Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1877)/Heft 36

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[595]

No. 36.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Fortsetzung.)


Sogleich lagerten sich Alle auf untergelegten Mänteln; ein inhaltsschwerer Bastkorb wurde ausgeleert, kaltes Wildpret, Geflügel mit Eiern, Brod und Salz vor ihnen ausgebreitet und ein gewaltiges Trinkhorn mit köstlichem Rheinwein gefüllt.

„He, Grauer,“ rief Max scherzend zum Boten hinüber, als er denselben am Bache seinen kleinen Klepper mit Brod füttern sah, „was habt Ihr denn in dem wunderbaren Ledersack dort am Sattel? Ich verhoffe, es ist leibliche Nahrung für Euch darin; sonst kommt und setzet Euch mit zu uns!“

„Zu viel Ehre, Ew. Gnaden!“ entgegnete der Graue. „Mein Gaul und ich, wir sind gute Cameraden und theilen Lager und Kost. Aber zum Nachtisch vergönnet, daß ich Euch zum Dank selbst etwas Ergötzliches anbiete, das in dem Wundersacke steckt!“

„Nach Eurem Gefallen; wir sind begierig auf die Herrlichkeiten,“ lachte der Prinz, das Mahl beginnend. Und so groß war Hunger und Durst der Waidmänner, daß sie sich eine geraume Zeit wortlos den Freuden des Genießens hingaben. Als aber das Trinkhorn zum zweiten Male gefüllt werden mußte, da hielt Maximilian den günstigen Augenblick für gekommen, und obwohl nicht ohne Unbehagen, machte es ihm doch sein gutes Gewissen leicht, sich die Miene jovialer Stimmung zu geben. So stemmte er sich denn scheinbar behaglich auf den Arm und sah lächelnd zum alten Ritter hinauf.

„Nun, mein getreuer Eckart, was glaubt Ihr: wohin geht die Reise?“

„Nach Eurer Art zu fragen, weder gegen Ungarn, noch gegen Türken,“ antwortete trocken der Alte.

„Wisset, ich gehe nicht mit so viel Sorge an das, was ich vorhabe, als daran, es Euch zu sagen.“

„Dann kann es nur etwas Schlimmes sein, Herr.“

„Mir scheint es gut und nothwendig und ehrenhaft, Herberstein. Vernehmt – ich gehe nach Burgund.“

„Bei Kaisers Majestät, Prinz, das werdet Ihr nicht.“

„Bei meiner Ehre, ich werde es,“ flammte Maximilian auf, indem er den Brief hoch hielt. „Leset dieses Blatt und saget selbst, ob ich den Namen eines Ritters verdiene, wenn ich bleibe. Maria von Burgund, das verwaiste Herzogskind, sie, die Königin meines Herzens, ruft mich in höchster Noth. Die Stunden sind gezählt; sie baut auf meine Hülfe. Dazu ist Alles günstig. Gent ist von Truppen entblößt; ihr geheimer Anhang ist groß, und sie hat mir fünfhundert Reiter als Geleite an die Grenze entgegengesandt. Noch in dieser Nacht brechen wir auf.“

„Giubilo!“ jubelte der Page.

„Still!“ verwies ihn der Prinz.

„Ihr könnet und dürfet Euch nicht vermessen, so gröblich wider Kaisers Befehl zu handeln,“ beharrte der Alte, nachdem er kopfwiegend den Fall überdacht, bei seinem Entscheid.

„Was mein Vater befahl, befahl er nichtwissend, und ich werde nach geschehener That an den besser Unterrichteten appelliren.“

„Alessandro!“ entfuhr es, halb unterdrückt, dem unverbesserlichen Pagen.

„Nein, eines Andern gedenkt!“ rief mit strafendem Blicke auf ihn feierlich der Alte. „Conradin's des Staufen! Auch er folgte einem lockenden Rufe, auch er hielt für Ritterpflicht, was er that, auch er sah nur den glücklichen Anfang, und mußte doch verbluten. Bedenket, daß Ihr in Gent nicht allein gegen den Clever, daß Ihr auch gegen König Ludwig zu kämpfen habt! Und wahrlich, nicht schlimmer, nicht tückischer, nicht grausamer, denn er, war jener Karl von Anjou, der dem staufischen Kaiserenkel den Kopf vor die Füße legte. Lasset Euch rathen, lasset Euch warnen, Prinz! Ich, Euer alter Hofmeister, den Kaisers Majestät Euch beigegeben hat, um Euch vor Unbedacht zu wahren, ich, der mit seiner Ehre für Euch bürgt, wie sollte ich ein Wagniß billigen, das Eure Freiheit, Euer Leben und das Ansehen des Reiches gefährden kann? ...“

Maximilian ließ ihn nicht ausreden. Mit einem Satze sprang er empor.

„Das Ansehen des Reiches?“ rief er erglühend. „Wie mögt Ihr glauben, Herberstein, daß es mir nicht heilig gelte, daß ich, dessen höchstes Gebet ist, ich möge berufen sein, das so tief gesunkene, ja, laßt es mich aussprechen, das vernichtete Ansehen in alter Glorie wieder herzustellen, daß ich es der Gefährde aussetzen möchte! Nein, höret! Weislich habe ich mir während des Rittes meinen Plan zurecht gelegt. Man muß mich nach dem, was ich vor so vielen Zeugen kundgethan, auf dem Wege nach Wien glauben. Welches Weges ich mit Euch geritten, kann in den ersten Wochen nicht offenbar werden. Von Stund' an aber legen wir unsere Namen ab. Wer kennt in Burgund den Erben des deutschen Reiches? Wer würde ihn in diesem Gewande suchen? Nein, ich bin von diesem Augenblick an 'Ritter Teuerdank'; Ihr, Alter, heißet, wie Ihr es verdient, 'Ritter Ehrenhold', der Page aber ist nach Rechtens 'Junker Fürwittig'. Die Diener werden darauf in Pflicht genommen. [596] Keiner erlaube sich, bei hochnotpeinlicher Ahndung, uns anders zu nennen! Selbst unsere Heimath bleibe verschwiegen! Unser Herr sei im fernen Osten der 'Weißkunig', und das minnigliche Fräulein, um dessen Hand ich werbe, heiße 'Ehrenreich'. Mißglückt dann das Wagniß, so war es ein fahrender Ritter, der es unternahm, und leichtlich mag er sich mit Golde lösen. Glückt es aber und habe ich Maria die freie Herrschaft zurückgewonnen, dann erscheint Maximilian wieder in Köllen und die Gesandtschaft mag für ihn werben, zu Ehren des Reiches! ... Ihr lächelt, Alter? Euch scheint das wieder ein romantisches Jugendstück? – O, gönnt doch der Jugend ihr Vorrecht! Gedenkt Eures eigenen Sohnes! Neun Jahre alt ist er freilich erst, Euer kleiner Siegmund in Wippach, aber denkt ihn Euch in meinem Alter, denkt, daß auch von ihm einst die Umstände ein warmes Herz und ritterliche That verlangten, und sagt ehrlich: Möchtet Ihr Euren Sohn in solcher Lage erst vorsorglich rechnen, ihn erst die Erlaubniß seines Vaters abwarten sehen? ... Ihr stampft mit dem Fuße. Ihr würdet es nicht – Wohl, Alter, so dürft Ihr es auch nicht von mir begehren, sonst müßte ich Euch sagen: Es ist nur die eigene Verantwortlichkeit, die Ihr scheuet.“

„Ihr habt eine glatte Zunge, Prinz,“ murrte sichtlich betroffen der Alte. „Aber sparet Eure Ueberredungskünste! Ich bin ein Kriegsmann und kenne nur die eine Pflicht, Gehorsam gegen den Befehl.“

