Die Gartenlaube (1877)/Heft 49
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No. 49. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der Morgen, welcher der schreckensvollen Nacht folgte, war so freundlich und sonnig und der Garten der Villa Kayser lag so friedlich und thaufrisch im Lichte der Morgensonne da, daß Marie, die eben aus dem Hause getreten war und langsam die Stufen hinabschritt, fast geneigt war, die Ereignisse der Nacht für einen bösen Traum zu halten. So ruhig und still war Alles ringsumher, daß sie hätte meinen können, die Erde sei ein Paradies des Friedens und des Glückes, dessen harmonische Schönheit nie zerstört werden könne durch Scenen wüster Leidenschaft und roher Gewaltthat. Und doch bebten ihre Nerven noch unter der Nachwirkung der nächtlichen Schrecken, und das Herz that ihr weh, wenn sie der unausbleiblichen Folgen derselben gedachte.
Noch war keine nähere Kunde aus der Fabrik zu ihr gelangt. Nur durch Frau Hörig hatte sie erfahren, daß, während sie geschlafen, ein Bote erschienen sei, der Decken und Leinwandzeug für die Verwundeten gefordert und flüchtig erwähnt habe, daß Alles gut stände. Aber trotz dieser Nachricht wollte sich ihr Herz nicht zur Ruhe beschwichtigen lassen. Jetzt bereuete sie es fast, daß sie nicht ihrem ersten Impulse gefolgt war, der sie angetrieben, gleich nach Beendigung des Kampfes hinzueilen, ihre Hülfe anzubieten und sich zu überzeugen, wie ihre Lieben die Nacht überstanden. Aber diesen Plan hatte sie bei ruhiger Ueberlegung wieder aufgegeben. Sie hatte sich gesagt, daß sie, da man sie absichtlich von Hause entfernt hatte, nicht ohne gerufen zu sein dahin zurückkehren dürfe. Auch ihre beiden Gefährtinnen waren der Meinung gewesen, man müsse sich in Geduld fassen und dürfe sich nicht der Möglichkeit aussetzen, in den Zügen der Männer Erstaunen oder gar Mißbilligung bei ihrem Erscheinen zu lesen. So waren sie schweigend in’s Haus zurückgekehrt und hatten sich in ihre Zimmer begeben. Marie aber hatte keine Ruhe finden können. Bei dem ersten Geräusche, das sich unten im Hause vernehmen ließ, hatte sie sich erhoben und war nach schnell gemachter Toilette in den Garten hinabgegangen. Da stand sie nun und blickte sehnsüchtig nach der Fabrik hinüber. Nur eine kleine Strecke Weges lag zwischen ihr und dem Orte, zu welchem es sie mit einer Macht hinzog, die stärker war als sie. Sie hatte bereits die Gartenthür geöffnet und den wohlbekannten Fußpfad eingeschlagen, ehe sie sich ihrer Absicht völlig bewußt geworden war. Es war ein anmuthiger Weg, der den Zickzacklinien einen Baches folgte und von dichtem Erlengebüsch überdacht war. Mit schnellen Schritten eilte sie vorwärts. Ihre Sorge war so groß geworden, daß sie jedes Bedenken in ihr erstickte. Und – so fragte sie sich – wer konnte es ihr im Grunde auch verdenken, wenn sie Gewißheit haben wollte über das Schicksal ihrer Lieben? Wer konnte ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie ungerufen kam? Es waren ja ihre Brüder, zu denen sie hineilte.
Aber dennoch wurde ihr Schritt unwillkürlich zögernder. Weilte doch ein Mann bei Jenen, dem sie um keinen Preis der Welt unweiblich oder keck hätte erscheinen mögen. Nicht allein die Sorge um ihre Brüder war es, welche sie vorwärts trieb – schon während der Nacht hatte sie deutlich erkannt, daß diese aufgehört hatten, das einzige Glück ihres Lebens zu sein. Ja, dem Manne, der noch vor wenigen Wochen ihr fast fremd gewesen war, hatten ihre Thränen gegolten, um ihn hatte sie am meisten gesorgt und gebangt. – Und warum sollte sie den Schatz, den sie in ihrem Herzen entdeckt, ihm, dem Eigenthümer, verheimlichen? Sie wußte, daß es ihn glücklich machen werde, zu sehen, seine Liebe werde erwidert. Ja, sie wollte ihn in ihrem Herzen lesen lassen – jetzt in der Erregung des Augenblickes schien ihr das leicht zu sein.
Aber wieder wurde ihr Schritt zögernder. Wenn er ihr nun plötzlich gegenüberträte mit dem sarkastischen Lächeln auf den Lippen und dem scharfen Blicke seiner grauen Augen – würde sie den Muth finden, ihren Vorsatz auszuführen? Er war ein ruhiger, bedächtiger Mann, der es nicht liebte, wenn man nach augenblicklichen Impulsen handelte. Wenn sie ihm jetzt begegnete und er mit dem leichten Emporziehen seiner buschigen Brauen, das bei ihm stets mißbilligendes Erstaunen bedeutete, zu ihr spräche: „Wo wollen Sie hin, Fräulein Marie? Bitte, kehren Sie um! Das Haus Ihres Bruders ist kein Aufenthaltsort für Damen,“ – wenn er dies spräche, was würde sie erwidern?
Sie ahnte nicht, wie schnell diese Frage gelöst werden sollte. Denn während sie darüber nachdachte, wie sie in diesem Falle sich zu benehmen hätte, war sie an eine Biegung des Weges gelangt und der Gegenstand ihrer Gedanken stand ihr plötzlich, Aug’ in Auge, gegenüber. – Wie hatte sie sich gesehnt, ihn zu sehen! Und jetzt stand sie zitternd da, nicht fähig, ihm ein Wort der Begrüßung zu sagen. Nur ihre Hand konnte sie ihm reichen und ihn anblicken mit Augen, welche durch Thränen verdunkelt wurden. Und jetzt – richtig! Jetzt kamen fast dieselben [818] Worte über seine Lippen, die sie sich kaum vor zwei Minuten vorgesagt. Sie mußte lachen, als sie sie hörte, und lachend zog sie ihr Taschentuch hervor, um sich die Thränen zu trocknen, die ihr unaufhaltsam über die Wangen flossen.
„Wo wollen Sie denn hin, Fräulein Marie?“ fragte er, sie unter seinen buschigen Brauen hervor scharf anblickend. „Es ist gut, daß ich Sie treffe, denn dort kann man Sie noch nicht brauchen. Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen mit mir wieder umkehren. Aber beruhigen Sie sich: mit Ihren Brüdern steht es gut.“
Nicht eine Spur von Sarkasmus lag in seinem Lächeln – er schien ihre Erregtheit ganz erklärlich, ganz natürlich zu finden.
„Und von sich selbst sprechen Sie gar nicht? Glauben Sie, daß wir nicht auch Ihretwegen Sorge empfunden haben? Sind Sie ganz unverletzt?“
„Jawohl, heil und ganz, und völlig frischauf! Uebrigens hatte ich mich auch nicht als Combattant, sondern als besonnener Freund, und wenn nöthig, als einflußreicher Friedensvermittler Ihrem Bruder zugesellt. Wenn unsere militärische Hülfe eine halbe Stunde später, das heißt zu spät gekommen wäre, um das Eindringen der wilden Meute zu verhindern, dann hätte ich von Nutzen sein können. Ich bin hierorts wohlbekannt und auch einigermaßen beliebt. Vielleicht hätte meine warnende Stimme ein Ihnen theures Leben retten können, wenn es zum Aeußersten gekommen wäre.“
„O Sie lieber Freund, Sie denken an Alles, Sie sind immer edelmüthig, muthvoll und besonnen.“
„Ihr Lob könnte mich fast stolz machen, Fräulein Marie.“
„Mein Lob! Ein armseliger Lohn für Alles, was Sie an uns gethan!“
„Ich wünsche mir keinen besseren. Jetzt aber trocknen Sie Ihre Thränen! Ihre Sorge um Ihre Brüder ist allerdings natürlich genug, da ich Ihnen aber die Versicherung geben kann, daß –“
„Weshalb sprechen Sie nur von der Sorge um meine Brüder?“ fragte Marie stehen bleibend und ihm in’s Gesicht schauend. „Wollen Sie keine andere gelten lassen? Wollen Sie mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, daß meine Angst in dieser entsetzlichen Nacht ebenso, wenn nicht noch mehr, Ihnen, als Jenen gegolten hat? Ich habe mich selbst darüber gewundert und mich eine lieblose Schwester genannt, aber ich konnte es nicht hindern – und wenn ich es auch gekonnt hätte, so hätte ich es doch nicht gewollt – daß meine Gedanken immer bei Ihnen, dem edlen, großmüthigen Freunde weilten, daß Ihnen meine Hauptsorge galt. Und jetzt, als ich, jede Rücksicht hintenansetzend, hineilen wollte, nur mich zu überzeugen, wie es steht, da war es wieder der Wunsch –“
Sie konnte nicht weiter sprechen. Er hatte ihre Hände ergriffen und sie fest zwischen seine beiden gedrückt.
„Also um mich haben Sie gesorgt, Marie? Mir sind Sie entgegengekommen, mich wünschten Sie zu treffen?“
„Weshalb fragen Sie noch!“
„Soll das heißen, daß Sie sich wirklich etwas aus mir machen?“
„Etwas! Es ist nicht großmüthig, daß Sie zweifeln.“
Sie standen sich gegenüber, und als sie jetzt zu ihm aufschaute mit ernstem, innigem Blick und doch ein Lächeln auf den Lippen, da legte er ihren Arm fest in den seinen.
„So,“ sagte er, „nun wollen wir nach Hause gehen. Nach Hause, wir Beide zusammen. Wie das glückverheißend klingt, Marie! Und ich habe immer gedacht, Du machtest Dir nicht viel aus mir. Auf etwas Dankbarkeit glaubte ich allerdings rechnen zu können, aber das gerade hat mich zurückgehalten. Und wenn ich doch einmal Lust verspürte, das Schicksal zu befragen, dann haben Deine ehrlichen Augen mich gewarnt.“
Sie schritten rüstig vorwärts. Marie hielt tapfer Schritt mit ihm. Als sie in den Garten traten, und das schöne, in anmuthigem Villenstil erbaute Haus vor ihnen lag, fragte er: „Wie gefüllt Dir mein Haus – wirst Du gern darin wohnen?“
„Sehr gern, denn es gefällt mir gut, aber der Besitzer gefällt mir noch besser.“
Ein leises glückliches Lächeln glitt über seine Züge. Nach einigen Augenblicken aber blieb er stehen und blickte sie ernst an.
„Du kannst doch aber nicht leugnen,“ sagte er, „daß das, was ich Dir zu bieten habe, Dich befriedigt. Dir gefallen mein Haus, mein Garten, meine Wagen und meine Pferde, nicht? Wenn ich ein armer Bursche gewesen wäre, hättest Du niemals an mich gedacht. Entbehrungen mit mir zu theilen, dafür hättest Du Dich bedankt – he?“
Wenn Marie nicht die Geschichte seiner Ehe gekannt hätte, dann würde seine mißtrauische Art vielleicht noch in diesem Augenblicke ihren Zorn erregt haben. Die Worte aber, welche Hanna gestern gesprochen, tönten noch in ihrem Ohre nach und stimmten sie mild und nachsichtig.
„Ich habe mein Lebelang keinen Reichthum besessen und mich auch nie danach gesehnt,“ sagte sie ruhig. „Meine Bedürfnisse sind so einfach und meine Liebhabereien so wenig kostspielig, daß ich ihn auch ferner entbehren kann. Ja, ich wünsche nicht einmal anders zu leben als bisher. Warum sollte ich habsüchtig nach Geld streben, das für mich –“
„O, verzeih, verzeih! Vergiß, was ich gesprochen habe! Du wirst oft Nachsicht mit mir haben müssen, denn ich bin ein verbitterter, mürrischer Geselle. Und glaube auch nicht, daß ich Thor genug bin, eine Liebe zu beanspruchen, die sich mit einer Hütte und einem Herzen begnügt! Ich kenne mich selbst und trage meinen Jahren Rechnung. Das Leben lehrt bescheidene Selbstschätzung und daher –“
„Ich will in diesem Falle aber keine Bescheidenheit,“ unterbrach ihn Marie halb lachend, halb ärgerlich. „Jeder Mann kann von der Frau, welche seinen ehrlichen, ehrenhaften Antrag annimmt, eine ebenso ehrliche Zuneigung beanspruchen. Ich bin mir bewußt, diesen Anspruch erfüllen zu können – ist Dir diese Versicherung genug?“
„Ich danke Dir; ich werde Deine Worte nicht vergessen,“ entgegnete er leise. „Und wann soll es sein? Bedenke, daß ich nicht viel Zeit zu verlieren habe!“
„Niemand hat Zeit zu verlieren, auch ich nicht, wenn es sich darum handelt, glücklich zu werden.“
„Gut! Sagen wir also in vier Wochen; ist Dir das recht?“
„Ja.“
Ehe sie sich dessen versah, hatte er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände genommen – nicht stürmisch, sondern leise und sanft– und sie auf Stirn und Lippen geküßt. Und als sie, von diesem Beginnen etwas außer Fassung gebracht, mit rothem Gesichte ihren Hut wieder zurechtrückte, hörte sie einen schnellen, leichten Schritt den Gang herabkommen.
„Das ist Paula,“ flüsterte sie schnell. „Verzeihe, daß ich mich entferne! Ich werde später besser in der Stimmung sein, mit ihr zusammenzutreffen.“ Sie schlüpfte seitwärts in’s Gebüsch, und als sie sich dem Hause zuwandte, hörte sie Paula’s frische Stimme ihrem Vormunde ein heiteres „Guten Morgen!“ zurufen. Sie sah nicht, daß ein lächelnder Seitenblick ihre verschwindende Gestalt streifte, und daß Paula mit schlau auf die Seite geneigtem Kopfe ihren Vormund bedeutungsvoll anblinzelte.
„Guten Morgen, Junker Paul!“ sagte dieser. „Frisch auf und guter Dinge, trotz der schlaflosen Nacht?“
„Ihre Erscheinung, werther Herr, muß alle Sorge verbannen. Sie sehen so frisch, so strahlend und hoffnungsvoll aus – auf Ihrer Stirn glänzt so unverkennbar Siegesfreude und Siegesstolz, daß man versichert sein kann, Sie bringen gute Kunde.“
„Sie sind ein vortrefflicher Physiognom, lieber Junker. Sie schauen durch Rock und Weste bis in das Herz hinein und sehen den Sonnenschein, der tief drinnen sitzt.“
„Also täusche ich mich nicht – die Parteien haben die Waffen gestreckt und Frieden geschlossen?“
„Besser noch,“ erwiderte Kayser. „Die kriegführenden Mächte sind ein Bündnis eingegangen, das ihre Interessen fernerhin coalisirt. Nach menschlicher Berechnung wird es ein Bund werden, der zum Heile aller Betheiligten ausschlägt.“
„Wie mich das freut!“ rief Paula, die Hände ihres Vormundes herzlich drückend. „Das ist in der That ein Ereigniß, an das man die besten Hoffnungen knüpfen darf. Sie haben Ihre Morgenstunden gut benutzt; ich gratulire Ihnen. Sie haben nicht nur als kluger Mann für Ihr eigenes Glück gesorgt, sondern gleichzeitig als trefflicher Patriot und einsichtsvoller [819] Staatsmann gehandelt. Die Zwistigkeiten würden bald beigelegt sein, wenn Ihr Beispiel Nachahmung fände.“
„Sie scheinen nicht übel Lust zu haben, Junker Paul, alle politischen, kirchlichen und nationalen Conflicte auf diese Art zu lösen. Sie wenden den Grundsatz der Nationalökonomie, daß Derjenige, der mit Erfolg für seine eigene Habe sorgt, gleichzeitig den Reichthum der Nation mehrt, auch auf das Glück, das häusliche sowohl wie das nationale, an und folgern daraus die Pflichten, die Ihnen als guter Staatsbürger erwachsen – wie?“
Er war augenscheinlich in bester Laune und blickte seine Mündel, mit welcher er vor dem Hause auf- und niederschritt, lächelnd von der Seite an. Der glückliche Abschluß seiner eigenen Herzensangelegenheit hatte in ihm lebhafter als je vorher den Wunsch erregt, die Frage, die seiner Meinung nach zwischen Max und ihr schwebte, ebenfalls etwas zu fördern. Auch Paula hielt die Stunde für gut gewählt, ihre eigene Angelegenheit zur Sprache zu bringen, und kam ihrem Vormunde daher auf halbem Wege entgegen.
