftigen Armen hoch über die Köpfe der übrigen Paare schwenkte.
Ja, er war es, und dort stand ja auch der Csikos, abseits von den Fröhlichen, mit gekreuzten Armen, und schaute trüb und sinnend die Lust des schönen Paares. Vielleicht bewunderte er gleichzeitig mit mir die Stahlnerven des Mannes, der, kaum den Verfolgern entronnen und auch jetzt noch keine Minute vor denselben sicher, rückhaltlos sich der Freude hingeben konnte. Zum Csikos trat jetzt ein weißhaariger Mann, schüttelte ihm kräftig die Hand und führte ihn dann zu den Tischen, die ebenfalls unter grünem Dache neben dem Tanzboden angebracht waren. Die kurzgeschürzte Schenkin stellte unaufgefordert eine volle Flasche nebst Gläsern auf den Tisch, an welchem die Beiden Platz genommen, und jetzt kamen auch Lajos und seine Tänzerin herbei.
Letztere reichte dem Csikos die Hand, als aber auch Lajos dem Jugendfreunde die Rechte entgegenstreckte, that dieser, als [120] sähe er es nicht, und trank ruhig sein Glas aus. Lajos’ heftiges Temperament wollte aufflammen, aber schon trat dessen Tänzerin dazwischen, bald an den Einen, bald an den Andern der Gegner begütigende Worte richtend. Lajos’ leicht erregbares Gemüth schien sich unter dem sanften Einfluß des jungen, schönen Weibes ebenso rasch zu beruhigen, denn unmittelbar darauf erhob er sein Glas, dem Csikos zuzutrinken, als aber dieser auch jetzt finster abweisend verharrte, da schleuderte der Beleidigte das volle Glas zu Boden, daß es klirrend in Scherben ging, ergriff dann den Arm seiner Tänzerin, um sie hinwegzuführen, und nahm endlich die Widerstrebende, als wäre sie nur ein Kind, in die Arme, worauf er mit seiner hübschen Last laut aufjauchzend wieder in die Reihe der Tanzenden stürmte.
Allein diesmal erweckte der wilde Jubelruf ein gar seltsames Echo. Es war ein langgedehnter, offenbar aus weiter Entfernung dringender Ton, der mehr dem Geheul eines hungernden Wolfes, als einer menschlichen Stimme glich und grell den Tanzrhythmus des Orchesters durchschnitt. Dieser Ton aber übte auf Lajos und seine Tänzerin eine zauberhafte Wirkung. Wie erstarrt standen Beide und horchten in die Nacht hinaus, während sich die übrigen Paare in ihrem Vergnügen nicht im mindesten stören ließen. Noch einmal und ein drittes Mal erscholl das unheimliche Signalgeheul, und noch ehe es ganz verhallte, war das schönste Paar vom Tanzboden verschwunden.
Ich blickte nach den Tischen, aber auch der weißhaarige Mann und der Csikos hatten sich entfernt, und da das Schauspiel mit dem Verschwinden der mir bekannten Personen den Hauptreiz für mich verloren, ließ ich einen meiner Leute durch die Schenkin herbeirufen und wanderte, von diesem geführt, meiner Nachtherberge zu.
Ein Theil der Frauen umringte die Mutter, die ohnmächtig auf den Strand niedergesunken war. Andere bemühten sich um Helene, deren Kräfte sie gleichfalls zu verlassen drohten. Sie aber wehrte jede Unterstützung ab und raffte sich gewaltsam auf. Mit angstvoll gespanntem Blicke, während ihr Herz mit schmerzhafter Heftigkeit pochte, beobachtete sie die Bewegungen der Menschen, die ihr beide gleich theuer waren. Sie sah, wie der Doctor sich den Rettungsgürtel hatte umlegen lassen, wie er den Frauen Anweisung ertheilte wegen Handhabung der daran befestigten Leine. Dann warf er sich muthig in die Wogen. Wieder und immer wieder wurde er an’s Ufer zurückgeworfen – allein er ermattete nicht. Stets von Neuem begann er den Kampf. Mit fast übermenschlicher Kraft rang er mit den Wassern; Helene sah, wie er allmählich, ganz allmählich vorwärts kam. Fast unmerklich vergrößerte sich die Entfernung zwischen dem Ufer und dem kühnen Schwimmer. Jede Welle warf ihn zwar wieder zurück, aber jedes Mal, wenn sein dunkler Kopf aus den Fluthen auftauchte, hatte er Raum gewonnen. So erreichte er allmählich die Barrière. Auch Rosa’s Kräfte schienen wieder zu wachsen, als sie sah, daß Hülfe nahte. Nun nur noch ein kurzes Ringen. Helene legte die Hand über die Augen; die Aufregung wurde so qualvoll, daß sie meinte, sie nicht länger ertragen zu können. Ihr schwindelte, und mit ausgestreckter Hand suchte sie nach einer Stütze. Da tönte ein Freudenschrei in ihr Ohr – wie durch einen Nebelschleier sah sie die Gestalt des Arztes, der Rosa in den Armen hielt. Sie entsann sich noch, daß sie mit ausgebreiteten Armen vorwärts gestürzt sei, daß sie Rosa’s Haupt an ihrer Brust gefühlt habe – dann senkte sich Nacht über sie.