„Herberstein, wenn Ihr jeden anderen Grund zurückweiset, so möget Ihr auch den letzten noch hören. Vielleicht daß Ihr dann doch Euch bewegen lasset, denn er kommt aus der Seele dessen, den der Himmel durch Geburt zum künftigen Herrn des deutschen Reiches berufen hat. Sehet, nicht allein wäre für mich auf ewig Maria verloren, auch für mein Haus Burgund. An unserer Statt gewönne es ein Feind, und ob für den Augenblick des Clevers Schwänke oder Ludwig's Ränke die Beute davon tragen, schließlich muß sie dem mächtigen Frankreich zufallen zum Verderben Deutschlands. Dagegen hilft keine noch so glänzende Gesandtschaft; dagegen hilft nur rasche That. O, nicht umsonst hat mich mein Vater in den Historien alter und neuer Völker unterweisen lassen. Ich habe es gelernt von den Helden aller Zeiten, vor Allen aber von Carolus Magnus, dem 'Sonnenspiegel des Reiches', was kühne That zur rechten Stunde vermag. Oder fragt der Landmann, wenn die goldene Maht zum Heimsen vor ihm liegt und drohend Gewölk am Himmel steht, ob der Erntewagen festlich geschmückt sei? Und so ist es hier, ist es mit Burgund. Diese blühenden Lande, durch Säumniß schwacher Kaiser losgelöst vom deutschen Verbande, liegen sie nicht unter der Sichel der Noth wie eine goldene Maht vor mir und harren meines Armes, daß er ihre Schätze für uns einheimse? Stellt Euch doch vor Augen, welchen Segen sie für Deutschland bieten! Denkt ihrer meerbeherrschenden Flotte, die bis an die fernsten Nordspitzen des Landes der Russen segelt! Denkt, welche Stapelplätze uns ihre Häfen sein werden, welch ein Markt für den Welthandel ihre Städte, die den Reichthum aller Welten jetzt in eitel Genuß und Prunksucht verschwenden! Denkt aber auch des köstlicheren Gewinnstes für die Bildung unseres Volkes auf ihren sechs hohen Schulen, für unsere Gewerbe in den Werkstätten ihres Kunstfleißes. Denkt des Einflusses, den der burgundische Thron als Muster in Pracht, Kunstsinn und seiner Hofsitte auf alle Höfe Europas ausübt – und ich sollte zögern, auf einen Zug solche Schätze für meine Heimath zu gewinnen, sie zu ihrem Ansehn, ihrem Ruhme zu verwerthen? O, mein schönes, großes und doch so sterbenssieches Vaterland, wie sehr bedarfst du nicht frischen, gesunden Blutes, um zu genesen, zu erstarken und zu neuer Größe zu erblühen! Ja, Herberstein, ich träume ihm noch eine goldene Zukunft, und, so Gott mir beisteht, möchte ich mein Theil dazu thun.“

Hohe Begeisterung strahlte aus dem Antlitz des schwärmerischen Kaisersohnes, als er seinen Gedankenflug zum ersten Male also verlautbarte. Mit offenem Munde und großen schwarzen Augen starrte ihn der Page in unverhohlener Bewunderung an. Tief gerührt aber schritt der Ritter auf ihn zu.

„Lasset Euch umarmen, Prinz!“ rief er. „Das sind Worte, die einem deutschen Herzen wohlthun.“

Mit vollem Entzücken umarmte ihn der Prinz. Er wähnte den Alten besiegt, für seine Sache gewonnen.

„Ja, mein alter Hofmeister,“ rief er, „Ihr sollt mir das neue Banner vortragen, und das sei eine weiße Fahne mit goldenen Glückssternen und Marienäpfeln darunter!“

Schmerzlich wandte sich der Alte ab. „Ihr habt mich gerührt, Prinz, denn Ihr habt mich einen tiefen Blick in Eure edle Seele thun lassen. Aber das Banner trage ich Euch nicht, denn Euer Unternehmen kann ich nimmermehr gutheißen.“

„Herberstein, noch immer nicht?“ rief, kaum seinen Ohren trauend, der Prinz. „Dann habt Ihr kein Herz für mich, kein Herz für das Reich in der Brust.“

„Ob ich es habe!“ sagte mit zum Himmel erhobenem Blick der Alte. „Für Euch – wie hättet Ihr mich sonst also rühren mögen? Für das Reich? O Prinz, wollte Gott, daß Ihr das edle Feuer, das in Euch glühet, einst in weise Schranken zu dämmen verstündet, auf daß es den Herd des Reiches erwärme und nicht knisternd über Rand und Band in unfruchtbaren Funken zersplittere! Aber die sicherste aller Schranken übersprüht es schon jetzt, und diese Schranke ist – das Recht.“

„Das Recht, Herberstein?“

„Mit welchem Rechte strebet Ihr in das Geschick eines fremden Staates einzugreifen und seine Schätze Euch für das Reich anzueignen?“

Mit dem Rechte des künftigen Gemahls,“ erwiderte erstaunt der Prinz. „Ist nicht Maria längst meine verlobte Braut?“

„Nein, Prinz,“ nahm, also herausgefordert, dieser das Wort. „Die Staaten sind es, die jetzt über die Hand der Herzogin zu bestimmen haben, denn sie hat eingewilliget und verbrieft, sich nicht ohne ihre Zustimmung zu vermählen.“

„Ha, Alter, und was hat ihnen die Einwilligung verschafft? Empörung gegen ihre junge Herrin in der Stunde der Noth. Noch jetzt ist sie in der Gewalt frecher Aufrührer, und nicht zum Letzten bin ich gesonnen, ihr die Freiheit und ihr angestammtes Recht zurück zu gewinnen.“

„Es mag ein zweideutig Ding um das Recht der Empörung sein und um das neue Recht, das es schaffet,“ nickte sinnend der Alte vor sich hin, „aber keinesfalls ist es klug, noch geziemet es Euch, in ein fremdes Wespennest zu stören.“

„Also hätte ich Euch schon so weit, Herberstein,“ fuhr Maximilian, scharfen Blickes die Blöße erkennend, fast erbittert in dieselbe hinein, „daß Ihr von der Pflicht zum Rechte und vom Rechte zur Klugheit heruntergestiegen seid. Die Klugheit aber rechnet, und da ich das Rechnen verschmähe, wo Ruhm und Ehre rufen, so bin ich zu Ende mit meinem Latein und kann Euch nur sagen: Rechnet, Alter, rechnet in Wien mit meinem Vater! Denn so Ihr mir nicht folgen wollt, gehe ich allein.“

Mit großen Augen sah ihn der Alte an. „Was sagt Ihr, Prinz? Welch ein Gedanke! Und das könnet Ihr für möglich halten? ... Ich Euch verlassen? O Prinz, Euch zu warnen, bis zum Aeußersten zu warnen, war ich meiner Pflicht, meiner Treue gegen Kaisers Majestät schuldig, und redlich habe ich die Pflicht erfüllt. Aber nicht ich habe über Euch zu bestimmen – Ihr seid ja selbstständig worden. Und Euch verlassen, ich, in der Stunde der Gefahr? Prinz, Prinz, wie verkennet Ihr mich!“

Mit Thränen in den Augen breitete er die Arme gegen ihn aus.

„Ich wußte es ja,“ rief gerührt der Prinz und warf sich an seine Brust.

„Bravi, bravi!“ jubelte der Page, das Trinkhorn ergreifend. „Und jetzt angestoßen, Herr!“

„Auf ihr Wohl!“ rief Maximilian, trank und reichte das Horn dem Ritter.