„Sie wissen,“ sagte sie, „daß ich weite Umwege nicht liebe, und daß ich gern direct auf mein Ziel losgehe.“
„Ja wohl,“ entgegnete er lächelnd, „ich habe in den letzten Tagen oftmals die Gelegenheit gehabt, diese schätzenswerthe Eigenschaft an Ihnen zu beobachten.“
„Deshalb sage ich Ihnen jetzt auch offen und ehrlich: ich habe meine Wahl getroffen und habe die Absicht, mich zu verheirathen.“
„Eine Absicht, die ich Ihnen schon am ersten Tage unseres Wiedersehens angemerkt habe.“
„Sie setzen mich in Erstaunen. Es ist ganz unglaublich, wie Ihr Blick in die tiefsten Tiefen meiner Seele dringt.“
„Die tiefsten Tiefen Ihrer Seele waren ziemlich leicht zu erforschen. Sie haben redlich Sorge getragen, daß Niemand über Ihre Absichten im Zweifel blieb.“
„Ich hoffe, Sie halten das nicht für ein Unrecht. Ich bin eine offene Natur, der es schwer wird, ein Geheimniß zu bewahren.“
„Für ein Unrecht halte ich es nicht, und obgleich es etwas gegen das gewöhnliche Herkommen verstößt, so –“
„Gewöhnliche Herkommen! – Wenn ich etwas hasse aus tiefster Seele, so ist es dieses gewöhnliche Herkommen,“ unterbrach Paula ihn energisch. „Ich sollte wohl erst das Gutachten der ganzen Sippe einholen und warten, bis Alles hübsch durchgesprochen und durchgehechelt worden war von diesen Klatschbasen, den männlichen sowohl wie den weiblichen?“
„Ereifern Sie sich nicht! sagte Kayser lachend. „Sie haben Niemand zur Besinnung kommen lassen – Sie waren mit sich einig im Handumdrehen.“
„Am meisten bei der ganzen Sache freut mich das, daß Ihr Alle Euch ärgert. Ihr hättet gewünscht, auch die Hand im Spiele zu haben, aber ich bin ohne Euch fertig geworden. Ich überrasche Euch mit der vollendeten Thatsache,“ sagte Paula.
Es war augenscheinlich, daß sie über die Worte ihres Vormundes einen heftigen Aerger empfand, der sie vergessen ließ, daß sie sich ihn zum Verbündeten machen wollte. Und daß er seine Ruhe bewahrte und sie mit seinem gewöhnlichen sarkastischen Lächeln auf den Lippen von der Seite anblickte, reizte sie noch mehr.
„Was mich anbelangt, so sind Sie im Irrthume: ich überlasse Ihnen gern den Ruhm, als energischer kleiner Junker selbst die Initiative ergriffen zu haben. Die Sache ist also völlig fest und abgemacht?“
„Ja!
„Nun, das ist brav. Die Hauptsache ist immer, daß man weiß, was man will. Und dann frisch vorwärts an’s Werk – dem Muthigen gehört die Welt.“
„Ist das Alles, was Sie mir zu sagen haben?“
„Behüte! Ich gratulire von Herzen – Sie hätten eine schlechtere Wahl treffen können.“
„Sie sind in der That sehr gütig.“
„Ich wünsche nur, Sie hätten sich etwas mehr Zeit gelassen – ich wünsche das um Ihrer selbst willen. Er ist ein Mann von ruhiger Ueberlegung, ein Mann, dem jede Hast höchlichst mißfällt. Ich wünschte, Sie hätten sein zartsinniges Bedenken hören können, als ich gestern mit ihm darüber sprach.“
Paula’s Augen wurden größer und ihre Lippen preßten sich fest auf einander, als sie stehen blieb und ihrem Vormund starr in’s Gesicht schaute.
„Er wollte von einer solch schnellen Erledigung der Frage nichts wissen,“ fuhr dieser harmlos fort. „Er sagte ganz richtig, daß dem Antrage eine Zeit der Werbung vorangehen müsse. Ich bin überzeugt, daß diese Art die Sache über’s Knie zu brechen durchaus nicht nach seinem Geschmacke ist.“
Paula’s Wange, welche bis dahin in dunkler, zorniger Röthe geflammt hatte, wurde jetzt plötzlich blaß. Ihr Auge blitzte dicht vor Kayser’s erstauntem Blick, und ihr ganzes Aussehen schien ihm so bedenklich, daß er sich einige Schritte zurückgezogen haben würde, wenn die junge Dame nicht einen seiner Rockknöpfe fest zwischen ihren Fingern gehalten hätte.
„Soll ich das so verstehen,“ fragte sie mit leiser Stimme, „daß Sie Herrn Max Reinhard meine Hand angeboten haben – daß Sie es gewagt haben, Herrn Max Reinhard auf diesen Gedanken zu bringen?“
„Gewagt! – Das Wagniß war nicht sehr groß nach dem, was Ihrerseits vorangegangen war,“ entgegnete er, seine Unterlippe vorstreckend. „Meinen Sie etwa, er sei blind, um solche Winke nicht zu verstehen?“
„Wissen Sie auch, was Sie da sprechen? Wissen Sie auch, daß Sie mich tödtlich beleidigen? Ihre Worte enthalten die gröbste Kränkung, die man einem feinfühlenden Mädchen anthun kann.“
„Feinfühlend! Darauf haben Sie sich ziemlich spät besonnen.“
„Und als ich den Mann in meinem Hause willkommen hieß, als ich ihn mit offener Herzlichkeit begrüßte, als ich die ganze Welt zum Zeugen der Freude hätte machen mögen, die ich empfand, als er mir gegenüberstand, und ich jeden Zug seines Gesichtes als einen lieben, seltsam vertrauten erkannte – da haben Sie zu glauben gewagt, ich mache Jagd auf ihn? Und später, als ich Sie bat, mein Eigenthum als das seine zu betrachten und ihm jede Hülfe zu gewähren, die durch dasselbe zu erlangen ist – da glaubten Sie, ich wolle mein Geld dazu benutzen, mir einen Gatten zu erkaufen? – Was habe ich gethan, daß Sie mich einer so unweiblichen, unwürdigen Handlung für fähig halten?“
Auf Kayser’s Gesicht hatte während dieser Rede der Ausdruck von Erstaunen und Unwillen gewechselt.
„Und wenn nicht das, was war dann Ihre Absicht?“ fragte er.
„Was meine Absicht war? Ich wollte ihm zeigen, wie hoch er mir steht, wie er dem Bilde, das ich mir von ihm gemacht, ganz und gar entspricht. Schwesterlich nahe treten wollte ich ihm –“
„Nun habe ich genug von dieser ganzen confusen Geschichte,“ rief Kayser in ausbrechendem Zorn. „Schwesterlich nahe treten! Hat man schon jemals dergleichen gehört? – Halten Sie mich für einen Narren? Ich glaube, Einer von uns hat den Verstand verloren, aber es gereicht mir zur Befriedigung, zu wissen, daß ich es nicht bin.“
„Herr Kayser!“ rief Paula.
„Oder halten Sie es vielleicht für verständig und correct gehandelt, erst ein Langes und Breites über Ihre Absicht, zu heirathen, zu sprechen und dann –“
Er hielt plötzlich inne und spähte die Landstraße entlang.
„Nun, da haben wir’s. Da kommen sie bereits,“ rief er verdrießlich, „und ich habe der Hörig noch gar nicht gesagt, daß ich Gäste erwarte.“
„Wen erwarten Sie? Wer kommt?“ fragte Paula auffahrend.
„Die beiden Reinhards natürlich! Was sollen sie denn dort frühstücken in dem leeren Neste?“
„Warum haben Sie mir nicht früher gesagt, daß Sie sie eingeladen haben?“ fragte Paula, eilig die Stufen der Haustreppe hinaufspringend.
Kayser antwortete nicht. Aber er sah mit zornigem Stirnrunzeln dem jungen Mädchen nach, wie sie auch die Treppe zum Oberstock leichtfüßig hinaneilte, und hörte, wie sie mit dem lauten, erregten Rufe: „Marie! Hanna!“ die Thür zu dem Wohnzimmer der Letzteren öffnete. Dann wandte er sich [820] brummend der schnell herbeigeeilten Dienerschaft zu, derselben die nöthigen Befehle zu geben. Und kaum hiemit fertig, hatte er die beiden Brüder zu empfangen, deren Wagen eben an der Freitreppe vorfuhr.
„– – und Ihnen, als dem ältesten Bruder, wollte ich die Sache zuerst mittheilen. Ich würde mich freuen, lieber Freund, wenn Sie mich ebenso gern in Ihrer Familie aufnehmen möchten, wie ich gern in dieselbe eintrete.“
„Ich denke, darüber dürfen Sie keinen Zweifel hegen,“ entgegnete Max, die Hand seines künftigen Schwagers herzlich drückend. „Wie wir Beide mit einander stehen, wissen wir. Unsere Freundschaft kann durch ein verwandtschaftliches Verhältniß kaum noch vergrößert werden. Wie mich diese Nachricht erfreut! Ich hoffe – ja ich bin überzeugt, daß das eine glückliche Ehe werden wird.“
Die Männer standen sich im Arbeitszimmer Kayser’s, wohin dieser seinen Gast geführt hatte, gegenüber. Es waren nur wenige Worte zwischen ihnen gewechselt worden, aber die Beiden kannten sich genug, um den Werth und die Aufrichtigkeit derselben richtig ermessen zu können. Mit einem nochmaligen festen Händedruck hatten sie die Sache für erledigt und gingen zu anderen Angelegenheiten über.
„Es wird Sie freuen zu hören, daß Ihre Vermuthung sich bestätigt hat,“ sagte Max. „Nicht alle Arbeiter der Fabrik haben sich an dem nächtlichen Ueberfalle betheiligt. Die bessergesinnten haben sich zurückgehalten und mir bereits ihr Bedauern über das Geschehene ausgedrückt. Ich habe Hoffnung, mich mit ihnen zu verständigen.“
„Das freut mich – das freut mich aufrichtig. Der Schrecken dieser Nacht und die schweren Folgen derselben werden sie zur Besinnung bringen. Und wenn Sie, lieber Freund, daraus auch noch die Lehre ziehen möchten, das Rechte, was Sie unzweifelhaft stets zu thun beabsichtigen, mit etwas weniger soldatischer Kürze und Barschheit, mit etwas mehr hier zu Lande üblicher Behaglichkeit zu bewerkstelligen, dann zweifle ich nicht, daß ein ehrlicher, dauerhafter Friede zu Stande kommen wird, zum Gedeihen der Fabrik und aller daran Betheiligten.“
Max lächelte.
„Vielleicht finde ich noch ein wirksameres Mittel, die Leute zu überzeugen, daß mir ihr Wohl am Herzen liegt trotz der von Ihnen gerügten Rauhheit meines äußeren Wesens. Ich habe gute Nachrichten bekommen, Nachrichten, die meinem Fabrikate, statt des verlorenen Absatzes im Westen, einen Markt in Deutschland eröffnen. Ich habe Ihnen die betreffenden Briefe mitgebracht – wollen Sie Einsicht davon nehmen?“
„Ich gratulire, ich gratulire von Herzen,“ sagte Kayser, als er die Papiere wieder zusammenfaltete und sie seinem Gaste hinreichte. „Das sind in der That gute Nachrichten. Es gehört eben nicht viel Scharfblick dazu, Ihnen jetzt zu prophezeien, daß Sie binnen wenigen Jahren ein wohlhabender Mann sein werden.“
„Ich bin noch nicht zu Ende,“ entgegnete Max. „Ich habe außerdem Aussicht, die Lieferungen für das Armeecorps unserer Provinz zu erhalten, auch ist mir verbürgte Kunde zugegangen, daß noch anderweitige sehr umfassende Bestellungen mir zugedacht sind – kurz: ich bin jetzt wirklich nicht zu sanguinisch, wenn ich hoffe, daß die bösen Zeiten nun hinter mir liegen.“
„Ich darf Sie wohl nicht versichern, daß mich das freut, als ob es mich selbst beträfe“, sagte Kayser.
„Und,“ fuhr Max lächelnd fort, „da ich mich nun endlich als freier Mann fühlen kann, der aufgehört hat, ein Sclave der Nothwendigkeit zu sein und es sich gestatten darf, dem Wunsche seines Herzens zu folgen, so soll meine erste freie That dem Wohle meiner Arbeiter gelten. Sobald die Arbeiten in der Fabrik wieder beginnen, werde ich ihnen aus freiem Entschlusse die Zulage gewähren, die ich ihnen früher habe abschlagen müssen. Da die neuen Maschinen mir bedeutende Arbeitskräfte ersparen und die Einnahmen jetzt reichlicher fließen werden, kann ich’s, ohne meine Creditoren dadurch zu schädigen.“
„Daß Sie correct und rechtschaffen handeln, habe ich nie bezweifelt, lieber Freund,“ sagte Kayser warm. „Aber nicht nur jetzt eben sondern bereits heute Nacht haben Sie mir auch den Beweis geliefert, daß Sie ein humaner, warmherziger Mann sind. Das hat meine Achtung für Sie noch erhöht. Als ich Sie heute mit so recht menschlicher Sorge um die Verwundeten bemüht sah, ich habe mir das Wort gegeben, Sie mein Lebelang als einen theuern Freund zu ehren. Ich bitte Sie, mir oft Gelegenheit zu geben, Ihnen diese Freundschaft zu beweisen.“
„Das trifft sich gut,“ entgegnete Max, „denn hier stehe ich vor Ihnen mit einer Bitte auf den Lippen, von deren Gewährung mein Glück abhängt.“
Der bewegte Ton, in welchem er diese Worte sprach, und die erhöhte Farbe seines Gesichtes weckten in Kayser eine Ahnung über die Art des Anliegens, das sein Freund an ihn hatte; auch mochte gleichzeitig die Erinnerung an die stürmische Scene, die er eben mit Paula gehabt, in ihm aufleben. Er fühlte sich einer kleinen Indiscretion gegen Max schuldig, denn er hatte sich zu Andeutungen und Winken herbeigelassen, zu welchen er nicht autorisirt worden war. Und da er auch ihm gegenüber die Erlangung der reichen Erbin als eine lediglich in seine eigene Wahl gestellte Sache dargestellt hatte, so wurde er mit Unbehagen die schwierige Lage inne, in welche er sich gebracht.
„Mein lieber Junge,“ sagte er, indem er mit beiden Händen beschwichtigende und abwehrende Bewegungen machte, „lassen Sie sich rathen: geben Sie die Sache auf! Sie sorgen am besten für Ihr Glück, wenn Sie sich den Gedanken ganz aus dem Kopfe schlagen.“
„Das kann Ihr Ernst nicht sein. Sie selbst haben mir eben erst den Beweis geliefert –“
„Aber ich bitte Sie, das ist ja eine völlig andere Sache,“ fiel ihm Kayser in’s Wort. „Sie können doch keinen Vergleich anstellen wollen zwischen ihr und Marie? Wenn es sich um eine zweite Marie handelte, dann wäre Ihr Wunsch durchaus gerechtfertigt – aber –“
„Verzeihen Sie!“ sagte Max lächelnd, „mein Wunsch ist unter allen Umständen gerechtfertigt. Setzen Sie den Fall, daß die Erwählte meines Herzens meinen Geschmack ebenso befriedigt, wie Marie den Ihrigen! Sollten Sie vielleicht anderweitige Absichten haben – sollte ich zu spät kommen?“
„O nein, durchaus nicht!“ sagte Kayser, seine beiden Hände auf Maxens Schultern legend und ihm eindringlich in’s Gesicht schauend. „Mir persönlich wäre es sehr lieb. Aber lassen Sie sich sagen, mein Junge: es ist nichts mit der Sache. Denken Sie nicht weiter daran!“
„Sie werden entschuldigen, wenn ich dieses seltsame Verlangen nicht erfülle,“ sagte Max ernster als bisher. „Darf ich annehmen, daß ich Ihre Einwilligung habe, meine Sache bei der jungen Dame persönlich zu führen?“
„Da haben wir wieder den alten preußischen Trotzkopf, der sich nicht rathen, nicht leiten läßt. – Es wird Ihnen leid thun, mir nicht gefolgt zu sein.“
„Ich bitte dringend um Ihre Entscheidung, lieber Freund.“
„So gehen Sie hin, wenn Sie es nicht besser haben wollen! Aber ich rathe Ihnen, nehmen Sie Ihre Augen in Acht!“
Max, welcher sich bereits der Thür zugewandt hatte, blieb stehen und schaute dem Sprechenden mit erstauntem Lächeln in’s Gesicht.