Während hundert Hände sich regten, während die Rettungsboote in See gingen und die ganze Badegesellschaft in angstvoller Spannung das Resultat erwartete, wechselte Rosa, von Helene unterstützt, ihren Anzug. Sie hatte nach ihrer Rettung sich kaum Zeit gelassen, ihre Mutter zu umarmen, dann war sie neben der Ohnmächtigen niedergeknieet und hatte ihre Hände geküßt. Aber eine herzbeklemmende Angst hatte sie von einer Stelle zur andern getrieben. Sie hatte Alle von sich abgewehrt, die sie glückwünschend umdrängten, mit angstvollen Zügen die Anstalten beobachtet, welche zur Rettung der verunglückten Freundin getroffen wurden. Die Hände ringend, hatte sie um Beschleunigung derselben gefleht, und nur mit Mühe konnte endlich Frau Helene sie bewegen, sich von ihr umkleiden zu lassen. Als endlich Beide allein waren, als Helene die durchnäßten Kleider von dem zitternden Körper des jungen Mädchens entfernt hatte und ihre milden, beruhigenden Worte sich ebenso wohlthuend um ihre Seele legten wie die linde Gewandung um ihren übermüdeten Leib, da löste sich der Bann, der auf ihrem Herzen lastete, in Thränen auf. Schluchzend schlang sie ihre Arme um die Mutter, indem sie an ihr zu Boden sank und ihr Gesicht in ihrem Kleide barg. Und als Frau Helene mit liebkosender Hand über ihr Haar strich und sanft zu Ruhe und Mäßigung mahnte, da trieb die Angst das arme Kind wieder empor und mit einem wilden, verzweiflungsvollen Schrei rief sie aus:
„Keine Ruhe für mich, keine Ruhe für mich weder jetzt noch künftig! O, weshalb hat mein elendes Leben gerettet werden müssen – weshalb ruhe ich nicht neben meinem armen Clärchen in den Fluthen? Mutter, es giebt fortan kein Glück mehr für mich auf Erden – denn wisse, ein Mord lastet auf meinem Gewissen! Sieh mich nicht so entsetzt an! Ich bin nicht wahnwitzig. Sieh, die Arme bat mich, ihr die Hand zu reichen, ich aber sagte in der wilden Aufregung des Kampfes: 'Gehe an’s Land, wenn Du nicht sicher bist! Ich brauche heute meine Arme für mich allein?' – Dann kam Welle um Welle über mich, und als ich mich endlich emporgearbeitet hatte und nach der Gefährtin umschauen konnte, da sah ich sie schon über die Barrière hinaus verschlagen. Wie ein Blitz kam mir da der Gedanke: du mußt dein Leben einsetzen, um das ihrige zu retten. Ich strebte mit allen Kräften, sie zu erreichen. Es war nicht die Macht der Wellen, die mich ihr nachschleuderte; es war mein eigener freier Wille. Damit aber, Mutter, hörte auch meine Sühne auf. Denn mit dem Bewußtsein, daß ich mit dem Tode ringe, mit diesem Bewußtsein kam ein namenloses Grauen über mich; ich kämpfte mit verzweifelnder Kraft um mein – nur um mein Leben. Und dann – als ich sah, wie Er zu meiner Rettung herbeikam – wie er zu mir strebte – wie er rang meinetwegen – da erschien das Leben, das ich ihm verdanken sollte, mir so süß, daß jeder andere Gedanke mir davor entschwand. – Ach, erst in dem Augenblicke, als ich wieder festen Grund unter mir fühlte, als er von mir hinwegeilte, um das zweite Leben zu retten – erst da kamen alle Schrecken einer vergeblichen Reue wieder über mich. – O Mutter! wie soll ich leben mit der Schuld des Mordes auf meinem Gewissen?“
Frau Helene hatte sich über sie gebeugt. Ihre Thränen fielen mild und schwer wie Sommerregen auf die glühende Stirn des armen Kindes. Da tönte Geräusch vom Strande her zu ihnen herein. Neben dem Brausen des Meeres erscholl das Brausen vieler vereinter Menschenstimmen. Aber kein freudiger Aufschrei ließ sich vernehmen – Alles klang gedämpft, wie der dumpfe Ton einer Sterbeglocke. Schaudernd richtete Rosa sich in die Höhe: sie wußte, auch ohne es zu sehen, daß es gelungen sei, die Leiche zu finden. Nun knirschten schwere Schritte über den Sand hin: die Schritte von Männern, die eine Last trugen. Mit einer wilden Bewegung preßte Rosa die Hände an ihre schmerzenden Schläfe. Die Tritte der Träger erschollen näher und näher – jetzt wurde von außen die Wand der Bude gestreift, in welcher die beiden Frauen sich befanden. Dann ließ sich ein Geräusch vernehmen in dem benachbarten Raume: man legte die Leiche dort nieder.
„Komm fort!“ sagte Frau Helene sich aufraffend und sich bemühend, Rosa mit sich fortzuziehen, „komm fort von hier! Laß uns nach Hause zurückkehren und zusammen der Entscheidung harren! Vielleicht, daß Gott Erbarmen hat und das schwere Leid von Dir nimmt! Lasse den Muth nicht sinken, Kind! Wir wollen beten, daß die Rettung gelingt.“
Da ließ sich die wohlbekannte Stimme des Arztes vernehmen
[121][122] – sie sprach einige Worte der Ermuthigung zur verzweifelnden Mutter. Rosa meinte die Stimme ihres Heilandes zu vernehmen. Dann hörten die lauschenden Frauen, wie dieselbe Stimme energisch Befehle ertheilte, wie sie eine der Badefrauen zum Beistande herbeirief, wie sie gebieterisch die Entfernung aller andern Personen, selbst die der Mutter verlangte – dann wurde es still nebenbei.
Es war die schwerste Stunde in Rosa’s Leben, die nun folgte. Die Angst ihres gequälten Herzens trieb sie von Stelle zu Stelle. Zu Hause angekommen, wanderte sie mit gerungenen Händen ruhelos im Saale auf und nieder, von Minute zu Minute hinauslauschend, ob die Entscheidung endlich nahe. Um sie zu beruhigen, hatte Helene schon mehrmals ihr Mädchen hinabgesandt, um Erkundigungen einzuziehen. Aber immer wieder war sie ohne Nachricht zurückgekehrt.