„Auf ihr Wohl und das Eure!“ sprach feierlich der Alte und trank.

„Nun zeige auch Du, Jünkerlein, wie viel Du schon von Liebe verstehst!“ wandte sich fröhlich Maximilian an den Pagen und reichte ihm das noch zur Hälfte gefüllte Horn.

„Alla di léi salute!“ rief ernsthaft der Junker, ließ den Wein auf einen Zug unaufhaltsam hinunterrinnen und machte lachend eben die Nagelprobe, als ein lauter Ausruf der abseits gelagerten Reitknechte Aller Augen auf einen neuen Ankömmling lenkte.

Niemand von ihnen hatte bisher auf den Grauen geachtet, der, nachdem er sein Pferd versorgt, am Rande des Baches seine einfache Kost zu sich genommen hatte. Wer ihn freilich beobachtet [597] hätte, würde an der schrägen Haltung seines Kopfes bemerkt haben, daß er mit seinem ansehnlichen, von Natur wie zum Hörrohre geschaffenen Ohre auch die leiseste der Schallwellen aufzufangen bestrebt war, die in der Stille des Waldes von den Sprechenden zu ihm herüberdrangen. Diese Stellung machte ihn aber auch ebenso empfänglich für jeden anderen Laut, und just als er mit stillvergnügtem Nicken die Umarmung begleitete, mit welcher der alte Ritter seinen jungen Herrn wider Willen so grausam täuschte, mußte wohl ein fremder Ton zu ihm gedrungen sein, denn blitzschnell, aber geräuschlos, erhob er sich, nahm die längliche Halftertasche an sich und verschwand hinter den Büschen. Der ferne Hufschlag eines Pferdes aus derselben Richtung, in der sie selbst vor einer halben Stunde gekommen, war an sein Ohr geschlagen. Lautlos schlich er hinter den Reitknechten herum zu einer Stelle, wo der Waldweg sich eine weite Strecke bis hinter eine Kreuzung übersehen ließ. Er hatte sich nicht getäuscht. Ein Reiter kam von ferne dahergetrabt. Es schien ein kleines, auffallend in den Schultern steckendes Bäuerlein in blauem Wollkittel und niedrigem schwarzem Filzhut zu sein, das einen Sack vor sich auf dem Sattel trug. Als er aber an den Kreuzweg kam, hielt er seinen Gaul an und beugte den Kopf, wie spähend, zur Erde nieder.

„Aha, ich weiß genug,“ sagte sich der Graue, zog sich wenige Augenblicke hinter einen Busch zurück und erschien in unglaublich kurzer Zeit, wie durch Hexerei verwandelt – wenn es überhaupt nicht ein Anderer war – wieder bei seinen Gefährten. Ein Ausruf des Erstaunens entfuhr den Reitknechten.

„Ah!“ rief der Prinz, „Ahi!“ der Page, als sie seiner ansichtig wurden.

Es war ein rother Spielmann, der vor ihnen auftauchte – roth die Kappe, roth die Gugel, Fiedel und Bogen am Gürtel – mit spärlich blondem, ausgezacktem Barte und einem wundersamlichen Höcker auf der Nase. Und doch erinnerte er auffallend an den Grauen. Ja, der Graue mußte es selbst sein. Das war seine Gestalt, das der Schnitt seiner Kleider, sein bastumwundenes Schuhwerk; das waren die verschmitzten grauen Augen unter den schrägen Brauen und, das Sprechendste von Allem, die beredten Nasenflügel. Aber konnte ein Mensch sich verwandeln, wie eine Schlange sich häutet? Denn zugleich mit der äußern schien er auch seine innere Natur gewechselt zu haben. Das war nicht mehr der ernsthafte Alte, der dem Prinzen eben noch über die wichtigsten Dinge verständige Auskunft und wohlbegründeten Rath gegeben hatte. Mit der Farbe der Jugend mußte auch ihr Muthwille, ihre Thorheit über ihn gekommen sein. Denn als er jetzt, scheinbar ohne alle Veranlassung, anhub, seine Nasenflügel spielen zu lassen, und Höcker und Brauen sich hoben und senkten, als seien sie durch unsichtbare Fäden mit jenen verbunden, da konnten sich weder Diener noch Herren halten – sie Alle brachen in ein helles Gelächter aus. Er aber, ohne ein Wort der Aufklärung zu verlieren, riß Fiedel und Bogen von der Seite, strich als Präludium eine schrille Weise, deren Tact er mit tänzelnder Bewegung der Fußspitzen und der Hacken markirte, und ging plötzlich zu dem beliebten brabantischen Kinderliede vom Riesen über, das er mit heiserem Tenor drastisch-komisch vortrug. Bei dem Refrain des Liedes aber, wo es heißt: „Dreh' dich schnell um! Der Riese kommt, der Riese kommt“ griff er einen der verwundert lauschenden Reitknechte, schwang sich mit dem Verblüfften im Zweitritt einmal im Kreise herum, drückte ihm von rückwärts den Nacken vor, und deutete mit dem Fiedelbogen des Weges, auf dem der Reiter kommen mußte.

Ritter und Knechte halten sich die Seiten vor Lachen, während der Fiedler mit Geigen, Singen und Grimassiren fortfuhr. Und siehe da, als er mit dem Diener jetzt denselben Umschwung hielt und ihm mit dem Bogen die Richtung zeigte, erschien vor ihnen der kleine bucklige Reiter und hielt verwundert seinen Gaul an. So drastisch aber war die Wirkung, als statt des kinderschreckenden Riesen das mißgestaltete Bäuerlein vor ihnen auftauchte, daß der Prinz niemals ähnlich Lächerliches erlebt zu haben meinte, und selbst der Bucklige sich nicht enthalten konnte, ob seiner Eigenschaft als Riese in das Gelächter einzustimmen.

Sichtbar stolz auf seinen Erfolg sang der Fiedler auch noch den dritten Vers, hielt den Umschwung, zeigte hänselnd auf den Reiter, lief dann auf denselben zu, machte ihm mit einem Fußkratz seine Reverenz und hielt ihm die Mütze hin.

Die Wirkung machte die Absicht alsbald klar; denn anstatt ihm das erwartete Stüberstück zuzuwerfen, gab der Bauer hastig seinem Gaule einen Schlag mit der Weidengerte und galoppirte von dannen, nicht ohne im Vorbeireiten noch mit einem scharfen Blicke die Gesellschaft gemustert zu haben. Der Fiedler aber drehte ihm eine Nase hinterdrein und sang ihm noch einen letzten Vers nach. Dann lauschte er, bis der Hufschlag nur noch in weiter Ferne zu vernehmen war, und kehrte zum Prinzen zurück.

„Herr,“ sagte er, ganz in der frühern Weise des Grauen, „der Hallunke war ein Kundschafter des Rothbärtigen, denn ich sah ihn deutlich am Kreuzwege die Hufspuren unserer Thiere untersuchen. Ich wette meinen Kopf, er biegt bei dem ersten Seitenwege links ab und berichtet jenseits der Grenze, was er gesehen.“

„Mag er es!“ erwiderte geringschätzig der Prinz.

„Meinet Ihr, Herr? Der Rothbärtige, dünkt mich, wird also rechnen: Hat der Prinz wirklich eiligen Befehl nach Wien, so muß er durch Eupen auf der Heerstraße nach Aachen reiten, schon um in Aachen frische Pferde zu nehmen. Er ritt aber auf einem Umwege um Eupen herum und hielt Rast im Walde – das bedeutet, daß er etwas Besonderes vorhat.“

Maximilian nickte betroffen mit dem Kopfe.