„Sie dürfen nicht so ungläubig aussehen – ich spreche aus Erfahrung. Schon bei der leisesten Andeutung unserer Wünsche und Hoffnungen machte sie mir eine Scene, von welcher mir noch die Ohren klingen.“
„Von wem sprechen Sie denn, lieber Herr?“ fragte Max verwundert.
„Nun, von der Erwählten Ihres Herzens – nannten Sie sie nicht so? Machen Sie sich keine Illusionen, mein Junge: es wird aus der Sache nichts – und man kann Ihnen nur gratuliren, daß es so ist. Da hat sie mir heute ein Zeug zusammengeschwatzt, ob dessen Widersinnigkeit Einem die Haare zu Berge stehen. ‚Schwesterliche Gesinnungen‘ hegt sie gegen Sie – haben Sie schon jemals solchen Unsinn gehört? Schwesterliche Gesinnungen!“
Bei diesen Worten Kayser’s schien endlich Licht in das Dunkel zu dringen, in welchem Max sich bisher vergebens zurecht zu finden gesucht hatte. Er brach in ein lautes, herzliches Lachen aus, während Kayser ihn halb unwillig, halb erstaunt anstarrte.
[821][822] Ehe er aber eine Aufklärung geben konnte, wurde leise geklopft, und Mariens hübsches, erröthendes Gesicht erschien in der Thürspalte.
„Nur herein, nur herein!“ rief Kayser, der seinen Aerger bei ihrem Anblicke sogleich vergaß – „Aber was bringst Du denn da noch?“
Diese Frage galt den beiden Gestalten, welche hinter Marie in’s Zimmer geschlüpft waren – Paula und einem jungen, schlanken Dragonerlieutenant, von welchem seine Schwester nicht zu viel gesagt hatte, als sie ihn ein Bild jugendlicher Mannesschönheit nannte.
„Paula’s Bekanntschaft aus Baden-Baden!“ erklärte Marie, indem sie mit lächelnder Miene auf den jungen Officier deutete, „mein Bruder Richard!“
„Derselbe, von dem ich Ihnen bereits sprach,“ ergänzte Paula erröthend. „Ein anderer freilich als Ihr Heirathscandidat, – sein Bruder –“
„Ein Freier,“ nahm Richard selbst das Wort, „der Ihren väterlichen Segen erbittet!“
Sie standen Hand in Hand vor dem erstaunten Hausherrn und schauten ihn mit Blicken an, in denen neben einer ernsten Bitte ein froher, jugendlicher Muthwille funkelte. Kayser hatte ihnen lächelnd seine beiden Hände gereicht: „Kinder,“ sagte er, „löst sich das Räthsel so? Nun, seid glücklich miteinander! Aber eine hinterlistige kleine Hexe bist Du doch, Paula.“
Max aber war zu seiner Schwester getreten und hatte sie in seine Arme geschlossen.
„Möge es zu Deinem Glücke sein!“ sagte er, und seine ernste, männliche Stimme bebte vor Rührung.
„Das wird es. Ich bin sehr glücklich,“ entgegnete Marie, mit heiterem, klarem Blicke zu ihm aufschauend. „Und auch Du wirst es werden, geliebter Bruder. Sieh, vom ersten Augenblicke an war sie mein Liebling. Welch’ eine holde, liebliche Gattin wird sie Dir sein! Dir habe ich sie erwünscht – und Dein wird sie werden.“
„Du sprichst sehr sicher, Marie.“
„Du kannst es auch sein, denn Du wirst geliebt, wie Du es verdienst. Geh, und laß es Dir durch ihren Mund bestätigen! Ich aber will jetzt zum ersten Male erproben, wie weit mein Einfluß bei meinem künftigen Herrn und Gemahl reicht. Ich sehe an seiner gefurchten Stirn, daß die Beiden ohne mich einen schweren Stand haben würden. Sie sind aber zu jeder Concession bereit, und ich will mit mütterlichem Heldenmuthe für meinen lieben Jungen kämpfen.“
Während Max das Zimmer verließ, wandte Marie sich der Gruppe am Fenster zu, mit einem Lächeln, das bei aller Lieblichkeit und Freundlichkeit dennoch eine gewisse Zuversicht ahnen ließ.
Als Reinhard einige Augenblicke später die Thür des Gartensaales öffnete, sah er die, welche er suchte, am jenseitigen Ende des Gemaches stehen. Sie hatte der Thür, durch welche er eintrat, den Rücken zugewandt und beugte sich über einen Tisch, auf welchem Blumen in reicher Fülle lagen. Sie war so vertieft in die Beschäftigung, dieselben in hohen silbernen Tafelaufsätzen zu ordnen, daß sie den sich nahenden Schritt nicht hörte. Erst als seine Gestalt zwischen sie und das Licht trat, blickte sie auf. Ob es nun die Plötzlichkeit seines Erscheinens war, oder ob das junge Mädchen in seinem Gesichte den Ausdruck dessen wahrnahm, was seine Seele so stürmisch bewegte – dem plötzlichen Erbleichen bei seinem Anblicke folgte ein ebenso schnelles Erröthen. Ihre Hand stützte sich fester auf die Tischplatte und die silbernen Vasen auf derselben klirrten leise gegen einander.
„Verzeihen Sie! Ich habe Sie erschreckt,“ sagte Max, selbst erschrocken bei dem Anblicke des zitternden Mädchens. „Ich habe dem Wunsche, Ihnen eine Nachricht mitzutheilen, die mich beglückt, zu stürmisch nachgegeben.“
„Die beste Nachricht ist die, welche mir Ihr Erscheinen gewährt: Sie sind aus den Gefahren der Nacht unverletzt hervorgegangen.“
„Aber die, welche ich Ihnen setzt mitzutheilen habe, giebt dem mir erhaltenen Leben erst seinen Werth. Sie macht mich zum freien Mann – sie gewährt mir die Ausübung schöner menschlicher Rechte. Der Druck der Verhältnisse ist von mir genommen. Ich kann vor diejenige treten, die ich liebe seit dem ersten Augenblicke, da ich sie gesehen, und zu ihr sprechen: ich habe Dir kein glänzendes Loos zu bieten, aber so wie es ist – willst Du es mit mir theilen? Hanna, welche Antwort werde ich erhalten?“
Er stand vor ihr, das edle Haupt geneigt, die Augen, die sie so sehr liebte, in ernster Frage auf sie gerichtet. Waren es die Thränen in ihrem Blick, oder raubte ihr die Größe und Plötzlichkeit des über sie ausgeschütteten Glückes die Fähigkeit des klaren Sehens? Wie ein Nebel schwankte es vor ihrem Auge; was ferner geschehen war, konnte sie in späterer Zeit nie deutlich berichten. Aber sie pflegte lächelnd zu behaupten, daß ihr Gatte an jenem denkwürdigen Tage sehr eigenmächtig mit ihr verfahren sei. Er habe, so sagt sie, ihr zustimmendes Ja gar nicht abgewartet, sondern aus eigener Machtvollkommenheit sie in seine Arme geschlossen, sie geküßt und seine Braut genannt.
„Also auch das noch!“ sagte Kayser eine halbe Stunde später, als er mit Marien am Arm, hinter sich das andere Paar, in den Gartensaal trat, wo Max und Hanna Arm in Arm vor dem Tische standen, auf welchem die Vasen noch immer ihres Inhaltes harrten. „Also auch das muß ich noch erleben. Wenn ich mir die Sache recht überlege, so finde ich, daß ich auf schamlose Weise von Euch getäuscht worden bin.“
„Ich trage keine Schuld daran,“ sagte Max schnell. „Sie müssen zugeben, daß ich die Absicht hatte, ehrlich gegen Sie zu handeln. Sie selbst haben Confusion in die Sache gebracht. Sie haben mir Rathschläge gegeben, die ich nicht befolgen konnte, und Warnungen zugeflüstert, die sich durchaus nicht bewährt haben. Sie haben sich so böswillig gezeigt, daß ich die Angelegenheit in meine eigene Hand nehmen mußte.“
„Also ich werde sie an einem Tage los, die beiden Plagegeister meines Lebens, meine Nichte und meine Mündel. Gott segne Dich, Kind!“ fuhr er fort, Hanna in seine Arme schließend. „Es hat mir so wohlgefallen Dich in meinen Hause zu haben, daß ich Dich gern noch länger behalten hätte. Aber das Kind meines Hauses sollst Du auch fernerhin bleiben, mit allen Rechten desselben, hörst Du? Das Kind meines Bruders, die einzige Verwandte, die ich habe, soll unter meinem so spät errungenen Glücke nicht leiden. Und was ich mir stets vorgenommen hatte zu thun, soll jetzt um so lieber geschehen, als mein lieber Freund und Schwager mein Schwiegersohn wird. Und jetzt sind wir fertig, hoffe ich, und können zu Tische gehen.“
„Erst möchte ich noch einen Boten an Tante Siddy schicken, wegen der Einquartierung,“ sagte Paula.
„Ach, Tante Siddy!“ rief Kayser. „Die Einquartierung ist bereits da,“ fuhr er fort, seine Tasche untersuchend und einen Brief zu Tage fördernd, „und hier ist ein schriftlicher Jammerschrei darüber. Zehn Mann Dragoner nebst zehn Pferden und ein Officier noch außerdem angesagt! Ich, als Vormund, soll gegen solche Zumuthung energisch auftreten. Sie sträubt sich vorzüglich gegen den Officier – die Arme! Sie ahnt nicht, daß ihr der als eine Art Strafpreuße dauernd in das Haus rückt.“
„Ich hoffe die Dame mit diesem Arrangement bald auszusöhnen,“ sagte Richard lächelnd.
„Das soll mich freuen, mein Junge. Denn sobald Sie die Bedingungen erfüllt haben, die ich Ihnen gestellt –“
„Ja,“ fiel Richard ihm ins Wort, „ich will sie erfüllen, wie ein ehrlicher Mann. – Max,“ wandte er sich an seinen Bruder, „ich folge damit auch Deinem Rathe und Deinem Wunsche; ich quittire den Dienst und werde Landmann.“
„Schön,“ fuhr Kayser fort, während Max seinem Bruder zunickte, „wenn dies also geschehen ist, will ich meinem Versprechen gemäß Ihre Sache gegen alle äußere Anfechtung vertreten; die Tante Clemence nehme ich auf mich. Damit aber ist’s auch genug. Mit Ihren häuslichen Angelegenheiten will ich nichts zu schaffen haben. Sehen Sie zu, wie Sie Herr im Hause werden!“
Richard blickte lächelnd auf Paula nieder, die an seinem Arme lehnte.
„Ich hoffe dieser Aufgabe gewachsen zu sein,“ sagte er, seine Lippen auf ihre dunklen Locken drückend.
„Und ich weiß es ganz bestimmt,“ sagte Marie, ihre beiden Brüder mit stolzem Lächeln betrachtend. „Es geht eine alte Tradition durch unser Haus, welche sagt, daß ein Reinhard noch
[823] nie durch den Haß oder die Ungunst einer Frau gelitten hat, noch je leiden wird.“
Kayser mochte finden, daß die beiden vor ihm stehenden Repräsentanten des Namens geeignet seien, den alten Ruhm ihres Geschlechtes zu bewähren. Er fügte seiner indirecten Warnung kein weiteres Wort bei.
„Und nun,“ sagte er heiter, „möchte ich den Vorschlag machen, ohne weiteren Verzug zu Tische zu gehen. Kommen Sie, meine Herrschaften! Ich habe seit gestern Abend sehr viel erlebt und sehr wenig genossen. Und in Anbetracht dessen wird mir Marie hoffentlich verzeihen, wenn ich gestehe, daß in diesem Augenblicke die beiden mächtigsten Factoren, welche den Menschen bewegen, die Liebe und der Hunger, sich redlich in meinen inneren Menschen theilen.“
Ein Zweikampf auf dem Gebiete des Geistes.
Von allen Wanderversammlungen, mit welchen Deutschland Jahr aus Jahr ein gesegnet, sind keine so sehr in das Fleisch und Blut der gesammten Nation übergegangen, wie die seit dem zweiten Decennium unseres Jahrhunderts in’s Leben getretenen und stets wachsenden Zusammenkünfte der deutschen Naturforscher und Aerzte. Zum fünfzigsten Male versammelten sich die Koryphäen deutscher Naturforschung vom 17. bis 22. September dieses Jahres zu München, allwo sie fünfzig Jahre vorher unter den Auspicien des kunstsinnigen Königs Maximilian Joseph des Ersten von Baiern ein gastliches Obdach gefunden.
Den hehrsten Beweis, welch eine Macht die deutsche Naturforschung geworden ist, wie ihre leuchtenden Resultate nicht nur durch die engsten Spalten in die Hütte des Armen gedrungen, sondern auch durch die weiten Pforten der fürstlichen Paläste Eingang gefunden haben, liefert uns die Jubiläumsfeier der großen Wanderversammlung; denn an ihrer Spitze stand ein deutscher Fürst, Mitglied eines kunstsinnigen und die Wissenschaft fördernden Königshauses, und was dem deutschen Forscher zur besonderen Freude gereichen muß, in einem Theile unseres deutschen Vaterlandes, in dessen Süden der dunkle Ultramontanismus und in dessen Norden ein trauriges Muckerthum mit schwarzem Fittige dem klärenden Lichtstrahle den Eingang verdecken möchte.
Leitender Präsident der Verhandlungen war nämlich der Herzog Karl Theodor in Baiern, welcher nicht nur ein allgemeines Interesse für die deutschen naturwissenschaftlichen Forschungen überhaupt seit Jahren bethätigte, sondern auch selbst als bekannter Forscher auf dem Gebiete der Anatomie und Pathologie sich in der wissenschaftlichen Welt einen geachteten Namen erworben hat; von der medicinischen Facultät der Universität München wurde demselben schon vor mehreren Jahren das Ehrendoctorat verliehen. Der Herzog Karl Theodor begrüßte die Versammlung in längerer Rede, in welcher er besonders darauf hinwies, daß der Genius unseres Zeitalters die Gemeinsamkeit aller naturwissenschaftlichen Erkenntniß anstrebe und daß die Naturwissenschaften allein es seien, durch deren Pflege das Volk seinem Wohle mit sicheren und steten Schritten entgegengehe. – Die Versammlung stand unter der weiteren Leitung zweier Geschäftsführer, des berühmten Vorkämpfers für die Einführung der öffentlichen Gesundheitspflege in Deutschland, Geheimrath Max von Pettenkofer und des durch seine trefflichen Schilderungen aus der vorsündfluthlichen Welt weitbekannten Naturforschers Professor Dr. Zittel.
Die Verhandlungen der deutschen Naturforscher zu München haben, im Vergleich mit allen früheren derartigen Versammlungen, in der Oeffentlichkeit einen überwältigenden Eindruck hervorgebracht, denn es wurde daselbst ein Geisteskampf eröffnet, dessen Streitfragen für die freie Forschung, deren wir uns bis jetzt in Deutschland erfreuen, von der bedeutendsten, aber auch von der traurigsten Tragweite werden können.
Wissen ist Macht. Dieser Satz wird von jedem Gebildeten anerkannt. Die Naturwissenschaft aber ist die Macht, die dazu bestimmt ist, in der Culturgeschichte die größte Rolle zu spielen; von ihrer allseitigen Anerkennung hängt nicht nur das körperliche Wohl der gesammten Menschheit ab, sondern vornehmlich die geistige Entwickelung und der Fortschritt der Einzelstaaten und ihrer Völker.
Durch das zufällige Zusammentreten gegnerischer Ansichten wurde in den denkwürdigen Sitzungen zu München die wichtige Frage erörtert, wie die Resultate der Wissenschaft für das Leben und die höchsten Ziele der Menschheit verwendet werden sollten, ob es besser sei, das feurige Licht aus den engen Laboratorien der Forscher hinausstrahlen zu lassen in die wissensdurstige Menge, oder ob es vorzuziehen, das Volk im Dunkelen zu halten über die Bestrebungen seiner Geistesfürsten, ob man ihm nur das bieten solle, was in der Küche des Chemikers für den Magen des der feinen Geisteskost Ungewöhnten durchgekocht und unter dem Mikroskope des Anatomen als für den Laiengenuß unschädlich erkannt worden sei, oder ob man das Volk auch einweihen solle in die Hypothesen der freien Forschung. Zwei scharfe Gegensätze machten sich hier geltend: auf der einen Seite die jugendliche Frische und der sprudelnde Geist des berühmten Darwinianers Ernst Häckel aus Jena – auf der anderen die ruhige Bedächtigkeit und der politisch-wägende Verstand des großen Anatomen Rudolph Virchow.