Der Herr Doctor habe sich eingeschlossen und habe bis jetzt auf alle Anfragen noch keine Antwort ertheilt – so lautete der sich stets wiederholende Bericht. Rosa’s Muth sank mit jeder verrinnenden Minute mehr; Helenens Gesicht wurde bleicher und bleicher. Da, in der größten Noth, war es wieder derselbe Retter, der zur Erlösung herbeieilte. Schritte kamen die Gartentreppe herauf; die Thür wurde von einer festen Hand geöffnet und mit leuchtenden Augen, obwohl bleich und übermüdet, trat der Arzt in’s Zimmer. Es bedurfte für Rosa nur eines Blickes in sein Gesicht, um die Gewißheit zu erlangen, von welcher das Schicksal ihres Lebens abhing. Sie stieß einen Schrei aus und stürzte ihm entgegen.
„Gerettet?“ fragte Helene.
„Gerettet!“ entgegnete er lächelnd. Und während seine bis zum Aeußersten angestrengten Kräfte ihn jetzt mit der Entscheidung plötzlich zu verlassen drohten, während er sich matt auf die Lehne eines Stuhles stützte, hörte er den aufjauchzenden Schrei Rosa’s. Er fühlte, wie zwei Arme sich um seinen Hals schlangen, wie frische, lebenswarme Lippen sich heiß und innig auf die seinen drückten. Und als er die Arme um die Gestalt schlang, die an seiner Brust ruhte, da strömte mit der Gewißheit ihrer Liebe neues Leben und neue Kraft ihm wonnig durch die Adern.
„So bist Du also mein!“ sagte er, sie an sich drückend, „so habe ich Dich heute mir gerettet. Wie ich Dich im wilden Ringen erkämpft habe, so werde ich Dich mit gesammelter Kraft mir zu erhalten wissen für’s Leben.“
„Du weißt nicht, wie Du mir heute mein Leben zweimal gerettet hast,“ entgegnete sie, unter Thränen zu ihm auflächelnd. „Jede Stunde meines Lebens, jeder Schlag meines Herzens sei Dein! Und ist es wirklich wahr, Du verschmähst mich nicht? Hat mein Hohn und Trotz Dich nicht von mir zu scheuchen vermocht? Hast Du meine Liebe erkannt trotz allem Bösen, das ich Dir gethan?“
Er beugte sein Haupt zu ihr nieder und flüsterte ihr in’s Ohr, wie er schon seit Monden das Glück geahnt habe, das sich ihm heute voll und ganz erschlossen. Dann blickte er auf von dem goldenen Gelock, auf welches er seine Lippen gedrückt hatte. Sie waren allein. Helene hatte still das Zimmer verlassen und leise die Thür hinter sich in’s Schloß gedrückt. – –
„Sie sehen also, lieber Freund, welch’ tieferschütternde Ereignisse uns seit gestern heimgesucht haben. Lassen Sie uns dies zur Entschuldigung dienen, daß wir Ihre Geduld ungebührlich lang’ in Anspruch genommen haben. Ich bin diejenige, der die größte Schuld an unserm späten Kommen zufällt; denn da ich nicht mehr Rosa’s Elasticität besitze, die sich seit dem Morgen emporgerichtet hat, wie eine Blume nach einem Regenschauer, so habe ich nur zögernd meine Einwilligung zu dem projectirten Ausfluge gegeben. Ich wurde indeß von den beiden Glücklichen überstimmt und mußte mich dem Beschlusse der Majorität fügen, wie es fortan wahrscheinlich stets mein Loos sein wird. Die Erschütterungen des heutigen Tages aber fühle ich noch stark in meinen Nerven zittern, trotz der Versicherung des Doctors von den wohlthätigen Folgen der Fahrt. Haben Sie also Nachsicht mit mir und blicken Sie nicht länger so finster drein! Hören Sie, wie das Lachen Rosa’s und das lustige Jodeln des Doctors zu uns aus der Schlucht herauftönt! Und – blicken Sie um sich! – lacht Ihnen das Herz nicht bei dem Anblicke der ruhigen Schönheit, die ausgegossen ist rings um uns her? Ich meine, der Mann, der, wie Sie, herabblicken darf auf ein schönes, reiches Eigenthum, der Mann, dessen Leben frei und schön vor ihm liegt, dieser Mann sollte nicht so finster in die Welt blicken, auch wenn ein paar unpünktliche Freunde, auf seine Nachsicht bauend, ihn über Gebühr haben warten lassen.“
Sie blickte lächelnd zu ihm auf und sah, daß sein Blick ernst, fast traurig auf ihr weilte. Er stand an die Linde gelehnt, deren Aeste sich weit und schattig über die Rasenbank erstreckten, auf welche Helene mit ihrem Knaben sich niedergelassen hatte. Es war ein köstliches Plätzchen, wo die Drei sich befanden. Zur Linken blitzte durch Waldesgrün der Spiegel der See auf, in welche die Sonne eben strahlend versank. Vor ihnen im Grunde lagen die Häuser des Vorwerks Seebude, halb versteckt in dem Erlengebüsche, das sich dem Laufe eines zur See fließenden Baches entlang zog. Im Hintergrunde erhoben sich die Baumgruppen des Hirschberger Parkes, aus deren Mitte die Giebel des alten Schlosses hervorschauten, dessen Fenster im letzten Strahle der Sonne erglänzten. Und fernab von den tiefliegenden Wiesen begannen die Abendnebel aufzusteigen und sich allmählich über die Gegend zu verbreiten. Abendstille und Abendfrieden war über die weite Landschaft gebreitet – nur die Glocken der heimziehenden Heerden tönten, den Feierabend verkündend, zu ihnen herauf.