„Meine Gegenrechnung aber,“ fuhr der Fiedler mit verschmitztem Blicke fort, „ist also: Es war eine lustige Rast, die der Prinz im Walde hielt; er zechte, ließ sich von einem vlämischen Bänkelsänger Schnurren vorsingen und erlustirte sich daran. Folglich kann es nichts Wichtiges, noch ein groß Geheimniß sein, was er vorhat, denn ernste Dinge geben ernste Gedanken, und er weiß, daß der Spielmann aller Welt erzählen wird, wann und wo er ihm begegnet ist.“

„Ihr seid ein Geriebener,“ nickte der Prinz.

„Was ist's mit dem Rothbärtigen, Herr?“ fragte der Ritter, der hoch aufgehorcht hatte.

„Ich erzähle Euch das unterwegs mit Allem, was Euch sonst zu wissen nöthig,“ vertröstete ihn Maximilian, sich erhebend, „denn mich dünkt es an der Zeit, aufzubrechen. Aber vorher berichtet uns: wie in aller Welt habet Ihr die Zauberei da mit Euch möglich gemacht?“

„So, Herr!“ sagte der Fiedler, nahm seine Kappe ab, hob mit einem Ruck die Gugel über den Kopf, drehte die rothe Seite nach innen und steckte den Kopf wieder hindurch, klappte ebenso die Mütze um und setzte sie wieder auf, zog einen falschen grauen Bart hervor, heftete ihn mit den feinen Drahthäkchen daran hinter den Ohren fest, riß den Höcker von der Nase und stand in weniger als zwei Minuten vor den erstaunten Zuschauern als grauer Alter da.

„Oh bella!“ rief der Page.

„Ecco Ceschy,“ lachte der Prinz, „das Fabelthier Chamäleon von außen und von innen! ... „Wahrlich, Fiedler, eine gute Vermummung.“

„Das getreue Bild eines Gelderers, Herr!“ versetzte der Graue in plötzlich wieder ernsthaftem, fast kummervollem Tone. „Er weiß nicht, ob er Fisch ist oder Fleisch, und ist doch der getreue Wasserhund, der mit Liebe an seinem Herrn hängt.“ ...

„Und dem Wir helfen wollen, so weit Wir vermögen,“ tröstete der Erbe des römischen Reiches. „Aber jetzt läßt es mich nicht mehr. Noch einen Trunk, und dann ...“ – – – –

Die Pferde standen bereit. Man schwang sich in die Sättel, und vorwärts ging es dem Norden zu. Der Graue aber führte den Zug, indem er sorgfältig die Hufspuren beobachtete, die der Klepper des Bäuerleins hinterlassen hatte.




3. Am burgundischen Hofe.

Vier Tage nach den Ereignissen, die sich an dem hohen Venn zugetragen, führte in Gent um die Mittagszeit Maria von Burgund, die junge Herzogin, ihre eben angekommene Base, die Aebtissin Gräfin Chimay, schweigend die Marmorstufen des Fürstenhofes hinauf. Es war ein trauriges Wiedersehen, und nur mit stummem Händedruck war Maria drunten im Stande gewesen, ihre fromme Base zu begrüßen. Kaum aber hatte sie im Empfangssaale das Gefolge verabschiedet und sah sich mit ihr allein, als sie ihren mit Mühe zurückgehaltenen Empfindungen freien Lauf ließ und sich mit dem Ausruf: „Base, Base, welche Zeiten!“ schluchzend an ihre Brust warf.

[598] „Sage, welch' ein Jahrhundert, Kind! Die ganze Welt leidet darunter,“ tröstete die Aebtissin, sich zu ihr niederneigend und ihr die Stirn küssend. „Der böse Feind geht leibhaftig um auf Erden. Wohin das Auge blickt, sieht es seine Spuren. ... Das sündhafte Erbe der schrecklichen Hussiten hat er durch Sectirer unter die Völker gestreut; die Sprache der alten Heiden verbreitet er durch Schwarzdruck. In das christliche Byzanz hat er den Saracenen geführt; jenseits des Canals schürt er das Morden der beiden Rosen. Deinen unglücklichen Vater mit der Blüthe der Ritterschaft warf er freiheitstrunkenen Bauern zum Opfer, und den ehrbarsten Städten predigt er Aufruhr um Privilegien – o Gott, o Gott!“

Noch immer lag Maria an ihrer Brust.

„Ach Base,“ schluchzte sie, „lasset mich meinen Kummer ausweinen! Zum ersten Male seit langer Zeit ruhe ich wieder an einem treuen Herzen.“

Es war eine Gruppe für den Bildner, aber mehr noch für den Maler, die schlanke Gestalt der jungen Fürstin an der Brust der ehrwürdigen Aebtissin, die Arme um ihren Nacken geschlungen.

Von den beiden trotz der eben verflossenen Trauerzeit noch in Schwarz gekleideten Frauen bot allein schon das Antlitz der älteren, obgleich es vom Scapulier bis an den Mund mit dem weißen „Rissentuche“ verhüllt war, die dankbare Aufgabe, durch überraschende Gegensätze zu wirken.

Die Sonne von sechzig Sommern hatte es dunkler, als gewöhnlich, gefärbt, aber eben so viel Lenze hatten die Wangen rosig erhalten, und doch wieder sechzig Winter ihr Haar mit dem hellsten Schnee übergossen. Und so auffallend hoben sich von dem dunkelen Colorit der Stirn und den noch dichten Brauen über schwarzen Augen die schneeweißen Löckchen ab, die unter dem spitzenbesetzten Flügeltuche hervorquollen, daß man hätte versucht sein können, diese ihre Hauptzierde für ein Gebilde von Menschenhand zu halten. Allein wie berechtigt auch eben ihre frommen Vorwürfe gegen ihr Jahrhundert gewesen sein mochten: so gottlos hatte der „böse Feind“ es doch noch nicht gemacht, daß es sich, seinen Nachfolgern gleich, vermessen hätte, den Schöpfer selbst zu verbessern – die Löckchen waren echt, gerade so echt, wie die braunen Ringeln um das Köpfchen an ihrer Brust, die dort in natürlichen Arabesken das blühende Gesicht eines neunzehnjährigen Mädchens umflossen.

Und welch eines Mädchens!

Aus dem Hermelinbesatze ihres schwarzen Obergewandes hob sich züchtig ein Hals, den selbst die beiden Streifen feinsten Linnens über dem dreieckigen Ausschnitte an ihren Schultern nicht in Schatten stellten, und ein Antlitz schaute darüber hervor, das, weich wie ein Kindergesicht und offen wie ein Buch, zu sagen schien: Sehet her – ich bin zum Lachen geschaffen, aber an Thränen gewöhnt. – Und in der That, wer Maria kannte, der wußte auch: dieselben Lippen, die jetzt, geschlossen, einen Schmerzenszug in die linke Wange gruben, dieselben hellbraunen Augen, die jetzt matt wie hinter einem Trauerflore schimmerten, konnten sich wie durch Zauberschlag in ihr Gegentheil verwandeln, sobald nur ein heiteres Wort ihre wahre Natur hervorlockte. Dann war es, als wäre plötzlich hinter dem Auge ein Vorhang hinweggezogen; ein heller Lichtblick glänzte daraus hervor; die Mundwinkel schoben sich in die Höhe und öffneten, zugleich mit den Lippen, zwei Perlenreihen, hinter denen wie aus einer Thür der Schalk hervorsprang – der Schalk des Glückes, der von Kindheit an ihr Milchbruder gewesen war.

Der Schalk des Glückes – wann sollte sie ihn wiedersehen, die junge Herrin von Burgund, Artois, Picardie, Hennegau, Flandern, Brabant und Holland mit sammt Zütphen und Gelderland – jetzt kaum anders als eine Gefangene in ihrer eigenen Hofburg!