Das allgemeine Interesse, welches die Forschungen dieser beiden Männer der Wissenschaft in ganz Deutschland erregen, veranlaßt uns, den Lesern der „Gartenlaube“ einen Einblick in den geistigen Kampf zu bieten, welcher zwischen den Ansichten der beiden Kämpfer in München erstand. Gleichzeitig traten noch zwei andere Forscher auf, Professor Waldeyer aus Straßburg, der zu Virchow’s Ansicht, und Professor Nägeli aus München, welcher zu Häckel’s Theorie in eingehendem Vortrage hinneigte. Leider verbietet uns der knapp bemessene Raum, auch auf deren Reden näher einzugehen. Hören wir aber, was Ernst Häckel gebracht:
„Ueber die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft.“ Von Charles Darwin ausgehend, der vor achtzehn Jahren die starre Eisdecke der herrschenden Vorurtheile zuerst durchstieß, wies Redner auf die Zeiten der Naturphilosophie zurück, welche den ersten Grundstein zu dem gewaltigen Bau der einheitlichen Entwickelungsgeschichte legte. Nachdem er in historischer Reihenfolge die Errungenschaften der jüngsten Jahrzehnte dargelegt, wandte er sich der „Seelenfrage“ zu, welche heute in einem ganz anderen Lichte erscheine, als vor zwanzig Jahren. Gleichviel, wie man sich auch den Zusammenhang von Seele und Leib, von Geist und Materie vorstellen wolle, so gehe so viel aus der heutigen Entwickelungslehre hervor, daß mindestens alle organische Materie, wenn nicht überhaupt alle Materie, in gewissem Sinne beseelt sei. Zunächst habe uns die fortgeschrittene mikroskopische Untersuchung gelehrt, daß die anatomischen Elementartheile der Organismen, die Zellen, allgemein ein individuelles Seelenleben besitzen. Bei den einzelligen Organismen, den Infusorien, fände man denn auch dieselben Aeußerungen des Seelenlebens, Empfindung, Darstellung, Willen und Bewegung, wie bei den höheren Thieren. Die Einheit der Weltanschauung, zu der uns die neue Entwickelungslehre hinführe, löse den Gegensatz auf, welcher bisher zwischen den verschiedenen dualistischen Weltsystemen bestand. Sie vermeide die Einseitigkeit des Materialismus, wie des Spiritualismus; sie verbinde den praktischen Idealismus mit dem theoretischen Realismus; sie vereine Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu einer allumfassenden, einheitlichen Gesammtwissenschaft. Die weitaus wichtigste und schwierigste Anforderung, welche die praktische Philosophie an die Entwickelungslehre stelle, scheine diejenige einer neuen Sittenlehre zu sein. Nun hielten aber bisher die weitesten Kreise an der Ueberzeugung fest, daß diese wichtigste Aufgabe nur im Zusammenhange mit gewissen kirchlichen Glaubenssätzen zu lösen sei.
„Unabhängig von jedem kirchlichen Bekenntnisse,“ fuhr der Vortragende fort, „lebt in der Brust jedes Menschen der Keim einer echten Natur-Religion; sie ist mit den edelsten Seiten des Menschenwesens selbst untrennbar verknüpft. Ihr höchstes Gebot ist die Liebe, die Einschränkung unseres natürlichen Egoismus [824] zu Gunsten unserer Mitmenschen und zum Besten der menschlichen Gesellschaft, deren Glieder wir sind.
Diese bedeutungsvolle Erkenntniß sollte sich die Kirchenreligion zu Nutze machen, statt sie zu bekämpfen. Denn nicht derjenigen Theologie gehört die Zukunft, welche gegen die siegreiche Entwicklungslehre einen fruchtlosen Kampf führt, sondern derjenigen, welche sich ihrer bemächtigt, sie anerkennt und verwerthet. Der Sieg des Monismus, der Lehre von der inneren Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit des Idealen und Realen, über sein Gegentheil, den Dualismus, eröffnet uns den hoffnungsvollsten Fernblick auf einen unendlichen Fortschritt ebenso unserer moralischen wie unserer intellectuellen Entwickelung. In diesem Sinne begrüßen wir die heutige, von Darwin neu begründete Entwickelungslehre als die wichtigste Förderung unserer reinen und angewandten Gesammtwissenschaft.“
Mit Spannung sah man der Sitzung entgegen, in welcher der gegnerische Vortrag Rudolph Virchow’s in Aussicht stand: „Ueber die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat“. Die Ausführung dieses Themas hatte vornehmlich den Inhalt der vorangegangenen Vorträge der Herren Häckel und Nägeli im Auge, wobei der berühmte Redner in einer nicht gerade streng wissenschaftlichen Form der Darstellung die Forschungen der Genannnten in bestimmte Grenzen zurückwies. Redner wies darauf hin, daß durch die modernen Hypothesen die mühsam errungene Freiheit des Lernens und des Lehrens gefährdet werden könne, wir daher jetzt gezwungen seien, durch eine rücksichtsvolle Mäßigung auf dem Gebiete des Forschens, durch persönlichen Verzicht auf Liebhaberei und gewisse Ansichten die günstige Stimmung der Nation zu erhalten. Virchow warnte weiter, daß man nicht in der persönlichen Freiheit, welche sich jetzt auf dem Gebiete der Naturwissenschaften „breit mache“, fortfahre. Alles, was blos in den Bereich der Probleme und der speculativen Erörterungen gehöre, dürfe weder auf materiellem, noch auf geistigem Gebiete der Nation dargeboten werden; die neuen Theorien der Entwickelungsgeschichte und der Lehre der Abstammung des Menschen vom Affen dürften durchaus nicht in die Schulen hineingetragen werden. Jede vollständig festgestellte Wahrheit könne man jedem Gebildeten, ja jedem Kinde übergeben, ohne den Vorwurf des Halbwissens auf sich zu laden. Bei Trennung des Wissens aber habe man sich auch in der Naturforschung zu erinnern, daß sie, wie Alles in der Welt, aus drei verschiedenen Stücken zusammengesetzt sei: aus objectivem und subjectivem Wissen, wozu als Mittelstück der Glaube, der auch in der Wissenschaft, wie in der Religion bestehe, hinzutrete. Umgekehrt habe auch die Kirche ihre objective Seite, nämlich die historische, und ihre subjective, die in Visionen, Träumen und Hallucinationen zu Tage trete. Es mag die Mehrzahl der Naturforscher der Meinung sein, der Mensch stehe mit der Thierwelt im Zusammenhange. Das dürfe man aber nur dem Höchstgebildeten gegenüber als Vermuthung aussprechen. Jedem „Bauernjungen“ aber dürfe man nie sagen: Das weiß man, und das vermuthet man. Auch der Socialismus habe bereits Fühlung mit der Descendenztheorie. Es könne ja die Lehre der Abstamnnung des Menschen richtig sein, sie sei aber nicht erwiesen, da noch kein Affenschädel gefunden worden, der einem Menschen hätte angehören können, und so sei immer thatsächlich noch eine scharfe Grenze zwischen Mensch und Affe. Wer lehren will, dürfe nicht das subjective Wissen zum Gegenstande der Doctrin mache.
Besonders jeder Versuch, die Kirchenlehre durch eine Abstammungstheorie zu ersetzen, müsse scheitern und würde die höchste Gefahr für die Wissenschaft mit sich bringen. „Jeder einzelne Naturforscher,“ schloß der Vortragende seine bedeutungsvolle Rede, „muß sich gerade jetzt doppelt prüfen, wie viel von dem, was er weiß, objective Wahrheit ist, und er muß sich bemühen, alle inductiven Erweiterungen und Schlüsse, die noch so naheliegend erscheinen, mit kleinen Lettern unter den Text drucken zu lassen. Der alte Baco sagte: Scientia est potentia (Wissen ist Macht), aber er hat auch das Wort definirt, nicht als speculatives, sondern als objectives Wissen. Wir werden unsere Macht gefährden, wenn wir nicht auf die vollkommen sicheren, berechtigten und unangreifbaren Gebiete uns zurückziehen.“
So weit in Kürze die Rede Rudolph Virchow’s. Auf die höchst interessanten und fesselnden Mittheilungen noch einiger anderen Gelehrten hier näher einzugehen, müssen wir verzichten, da wir uns bestreben wollen, die Leser dieses Blattes vornehmlich in jenen bedeutungsvollen Kampf der Ansichten über die Grenzen naturwissenschaftlicher Forschung einzuführen.
Wir sind weit davon entfernt, Virchow’s Ansicht, daß man nur dasjenige als positive Wahrheit lehren solle, was objectiv und unumstößlich nachgewiesen ist, zu beanstanden. Allein wenn wir uns von der Herrschaft des Uebernatürlichen und Unbegreiflichen nicht von vornherein losmachen und das Wesen der Dinge nicht in uns selbst suchen, können wir nie zum Endziele einer objectiven Wahrheit gelangen. Die Annahme, daß kein Naturgesetz existirt, außer demjenigen, welches lebendig in der Natur, an den Stoff gebunden, schaltet und waltet, ist eine logisch begründete Wahrheit, und es muß mit Entschiedenheit davor gewarnt werden, daß auf dem vorandringenden Wege der Forschung aus „Rücksicht“ vor dem „Unbegreiflichen“ Halt gemacht werde.
Nicht der Ausspruch Virchow’s, daß der Darwinianismus Behauptungen aufstelle, die er noch nicht beweise könne, ist es, was wir beanstanden, sondern das Hereinziehen von Warnungen, die auf die Kanzel eines Prälaten, nicht auf das Katheder eines Naturforschers gehören.
Wenn auch das Positive eines Theiles der Darwin-Häckel’schen Arbeiten noch nicht in allen Einzelnheiten mathematisch festgestellt ist, so sind doch die negativen Beweise gegen das Uebernatürliche, gegen den Spiritualismus und gegen gewisse Dogmen so überwältigend und vernichtend, daß allerdings jene ehrenhafte Forscher sich sagen mußten: das darf ich der Welt nicht vorenthalten; das darf ich nicht in das Kämmerlein meiner Eigenbeobachtung einschließen.
Virchow geräth leider bei seinen wohlgemeinten Bestrebungen in den Fehler, daß er den Politiker und den Naturforscher zugleich auf die Rednerbühne führt. Die Rücksichten, welche jene Seite der Thätigkeit mit sich bringt, dürfen aber die freie Arbeit der Forschung niemals beeinflussen. Denn was hat die strenge Wissenschaft mit den Auswüchsen der Politik, dem Socialismus, dem Spiritismus und den Visionen und Hallucinationen verrückter Heiligen zu thun? Mit seinen Auseinandersetzungen auf der Naturforscherversammlung zu München hat Virchow der Wissenschaft den entgegengesetzten Dienst erwiesen, den er ihr leisten wollte, denn die Schwarzbemäntelten in Staat und Kirche haben die Worte des auf dem Gebiete des Geistes so einflußreichen Mannes schon ausgebeutet und halten solche der freien Forschung alltäglich als abwehrenden Schild entgegen.
Das deutsche Volk muß und wird Häckel dankbar dafür sein, daß er uns mit den Resultaten des bedeutendsten Naturbeobachters der Neuzeit, den Forschungen Darwin’s, so innig bekannt gemacht hat. Glücklicher Weise ist der gesunde kernige Sinn unter den Gebildeten unseres Volkes schon so weit für das Erfassen der Naturwahrheiten herangediehen, daß er sich selbst durch die angstmachenden Schläge aus dem sonst so fortschrittlichen Munde nicht einschüchtern lassen wird. Jeder Gebildete weiß, daß die Naturwissenschaften keine gefährlichen Waffen des Satans gegen die Kirche sind oder sein sollen. Darwin selbst hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, als solle seine Lehre feindlich gegen Religion und Kirche vorgehen. Er steht im reinen Dienste der Wissenschaft, für deren freie Bewegung er allerdings keine Schranken kennt.
Auch sieht die aufgeklärte Geistlichkeit in den Bestrebungen der modernen Forschung durchaus nichts Feindliches gegen die Kirchenlehre, und ein College Virchow’s aus dem preußischen Abgeordnetenhause, der evangelische Pfarrer Richard Schumann, macht in einer trefflichen Broschüre „Darwinismus und Kirche“ darauf aufmerksam, daß die moderne Naturwissenschaft ganz gut neben der Kirche einhergehen könne, da der Gottesbegriff ein Besitz der inneren Welt sei, daß Gottes Dasein weder durch ein Mikroskop und Teleskop erwiesen noch fortgewiesen werden könne, daß daher auch der große Astronom Laplace mit Recht einst von sich habe sagen können, daß er den ganzen Himmel durchforscht, aber Gott nicht darin gefunden, denn – er habe ihn ja nicht daselbst gesucht. Das Grenzgebiet, wo Religion und Naturwissenschaft sich berühren, sei kein mit sicheren Grenzpfählen umstecktes Eigenthum der Religion, und die Kirche solle sich daher hüten, durch Machtsprüche auf ein Gebiet, das nicht das ihre, hinüberzutreteten, um zu erweisen, wie machtlos sie dort sei.
[825] Warum wird Professor Virchow, der radicale Naturforscher, der liberale Politiker, auf diesen Grenzgebieten wandelnd, auf einmal ängstlicher, als ein frommer evangelischer Geistlicher, warum hält er den abgegriffenen Popanz der Socialdemokratie seinen Collegen als Warnung entgegen? Weil er die ernsten und nur mit sich selbst rechnenden Forscher Darwin und Häckel in den großen Troß literarischer Wegelagerer hineinstößt, welche an dem Forscherschweiße der Genannten sich mästen und aus den herrlichen Bauten derselben einige Steine ausbrechen, um damit den Gläubigen die Kirchenfenster einzuwerfen. Wenn auch noch kein vorsündfluthlicher Mensch mit einem Affenschädel gefunden worden ist, und der vollständige Ausbau der darwinischen Theorie noch nicht ermöglicht wurde, so geht trotzdem aus allen Ergebnissen der einschlägigen Lehren hervor, daß nur in einer einheitlichen Weltanschauung der Gipfelpunkt aller naturwissenschaftlichen Forschung zu suchen sei. Der Darwinismus und die Kirche wollen und können durchaus nichts mit einander zu thun haben. Zwischen den Vertretern der strengen Naturforschung und den Anhängern des blinden Glaubens gähnt eine unübersteigbare Kluft, die niemals zu gegenseitigem Verständnisse führen kann; daher mögen beide neben einander bestehen, bis jene unumstößlichen Beweise geliefert worden sind, welche die Lüge auf der einen oder auf der anderen Seite in jenen gähnenden Abgrund gestürzt haben.
Die Gebildeten im deutschen Volke sind glücklicher Weise geistig genug fortgeschritten, um den Arbeiten ihrer Forscher mit der nöthigen Objectivität folgen und beurtheilen zu können, wo Wahrheit, wo Lüge zu Hause sind – denn für „Bauernjungen“ hat weder Darwin noch Häckel geschrieben. Die geistige Größe der deutschen Nation liegt eben gerade darin, daß sie an den Bestrebungen der naturwissenschaftlichen Forschung einen so regen Antheil nimmt und den Arbeiten ihrer Wissensfürsten bis in die Enge der Laboratorien hinein folgt. Nur durch eine allgemein verständliche Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse sowohl der positiven Errungenschaften, wie auch der negativen Nachweise von Seiten derjenigen, die auf den betreffenden Gebieten selbstthätig arbeiten, kann auch das Volk zum Selbstdenken und zur geistigen Freiheit herangezogen werden. Dazu zeigen die öffentlichen Versammlungen der deutschen Naturforscher und Aerzte den trefflichsten Weg, und darum soll auch durch ihren Mund dem Volke Rechenschaft abgelegt werden von dem, was da ist, aber auch von dem, was nicht ist.
Möge das Wohlwollen der Nation den herrlichen Vereinigungen, welche nun durch fünfzig Jahre den Glanzpunkt deutschen Wissens und freier Forschung bilden, erhalten bleiben!
Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich.