„Wie können Sie nur glauben, Helene, daß in Ihrer Gegenwart meine ungeduldige Verstimmung Stand halten könnte?“ antwortete Schack nach einer Pause. „Es ist etwas Anderes, was auf mir lastet. Sie haben Recht, ich könnte ein glücklicher Mensch sein, allein die Nachricht von der Ankunft Ihrer Mutter raubt mir den Sonnenschein der kommenden Tage. Wenn man bedenkt, daß ich lange Jahre habe leben können, ohne Sie zu sehen, daß ich absichtlich jeder Gelegenheit aus dem Wege gegangen bin, welche die schmerzvolle Erinnerung an Sie wieder wachrufen konnte, so mag es allerdings wunderbar erscheinen, daß es mich so tief niederdrückt, Ihre Gesellschaft, Ihren Anblick wieder entbehren zu sollen. Aber seit dem gestrigen Abende, als ich Sie so unvermuthet wiedersah, ist es mir zum Bewußtsein gekommen, daß mein bisheriges Leben eigentlich kein Leben gewesen ist, ich fühle es klar, daß Sie nicht mehr sehen, Ihre Stimme nicht mehr hören dürfen meine Tage wieder grau und farblos machen heißt – und dies wird mein Loos sein, so lange Ihre Mutter bei Ihnen weilt.“
„Sie machen sich ein falsches Bild von meiner Mutter, wenn Sie glauben, daß ihre Gegenwart mein Haus weniger gastlich oder mich weniger geneigt machen könne, Ihnen meine Freundschaft zu beweisen,“ entgegnete Helene. „Ich verkenne es nicht, daß auch sie ihre Pflichten hat, und ich werde Niemand, selbst meine Mutter nicht, zwischen die unsere treten lassen. Auch wird sie selbst das nicht wünschen. Meine Mutter ist eine feine, kluge Frau – ich habe die Hoffnung, daß auch sie Ihnen bei näherer Bekanntschaft eine liebe Freundin werden wird. Ich habe selten Jemand gefunden, der so wie sie mit scharfem Blicke und gerechtem Urtheile die Vorzüge jedes Menschen erkennt und zu würdigen weiß.“
„Sie dürfen mir die weltgewandten Eigenschaften Ihrer Mutter nicht erst rühmen, Helene,“ entgegnete Schack bitter, „ich habe Gelegenheit gehabt, dieselben kennen zu lernen, und werde sie mein Leben lang nicht vergessen.“
Helene blickte überrascht zu ihm auf.
„Ich verstehe Sie nicht, mein Freund,“ sagte sie leise, „seit wann kennen Sie meine Mutter?“
„Seit wann? – Nun, seit jener Zeit, als sie den armen Jungen, der verzagten Herzens vor ihr stand, auf die liebenswürdigste Weise gehen hieß und ihn lächelnd und höflich zur Thür geleitete. Sie hatte einen so feinen Blick gehabt, daß ich nicht nöthig gehabt hatte zu sprechen. Ich verstand die feinen Redewendungen der gnädigen Frau und wußte, daß ich meinen Abschied in der Tasche hatte, ehe ich mich dessen versah. Und der alte Diener, der mich durch den Vorsaal zur Hausthür führte, machte dieselbe hinter mir so nachdrücklich zu, daß ich mir den Schwur ablegte – denn, Helene, meinen Mannesstolz hatte ich doch, obgleich ich ein armer, unbedeutender Bursche war – die Schwelle dieses Hauses nicht wieder zu betreten. Ich habe diesen Schwur gehalten – allein mein Leben hatte seinen Zweck verloren seit jenem Tage. Verdenken Sie es mir daher nicht, daß ich den Anblick jener Dame zu vermeiden suchen werde!“
Helene hatte, während er sprach, ihm starren Blickes in’s Gesicht geschaut. Jetzt bedeckte sie ihre Augen mit den Händen, [123] und Schack sah, wie Thränen langsam über ihre Wangen rollten.
„Um des Himmels willen, weshalb diese Thränen?“ fragte er bestürzt. „Habe ich Etwas gesagt, was Ihnen Schmerz bereitet hat? Oder – Helene – wäre es möglich – hat man Ihnen von meinem Besuche nichts gesagt? Das also bedeuten die Worte, die Sie gestern zu mir sprachen; Sie haben mich für treulos und leichtsinnig gehalten.“
„O, Verzeihung, Verzeihung, Gerhardt, daß ich an Ihnen zweifeln konnte. Wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe! wie lange ich vergeblich auf eine Nachricht von Ihnen hoffte, wie mir endlich der Muth sank – wie mir Alles so gleichgültig wurde, daß ich willenlos über mich verfügen ließ. Aber lassen Sie mich darüber schweigen! Jede Klage von meinen Lippen wäre ein Unrecht gegen den Verstorbenen und gegen mein Kind.“
„Weshalb sollten wir auch über einige verlorene Jahre klagen, wenn eine ganze schöne Zukunft vor uns liegt!“ rief er aus, indem er sich zu ihr niederbeugte. „Denn, nicht wahr, Helene, wir trennen uns nicht mehr? Sage mir, daß Du mir ein Recht giebst, für Dich und Deinen Knaben zu leben!“
Die Sonne war in’s Meer gesunken, und dichte Nebel stiegen aus der Fluth. Drunten im Thale wallten und brauten sie und entzogen dem Auge der Glücklichen die Welt um sie her. Wie auf einem Fels inmitten des Meeres saßen sie neben einander – sie waren zu Dreien und fühlten sich dennoch eins.
„Wirst Du ein Herz haben für meinen Knaben?“ fragte Helene leise, indem sie innig und ernst zu ihm aufschaute.
Schack antwortete nicht. Aber mit fester, sanfter Hand hob er das schlaftrunkene Kind von dem Schooße der Mutter auf seine Kniee und bettete das lockige Haupt desselben an seine Brust. Dann schlang er den Arm um die geliebte Frau und zog sie näher an sich.