„Ach, Base,“ nahm sie, endlich sich aufrichtend und mit dem Spitzentuche in der Hand die Augen trocknend, das Wort, „so schlimm es in der Welt sein mag, hier ist es am schlimmsten. Sehet!“ – und sie führte die Aebtissin an den offenen Balcon – „da liegt nun mein altes Gent, scheinbar friedlich wie sonst, aber es sonnt sich wie dieser heuchlerische Apriltag, der am frühen Morgen die jungen Blüthen geknickt hat. O, was habe ich ihnen gethan, daß sie mich behandeln wie eine gekrönte Sclavin, die man auf dem Prinzenmarkt für den Meistbietenden feil hält! Ja, Base, all der prunkvolle Schmuck, der um mich glänzt, ist das Bild meiner selbst. Dieser Hermelin, das Zeichen meiner fürstlichen Würde, bedeckt ein Trauergewand. Dieser Rosenkranz von Edelsteinen, der mir zum Gürtel dient, deutet mein tägliches Nothgebet, und dieses goldene Vlies“ – und ihr Finger hob spielend die Halskette mit dem Goldschäflein an ihrer Brust – „dieses höchste Ehrenzeichen, das mein Großvater Philipp für die Herrscher Burgunds gestiftet, es ist zum Sinnbild meiner Krone geworden. Schrecken aller Art umgeben es, wie das goldene Widderfell der Griechensage; ein schlimmer Drache bewacht es, aber immer noch lockt es die Bewerber von nah und fern.“

„Kind, Derer, die in scharlachenen Kleidern gehen, ist keine glücklich,“ seufzte die Aebtissin.

„Aber ich, Base, bin der unglücklichsten eine, und heute zumal. Ja, heute mußte ich meine mütterliche Freundin ihrem stillen Kloster entreißen, denn die böse Stunde, die über mein Glück entscheidet, ist nahe, und er, der Einzige, der es mir geben könnte, mein Maximilian, bleibt fern.“

„Wo weilet er denn, mein Kind?“

Scheu sich umsehend, ob auch kein Lauscher in der Nähe, versetzte Maria, den Finger an den Lippen:

„Er ist in Köllen. Ich habe ihn wiederholt zur Eile gemahnt. Aber ach, wenn er noch immer ohne Heer oder großes Gefolge ist, wie kann ich da hoffen, ja nur wünschen, daß er kommt? Aufrührerische Banden durchziehen das Land; in der Umgegend hauset ein schrecklicher Geheimbund, den sie den 'Hugh' nennen und von dem Niemand weiß, was er bezweckt; die Wege nach Deutschland soll der Herzog von Cleve besetzt haben, und hier in Gent – o, welcher Empfang würde hier seiner warten!“

„Mein Gott, läßt ihn denn sein Vater ohne Hülfe?“

„Ach, Kaiser Friedrich – Ihr kennt ihn ja – hat im Osten zu sorgen und heget, fürchte ich, noch Groll gegen uns seit dem bösen Tage von Trier. Base, Base, das war mein Unglückstag! O, mein edler, ritterlicher Max, so von mir lassen, so mit mir brechen zu müssen! – Ach, und seit sie nun auch Margarethe von York, meine edle Stiefmutter, verbannt, habe ich Niemand mehr, der mir helfen, mir nur zum Besten rathen könnte, wenn Ihr nicht helft, Ihr nicht rathet.“

„Nein, Kind, das vermag auch ich nicht; das vermag nur Einer, nur Gott. Denn auch der Hellsehendste auf Erden sieht nicht in die Zukunft, und auch der Selbstloseste steht unbewußt noch unter dem Einflusse eigener Wünsche. Darum bete mit mir zum Allmächtigen, daß er Deine Gedanken erleuchte, und dann thue nach seiner Eingebung! Aber sage mir endlich, was steht Dir heute bevor? In der beschaulichen Einsamkeit meiner Abtei Allerseelen, ob auch kaum eine Stunde von Gent, kümmere ich mich wenig um die Händel der Welt und erfahre nur vom Hörensagen.“

„So habt Ihr nichts von der Gesandtschaft des Königs von Frankreich vernommen, die heute hier eingetroffen ist?“ fragte erstaunt Maria.

„Man sagte mir, sie werde mit Friedensbotschaft erwartet.“

„Friedensbotschaft!“ rief bitter Maria. „Sagt 'Unglücksbotschaft'! Denn was kann sie anders zur Bedingung stellen, als was mir auch vom Clever droht, und was will der Clever anders, als was auch die Staaten von mir gewollt, seit sie nach meines Vaters Tode sich Gent zum Vororte gewählt, in offener Empörung ihre alten Privilegien an sich gerissen, ein eigenes Heer angeworben und mich noch jetzt nicht einmal ohne Bewachung aus den Thoren reiten lassen? Mit mir will Jeder nur die Herrschaft über mein Land. Darum hat das Volk meine Stiefmutter verbannt, darum meine Freunde von mir getrennt, darum meine unglücklichen Kanzler, den greisen Hugonet, den freundlichen Imbercourt zum Tode verurtheilt und sie – schrecklich, schrecklich! – trotz meines Flehens auf offenem Markte, trotz meines Händeringens vor dem Gravensteine enthauptet.“

Wie gebrochen von der fürchterlichen Erinnerung sank sie auf dem Damastdivan neben dem Balcone. Die Aebtissin knieete vor ihr nieder und trocknete ihr die Schweißtropfen von der Stirn.

(Fortsetzung folgt.)



[599]

Mißverständniß.
Originalzeichnung von Hofmaler C. Arnold in Berlin.

[600]
Die Verfälschung der Nahrungs- und Genußmittel.
2. Das Bier

Ueber das Bier wird manches ungerechte Urtheil gefällt; ehrliche Brauer werden oft mit Unrecht verdächtigt. Wenn aber diesen das Bewußtsein ihrer Ehrenhaftigkeit kein hinlänglicher Trost ist, so mögen sie sich bei den zahlreichen Schmierern und Chemikern unter ihren Collegen bedanken, und dann bleibt noch immer ein Theil von Schuld, den sie sich gefälligst selbst gutschreiben mögen: denn gesetzt, die Mehrzahl unter den Brauern hätte ein reines Gewissen, warum sieht denn diese Mehrzahl dem unverantwortlichen Treiben der Fälscher, das doch offener vor ihnen liegt, als vor dem Laien, mit geduldigem Schweigen zu?

Doch zur Vermeidung aller Mißverständnisse will ich zunächst erklären, was ich im Sinne der Trinker unter Bierschmiererei und Bierverfälschung verstehe. Obwohl ich nämlich jeden wahren Fortschritt mit Begeisterung begrüße, so muß ich doch gestehen, daß ich in der Bierfrage auf dem alten oder, wie die Bier-Chemiker sagen würden, „veralteten und unwirthschaftlichen Standpunkt“ stehen geblieben bin, als reines Bier nur dasjenige Getränk anzuerkennen, das ausschließlich aus Hopfen, Malz, Wasser und Hefe gebraut ist, nicht das mit Malzsurrogaten (Kartoffelzucker, Biercouleur, Glycerin, Stärkesyrup etc.) geschmierte oder gar durch Hopfensurrogate (Quassia, Kokelskörner, Colchicum [Herbstzeitlose] und dergleichen) verfälschte Getränk. Wer der Meinung ist, „daß es absurd ist zu verlangen, daß außer Hopfen, Malz und Wasser keine anderen Stoffe in den Brauereien benutzt werden sollten“, der hat natürlich auch keinen Grund etwas gegen die Bierverfälschung einzuwenden. Ich glaube aber, daß noch sehr Viele ebenso absurd sein werden, wie ich, auf reines Malz- und Hopfenbier zu bestehen, wenigstens so lange die Brauer die Anwendung von Surrogaten noch immer mit Entrüstung leugnen. Das letztere thun sie natürlich nur, um „dem lächerlichen Vorurtheil der Trinker gegen die Surrogate keine Nahrung zu geben“. Sie sagen ferner: „Wenn das Bier gut schmeckt und gut bekommt, so ist es unserer Ansicht nach vollständig gleichgültig, aus welchen Substanzen es bereitet worden ist.“ Ja, „wenn“!