Mit dem Ende des August näherte sich auch die Jagd auf die Franzosen im Maasgebiet ihrem Ende. Am Morgen des 1. September begab sich der Bundeskanzler von dem Hause in Vendresse, in dem er Quartier genommen, nach einer Höhe bei Sedan, um der voraussichtlichen Katastrophe beizuwohnen, und ich durfte ihn wieder begleiten. Bevor wir abfuhren, fragte er, ob ich dechiffriren könne, und als ich dies bejahte, hieß er mich einen Chiffre mitnehmen. Nachdem der König begleitet von der bunten Stabswache vorausgefahren, folgten wir ihm, wobei wir zunächst die Tags vorher berührten Ortschaften Chemery und Chehery wieder durchfuhren und dann bei einem dritten Dorfe, das links von der Chaussee in einer Bodensenkung liegt, am Fuße eines kahlen Hügels auf einem Stoppelfelde zur Rechten der Straße Halt machten. Hier stieg der König mit seinem Gefolge von Fürsten, Generalen und Hofleuten zu Pferde; unser Chef that desgleichen, und Alles begab sich nach dem flachen Gipfel der Anhöhe über uns. Wie uns ferner Kanonendonner verkündete, war die erwartete Schlacht bereits im Gange. Heller Sonnenschein am wolkenlosen Himmel leuchtete dazu.
Ich folgte nach einer Weile den Reitern, indem ich den Wagen unter Engel’s Aufsicht zurück ließ, und fand die Herrschaften oben auf einem Stoppelacker, wo man die Gegend weithin übersah. Vor uns geht es in ein tiefes, breites, größtentheils grünes Thal hinab, durch dessen Wiesen sich ein blauer Fluß, die Maas, an einer mittelgroßen Stadt, der Festung Sedan, vorbei schlängelt. Der Hügelkamm auf unserer Senke ist weiter rechts bewaldet, auch zur Linken ist etwas Laubholz. Der Vordergrund unten vor unsern Füßen bildet vor der Thalsohle noch eine schräge Stufe, und hier stehen rechts vor uns baierische Batterien, die lebhaft gegen die Stadt und über sie hinfeuern, und dahinter dunkle Colonnen, erst Fußvolk, dann Reiterei. Noch weiter rechts wirbelt neben dieser Bodenstufe aus einer Vertiefung eine Säule schwarzen Rauches auf. Es ist, wie man hört, das in Brand gesteckte Dorf Bazeilles. Sedan ist in der Luftlinie eine kleine Viertelmeile von uns entfernt; seine Häuser und Kirchen sind bei dem hellen Wetter deutlich zu unterscheiden. Ueber der Festung, an die sich auf der Linken eine Art zerstreuter Vorstadt anschließt, erhebt sich am andern Ufer des Flusses ein langgestreckter Höhenzug, in der Mitte mit Gehölz bedeckt, welches auch in die Schlucht hinabsteigt, die hier den Bergrücken spaltet, links kahl, rechts mit einzelnen Bäumen und Büschen bestanden. Bei der Schlucht einige Bauernhäuser. Links von dem Höhenzug eine Ebene, aus der noch ein kleiner Hügel aufsteigt, welcher oben eine Gruppe dunkler hochstämmiger Bäume zeigt. Nicht weit davon im Flusse die Pfeiler einer gesprengten Brücke. In weiterer Ferne rechts und links noch drei oder vier Dörfer. Dahinter gegen den Horizont hin ist das Bild vor uns von mächtigen Bergkämmen mit ununterbrochenem schwarzgrünem Walde eingerahmt. Es sind die Ardennen an der belgischen Grenze. Auf den Hügeln unmittelbar jenseits der Festung ist jetzt die Hauptstellung der Franzosen. Unsere Truppen scheinen sie hier umfassen zu wollen. Gegenwärtig indeß gewahrt man deren Heranrücken nur auf der Rechten, indem sich die Linie ihrer feuernden Geschütze, mit Ausnahme der baierischen unter unserm Standpunkte, welche stehen bleiben, langsam heranschiebt. Allmählich geht Pulverrauch auch hinter dem Höhenzug mit der Schlucht im Mittelgrunde auf, und man erkennt daran, daß die den Feind einschließenden Corps die Schlinge, die sie bilden, stetig weiter zuziehen. Auf der Linken des Bildes dagegen ist es noch völlig still. Um elf Uhr steigt auch in der Festung, die, beiläufig bemerkt, nicht selbst schießt, eine schwarzgraue Rauchsäule empor. Jenseits heftiges Feuern der Franzosen und über dem Walde der Schlucht unaufhörlich zu gleicher Zeit eine Anzahl weißer Granatwölkchen. Bisweilen auch das Geknarr und Gerassel einer Mitrailleuse.
Auf unserem Berge glänzende Versammlung: der König, Bismarck, Moltke, Roon, eine Anzahl Fürstlichkeiten, Prinz Karl, die Hoheiten von Weimar und Coburg, der mecklenburgische Erbgroßherzog, Generäle, Flügeladjutanten, Hofmarschälle, Graf Hatzfeldt, der nach einer Weile verschwunden ist, Kutusoff, der russische, und Oberst Walker, der englische Militärbevollmächtigte, General Sheridan, sein Adjutant und Andere, Alles in Uniform, Alles mit Feldstechern vor den Augen. Der König stand; Andere, darunter zuweilen auch der Kanzler, hatten auf einem Rain neben dem Stoppelacker Platz genommen.
Eben entwickelte sich nach elf Uhr unsere Angriffslinie auf dem jenseitigen Ufer der Maas durch weiteres Vorrücken um die Stellung der Franzosen zu einem Halbkreise, und ich verbreitete mich darüber etwas laut gegen einen älteren Herrn vom Hofe, als der Minister mich mit seinem scharfen Ohr hörte, sich umsah und mich zu sich heranwinkte. „Wenn Sie strategische Ideen zu entwickeln haben, Herr Doctor,“ sagte er, „so wäre es gut, wenn das weniger vernehmlich geschähe; sonst fragt der König, wer das ist, und ich muß Sie ihm dann vorstellen.“ Bald nachher hatte er Telegramme erhalten, kam und gab mir deren sechs zu dechiffriren, sodaß das Zuschauen für mich einstweilen ein Ende nahm.
Ich ging zu den Wagen hinunter und fand hier in dem unseren unter der aufgespannten Kutschdecke in Graf Hatzfeldt [826] einen Gefährten, der ebenfalls in die Lage versetzt worden, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, der dem Wechsel der Situation aber weniger Befriedigung abgewinnen zu können schien. Der Chef hatte ihm einen vier Seiten langen französischen Brief, der aufgefangen worden, zu sofortigem Abschreiben gegeben. Ich bestieg den Kutschbock, nahm den Chiffre und meinen Bleistift und machte mich an’s Entziffern, während die Schlacht jenseits unserer Höhe wie ein halb Dutzend Gewitter brüllte. Im Eifer, rasch fertig zu werden, wurde ich dabei nicht einmal gewahr, daß die stechende Sonne der Mittagsstunde mir das eine Ohr mit Brandblasen bedeckte. Das erste übersetzte Telegramm sandte ich dem Minister durch Engel, der auch etwas sehen sollte, hinauf; die nächsten beiden überbrachte ich ihm selbst, da – sehr nach dem Geschmacke meiner Schaulust – auf die drei letzten mein Chiffre nicht paßte. Es war dabei vermuthlich nicht viel verloren; denn der Chef meinte, sie würden wohl nur Empfangsbescheinigungen sein.
Es war ein Uhr geworden. Unsere Feuerlinie umfaßte jetzt die größere Hälfte der feindlichen Stellung auf dem Höhenzuge jenseits der Stadt; in weitem Bogen stiegen Wolken von Pulverdampf auf und erschienen die bekannten weißen Nebelkugeln der Shrapnels, nur links war noch eine stille Lücke. Der Minister saß jetzt auf einem Stuhle und studirte ein mehrere Bogen starkes Actenstück. Ich fragte, ob er etwas zu essen oder zu trinken wünsche, wir wären damit versehen. Er lehnte ab: „Ich möchte wohl, aber der König hat auch nichts.“
Die Gegner drüben über dem Flusse mußten sich nun sehr nahe sein; denn man vernahm häufiger als vorher die häßliche Stimme der Mitrailleusen. Zwischen zwei und drei Uhr ging der König nahe an mir vorbei und sagte, nachdem er eine Weile nach der Vorstadt hingeblickt, zu seiner Umgebung: „Sie schieben da links große Massen vor – ich halte das für einen Durchbruch.“ Kurz darauf sah man durch das Glas französische Reiterei auf dem Hügelkamm links vom Walde aus der Schlucht mehrere Angriffe machen, nach denen besonders bei einem auch mit bloßem Auge sichtbaren halbmondförmigen Wege der Boden mit weißen Gegenständen, Pferden oder Mänteln, bedeckt war. Bald nachher wurde das Artilleriefeuer auf allen Punkten schwächer. Die Franzosen, seit einiger Zeit auch von links her eingeschlossen, wo die Württemberger, die nicht weit von unserem Berge ein paar Batterien aufgestellt hatten, und, wie es hieß, das fünfte und elfte Armeecorps heranzogen, gingen überall nach der Stadt zurück. Nach halb fünf Uhr schwieg ihr Geschütz allenthalben, und etwas später verstummte auch das unsere.
Noch einmal wurde die Scene lebendiger. Plötzlich erheben sich erst an einer, dann an einer zweiten Stelle in der Stadt große weißlichblaue Wolken, zum Zeichen, daß es brennt. Auch Bazeilles steht noch in Flammen und schickt hinter dem Horizonte zur Rechten eine Säule dicken gelblichen Qualms in die klare Abendluft empor. Das warme Licht des Spätnachmittags beginnt, immer intensiver werdend, das Thal drunten zu verklären und zu vergolden. Die Hügel des Schlachtfeldes, die Schlucht in deren Mitte, die Dörfer, die Häuser und Thürme der Festung, die Vorstadt Torcy, die zerstörte Brücke heben sich in der Gluth plastisch ab und werden mit ihren Einzelnheiten von Minute zu Minute deutlicher, wie wenn man schärfere und immer schärfere Brillen vornähme. Gegen fünf Uhr spricht General Hindersin mit dem Könige, und ich glaube zu hören, daß er von „Stadt beschießen“ und „Trümmerhaufen“ redet. Eine halbe Stunde später sprengt ein baierischer Officier den Berg heran: General von Bothmer läßt dem Könige sagen, der General Maillinger melde, daß er mit den Jägern in Torcy stehe, daß die Franzosen capituliren wollen und daß man unbedingte Uebergabe verlangt habe. Der König erwidert: „Niemand kann über diese Sache unterhandeln als ich selbst. Sagen Sie dem General, daß der Parlamentär zu mir kommen müsse.“
Der Baier reitet wieder ab in’s Thal. Der König spricht hierauf mit Bismarck, dann Gruppe der Beiden mit dem Kronprinzen, der gegen vier Uhr von links heraufgekommen, Moltke und Roon. Die Hoheiten von Weimar und Coburg stehen etwas abseits auch dabei. Nach einer Weile erscheint ein preußischer Adjutant und berichtet, daß unsere Verluste, soweit bis jetzt zu übersehen, nicht groß sind, bei der Garde mäßig, bei den Sachsen etwas stärker, bei den übrigen Corps geringer. Nur kleine Abtheilungen der Franzosen sind nach den Wäldern an der belgischen Grenze entkommen, die man nach ihnen absucht. Alle Uebrigen sind nach Sedan hineingedrängt. „Und der Kaiser?“ fragt der König.
„Das weiß man nicht, Majestät!“ antwortet der Officier. Bald nach sechs Uhr aber erscheint wieder ein Adjutant und meldet, der Kaiser sei in der Stadt und werde sogleich einen Parlamentär herausschicken. „Das ist doch ein schöner Erfolg,“ sagt der König, sich nach seiner Umgebung umwendend. „Und ich danke Dir (zum Kronprinzen), daß auch Du dazu beigetragen hast.“
Damit gab er dem Sohne die Hand, die dieser küßte. Dann reichte er sie Moltke, der sie ebenfalls küßte. Zuletzt gab er auch dem Kanzler die Hand und unterhielt sich darauf längere Zeit allein mit ihm – was einigen der Hoheiten Unbehagen zu verursachen schien.
Um halb sieben Uhr kommt, nachdem mittlerweile eine Ehrenwache von Kürassieren zur Seite erschienen, der französische General Reille als Parlamentär Napoleon’s den Berg heraufgeritten. Zehn Schritte vor dem Könige steigt er ab und geht auf ihn zu, nimmt die Mütze ab und übergiebt ihm einen großen rothgesiegelten Brief. Der General ist ein ältlicher, mittelgroßer, hagerer Herr in schwarzem, offenem Rocke mit Achselschnur und Epauletten, schwarzer Weste, rothen Hosen und lackirten Steifstiefeln. Er trägt keinen Degen, in der Hand aber ein Spazierstöckchen. Alle treten von dem Könige zurück, der das Schreiben öffnet und liest und hierauf den (jetzt bekannten) Inhalt Bismarck, Moltke, dem Kronprinzen und den übrigen Herrschaften mittheilt. Reille steht noch etwas weiter unten vor ihm, erst allein, dann im Gespräche mit preußischen Generalen. Auch der Kronprinz, Moltke und die Coburger Hoheit unterhalten sich mit ihm, während der König sich mit dem Kanzler beräth, der dann Hatzfeldt beauftragt, die Antwort auf den kaiserlichen Brief zu entwerfen. Nach einer Weile bringt er sie, und der König schreibt sie auf’s Reine, indem er auf einem Stuhle sitzt und den Sitz eines zweiten Stuhles, den Major von Alten, sich vor ihm auf ein Knie niederlassend, auf das andere Knie gehoben hat, als Tisch benutzt. Kurz nach sieben Uhr reitet der Franzose in Begleitung eines Officiers und eines Ulanentrompeters mit weißer Fahne durch die Dämmerung nach Sedan zurück. Die Stadt brennt jetzt an drei Stellen, und auch in Bazeilles scheint nach der rothangestrahlten Rauchsäule, die über ihm steht, die Feuersbrunst fortzudauern. Im Uebrigen hat die Tragödie von Sedan ausgespielt, und die Nacht läßt den Vorhang fallen. Der König geht wieder nach Vendresse. Der Chef, Graf Bismarck-Bohlen und ich fahren nach dem Städtchen Donchery, wo wir bei völliger Dunkelheit ankommen und im Hause eines Doctor Jeanjot Quartier finden. Der Grund, weshalb wir hierher gekommen sind, ist ein Arrangement, nach welchem der Kanzler mit Moltke hier französische Bevollmächtigte treffen soll, mit welchen man sich über die Bedingungen der Capitulation des in Sedan eingeschlossenen Heeres zu verständigen suchen wird.
Ich schlief hier in einem kleinen Alkoven neben dem Hinterzimmer der ersten Etage Wand an Wand mit dem Kanzler, welcher die große Vorderstube inne hatte. Früh gegen sechs Uhr weckten mich hastige Tritte. Ich hörte, daß Engel sagte: „Excellenz, Excellenz, es ist ein französischer General vor der Thür; ich verstehe nicht, was er will.“ Darauf scheint der Minister rasch aufgestanden zu sein und aus dem Fenster mit dem Franzosen – es war wieder General Reille – kurz verhandelt zu haben. Die Folge war, daß er sich hastig anzog, sich, wie er gestern gekommen, ohne zu frühstücken, zu Pferde setzte und eilig davon ritt. Ich eilte in sein Zimmer und an’s Fenster, um zu sehen, in welcher Richtung er sich entfernte. Alles war hier in Unordnung umhergeworfen, am Boden lagen die „Täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeinde für 1870“, unter dem Nachttischchen ein anderes Erbauungsbuch: „Die tägliche Erquickung für gläubige Christen“ – Schriften, in denen der Kanzler, wie Engel sagte, des Nachts zu lesen pflegte. Eilig fuhr ich nun ebenfalls in die Kleider, und nachdem ich unten gehört, daß der Graf nach Sedan zu geritten, um dem Kaiser Napoleon, der sich aus der Festung entfernt, entgegenzugehen, folgte ich ihm, so rasch ich vermochte. Etwa achthundert Schritt von der Maasbrücke bei Donchery steht rechts [827] von der mit Pappeln bepflanzten Chaussee ein einzelnes Haus, das damals von einem Weber bewohnt war. Es ist gelblich angestrichen und einstöckig, hat vier Fenster in der Front, im Erdgeschoß weiße Laden, im ersten Stock Jalousien von gleicher Farbe und ist mit Schiefer gedeckt. Daneben befand sich links ein weißblühendes Kartoffelfeld, während rechts über dem Wege nach dem etwa zwanzig Schritt von der Straße entfernten Hause einige Büsche standen. Ich sehe sogleich, daß der Kanzler den Kaiser bereits gefunden hat. Vor dem Hause befinden sich sechs höhere französische Officiere, von denen fünf rothe, mit Goldtressen besetzte Mützen aufhaben, während der sechste eine schwarze trägt. Auf der Chaussee hält eine viersitzige Kutsche, anscheinend ein Miethwagen. Den Franzosen gegenüber stehen Bismarck, sein Vetter Graf Bohlen, ein Stück davon Leverström sowie ein brauner und ein schwarzer Husar. Um acht Uhr kommt Moltke mit einigen Officieren vom Generalstabe, entfernt sich aber nach kurzem Verweilen wieder. Bald nachher tritt ein kleiner Mann, der eine rothe Mütze, einen schwarzen rothgefütterten Paletot mit Kapuze und rothe Hosen trägt, hinter dem Hause hervor und spricht zunächst mit den zum Theil auf dem Rain neben den Kartoffeln sitzenden Franzosen. Er hat weiße Glacéhandschuhe an und raucht eine Papiercigarre. Es ist der Kaiser. Er sieht abgespannt, aber nicht sehr niederschlagen aus, ist auch nicht so alt, wie ich ihn mir vorgestellt, vielmehr dem Anschein nach ein leidlich conservirter Fünfziger. Nach einer Weile geht er auf unsern Kanzler zu und spricht etwa drei Minuten mit ihm, worauf Napoleon allein, rauchend, die Hände auf dem Rücken, an dem weißblühenden Kartoffelfelde hin- und herwandelt. Dann nochmalige kurze Besprechung zwischen Kanzler und Kaiser, die der erstere beginnt, und nach welcher Napoleon sich wieder mit seiner französischen Begleitung unterhält. Gegen drei Viertel auf neun Uhr entfernen sich Bismarck und sein Vetter in der Richtung von Donchery, wohin ich ihnen folge.