„So ist es recht,“ unterbrach die heitere Stimme des Arztes das selige Schweigen, in welches die Beiden versunken waren, „so ist es recht. Wir haben uns also nicht vergeblich discret bei Seite gemacht und sind in den Schluchten herum geklettert, daß wir Gefahr liefen, uns nicht mehr herauszufinden. Wir sind zum Zwecke gelangt und können die Mama morgen mit einer zwiefachen Freude überraschen. Du darfst nicht so bedenklich dreinschauen, Gerhardt. Der Schloßherr von Hirschberg ist eine andere Person, als der jugendliche Referendar, dessen Zukunft noch sehr unsicher im Schooße der Zeit lag. Auch kenne ich die gnädige Frau und weiß, daß sie eine zu feine Diplomatin ist, um sich nicht vor der Macht der vollendeten Thatsache zu beugen. Glaube mir, Du wirst Dir keine liebenswürdigere, rücksichtsvollere Schwiegermutter wünschen können. Und was mich anbelangt, so bin ich mit der meinigen auch höchlichst zufrieden, und zwar so sehr, daß ich nicht dafür stehe, daß Rosa in einem neuen Anfalle von Eifersucht mir heute wieder ein so ungnädiges Gesicht am Theetische macht, wie gestern. Was meinst Du dazu, Kleine?“
Schlaflosigkeit. Als Capitain Boyton seine große Schwimmreise über den Canal zurückgelegt hatte, nahm er weder Speise noch Trank zu sich, sondern verfiel, an’s Land getragen, in einen langen, tiefen Schlaf. Bei anstrengenden Märschen schlafen manche Soldaten während des Gehens ein. Personen, welche gewohnt sind, andauernde Spaziergänge zu machen, pflegen meist gut zu schlafen, und Leute, welche den Tag über anstrengende Muskelarbeit verrichten müssen, genießen gewöhnlich eines Schlafes, um den sie ein Millionär beneiden möchte.
Welches ist die Ursache des Schlafes überhaupt? Welches ist der Grund, daß bei manchen im Uebrigen gesunden Menschen der süße Tröster der Nacht sich nicht einstellen will?
Der Professor der Physiologie, Preyer in Jena, hat darüber folgende leicht verständliche Hypothese aufgestellt.
Wenn man einen nicht in Thätigkeit befindlichen Muskel chemisch untersucht, so findet sich, daß die in ihm enthaltene Feuchtigkeit keine Spur von einer Säure enthält (chemisch gesprochen: neutral reagirt). Versetzt man denselben Muskel in Thätigkeit durch einen elektrischen Strom oder durch active Bewegung an einem lebenden Thiere und prüft sein chemisches Verhalten von Neuem, so überzeugt man sich leicht, daß durch die Bewegung eine Säure, die Milchsäure, gebildet worden ist.
Nach einiger Zeit der Erholung ist die Milchsäure wieder aus dem Muskel verschwunden. Wo ist sie geblieben?
Alles, was in den menschlichen oder thierischen Körper eingeführt oder in ihm gebildet wird, wird auch durch die Ausleerungen wieder ausgeschieden. Ist also Milchsäure im Körper vorhanden gewesen, so müßte sie sich auch in seinen Ausscheidungen wiederfinden. Indessen treten die vorhanden gewesenen Stoffe meistens nicht als solche in den Ausscheidungen wieder auf, sondern in gewissen Veränderungen. Jedermann weiß, daß wir mit dem Einathmen Sauerstoff in die Lungen einsaugen, aber der Sauerstoff wird in der ausgeathmeten Luft als solcher vergeblich gesucht. Er findet sich vielmehr darin mit Kohlenstoff verbunden als Kohlensäure. Wenn Jemand alkoholhaltige Getränke zu sich nimmt, so scheidet er den Alkohol, abgesehen von dem mechanisch verdunstenden Theile, nicht als solchen wieder aus, sondern der Alkohol wird unter Zuhülfenahme von Sauerstoff innerhalb des Körpers verbrannt (höher oxydirt) und in Kohlensäure und Wasser übergeführt. Die Kohlensäure wird durch die Ausathmung aus den Lungen, das Wasser auf anderem Wege wieder ausgeschieden.
Wenn Jemand Himbeersaft trinkt, so wird das darin enthaltene pflanzensaure Salz gleichfalls nicht als solches wieder aus dem Körper entfernt, sondern es findet sich, nachdem es vermittelst des im Körper befindlichen Sauerstoffs höher oxydirt worden, als kohlensaures Salz in den Ausscheidungen wieder.
So verhält es sich auch mit der Milchsäure. Man sucht vergebens nach Milchsäure in den natürlichen Absonderungen des Körpers. Unzweifelhaft war sie vorhanden, wenn eine Muskelthätigkeit stattgefunden – wo ist sie geblieben? Sie ist gleichfalls durch den Sauerstoff im Körper verbrannt und in Kohlensäure und Wasser umgesetzt worden.
Nun entsteht die Frage: aus welchem Theile des Körpers wird der zur Verbrennung der Milchsäure nöthige Sauerstoff genommen? Und hierüber sagt die Theorie Folgendes: Das steht fest: unsere geistige Thätigkeit, unser geistiges Leben, unser Denken und Ueberlegen hat seinen Sitz im Gehirn. Milliarden von kleinen im Gehirn befindlichen Körpern, die sogenannten Ganglienzellen, sind die Fabrikstatt unsrer Gedanken. Wenn sie in Thätigkeit sind, denken wir; wenn sie unthätig sind, werden keine Gedanken producirt. Sie in Thätigkeit zu erhalten, dazu dient ein sauerstoffhaltiges Blut, das in zierlichen, mikroskopisch feinen Aederchen die Ganglienzellen umspült und fortwährend reizt. Geht der im Blute befindliche Sauerstoff ganz oder zum großen Theil verloren, hört der Reiz des in den Gehirnäderchen enthaltenen, dem Blute beigemischten Sauerstoffs auf, so wird auch die geistige Thätigkeit sistirt, und der Mensch verfällt in Schlaf. Die Anschauung Preyer’s ist nun eben die, daß er annimmt, die im Körper gebildete Milchsäure reiße den in den Aederchen des Gehirns vorhandenen Sauerstoff an sich, um verbrannt zu werden; damit falle der zur geistigen Thätigkeit nöthige Reiz fort; die Ganglienzellen produciren keine Gedanken mehr; die geistige Thätigkeit hört auf; das Individuum schläft ein.