 Der Mann, der das „wenn“ und das „aber“ erdacht, Hat sicher aus Häckerling Gold schon gemacht.

Die Ehrenmänner, welche aus werthloseren und schlimmeren Dingen als Häckerling täglich Gold machen, wissen recht wohl, daß ihre Flüssigkeiten nicht gut bekommen können, wenigstens den Trinkern nicht. Es giebt Brauer, die selbst grundsätzlich nie einen Tropfen ihres eigenen Fabrikats trinken, und deren Absatzgebiet erst jenseits eines Rayons von zehn Meilen beginnt. Vielleicht antworten solche Leute auch auf die Gewissensfrage, ob ihr Bier gut bekommt, ähnlich wie der bekannte Zahnkettenfabrikant Goldberger, der auf die Frage eines Freundes, ob seine Wunderketten wirklich hülfen, schmunzelnd erwidert haben soll: „Mir haben sie geholfen.“ Wenn nun aber fernerhin alles Ernstes beklagt wird, „daß es zur Zeit leider noch kein Surrogat für Hopfen giebt“, so bin ich in der Lage, dem also Klagenden diesen Kummer durch die feste Versicherung von der Seele zu nehmen, daß wir bereits die glückliche Auffindung und massenhafte Verwendung einer ganzen Anzahl der lieblichsten Hopfensurrogate zu beklagen haben. Doch davon später! Ich werde die allerdings dringenden Verdachtsgründe, welche mir bezüglich der Hopfensurrogate zu Gesicht gekommen sind, hernach ohne alle Theilnahme besprechen.

Unter dem 5. Mai 1876 wird von sehr gut unterrichteter Seite, nämlich von der Redaction der „Allgemeinen Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation“ in Wien, die Anwendung von Kartoffelzucker, Kartoffelsyrup, Zuckercouleur, Glycerin etc. auf das Eifrigste vertheidigt und empfohlen. Auf Brauschulen wird das Brauverfahren mit solchen Surrogaten offen gelehrt und die Anwendung derselben hat eine ganz gewaltige Ausdehnung gewonnen. Glaubt man nun plötzlich das mißtrauisch gewordene Publicum mit Erklärungen, offenen Briefen, Entgegnungen etc. dupiren zu können? Da liegt z. B. ein solcher Abwehrartikel vor mir, der gerade den entgegengesetzten Eindruck auf mich gemacht hat, als er auf den Leser zu machen bestimmt ist.

Der Artikel steht in Nr. 145 des sechszehnten Jahrgangs der „Allgemeinen Hopfenzeitung“, und es wird in demselben von dem Präsidium des deutschen Brauerbundes in die Welt hinausposaunt, daß der Verein in seiner letzten Versammlung (in Frankfurt am 31. Juli vorigen Jahres) in der bündigsten Weise erklärt habe, man müsse „jede Beimischung von anderen Stoffen, als Hopfen, Hefe, Wasser, Malz und stärkemehlhaltigen Substanzen, als theilweisen Ersatz für letzteres, als unstatthaft, ungesetzlich und verwerflich verachten“. Wie ich aus Gründen des guten Geschmacks die Verantwortung für den Stil dieses Zitats ablehnen muß, so möchte ich noch weniger die Gewähr für den Inhalt derselben auf mich nehmen. Die Anwendung von Glycerin zur Bierbereitung wird in derselben Erklärung „als durchaus strafbar und verwerflich“ bezeichnet. Das läßt sich hören, denkt der Leser. Ja, und diesen tugendhaften Beschluß haben die Herren von der Gesellschaft sogar unterschrieben – also, nun sind wir ja sicher.

Leider hat die Sache einen ganz bedenklichen Haken, und das läßt die Erklärung in einem sehr verdächtigem Lichte erscheinen. Dieselbe wurde nämlich, wahrscheinlich nur in der höchst collegialischen Stimmung, die ja aus einer Brauerversammlung nur zu erklärlich ist, auch von Vertretern derjenigen Preßorgane unterschrieben, welche der Schmiererei mit Kartoffelzucker, Glycerin etc. noch kurz vorher das Wort geredet hatten. In der vorhin angezogenen Erklärung wird ferner das lästige „Zeitungsgeschrei“, das sich auf Prospecte chemischer Fabriken stützt, mit folgenden Worten zurückgewiesen: „Daß jene Berliner Firma (Rödel und Vetter ist gemeint) angeblich ihre Malzsurrogate anpreist, beweist wahrlich noch nicht, daß sie Abnehmer findet; umgekehrt dürfte aus den Anpreisungen zu schließen sein, daß ihr der Absatz ihrer Artikel schwer fällt.“ Man lese diese Stelle mit Andacht, denn jedes Wort derselben ist reines Gold; man beachte namentlich auch das „angeblich“, denn das ist überaus bezeichnend. Auf mich wirkt sie, wie der bekannte Gerbstoff des Tannins auf das Bier wirkt, nämlich klärend. Zunächst ist ja erwiesen, daß das verehrliche Präsidium des deutschen Brauerbundes, welches sich so äußern kann, seine gerechte Sache in gutem Glauben verfochten hat. Eine Berliner Firma hat „angeblich“ Malzsurrogate angepriesen. Wer so schreibt, dem ist offenbar keiner der Prospecte zu Gesicht gekommen, die von zahlreichen chemischen Fabriken hundertweise in die Welt gesandt wurden, offenbar keins von den tausenden von Inseraten, welche in Fachjournalen und politischen Zeitungen die bedenklichsten Mittel anpreisen.

Und doch kündigen in derselben Zeitungsnummer, auf deren erster Seite die eben besprochene Erklärung steht, in dem Organ des badischen Brauerbundes selbst, mehrere chemische Fabriken ihre Malzsurrogate und betrügerische Rezepte an. Das massenhafte Inseriren soll ferner ein Beweis für die Schwierigkeiten sein, welche sich dem Absatze jener zahlreichen Fabriken chemischer Brausurrogate entgegenstellen. Das nenne ich überzeugend. Man braucht gar nicht Geschäftsmann zu sein, um zu wissen, daß nur ein sehr rentables Geschäft die so kostbaren Reclamen zu tragen im Stande ist, und daß somit der angeführte Umstand das Gegentheil beweist. Der Verfasser dieser kostbaren Erklärung muß auf Leser gerechnet haben, deren Urtheilskraft durch anhaltenden Genuß echter „Dividendenjauche“, wie der Volkswitz das Erzeugniß der chemischen Bierfabriken benannt hat, bereits stark mitgenommen worden ist.