Der Chef erzählte später wiederholt von den Vorgängen dieses Morgens. Ich verbinde diese verschiedenen Mittheilungen im Folgenden möglichst wortgetreu zu einem Ganzen. „Moltke und ich waren nach der Schlacht vom 1. September zum Zweck von Unterhandlungen mit den Franzosen nach Donchery, fünf Kilometer von Sedan, gegangen und die Nacht dort geblieben, während der König und das Hauptquartier nach Vendresse zurückkehrten. Die Verhandlungen dauerten bis nach Mitternacht, ohne zum Abschluß zu kommen. In Donchery erschien dann früh gegen sechs Uhr der General Reille vor meiner Wohnung und sagte mir, der Kaiser wünsche mich zu sprechen. Ich zog mich gleich an und setzte mich, beschmutzt, staubig, wie ich war, in alter Mütze und mit meinen großen Schmierstiefeln zu Pferde, um nach Sedan zu reiten, wo ich ihn noch vermuthete. Ich traf ihn aber schon bei Frénois, drei Kilometer von Donchery, auf der Chaussee. Er saß mit drei Officieren in einer zweispännigen Kutsche, und die anderen waren zu Pferde bei ihm. Ich kannte davon nur Reille, Castelneau, Moscowa und Vaubert.
Ich grüßte militärisch; er nahm die Mütze ab und die Officiere auch, worauf ich sie auch abnahm, obwohl das gegen das Reglement ist. Er sagte: 'Couvrez-vous donc!' Ich behandelte ihn durchaus wie in St. Cloud und fragte nach seinen Befehlen. Er erwiderte, ob er den König sprechen könne. Ich sagte ihm, das sei unerfüllbar, da Seine Majestät zwei Meilen von hier entfernt sei. Auch wollte ich nicht, daß er eher mit ihm zusammenkäme, als bis wir wegen der Capitulation mit ihm im Reinen wären. Dann erkundigte er sich, wo er bleiben könne, was darauf hindeutete, daß er nicht nach Sedan zurückkehren konnte, indem er dort Unannehmlichkeiten erfahren hatte oder befürchtete wegen seines Briefs an den König. Die Stadt war voll betrunkener Soldaten, die den Einwohnern sehr beschwerlich fielen. Ich bot ihm mein Quartier in Donchery an, welches ich sogleich räumen wollte. Er nahm das an. Aber ein paar hundert Schritte vor dem Orte ließ er halten und fragte, ob er nicht in dem Hause, das dort war, bleiben könnte. Ich schickte meinen Vetter hinein und sagte nach dessen Bericht, es wäre sehr ärmlich. Er antwortete, das schadete nichts. Ich stieg nun, nachdem er hinübergegangen und wieder zurückgekommen war, da er wahrscheinlich die Treppe, die hinten hinaufging, nicht gefunden hatte, mit ihm hinauf in’s erste Stock, wo wir in ein kleines einfenstriges Zimmer traten. Es war das beste, hatte aber nur einen fichtenen Tisch und zwei Binsenstühle. Hier hatte ich eine Unterredung mit ihm, die fast dreiviertel Stunden dauerte. Er beklagte zuerst diesen unseligen Krieg, den er nicht gewollt habe. Er wäre zu ihm durch den Druck der öffentlichen Meinung genöthigt worden. Ich entgegnete, auch bei uns hätte Niemand und am wenigsten der König einen Krieg gewollt. Wir hätten die spanische Frage eben als eine spanische angesehen und nicht als eine deutsche, und wir hätten von den guten Beziehungen des hohenzollern’schen Hauses zu ihm erwartet, daß dem Erbprinzen eine Verständigung mit ihm leicht fallen würde. Dann kam er auf die gegenwärtige Lage zu sprechen. Er wollte dabei vor allen Dingen eine günstigere Capitulation. Ich erklärte, auf Verhandlungen hierüber nicht eingehen zu können, da dies eine rein militärische Frage sei, bei der Moltke gehört werden müsse. Dagegen ließe sich über einen etwaigen Frieden sprechen. Er antwortete, er sei Gefangener und folglich nicht in der Lage, hier zu entscheiden, und als ich darauf fragte, wen er hierin für competent hielte, verwies er mich an die Pariser Regierung. Ich bemerkte ihm, daß sich dann die Lage gegen gestern nicht geändert habe, und daß wir darum auf der Capitulation bestehen müßten, um ein Pfand dafür zu haben, daß die Resultate der gestrigen Schlacht uns nicht verloren gingen. Moltke, der mittlerweile, von mir benachrichtigt, eingetroffen war, war derselben Meinung und begab sich zum König, um ihm das zu sagen.
Draußen vor dem Hause lobte der Kaiser unsere Armee und ihre Führung, und als ich ihm darauf zugab, daß die Franzosen sich ebenfalls gut geschlagen hätten, kam er auf die Capitulationsbedingungen zurück und fragte, ob es nicht möglich sei, daß wir die in Sedan eingeschlossenen Corps über die belgische Grenze gehen und dort entwaffnen und interniren ließen. Ich versuchte ihm nochmals begreiflich zu machen, daß dies eine Sache der Militärs sei und nicht ohne Einverständniß mit Moltke entschieden werden könne. Auch habe er soeben erklärt, als Gefangener die Regierungsgewalt nicht ausüben zu können, und so könnten Verhandlungen über derartige Fragen nur mit dem in Sedan commandirenden Obergeneral geführt werden. Ich bemerke noch, daß die Unterhaltung zwischen uns französisch, nicht, wie behauptet worden ist, deutsch geführt wurde. Nur mit der Frau des Webers habe ich ein paar Worte auf deutsch gewechselt. Ich habe überhaupt niemals mit ihm deutsch gesprochen, obwohl er’s kann, wenn auch mit allemannischem Accent.
Inzwischen hatte man nach einem bessern Unterkommen für ihn gesucht, und die Officiere des Generalstabs hatten gefunden, daß das Schlößchen Bellevue bei Frénois, wo ich ihm zuerst begegnet war, zu seiner Aufnahme geeignet, auch noch nicht mit Verwundeten belegt war. Ich sagte ihm das und rieth ihm, dahin überzusiedeln, da es in dem Weberhause unbequem sei und er vielleicht der Ruhe bedürfe; wir würden den König benachrichtigen, daß er dort sei. Er ging darauf ein, und ich ritt nach Donchery zurück, um mich umzukleiden. Dann geleitete ich ihn mit einer Ehrenescorte, welche eine Schwadron des ersten Kürassierregiments stellte, nach Bellevue. Bei den Verhandlungen, die hier begannen, wollte der Kaiser den König haben – er dachte wohl an Weichheit und Gutherzigkeit – doch wünschte er auch, daß ich theilnehme. Ich dagegen war entschlossen, daß die Militärs, die härter sein können, das allein abmachen sollten, und so sagte ich, als wir die Treppe hinaufgingen, zu einem Officier leise, er möge mich nach fünf Minuten abrufen – der König wolle mich sprechen, was denn auch geschah. In Betreff des Königs theilte man ihm mit, daß er diesen erst nach Abschluß der Capitulation sehen könne. So wurde die Angelegenheit zwischen Moltke und Wimpffen geordnet. Dann kamen die beiden Majestäten zusammen. Als der Kaiser darnach wieder heraustrat, standen ihm die dicken Thränen im Gesicht. Gegen mich war er ruhiger und durchaus würdig gewesen.“
Ich muß andere interessante Vorfälle dieser Tage übergehen und theile nur folgende mit. Nach der Begegnung mit Napoleon beritt der König das Schlachtfeld, wobei ihn der Kanzler begleitete. Sie waren bis nach elf Uhr Nachts weg, und somit über zwölf Stunden im Sattel. Der Minister hat dabei die Freude gehabt, seinen jüngeren Sohn zu treffen. „Ich entdeckte an ihm,“ so erzählte er bei Tische, „eine neue rühmliche Eigenschaft: er besitzt ausnehmende Geschicklichkeit im Schweinetreiben. [828] Er hatte sich das fetteste herausgesucht, da die am langsamsten gehen und nicht leicht entwischen. Zuletzt trug er’s fort auf dem Arme wie ein Kind. Es kam den gefangenen französischen Officieren komisch vor, einen preußischen General einen gemeinen Dragoner umarmen zu sehen.
Inzwischen waren Massen von Gefangenen, zum Theil zu Fuß, zum Theil zu Wagen, ein General zu Pferde, auf dem Wege nach Deutschland durch die Stadt gezogen, Kürassiere, Husaren, Infanterie vom 22., 52. und 58. Regiment, alte Troupiers mit Krim-Medaillen, auch etliche schwarze Affengesichter in arabischer Tracht dabei. Dabei soll sich folgender tragikomischer Vorfall ereignet haben. Ein dahermarschirender Gefangener sieht auf dem Markte einen Verwundeten und erkennt in ihm seinen Bruder. „Eh, mon frère!“ ruft er und will auf ihn zu. Gevatter Schwab' aus der Escorte aber sagt: „Ach was frieren, mich friert auch,“ und stößt ihn in die Colonne zurück. Ich bitte um Entschuldigung, wenn das ein Kalauer ist, aber ich habe ihn dann nur nacherzählt, nicht verbrochen.
Unter den Einwohnern unseres Städtchens herrschte Noth, und selbst unser Wirth – beiläufig wie seine Frau eine gute Seele – litt Mangel an Brod. Der Ort ist überfüllt mit Einquartierung und Verwundeten. Hofvolk will unser Haus für den Erbgroßherzog von Weimar in Anspruch nehmen. Wir wehren es mit Erfolg ab. Dann fordert ein Officier für einen mecklenburgischen Prinzen bei uns Quartier. Wir vertreten ihm den Weg und sagen auch ihm, das ginge nicht, hier wohnte der Bundeskanzler. Als ich dann aber eine Weile weg war, hatten sich die Herren doch eingedrängt, und man mußte froh sein, daß sie nicht auch unserm Chef sein Bett genommen hatten.
Am Morgen des 3. Septembers gab mir der Minister fünfhundert Cigarren, die er soeben bekommen, zur Vertheilung an unsere Verwundeten in den Ställen hinter den Häusern und in der zu einem Lazarethe umgewandelten Caserne. Als ich hier anfangs nur den Preußen welche geben wollte, machten die zwischen ihnen sitzenden Franzosen so sehnsüchtig entsagende Gesichter und ihre deutschen Nachbarn auf dem Stroh baten so schön für sie – „Sie dürfen nicht zusehen – sie haben auch Alles mit uns getheilt“ – daß ich es nicht für einen Raub hielt, sie auch zu bedenken.
Als ich gegen elf Uhr mit meinem Auftrage fertig war und bei naßkaltem Regenwetter durch den ungeheuren Koth des Marktes watete, drängte mich ein langer, von schwarzen Todtenkopfshusaren escortirter Wagenzug, der von der Maasbrücke her kam, zur Seite. Es waren vier oder fünf elegante Kutschen, eine Anzahl von Reitpferden und mehrere Küchenwagen. In einer der geschlossenen Kutschen aber saß neben dem preußischen General Boyen der „Gefangene von Sedan“, der Kaiser Napoleon, auf dem Wege über Belgien nach Wilhelmshöhe.
Am 3. December dieses Jahres begeht in Berlin ein Verein das Fest seines fünfzigjährigen Bestehens, welcher sowohl durch seine Tendenz wie durch die eigenthümlichen Formen seines Wirkens die Theilnahme unserer Literaturfreunde verdient. Sein Streben und Schaffen ist allein der Pflege des Schönen in der Kunst, vorzugsweise in der Dichtkunst, gewidmet, und wenn er auch nicht mit glänzenden Erfolgen vor die Oeffentlichkeit getreten ist, so haben wir doch dem treuen Zusammenwirken geistiger Kräfte in diesem Vereine so manche duftige Blüthe, manche edle Frucht zu danken. Große Ereignisse sind während eines halben Jahrhunderts an uns vorübergegangen; sie haben unsere Staatseinrichtungen umgewandelt und die Physiognomie der preußischen Hauptstadt verändert, aber unabhängig von den Zeit- und Tagesfragen versammelte sich das Völkchen Berliner Poeten, welches den Namen des „Literarischen Sonntagsvereins“ oder des „Tunnels über der Spree“ führt, allsonntäglich an den Winternachmittagen in den bescheidenen Räumen des Café Belvedere, um sich dort seine Gedichte vorzulesen und den Maßstab einer unbefangenen Kritik daran zu legen. Die langjährige Versammlungsstätte ward ihm genommen und das Café Belvedere zu einem stattlichen Hause umgebaut; die Sänger sahen ihr altes Nest zerstört und bauten sich ein neues im Café Zennig (Unter den Linden Nr. 13), um dort weiter zu „tunneln“ bis auf den heutigen Tag.
Es war am 3. December 1827, als sich auf die Einladung des bekannten Humoristen M. G. Saphir „zur Vermählung der Fräulein Sahne mit dem Herrn Kaffee“ ein gemüthlicher Freundeskreis zusammenfand und auf seine Anregung den Beschluß faßte, nach dem Muster der früher in Wien bestehenden „Ludlamshöhle“ in Berlin einen Verein zu gründen, welcher sich mit dem Vorlesen heiterer Gedichte und Prosaarbeiten unterhalten, dieselben seiner Beurtheilung unterziehen und dabei den Humor in voller Ungebundenheit und Freiheit walten lassen wollte. Schon am nächsten Sonntage (9. December) fand die erste ordentliche Sitzung statt; Saphir ward zum Vorsitzenden, der damalige Hofschauspieler Ludwig Schneider zum Schriftführer der neugegründeten Gesellschaft erwählt.
Schon der Name des Vereins „Tunnel über der Spree“ (nach der Lage des ersten Versammlungsortes und als neckische Parodie des damals gerade durch Brunel in Bau genommenen Tunnels unter der Themse) und seine ältesten Statuten bekunden, wie in seiner ersten Jugendzeit Alles sich in das Gewand fröhlicher Thorheit hüllte, ja bis zur Unkenntlichkeit verhüllte und in luftigen Scherz verlor. In der buntesten Mischung standen bedeutungsvolle Zeichen und Bestimmungen neben inhaltslosen Gebilden einer phantastischen Laune. Tyll Eulenspiegel, der Hauptrepräsentant unseres deutschen Volkshumors, ward aus seinem Grabe zu Mölln heraufbeschworen, um das Patronat zu übernehmen. Das Siegel des Vereins stellte eine Eule dar, welche in der einen Klaue einen Spiegel, in der andern einer Stiefelknecht hält, dessen Zinken in einen Schafskopf und in ein Ziegenohr auslaufen und die beiden Pole des Schaffens im Tunnel, die „unendliche Wehmuth“ und die „ungeheure Ironie“, versinnbildlichen sollen. Sämmtliche Mitglieder führen im Verein nicht ihre eigenen Namen, sondern diejenigen verstorbener berühmter Männer – meistens Dichter oder Künstler – mit denen sie in gewisser Beziehung geistesverwandt sind. Der witzsprudelnde Saphir ward in „Aristophanes“, der Schauspieler Lemm in „Roscius“, L. Schneider in „Campe“ umgetauft. Außerdem ward jedem Mitgliede nach gewissen Eigenthümlichkeiten, die es im Laufe der Zeit verrieth, noch ein scherzhafter Spitzname beigelegt; es dürfte für den Uneingeweihten schwer zu ergründen sein, welche Bedeutung die Beinamen „der Karaibe“, „der Runenspecht“, „die hüpfende Schulhymne“, „die brüllende Philomele“ etc. im Tunnel hatten.