Als diese Theorie erdacht worden war, handelte es sich darum, sie durch den Versuch zu bestätigen. Thiere bekamen Milchsäure, und siehe da: sie verfielen in einen natürlichen Schlaf. Menschen, gesunde und kranke, schliefen ein, nachdem sie Milchsäure genommen hatten, und – was der Triumph der Hypothese war – der Schlaf war ein erquickender, sozusagen physiologischer, der nach dem Erwachen eine Erfrischung, aber keinerlei übele Nachwirkungen, wie sie sich nach dem Gebrauch von Opium und anderen Betäubungsmitteln einzustellen pflegen, zurückließ. Die Wirkung des Alkohols, der bei vielen Menschen gleichfalls schlafmachend wirkt, wird dem Leser jetzt verständlich sein, und wenn manche Personen nach einem Glase starken Zuckerwassers oder sehr gesüßten Pflanzensaftes in Schlaf verfallen, so beruht das gleichfalls auf der im Körper vor sich gehenden Verwandlung des Zuckers in Milchsäure und deren höherer Oxydation oder Umsetzung in Kohlensäure und Wasser.
Durch zahlreiche Versuche ist seitdem die schlafmachende Wirkung der Milchsäure bestätigt worden. Wer keine oder keine genügende Menge von Milchsäure producirt, der lasse sich diesen „Ermüdungsstoff“ vom Arzte verschreiben und – er wird schlafen.[4] Osnabrück, 29. Januar. Dr. W.
Eine neue Wüsten-Eisenbahn. Eine Eisenbahn durch die Wüste ist freilich an sich nichts Neues mehr, denn abgesehen von dem großen Schienenwege, der von Alexandria über Kairo bis hinauf nach Sint am linken Nilufer entlang mehrfach die libysche Wüste berührt, geht auch ein anderer seit Jahren von Kairo durch die arabische Wüste nach Suez. Jetzt hat man dort etwas südlicher eine neue Bahn angelegt, und zwar nach Heluahn, die am 21. Januar dieses Jahres eröffnet wurde.
Heluahn ist jener Badeort in der Nähe der alten Khalifenstadt, von welchem gewiß viele unsrer Leser bereits gehört haben und der schon deshalb so interessant ist, weil er eben mitten in der Wüste liegt. Und dazu ist dieser Theil der Wüste wohl der historisch merkwürdigste von ganz Aegypten, denn dort befinden sich die großen Pyramidenfelder von Gizeh, Sacqara, Daschur und Abusir. Nur der Nil trennt Heluahn von diesen tausendjährigen Monumenten, den ältesten von Menschenhand auf der Erde, und dieser Anblick allein ist schon ein Grund für jeden Fremden, das Wüstenbad zu besuchen. Früher war freilich der Besuch sehr umständlich und kostspielig, denn entweder fuhr man direct von Kairo hinüber, und zwar wegen des Wüstensandes vierspännig, oder man benutzte [124] die Eisenbahn des linken Nilufers bis Bedreschihn, ließ sich dann über den Strom setzen und hatte außerdem noch eine Omnibusfahrt von einer guten Stunde bis zum eigentlichen Badeorte. Jetzt, wo endlich die Eisenbahn fertig geworden ist, braucht man vom Fuße der Citadelle aus nur vierzig Minuten und macht die Tour hin und zurück für einige Franken.
Schon in sehr alter Zeit, im siebenten Jahrhundert, also noch vor der Gründung des heutigen Kairo, waren die Heilquellen von Heluahn bekannt, denn die beiden arabischen Geschichtsschreiber Elkendi und Makrisi aus jener Zeit erzählen, wie der damalige Herrscher Abdul-Asis die Stadt Fostat, das jetzige Alt-Kairo, wegen der dort ausgebrochenen Pest verlassen habe und mit seinem ganzen Hofstaat und seinen Truppen nach Heluahn übergesiedelt sei. Makrisi spricht speciell auch von den Heilquellen, die man dort entdeckt habe, und in jüngster Zeit hat man bei den Nachgrabungen noch Mauerreste gefunden, die unzweifelhaft aus jener Periode stammen. Später geriethen im Lauf der Jahrhunderte die Quellen ganz in Vergessenheit, und erst unter Mohamed-Ali, dem großen Regenerator Aegyptens, finden wir sie wieder erwähnt; man hatte dort eine Art von Bassin mitten in der Wüste gegraben und nothdürftig ausgemauert. Die an Hautkrankheiten und Rheumatismus leidenden Araber aus der Umgegend zogen dorthin, um zu baden, und campirten dabei unter Beduinenzelten. Auch die beiden Nachfolger des großen Vicekönigs interessirten sich nicht weiter dafür, und erst unter dem jetzigen Khedive und auch erst im Jahre 1871 wurde die Aufmerksamkeit wieder auf Heluahn gelenkt und diesmal in ernster und nachhaltiger Weise.
Das Hauptverdienst dabei gebührt unstreitig unserm deutschen Landsmanne, dem Dr. Reil, der als der eigentliche Schöpfer des Wüstenbades anzusehen ist. Dr. Reil, seit langen Jahren in Kairo ansässig, wo er sich als tüchtiger Arzt eine große Praxis gegründet hatte, unternahm im Jahre 1871 auf eigene Hand und in Verbindung mit einigen Freunden eine Expedition nach dem damals so gut wie ganz vergessenen Heluahn, um die Quellen zu untersuchen und sich in Person zu überzeugen, ob sich die Anlegung einer Badeanstalt dort verlohne. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen: nicht allein, daß sich die vorhandenen Schwefelquellen als sehr reichhaltig und an einigen Patienten die Dr. Reil gleichfalls mitgenommen hatte, als sehr heilsam erwiesen, man fand auch noch verschiedene Salzquellen und machte schließlich die gewiß sehr merkwürdige Entdeckung, daß das ganze Plateau auf mehr als zwei Stunden im Umkreise von unterirdischem Schwefel- und Salzwasser getränkt war, oder, wie sich Dr. Reil sehr richtig ausdrückte, einem vollgesogenen Schwamme glich.