Schon die Prospecte der Fabriken von Malzsurrogaten sind lehrreich, sehr lehrreich. Viele derselben tragen an der Stirn – und darin liegt wahrlich eine bittere Ironie, eine ganze Satire auf unsere Zustände – ein halbes Dutzend Preismedaillen von Weltausstellungen. Darunter werden dann folgende Artikel ausgeboten: Trauben- oder Brauzucker (d. h. Kartoffelzucker aus gesunden und faulen Erdäpfeln gewonnen), von dem sechszig Kilo ein Quantum von hundertfünfzig Kilo Malz ersetzen, von dem zwanzig Pfund gleich einem Zentner Gerstenmalz sind und welches daneben das Bier „vollmundiger, süffiger, süßer, haltbarer“ macht; ferner die „stark und blank machende“ Biercouleur, die Bierbrillantine als „vorzüglichstes Mittel, jungen Bieren in einigen Tagen einen außergewöhnlichen Glanz zu verleihen, [601] sowie kamige Biere neu zu beleben und blank zu machen“; doppelt schwefligsaurer Kalk, als Mittel, „das Fortschreiten der Gährung zu verzögern“ (was sonst ein guter Keller besorgt) und „den Zuckerstoff zu erhöhen“, oder ein gut Theil „Hopfen zu ersetzen“. Ferner werden ausgeboten doppelt schwefligsaures Natron, Salicylsäure, Weinsteinsäure, kohlensaures Magnesium, Alaun, Moussirungspulver, Entsäuerungspulver, Chlorkalk, Leinsamenschleim etc.

In der bedeutendsten Fachzeitschrift, dem „Bierbrauer“, deren Herausgeber der Director einer Brauakademie in Süddeutschland ist, und auf den mit Medaillen geschmückten Prospecte machen sich Anpreisungen von Mitteln breit, wie folgende. „Brauereien sparen fünfundzwanzig bis vierzig Procent, welche sich Traubenzucker von Stärke oder Reis nach einfachster Methode selbst bereiten.“ Jeder weiß, wie schwer und kostspielig es ist, Trauben- d. h. Kartoffelzucker völlig rein herzustellen, und man kann sich nun eine Vorstellung machen, was für eine ekelhafte Schmiere bei dieser Selbstbereitung durch den Brauer zu Stande kommt. Ein anderer erbietet sich, Anleitung zur Herstellung jedes kranken Bieres zu geben, oder lehrt, „fertiges einfaches Bier im Fasse selbst zu Doppelbier, Salvator oder Bock zu machen und zwar mit fünf bis zehn Pfennige Auslage für das Liter“, oder ihm die Eigenschaften des Münchener Bieres zu geben. Und wem der kolossale Gewinn, welcher durch Schmieren mit Glycerin erzielt wird, noch nicht genügt, der findet eine vortheilhafte Ersetzung des Glycerins angeboten, „wobei der unangenehme Geschmack, den dasselbe stets mit der Zeit mittheilt, durch einen angenehmen ersetzt ist“. Ein anderes Geheimmittel bewirkt, „daß der Schaum im Glase fingerdick stehen bleibt“. Die beiden Hauptsitze dieser Schmierartikelfabrikanten sind Berlin und Nürnberg. Ich habe ein gutes Sortiment solcher Anpreisungen und Annoncen in den Händen und kann jederzeit eine große Anzahl Ehrenmänner namhaft machen, welche ausschließlich oder vorherrschend Brausurrogate fabriciren und recht gute Geschäfte machen. Am Schluß solcher Prospecte fehlt dann nie die Versicherung strengster Discretion – „Verschwiegenheit meinerseits Ehrensache“ – sowie die Bitte, bei der Bestellung gefälligst bestimmen zu wollen, als was der Brauer das Surrogat declarirt haben will; „es versteht sich wohl von selbst, daß bei uns kein Abnehmer genannt wird, und daß die Waare unter der Bezeichnung versandt wird, die Sie uns aufzugeben belieben,“ schreibt der Eine, während ein Anderer noch einen Schritt weiter geht, indem er schreibt: „Durch Rücksichten, deren Art und Bedeutung ich wohl nicht hervorzuheben brauche, bin ich verhindert, Ihnen eine große Zahl Firmen zu nennen. Es ist nicht nur Geschäftsprinzip, die Namen meiner Kundschaft in diesem Artikel gegen Dritte strengstens geheim zu halten, ich habe außerdem Vorkehrungen getroffen, daß dieselben nicht in meinen laufenden Geschäftsbüchern vorkommen,“ und in derselben Anpreisung eines Surrogates, dessen geringer Preis „durch einen verminderten Hopfenzusatz mehr als ersetzt wird“, heißt es ferner: „Diese Methode ist ihrer Einfachheit halber und weil die Manipulation dadurch vor dem Personal geheim gehalten werden kann, die gebräuchlichste.“ Man begreift in der That nicht, wie solche Elemente bis jetzt dem Staatsanwalt haben entgehen können, obgleich die Anpreisungen wiederholentlich in großen Zeitungen offen erwähnt worden sind. Und dann liest man auf den Preismedaillen, welche den Prospecten und Rechnungen dieser Leute vorgedruckt sind, Aufschriften wie „Zur Beförderung des Gewerbfleißes“. Mit demselben Rechte, wie diese Malzsurrogate, könnte man auf Ausstellungen z. B. die Erfindung eines polizeisicheren Verfahrens beim Kellerwechselreiten, Lombardenfixen, bei Falschmünzerei etc. durch Preismedaillen auszeichnen. In Amerika giebt es bereits, wie die Zeitungen melden, Fabriken, die sich mit der Herstellung vollständiger Apparate von Diebshandwerkzeug beschäftigen, und es könnte uns nach den bisherigen Erfahrungen gar nicht mehr befremden, wenn solch ein sauberes Besteck mit Brechstangen, Ditrichen etc. auf einer der nächsten Weltausstellungen erschiene und zur „Beförderung des Gewerbfleißes“ prämiirt würde.

So wandern denn tagtäglich die ekelhaften, rein auf die Täuschung des Publicums berechneten Surrogate im Unschuldskleide einer gefälschten Declaration als Faßlack, Holzlack, Maschinenöl etc. unter den Augen der wachsamen Polizei und der noch wachsameren Sanitätsbehörden ganz munter in die chemischen Laboratorien – ich wollte sagen Bierbrauereien. Die Bezeichnung Holzlack ist ordentlich sarkastisch und trifft den Nagel auf den Kopf, denn mit diesem Holzlack werden die Holzköpfe von vertrauensseligen Consumenten gründlich lackirt.

Geradezu gesundheitsgefährlich sind die Schmierartikel nicht, – ich wiederhole das ausdrücklich – aber ob sie wirklich ebenso zuträglich sind, wie reines Malzextract, ist eine wohlaufzuwerfende Frage. Ein Bier, das durch chemische Mittel so krystallklar, durch Glycerin so vollmündig, durch Syrup und andere Zuckerstoffe (auf eine äußerst billige Weise) so gehaltreich gemacht worden ist, hat doch schwerlich denselben Werth, wie ein Bier, das solche Eigenschaften der Verwendung reinen Malzes verdankt. Der Consument bezahlt durchschnittlich in ganz Norddeutschland das Glas Bier mit fünfzehn Reichspfennigen, gleichviel ob es ausschließlich aus Malz und Hopfen, oder mit einer Ersparniß von dreißig bis vierzig Procent mit Hülfe von Surrogaten gebraut worden ist.