Diese Einrichtungen und Formen sind als Ueberlieferungen aus einer fröhlichen, harmlosen Jugend bis auf die neueste Zeit beibehalten worden, obgleich die Tendenz des Vereins schon in den ersten Jahren eine Wandlung erfuhr. Durch die Stellung, welche Saphir in seiner journalistischen Thätigkeit dem Berliner Publicum gegenüber einnahm, ward der Tunnel in einer für seine Entwickelung nicht förderlichen Weise in die Oeffentlichkeit hineingezogen und gerieth in eine Krisis, durch welche sein junges Leben in Frage gestellt wurde. Die Zahl der Mitglieder und die Theilnahme an den Versammlungen ward geringer und es kam vor, daß „Campe, der Karaibe“, als treuer Schriftführer sich mit dem Protocoll allein zur Sitzung einfand. Es zeigt von dem gesunden Lebenskerne des Tunnels, daß er diese Krisis glücklich überwand. Die wenigen Tunnelgenossen, welche den fast erlöschenden Funken damals bewachten, blieben in der deutschen Redlichkeit ihres Strebens um so inniger verbunden und pflegten fortan eine ernstere Richtung im Tunnel, ohne die Gemüthlichkeit ihres frühern Zusammenwirkens aufzugeben. Der Humor verlor seine unbeschränkten Herrscherrechte; es kamen auch Arbeiten ernsten Inhalts zum Vortrage, und die Beurtheilung, die sich früher in spielenden Formen bewegt hatte, ward eingehend und sachlich.
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[830] Das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 brachte dem Tunnel manchen achtbaren Zuwachs, als A. Wollheim da Fonseca (Byron), Heinrich Smidt (Bürger; † 1867), den ehemaligen Assessor und spätern Staatsminister H. von Mühler (Cocceji; † 1874), Dr. Adolf Löwenstein (Hufeland), Bernhard von Lepel (Schenkendorf), Dr. Werner Hahn (Cartesius) und Andere.
Zu diesen gesellten sich in der nächstfolgenden Zeit Wilhelm von Merkel (Immermann; † 1861), Chr. Fr. Scherenberg (Cook), Dr. Rudolf Löwenstein (Spinoza), Theodor Fontane (Lafontaine), Emanuel Geibel (Bertran de Born), Dr. Fr. Eggers (Anakreon; † 1872), Moritz Graf Strachwitz (Götz von Berlichingen; † 1847), Georg Hesekiel (Claudius; † 1874), Paul Heyse (Hölty), Franz Kugler (Lessing; † 1858), Friedrich von Gaudy (Zieten; † 1866), Hugo von Blomberg (Maler Müller; † 1871), K. Bormann (Metastasio), Max Ring (Zinzendorf) etc. Und nicht allein Dichter und Schriftsteller zählte der Tunnel zu seinen Mitgliedern, sondern auch bildende Künstler, Maler und Tonkünstler wurden gern aufgenommen und brachten ein neues, belebendes Element in den Tunnel, so der Bildhauer Wilhelm Wolff (Peter Vischer), die Maler Adolf Menzel (Rubens), Th. Hosemann (Hogarth; † 1875), Stilke (Raphael Mengs; † 1860), L. Burger (Graff) und der Obercapellmeister Taubert (Dittersdorf). Die meisten der Obengenannten traten in ihrer vollen frischen Schaffenskraft in den Tunnel und haben sich durch die Gaben ihrer Muse später in weiten Kreisen Anerkennung erworben. Außer diesen arbeitenden Mitgliedern der sogenannten „Maculaturen“ gab es auch eine Anzahl von Nichtarbeitenden oder „Classikern“, welche den Tunnel durch ihre lebhafte Theilnahme an seinem Schaffen erfreuten und sich an der Beurtheilung der „Spähne“ – so nannte man die zum Vortrage kommenden Arbeiten der Maculaturen – betheiligten. So zählte der Tunnel nach fünfundzwanzigjährigem Bestehen bereits einhundert Namen in seiner Mitgliederliste und feierte sein silbernes Jubiläum (3. December 1852) unter der lebhaften Betheiligung von Mitgliedern und Gästen oder „Runen“.
Den glänzendsten Zeitraum in der fünfzigjährigen Geschichte des Tunnels bildet wohl das dritte Jahrzehnt seines Bestehens (1847 bis 1857), das ist die Zeit des Ueberganges von der Poesie des Weltschmerzes und der politischen Verzweiflung zu einer auf gesunden und naturwahren Empfindungen beruhenden Richtung, welche in unserer Literatur sich durchzuarbeiten begann. Damals ließ Geibel seine „Gedichte“ und „Juniuslieder“ in immer neuen Auflagen in die Welt hinausflattern; in den Liedern und Balladen von Strachwitz schien die Muse der Romantik wieder erwachen zu wollen; Paul Heyse dichtete mit Wieland’scher Grazie seine formvollendeten „Novellen in Versen“ und „Idyllen aus Sorrent“; Th. Fontane brachte aus dem schottischen Hochlande schwungvolle „Balladen“ heim und B. von Lepel erfreute den Tunnel mit seinen in Platenscher Formgewandtheit gedichteten Oden und Hymnen und mit den heiteren Reimen seiner „Zauberin Kirke“. Das Drama war durch Wollheim da Fonseca („Rafael Sanzio“, „Sebastian“) und die epische Dichtung durch Scherenberg’s vaterländische Schlachtgesänge („Waterloo“, „Leuthen“) vertreten, während G. Hesekiel und H. Smidt das Gebiet des Romans und der Novelle cultivirten. Die meisten dieser Geisteswerke bestanden erst im Tunnel die Feuerprobe der Kritik, ehe sie in das große Publikum hinausgesandt wurden.
Versetzen wir uns einmal in den alten Tunnel zurück, um einer Arbeitssitzung in jener Zeit beizuwohnen! Ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Mitglieder haben sich in den wohlbekannten Räumen des Café Belvedere zusammengefunden. Franz Kugler, W. von Merkel oder K. Bormann bekleiden die Würde des Vorsitzenden, während B. von Lepel, Th. Fontane oder H. von Blomberg das Amt des Schriftführers verwalten. Der Vorsitzende oder das „angebetete Haupt“, wie der Tunnel nach altem Herkommen sein erwähltes Oberhaupt anredet, führt als Attribut seiner Würde einen mächtigen, schwarzen Stab, auf welchem eine vergoldete Eule mit dem Spiegel und Stiefelknecht in den Klauen thront. Ein Stoß mit dem Eulenstabe auf den Fußboden bedeutet eine Aufforderung an die Mitglieder, ihre Plätze einzunehmen; ein zweiter Stoß giebt das Zeichen zum Beginn der Sitzung.
Nachdem der Secretär das Protocoll der vorigen Sitzung vorgelesen, ergeht von Seiten des Hauptes die Frage nach „Spähnen“. Diese sollen statutenmäßig bereits vor dem Beginn der Sitzung auf dem Bureau des Hauses niedergelegt werden, aber an Stelle des gedachten Statuts hat sich bereits das Herkommen gesetzt, daß die Mitglieder es vorziehen, ihre Spähne in der Tasche zu behalten, und es bedarf oft einer zweiten oder noch öfteren Aufforderung des Hauptes, um sie daraus hervorzulocken. Nicht immer ist dem Dichter auch die Gabe des Vortrages eigen, und mit einer gewissen Befangenheit hatte wohl Jeder zu kämpfen, der einmal den Platz an dem grünen Tische dem Haupte gegenüber einnahm, aber der lebendige Vortrag durch den Dichter selbst hat einen besonderen Reiz und läßt zugleich die Eigenart des Dichters durchklingen. Leicht und liebenswürdig klangen Heyse’s Dichtungen; frisch und ursprünglich, als wären sie eben aus lebendigem Quell geschöpft, wirkten Fontane’s Hochlandsballaden; gleich stürmenden Schwadronen, über Stock und Stein, brausten Scherenberg’s Schlachtgesänge vorüber, oft so wild und heftig, daß man noch eine Weile sich besinnen mußte, was man eigentlich gehört. Ruhigen, breiten Schrittes, als wär’ er noch an Bord, ging der gemüthliche Holsteiner, der wohlbeleibte Heinrich Smidt, an den Vorlesertisch, um seine Seegeschichten oder seine Devrient-Novellen vorzutragen; plötzlich und unvermuthet, wie sein Taufpathe „Zieten aus dem Busch“, tauchte der schlanke Garde-Officier Friedrich von Gaudy[1] aus dem Hinterhalte hervor, um den Tunnel mit einer militärischen Humoreske zu überfallen.
Bei Spähnen, deren Vorlesung mehr als eine Stunde füllte, wurde die Besprechung derselben auf den nächstfolgenden Sonntag vertagt; bei lyrischen Gedichten, Balladen, kurzen Novellen oder Lustspielen knüpfte sie unmittelbar an die Vorlesung an. Es gab keine Fractionsbildung im Tunnel, keine Rechte und Linke und noch weniger ein Centrum; dennoch waren bei der Handhabung der Kritik die Standpunkte sehr verschieden. Einige suchten ihr Urtheil über einen mißlungenen Spahn womöglich dadurch zu mildern, daß sie noch eine gute Seite daran hervorhoben; Andere schwangen rücksichtslos die Geißel der Kritik, wo die Wahl des Stoffes, die Art der Behandlung oder die dichterische Form einen Anlaß zum Tadel boten. Oft waren die Urtheile sehr abweichend; die Gemüther erhitzten sich und das angebetete Haupt hatte Mühe, die Debatte in ihrem ruhigen Geleise zu erhalten. Aber auch die schärfste Beurtheilung schloß bei der stets vorwaltenden Gemüthlichkeit jede Bitterkeit aus, und die Vertreter eines liebenswürdigen Humors – W. v. Merkel, L. Schneider, Ad. und Rud. Löwenstein, C. Erich – wußten durch eine in die Debatte hineingeworfene witzige oder wortspielende Bemerkung, vielleicht auch durch einen zur rechten Zeit explodirenden Kalauer, die schwüle Atmosphäre zu theilen und die heiterste Temperatur in den Tunnel zurückzuführen.
Vortrefflich verstand es Franz Kugler als Haupt beim Schluß der Debatte die verschiedenen Ansichten in einem Gesammturtheil zusammenzufassen, aber das Gesetz forderte noch eine namentliche Abstimmung, bei welcher jedes anwesende Mitglied sein Urtheil über den vorgelesenen Spahn in Form eines der fünf Prädikate: „sehr gut“, „gut“, „verfehlt“, „ziemlich“ oder „schlecht“ abzugeben hatte, deren Mehrheit als Tunnel-Votum dem Verfasser mitgegeben wurde. Zuweilen war die Wirkung eines vorgelesenen Spahnes der Art, daß der Tunnel sich der Kritik enthielt und sein Wohlgefallen nur durch ein allgemeines Geräusch mit den Füßen zu erkennen gab, welches „Acclamation“ genannt wurde und die höchste Anerkennung ausdrückte, die der Tunnel zollte.
So war es früher Brauch, und so ist es bis heute geblieben. Viele von Denen, welche das schöne Fest des fünfundzwanzigjährigen Bestehens im Kreise ihrer Genossen fröhlich feierten, sind seitdem hinübergegangen; Andere wurden durch die Lebensverhältnisse später in andere Bahnen gezogen und tauchten nur hin und wieder bei besonderen Gelegenheiten im Tunnel auf. Aber Einige sind doch auch regelmäßige Besucher des Tunnels geblieben und die Führer einer jüngeren Generation geworden, die unterdessen nachgewachsen ist. Es würde verfrüht sein, auch aus der Reihe der jüngeren Talente hier einzelne Namen hervorzuheben [831] – sie sind der Nachwelt vorbehalten. Eine Tugend aber, welche die Alten auszeichnete, scheint dieser Generation abzugehen – es ist die Beständigkeit im Schaffen für den Tunnel. Viele von diesen jüngeren Singvögeln haben sich nur flüchtig auf den Zweigen des Tunnelbaums gewiegt, um einige Male mit einzustimmen in den Chor und dann wieder auf und davon zu fliegen. Auch von den Alten hat mancher müde Sänger die Harfe an die Wand gehängt und läßt die Spinnen Netze darin bauen; nur zuweilen flüstert ein melancholischer Windshauch durch die Saiten, daß sie ertönen, wie die Erinnerung an entschwundene Tage. So sind es keine glänzenden Früchte, welche der Tunnel aus neuerer Zeit aufzuweisen hat, aber die Liebe zum Schönen wirkt und schafft noch weiter unter alten und jungen Tunnelgenossen. Auch in den Jahren, als Aller Augen auf die großen, blutigen Thaten gerichtet waren, durch welche Deutschlands Größe und Einheit begründet ward, ging der Tunnel still und liebevoll seiner friedlichen Aufgabe nach, und nur wie das Grollen fernen Donners tönte das, was die Zeit bewegte, in Kriegs- und Siegesliedern wieder. Und als das ersehnte Ziel errungen war, wie tönten da im Tunnel so begeistert die Lieder zu Ehren des neuerwachten Vaterlandes! Wie klang da (beim Stiftungsfest 1871, den 3. December) so volltönig „Anakreon's“ Kaisertoast:
„Was unsre Herzen zwingen soll
In eines Freudenrufes Drang,
Muß sein uralten Zaubers voll,
Muß haben einen hohen Klang.
Das freie, einige deutsche Reich,
Das ist ein hohes Wort, fürwahr:
Die deutschen Kronen allzugleich
Auf unsers Kaisers Silberhaar! –“ etc.
Aber auch die Lieder von Lenz und Liebe verstummten nie, und während die Kriegsstürme von 1870 durch die Welt brausten, sang eines der liederreichsten jüngeren Mitglieder, Heinrich Seidel (Frauenlob) im Tunnel:
„Lieder wie Schmetterlinge
Gaukeln genug in der Luft;
Sie schwanken im Windeswehen;
Sie schweben im Blumenduft;
Sie schwingen sich auf aus den Gründen;
Sie flattern herab von den Höh’n,
Und das sind eben die Dichter,
Die sich auf das Fangen versteh’n.“
Auch der Humor hat sein Pathenrecht behauptet. Alljährlich um die Fasnachtszeit findet ein Fest zu Ehren des Schutzpatrons, das „Eulenspiegelfest“, im Tunnel statt. Dann überlassen sich die Tunnler völlig den Eingebungen ihrer heiteren Laune, und nur närrische Spähne kommen zum Vortrage. Die alte Muhme Kritik verstummt an solchen Tagen oder sie versieht ihr Amt auf so neckische Weise, daß der Schalk Tyll, dessen Conterfei von der Wand herabschaut, sein herzliches Behagen darüber empfinden mag. Ja, es kam einmal vor, daß Tyll in leibhaftiger Gestalt, in Schellentracht und Kappe, unter seine Jünger trat, dem angebeteten Haupte das Eulenscepter abforderte und selbst den Vorsitz übernahm. Zuweilen waren bei dem Eulenspiegelfeste schwierige Preisfragen gestellt, an deren Lösung sich Witz und Scharfsinn der Tunnler in den verschiedensten poetischen Formen üben konnten, z. B. die Frage, ob im Falle einer Feuersbrunst im Tunnel von den beiden Symbolen der Spiegel oder der Stiefelknecht zuerst zu retten sei, oder woher es komme, daß unsere Jungen nur Schneemänner und nie Schneefrauen bauen.