All dies genügte, um den Khedive für die Sache lebhaft zu interessiren und die nöthigen Unterstützungsgelder zur Errichtung der Bäder und übrigen Gebäude von ihm bewilligt zu erhalten, zumal die chemische Analyse, namentlich der Schwefelquellen, eine sehr günstige war und dieselben den berühmtesten Quellen Europas an die Seite stellte.
Schon im ersten Jahre war ein provisorisches Badehaus fertig, dem bald darauf ein großes massives Gebäude folgte, desgleichen eine vorläufige Herberge zur Aufnahme von Badegästen, die jetzt ebenfalls durch ein schönes, mit europäischem Comfort eingerichtetes Hôtel ersetzt worden ist. Auch ein besonderes Badehaus für den Khedive und die vicekönigliche Familie wurde gebaut: eine große Rotunde im arabischen Styl. Das Gebäude ist mit orientalischer Pracht ausgestattet; die einzelnen Badezimmer sind mit Marmor ausgelegt und die Kuppeln aus farbigen Gläsern zusammengesetzt. Die Mutter des Khedive nahm dort vor einigen Jahren mit großem Gefolge einen längeren Aufenthalt und sanctionirte dadurch gewissermaßen das Wüstenbad zum Gebrauche für die vornehme Welt.
Mit großer Liberalität verschenkte darauf der Khedive die umliegenden Bauplätze an Jeden, der ihn darum bat, unter der einzigen Bedingung, binnen Jahr und Tag dort ein Gebäude aufzuführen. Sogar das Material zu diesen Bauten durfte man sich aus den naheliegenden Steinbrüchen des Mokkatamgebirges (die schon im Alterthum die Steine zu den ungeheuren Pyramidenbauten geliefert hatten) umsonst holen. Auf diese Weise entstanden in wenigen Jahren eine Menge großer und kleiner Häuser und Villen, unter den letzteren manche in sehr geschmackvollem Stil, die zusammen jetzt schon einige Straßen bilden. Auch Gärten und Anlagen wurden geschaffen, indem man durch ein großes Dampfpumpenwerk das Wasser von dem über vier Kilometer entfernten Nil auf das Plateau leitete. Auch hier bewährte sich die alte Zauberkraft des Flusses: wohin immer, und wäre es die kahlste Wüste, seine befruchtenden Fluthen geleitet werden, verwandelt sich alsbald das Erdreich in culturfähigen Boden, der, wenn nur in der sorgfältigen Bewässerung nicht nachgelassen wird, den reichsten Ertrag liefert.
So war denn aus der ehemaligen nackten Sandwüste ein blühender Ort geworden, der sich mit jedem Jahr vergrößerte und immer mehr Fremde und Einheimische anzog, sowohl zum bloßen Aufenthalt in der reinen prächtigen Wüstenluft, wie auch zum Gebrauch der Bäder, deren Heilkraft gleichfalls einen immer größeren Ruf erlangte. Nur die schnelle und bequeme Verbindung fehlte noch, um Heluahn zu einer Vorstadt von Kairo zu machen, und jetzt, wo auch dies durch die neue Eisenbahn geschehen ist, wird das „Schwefelbad in der Wüste“ gewiß recht bald einen noch größeren und erfreulicheren Aufschwung nehmen.
Aus einem Salon in Rom. (Mit Abbildung S. 121) Das alte Wort, daß Könige und Künstler erst nach dem Tode die ihnen gebührende Anerkennung finden – das französische Original läßt noch ein hauptsächlich seines Fleisches wegen geschätztes vierfüßiges Thier theilnehmen – dieses Wort findet auf unsre modernen Musiker wenig Anwendung. Staunend hat's die Welt gesehen, wie dem Einen ungezählte Herzen und Cassenschränke entgegenflogen und zur Verfügung standen, wie er fürstliches Machtgebot zum Vollstrecker seiner Wünsche fand und wie er zuletzt, dank eiserner Willenskraft, als Erneuerer olympischer Spiele der Nation seine Bühnenfeste bot.
Unbestrittenere Verehrung noch, ja Anbetung fast wurde seinem Freunde, dem großen Virtuosen Liszt, zu Theil; wenn der Meister seine Memoiren schreiben wollte, sie würden sich lesen wie ein Märchen aus „Tausend und einer Nacht“. Zwar hat er schon seit geraumer Zeit seine europäischen Siegeszüge eingestellt und läßt sich öffentlich nur noch in den seltensten Fällen und zum Besten wohlthätiger Unternehmungen hören; nur wenige Bevorzugte dürfen noch hier und da seinem Spiele lauschen und die Tradition erhalten von der wunderbar dämonischen Gewalt des Meisters über die Töne, aber unverändert geblieben, ja gewachsen ist der Zauber seiner Persönlichkeit, seines halb mythisch werdenden Namens, wo er auch auftritt. Sind es ja gleichmäßig beide Factoren, denen er den Erfolg seiner ehren- und ruhmreichen Laufbahn verdankt und den bestrickenden, unbegrenzten Einfluß auf Alle, die mit ihm in Berührung gekommen: seine Kunst und die bezaubernde Liebenswürdigkeit seines Wesens.
Alljährlich sieht Rom Franz Liszt als Gast in seinen Mauern. Während der berühmte Meister den Sommer in seiner ungarischen Heimath verbringt, widmet er der ewigen Stadt den Winter oder wenigstens einen Theil desselben, denn mit Vorliebe verweilt er in der ländlichen Zurückgezogenheit der Villa d'Este in Tivoli als Gast des seit dem Concil in Deutschland lebenden Cardinals Hohenlohe. Doch erscheint er auch oft als vielumworbener und gefeierter Stern in der römischen Gesellschaft.