Unter der regen Theilnahme zahlreicher Gäste, unter denen auch das schöne Geschlecht vertreten ist, begeht der Tunnel jährlich sein Stiftungsfest. Die Mitglieder erscheinen dazu im Schmucke ihres – von Tyll bei der silbernen Jubelfeier gestifteten – Tunnelordens. Auch aus der Ferne finden sich alte liebe Freunde zu dieser Feier ein; andere senden dem Geburtstagskinde Grüße und „Spähne“. Die Festsitzung wird zum größten Theile durch eine „Concurrenz“, d. i. ein Wettringen und Wettsingen um einen Ehrenpreis für den besten Spahn, sei es in gebundener oder in ungebundener Rede, ausgefüllt. Es verbindet sich mit dieser sogenannten „Immermanns-Concurrenz“ die dankbare Erinnerung an den dahingeschiedenen Freund W. von Merkel, welcher die Zinsen eines gewissen Capitals für diesen Zweck dem Tunnel vermachte. Mit offenem Visir treten die Kämpen nach einander in die Schranken, die sämmtlichen anwesenden Tunnel-Mitglieder bilden das Schiedsgericht. Eine beliebte Form der Preisbewerbung ist die Tenzone, bekanntlich ein dichterischer Zweikampf, in welchem zwei Dichter für verschiedene Ansichten eintreten und sich gegenseitig mit Gründen zu schlagen suchen. Die Spannung steigert sich von Strophe zu Strophe, und der Zweikampf wird oft erst durch den Schiedsspruch eines von Beiden angerufenen unparteiischen Dritten beendigt. Nicht immer ist das Thema so zart und sinnig, wie „die Rose mit Dorn und die Rose ohne Dorn“, „die Kunst der Rede und die Kunst des Schweigens“, sondern es ist oft den Kämpfenden anheimgegeben, ein scheinbar trockenes oder gar ein so ledernes Thema, wie den „Wettstreit von Stiefel und Schuh“, durchgefochten von „Hufeland“ (A. Löwenstein) und „Willamow“ (F. von Köppen), durch ihre Kampfesweise anmuthig zu beleben. Forderte „Hufeland“ seinen Gegner heraus:
„Auf, das Leben ruft zum Kampfe!
Wo bleibt der Soldat, der Mann?
Recht und Freiheit zu vertheid'gen,
Zieh’ – Kanonenstiefeln an!“
so entgegnete ihm „Willamow“:
„Kämpfst Du mit Kanonenstiefeln?
Ich verharr’ in stolzer Ruh';
Auch Du eilst durch Kampf zum Frieden,
Kämpfst in Stiefeln für den Schuh;
Daß dem König Friede werde,
Steht das Volk in Waffen ein:
Jeder Schuh der deutschen Erde
Soll mit Blut vertheidigt sein.“
Die Versöhnung erfolgte schließlich unter dem Zeichen des Stiefelknechts, den der Tunnel in seinem Wappen führt.
An die Festsitzung schloß sich auch stets ein Festmahl, gewürzt durch Trinksprüche und Tischreden, durch Gesang und musikalische Vorträge.
So hat der Tunnel neunundvierzig Mal seinen Geburtstag gefeiert und schickt sich nun an, ihn zum fünfzigsten Male zu begehen. In denselben Lufträumen, in denen er gestiftet worden – jetzt Kaisergalerie, Restaurant Kothe – versammeln sich am 3. December die alten und neuen Freunde des Tunnels; „Campe, der Karaibe“, welcher vor fünfzig Jahren als Schriftführer das erste Protocoll aufnahm, schwingt jetzt als „angebetetes“ weißes Haupt das goldene Eulenscepter über dem Tunnelreiche. Möchte dasselbe noch lange fortblühen und edle Früchte zeugen, und möchten an den Tunnelgenossen die Verse aus Spinoza-Löwenstein's altem Tunnelliede sich bewähren:
„Im Tunnel stets die Alten, im Lehen jung und neu,
So woll'n wir sein und halten an uns in alter Treu';
Und wenn auch manche Triebe im Grabe schlummern ein,
Soll doch vom Baum der Liebe kein 'Spahn' verloren sein.“
Das irdische Paradies der Sultane. (Mit Abbildung auf S. 829.) Es ist kein durch ehrwürdiges Alter ausgezeichneter Wonnesitz der Beherrscher des Türkenreiches, sondern eine Luxusblüthe der jüngsten Zeit, am Bosporus in’s Leben gezaubert auf Befehl des heimgegangenen Sultans Abdul Aziz durch den Baumeister Serkis Bey, und jener fürstliche Bauherr war es auch, der dieses sein „irdisches Paradies“ vor den Blicken aller Sterblichen verschloß. Eine besondere Vergünstigung, durch die Zeitumstände leichter erwirkt, machte unserem Zeichner, Herrn Phil. Montoreano, den Besuch der geweihten Stätte möglich, die nur den Anhängern des großen Propheten offen steht. Seinen brieflichen Mittheilungen folgen wir in dem Nachstehenden; unsere Illustration wurde nach seinem Aquarellbilde auf Holz übergezeichnet.
„Der Garten des Jildiz Kiosk (Sternpalastes) ist ein Gegenstand der Sehnsucht der Gläubigen und der Neugierde solcher Ungläubigen, welche mit Stift und Griffel nach bezaubernden Bildern für europäische Augen suchen. Ersteren öffnet sich der Hauptzugang alle Freitage nach dem 'Selamlik', das heißt nach dem Gebete des Sultans. An dem Tage, an welchem mir der Zutritt ermöglicht worden war, staute sich die zuströmende Menge im Thore, weil dort ein Officier mit mehreren Dienern des Sultans Niemanden unvisitirt eintreten ließ. Alles, was man in Händen und Taschen zu bergen pflegt, Pakete, Schachteln, Waffen, Regenschirme, Stöcke u. dergl. mußte dort niedergelegt werden bis zur Rückkehr der Besitzer von der Gartenpromenade. Nur den Sonnenschirm durfte man behalten, ihn jedoch auch bei dem brennendsten Sonnenscheine nicht öffnen. Als ich endlich in den Garten gelangt war, fiel mir als erster Gegenstand zu rechter Hand eine kleine Menagerie mit Hirschen und ein Vogelhaus in die Augen. Rasch daran vorübereilend, gelangte ich auf einem breiten, aufsteigenden Wege zwischen oft prächtigen Bäumen hin auf eine [832] Anhöhe, auf welcher ich ein reizendes Thal vor mir erblickte. Ein wohlgepflegter, schattiger Weg lockte dorthin, überschritt einen Bach auf einer kleinen Holzbrücke und führte an einem See vorüber, in welchem schöngeformte Felsen sich spiegeln. Nach fast zweistündigem höchst anmuth- und wechselvollem Gange stand ich endlich am Fuße der Anhöhe, von welcher des Sultans Sternpalast herabglänzt und die sich etwa hundertundzwanzig Meter über den Spiegel des Bosporus erhebt. Garten und Palast liegen so frei, daß namentlich von letzterem der Rundblick ein überraschend herrlicher ist. Den fesselndsten Eindruck machten die Küsten Asiens und die endlosen Flächen des farbenprächtigen Marmarameeres. Nicht ohne Kampf reißt man sich von der bezaubernden Stätte los, und ich that es nur, um wenigstens den Palast recht bald im Bilde mein Eigen nennen zu können. Die Façade desselben bietet eben nichts Besonderes, sondern zeigt uns nur, was sich hier nicht selten wiederholt, einen Mischmasch von allerlei Stilarten durcheinander.
Das Innere besteht im Erdgeschosse aus einem größtentheils marmornen Hausflure und vier Wartesälen, von denen jeder für eine besondere Classe von Personen bestimmt ist, und im ersten Stockwerke aus einem Schlafgemache, mehreren kleinen Salons und einem glänzend decorirten großen Salon, in welchem der Sultan oft den Sitzungen des Ministerraths präsidirt.“
So weit unser Gewährsmann. Wie lange aber die Sultane noch von ihrem Palaste nach der asiatischen Seite des Bosporus hinübersehen werden, das hat die europäische Menschheit geduldig abzuwarten.
Angstvolle Minuten. Ein selbsterlebtes Eisenbahnabenteuer. Die Nacht hat ihre dunklen Fittige über die Erde gebreitet; kein Sternlein blinkt am Himmelszelte. In die undurchdringliche Finsterniß stürmt der Courierzug donnernd und polternd hinaus.
Ich stehe in einem Coupé des Eisenbahnpostwagens und bin eifrig beschäftigt, die verschiedenen Briefe, welche von der vorhergehenden Station in reichlicher Menge eingegangen waren, zu sortiren und in die bestimmten Fächer zu legen. Ich bin dabei in meine Arbeit so vertieft, daß ich nur dieser meine ganze Aufmerksamkeit widme und mich wenig um das Rollen und Poltern der Eisenbahnräder da draußen kümmere, ist es mir doch ein altgewohntes Geräusch. Hier und da mache ich eine flüchtige Notiz, und wenn die Schwankungen des Wagens nicht immer ein ruhiges Schreiben am Arbeitstische gestatten wollen, benutze ich ein eigens dazu hergestelltes Brettchen, welches ich mit dem darauf gelegten Schriftstücke mit der linken Hand halte, während ich mit der rechten die Feder oder den Blaustift führe. Plötzlich öffnet sich die Thür des Packraumes, in der sich mein alter Postschaffner aufhält. Das Knarren der Thür läßt mich aufblicken; verwundert sehe ich dem Alten in’s Gesicht, der mit einer ganz ungewohnten, respectwidrigen Behendigkeit mit den Worten auf mich zustürmt: „Merken Sie denn gar nichts, Herr Secretär? Im Packraume da hinten ist der Teufel los. Schachteln und Kisten werden lebendig; habe ich ein Packet mit Mühe aufgestapelt, so fällt ein zweites schon wieder herunter. Hah! nun wird es auch hier lebendig. Sehen Sie nicht, wie das Repositorium wankt und wackelt?“
Während ich noch meinem braven Alten die Furcht ausreden und ihn mit der schlechten Lage der Strecke vertrösten will, kracht es bereits unter dem Fußboden; ein Loch wird sichtbar, und kleine Splitter fliegen in die Höhe. Das ist mir denn doch zu arg. Rasch eile ich an das Fenster, um dasselbe herunterzulassen, doch – habe ich in der Aufregung nicht die richtige Oese gefaßt? – ich vermag dasselbe nicht zu öffnen. Ich greife und taste noch einmal, erfasse endlich den richtigen Ring, und mit einem heftigen Rucke rasselt das Fenster hernieder. Ich beuge den Oberkörper hinaus; eisige Luft umfängt mich; Staub und kleine glühende Funken, welche die Maschine auswirft, trüben die Sehkraft meiner Augen, doch trotz aller Widerwärtigkeiten will ich die Zugleine ergreifen, um durch einen Zug an derselben den Locomotivführer auf unsere gefahrvolle Lage aufmerksam zu machen. Was ist das? Ich greife und taste, greife wieder und erfasse nichts als die kalte Luft; ein Dämon scheint in diesem kritischen Augenblicke die Zugleine entführt zu haben. Immer unerträglicher werden die Schwankungen des Wagens. Bald beugt er sich nach vorn bald zur Seite; er ächzt und stöhnt in allen Fugen, springt und hüpft wie ein leichtfüßiges Reh.
„Reichen Sie mir,“ rief ich dem Packschaffner zu, „irgend einen langen Gegenstand her! Ich will versuchen, mich in dem Nachbarwagen bemerklich zu machen.“ Bange Secunden vergehen. Der Alte wankt taumelnden Schrittes in den Packraum, entdeckt glücklicher Weise eine Stange und reicht mir dieselbe zu. Noch weiter beuge ich mich zum Fenster hinaus, taste und fühle, erreiche die nächste Fensterscheibe und zertrümmere dieselbe mit einem kräftigen Schlage, wie ihn nur die Angst führen kann. Die Gefahr, in der wir schweben, vergrößert sich. Packete und Geldfässer rollen in einem bunten Chaos durcheinander; es pfeift und stöhnt, als ob sich zwei harte Gegenstände an einander reiben; es rasselt und klappert in allen Ecken. Unaufhörlich stürmt der Zug vorwärts – ist denn gar keine Hülfe möglich? Ich schreie laut hinaus in die dunkle Nacht; ohnmächtig verhallt der Ruf und wird von dem Sturmwinde davongetragen; schon will ich mich resignirt in mein Schicksal ergeben. Da öffnet sich ein Fenster; ein Kopf beugt sich heraus – man hört endlich den angstvollen Ruf und erkennt die Gefahr an den Schwankungen des Wagens. Ein Arm streckt sich zu dem Coupéfenster hinaus und erfaßt die Zugleine schneller und glücklicher als ich; ein kräftiger Ruck und ein laut tönender Schall aus der Dampfpfeife giebt mir Gewißheit, daß wir gehört wurden.
Drei schnell hinter einander folgende Töne – mir klangen dieselben wie Engelsmusik – erschallen; die Räder knarren und ächzen unter den fest angezogenen Bremsklötzen; der Zug fährt immer langsamer – noch eine Secunde, und wir sind gerettet.
Mehr todt als lebendig springe ich, ehe der Zug ganz still steht, aus dem Wagen heraus, falle hin, erhebe mich wieder und eile spornstreichs aus dem Bereiche der Gefahr, wie auch der Alte, dem die Angst Flügel verliehen zu haben schien. Schritte kommen näher; Lichter tauchen auf. Ich fühle eine Hand auf meiner Schulter ruhen und höre die Worte: „Na, mein lieber Secretär, es war die höchste Zeit, daß Sie uns zu Hülfe riefen; nur noch wenige Secunden, und der alte Wagen wäre zertrümmert worden. Ein verdammter Radreifen ist gesprungen und hat sich unter das Wagengestell festgeklemmt; noch einige Umdrehungen dann wäre Ihnen nebst Ihrem Alten nicht mehr zu helfen gewesen.“ Wie Himmelsbotschaft hörten sich die rauh ausgestoßenen Worte des Locomotivführers an, welcher noch immer kopfschüttelnd um den Wagen ging und sich den Sprung und die festgeklemmte Lage des Reifens betrachtete. – Die Zugleine wurde auf dem Dach des Postwagens zerrissen vorgefunden; nur durch ein Wunder waren wir dem sicheren Tode entgangen.
H. L. in Leipzig. Die Erfahrung hat gelehrt, daß die durch Bleiröhren geleiteten Nutzwässer nicht bleihaltig werden, und kommt dies daher, daß sich aus dem von der Luft abgeschlossenen immer frisch durch die Leitung laufenden Wasser ein schützender unlöslicher chemischer Niederschlag auf die innere Wand der Bleiröhren ablegt, welcher durch Abschluß des Luftzutritts nicht oxydiren kann, eine Möglichkeit, die bei offenen bleihaltigen Gefäßen immer vorhanden ist. Uebrigens ist diese Frage früher schon vielfach in technischen Kreisen ventilirt worden; daher versehen, um allen bezüglichen Einwürfen zu begegnen, viele Bleiröhrenfabrikanten ihre Fabrikate mit innerer Verzinnung.
Ros. Ftg. in Wsn. Die Berliner Verhältnisse sind uns selbstverständlich nicht so genau bekannt, wie die von Leipzig, aber von allen Seiten wird uns das Pensionat der Frau Doctor Beta für Damen und junge Mädchen, die sich zum Studiren und sonstiger Zwecke willen in Berlin aufhalten wollen, auf’s Dringendste empfohlen. Die Zeugnisse des Lette-Vereins, des Herrn Prediger Thomas dort etc. sprechen für die Dame. Die Räumlichkeiten des herrschaftlich eingerichteten Hauses (Schellingstraße Nr. 16), in unmittelbarer Nähe des Thiergartens und des Potsdamer Thores, sind gesund und freundlich gelegen, und der Verkehr zwischen den älteren und jungen Damen soll ein sehr gemüthlicher und freundschaftlicher sein. Die Frau Doctor Beta, uns persönlich bekannt, ist eine sehr gebildete Dame und wendet ihre ganze mütterliche Fürsorge ihren Pflegeempfohlenen zu.
Herren P. & W. (Ledertuch-Importeure) in Berlin. Sie wollen sich mit Ihrer Beschwerde an das Reichsgesundheitsamt, nicht an die Redaction dieses Blattes wenden! Nachdem die oberste deutsche Gesundheitsbehörde officiell erklärt hat, daß der Bleigehalt des Ledertuches unter Umständen gesundheitsgefährlich sei, ist es die Pflicht der Aerzte, auf solche Schädlichkeiten zum Schutze des Publicums hinzuweisen. Wenn, wie Sie zu hoffen scheinen, das Reichsgesundheitsamt seine bezügliche Publication zurücknehmen wird, dann sind auch wir gern bereit, Ihrem Wunsche mit einer „Berichtigung“ zu willfahren. Wir glauben übrigens, daß es bei den frommen Wünschen sein Bewenden haben wird.
- ↑ Friedrich von Gaudy war der Stiefbruder des Dichters Franz von Gaudy; er fiel als Oberstlieutenant im Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiment im Gefecht bei Alt-Rognitz den 28. Juni 1866.