Es war in einem Gesandtschaftshotel, bei einer jener Soiréen, die alle Schichten der Gesellschaft vereinigen, „vom Fürsten bis herab zum Künstler“, daß ich ihn zuerst sah. Er erschien spät am Abend mit großem Gefolge, und es war ein eigenthümlicher Anblick, wie sich der Zug durch die modernste Gesellschaft hindurchbewegte: der Maestro selbst mit dem Löwenkopfe, dem mächtigen Auge, in dem schwarzen halbgeistlichen Gewande; es folgten perlen- und diamantenstrahlende Damen, hocharistokratische Freundinnen und Verehrerinnen des Meisters, und zuletzt Schüler und Schülerinnen in theilweise phantastischer Erscheinungsform und Tracht. Das Ganze war ein Bild, würdig unsres Menzel's, und das nur von seinem geistsprühenden Pinsel wiedergegeben werden könnte; die Phantasie suchte nach einem Vergleichungspuukt und wurde unwillkürlich an einen Triumphzug des indischen Bacchus erinnert. Ebenso interessant und reizvoll war die Scene beim Aufbruch. Die ganze Gesellschaft hatte sich zusammengedrängt, und der Gefeierte, von einem seiner Schüler begleitet, mußte die Front des „versammelten Kriegsvolkes“ abschreiten, nicht anders als ein gekröntes Haupt. Aller Augen folgten den beiden Gestalten, wie sie die Flucht der glänzenden Räume durchschritten, und erst nach ihrem Verschwinden wandte sich die Aufmerksamkeit Anderem zu.
Rom.
Noch einmal das Abrichten der Vögel. „In Nr. 52 vorigen Jahres Ihres geschätzten Blattes,“ schreibt man uns, „finde ich einen Artikel über das Abrichten der Vögel, in welchem der Verfasser seinen Zweifel darüber ausspricht, ob es möglich sei, den Vögeln das Apportiren beizubringen, und erklärt, daß ihm kein Beispiel bekannt sei. Gestatten Sie mir, Ihnen ein solches mitzutheilen! – Im Parke des herzoglichen Schlosses Callenberg bei Coburg befindet sich eine Fasanerie und in derselben ein hofartig abgerundeter Raum, in welchem in verschiedenen Behältern einige Thiere, meistens Raubvögel, gehalten werden. Unter letztern zeichnet sich ein Adler aus, den der Herzog vor etwa fünfzehn Jahren, wenn ich nicht irre, aus Tirol mitbrachte und der sich seit jener Zeit unter der speciellen Pflege des Herrn Fasanenmeisters C... befunden hat, dessen besondere Zuneigung er mit seinem Nachbar, einem Storche, theilt. Im Laufe der Zeit hat der Herr Fasanenmeister seinen Pflegebefohlenen allerlei kleine Kunststücke beigebracht, zu welchen beim Adler auch das Apportiren gehört. Wenn ihm sein Herr ein Stückchen Holz oder sonst einen Gegenstand hinwirft, steigt er auf Befehl von seinem Sitze herab und bringt das Verlangte im Schnabel zu seines Meisters Füßen; von Dritten aber läßt er sich unter keiner Bedingung seine Beute abnehmen und vertheidigt dieselbe tapfer mit seinen Fängen. Der Storch klappert auf Wunsch und spielt dabei mit seinem gravitätischen Ernste eine gar komische Figur.
Ein anderes Beispiel der Zähmung von Vögeln ist mir bekannt, das vielleicht einzig in seiner Art ist. Hier war es ein Wasserhuhn. Eine Dame meiner Bekanntschaft gelangte vor einigen Jahren in den Besitz des damals noch jungen Thieres und zog dasselbe mit vieler Mühe auf. Bald entwickelte sich zwischen Beiden ein intimes Verhältniß, und der Vogel folgte seiner Herrin erst im Hause und dann auch im Freien auf Schritt und Tritt. Bei Ausgängen flog er eine kleine Strecke voraus, ließ sich nieder und wartete auf ihr Herankommen oder nahm auch wohl seinen Platz auf ihrer Schulter; erst vor ganz kurzer Zeit wurde er von einem Hunde gewürgt und schmückt jetzt, zierlich ausgestopft, ihr Boudoir.
Eine andere Dame besaß vor Jahren einen Zeisig, ein Geschenk von Alexander von Humboldt, der seine vollständige Freiheit genoß und an schönen Tagen aus dem offenen Fenster in den Garten flog, von wo er stets, manchmal allerdings nach mehrtägiger Abwesenheit, zurückkam. Im Zimmer pflegte er sich gewöhnlich auf den Rand eines altväterischen hölzernen Tintenfasses zu setzen, und dasselbe sollte auch sein Grab werden; eines Tages wurde er todt darin aufgefunden.“
Abermals entlarvter Spirtistenschwindel. Aus England wird berichtet, daß William Lawrence, bekanntlich ein großes Licht unter den Spiritisten, wegen unerlaubten Gelderwerbes zu drei Monaten Gefängniß verurteilt worden. Er hatte behauptet, Geister erscheinen lassen zu können, war aber selbst als „Geist“ gefaßt worden. Wenn das den Großen passirt, was soll man da von den Kleinen erwarten!
- ↑ Vorlage: „ein Verlobung fest“
- ↑ Vorlage: Schluss-Anführungszeichen fehlen
- ↑ Als Militär-Geograph durchzog der Verfasser in den fünfziger und sechsziger Jahren Ungarn und Siebenbürgen nach allen Richtungen hin und blieb dabei im Verkehr mit Hirten, Bauern und Pächtern. Er hatte somit eine nur selten gebotene Gelegenheit, Land und Leute kennen zu lernen.
- ↑ Die Richtigkeit der Preyer’schen Hypothese zugegeben, müssen wir im Interesse der Wissenschaft doch constatiren, daß die bisher mit der Milchsäure angestellten Versuche nicht immer zu günstigen Resultaten geführt haben. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: er