Mithin bezweckt, da nie ein Brauer oder Schenkwirth die Verwendung von Surrogaten zu seinem Bier einräumen wird, das Schmieren eine Täuschung und Uebervortheilung des Publicums. Aber auch das ist noch nicht Alles; die meisten Surrogate sind ohne Frage unappetitlich, die Kartoffelzuckerpräparate, weil sie nie oder selten wirklich rein zur Verwendung kommen, das Glycerin, um nur eines näher in’s Auge zu fassen, weil es aus solchen thierischen Fetten hergestellt wird, welche zu Genußzwecken nicht mehr verwendbar sind. Bekanntlich wird das Glycerin meist als Nebenproduct von Seifensiedereien und Lichtfabriken gewonnen. Jedes Kind weiß, daß in diesen Fabriken kein Gänseschmalz und kein frischer „Schweineschmeer“ verarbeitet wird; Fette, die noch nicht einen so merklichen Haut-gout haben und die der Fleischer noch irgendwie mit anderen Fleischsubstanzen in die Därme stampfen kann, die so manches weniger Koschere verdecken müssen, werden wohl schwerlich in diese Fabriken wandern, wo sie die Concurrenz mit der aus den Abdeckereien stammenden Waare auszuhalten haben. Es ist selbstverständlich ganz gleichgültig, ob das dort verarbeitete Fett frisch ist, oder ob auf der ekelhaften stinkenden Masse tausende von fingerlangen Maden herumkriechen. Nicht blos der Fleischer, auch der Abdecker liefert, wie schon angedeutet, Rohmaterial zur Herstellung des appetitlichen Glycerins. Also aus dem Fette der Miserabeln des Thierreichs, aus den Cadavern schwindsüchtiger Hämmel, räudiger Hunde, von Seuchen hingeraffter Ochsen und von Eiterbeulen zerfressener Karrengäule und von dem ihrer glücklichen Erben, der Maden, wird jene lieblich-süßliche, wasserhell-unschuldige, ölige Flüssigkeit destillirt, die z. B. auf die aufgesprungene Haut gestrichen, selbst in ihrer denkbar chemischen Reinheit noch immer einen widerlichen Geruch wahrnehmen läßt, der lebhaft an die Reinheit ihrer Abkunft erinnert. Und dieses Genußmitel nimmt die vorhin citirte Redaction der „Allgemeinen Zeitschrift für Bierbrauer etc.“ (Wien), welche doch sicher Fühlung mit der Brauerwelt haben und am besten die Stellung ihrer Leser, der Brauer, zur Glycerinfrage kennen dürfte, mit folgenden Worten in Schutz: „Wir können das Glycerin nicht als unappetitlich ansehen; im Gegenteil ist dasselbe etwas recht Appetitliches, wenn es auch aus Fetten gewonnen wird. Wohin käme man, wollte man bei Allem, was man genießt, immer fragen, woraus es bereitet würde? Gar oft käme man auf unappetitlichere Sachen, als thierisches Fett ist“.

Nun ja, „ein gut Schwein frißt Alles“, sagt das Sprüchwort. Und nun die Logik! Wenn es noch unappetitlichere Sachen giebt, die wir, Dank den Schmierern und Fälschern in anderen Gewerben, unbewußt genießen müssen – ich denke übrigens auch mit diesen noch ein Wörtchen zu reden – ist deshalb das Glycerin appetitlich? Könnte man nach dem eben angeführten Satze der geehrten Redaction nicht etwa folgendermaßen weiter argumentiren: wir können das Beschneiden und Abdrehen von Goldmünzen nicht als unredlich ansehen, im Gegentheil, es ist das etwas recht Reelles. Man vergleiche nur dieses Verfahren mit der neuesten sinnreichen Herstellung täuschend richtig klingender und aussehender Goldkronen aus billigeren Metallen – und man würde noch auf ganz andere Dinge kommen. Oder: Wer wird nur ein solches Geschrei erheben über kleine Felddiebstähle, es giebt ja genug Menschen, die einbrechen, rauben, morden etc., letztere sogar engros wie Thomas, oder wie – die Bierverfälscher.

[602] Im chemischen Wortverstande ist das Glycerin allerdings rein und appetitlich; wer also den Widerstand seiner Zunge und seines Magens durch Vernunftgründe besiegen, das heißt durch Hinweis auf die chemischen Wandlungen, die das Schinderfett durchmacht, bis ein Theil desselben zu Glycerin wird, das unbehagliche Gefühl des Ekels beschwichtigen kann, der ist in der angenehmen Lage, Glycerinbier mit Appetit zu trinken. Die Chemie ist ja bekanntlich im Stande, aus Mistjauche chemisch reines, klares Wasser herzustellen, aber ich glaube, selbst die Herren von der genannten Redaction würden schönstens danken, wenn ich ihnen einen Becher dieses Wassers credenzen wollte. Man hat mir in Paris versichert, die Ratte hätte ein äußerst zartes, wohlschmeckendes Fleisch, und im Sinne der geehrten Redaction wäre es mithin reines Vorurtheil, das Fleisch dieses netten Thierleins zu verschmähen; läßt sich doch dasselbe genau in dieselben chemischen Bestandtheile zerlegen, wie etwa ein Rehrücken, oder wie das Fleisch eines Rebhuhns, einer Waldschnepfe oder eines Fasans. Nun, das ist Alles mehr oder weniger Geschmackssache, und da es nicht meine Absicht sein kann, irgend Jemand meine Geschmacksrichtung aufzudrängen, so möchte ich hinsichtlich des Glycerins mit Fritz Reuter sagen: „Wer’t mag, de mag’t, un wer’t nich mag, de mag’t jo woll nich mögen.“

Es ist nun ferner noch sehr fraglich, ob das Glycerin wirklich auch zuträgliche Nahrungsstoffe, wie Malz, zu ersetzen vermag. Von competenter Seite wird behauptet, daß das Glycerin gar nicht verdaut wird, wie es auch, dem Weine oder dem Biere zugesetzt, nicht mit vergährt, sondern durchaus unverändert bleibt. Ja noch mehr: es hindert sogar die Verdauung anderer zugleich genossener Speisen, und der widerliche Geschmack, über den Trinker oft nach dem Genusse des Bieres (namentlich am nächsten Morgen) klagen, rührt höchst wahrscheinlich von dem Glycerinzusatze her.

Wenn ich nun hier Raum hätte, auch dem hartköpfigsten Bierchemiker klar zu machen, daß das Glycerin wirklich nicht recht appetitlich, auch nicht ganz zuträglich ist, und daß jedenfalls seine Verwendung mindestens betrügerisch ist, dann würden wieder die Vertheidiger der Bierschmiererei kommen und von vagen und allgemeinen Behauptungen reden und in ihrer begütigenden Weise betonen, daß Glycerin nur „ein wenig, ein klein wenig, fast gar nicht“ zur Anwendung käme. Aber beweist etwa die warme Vertheidigung und Befürwortung dieses Surrogates in den Fachblättern ein wirklich nur vereinzeltes Vorkommen desselben in der Brauerei?

In den Reichstagsverhandlungen über das Brausteuergesetz, wobei die Anwälte der Brauerei-Interessen gewiß ausreichend instruirt gewesen und gehörig zu Worte gekommen sind, wurde die Verwendung des Glycerins in der Bierbereitung als selbstverständlich angenommen, da es aber nach Annahme der Commission das Malz nicht ersetzen kann, so wurde es auch nicht für ein Malzsurrogat erklärt und nicht besteuert. Das war ein großer Fehler. Gewiß kann das nutzlose Glycerin die Kraft und den Nahrungswerth des Malzes nicht ersetzen, wohl aber wird es dazu gebraucht, den Ausfall an echtem Malzgehalte betrügerisch zu verdecken. Daß das Glycerin nur zum Haltbarmachen des Bieres oder zum „Verbessern“ seines Geschmackes diene, ist reine Phrase. Alle Schmierrecepte geben übereinstimmend an, daß sieben Liter Glycerin einen Centner Malz ersetzen. Daraus ergiebt sich, wie Jeder leicht wahrnehmen kann, daß eine mittelgroße Brauerei bei einer jährlichen Production von zwanzigtausend Hectolitern durch die Anwendung von Glycerin eine Ersparniß von mindestens neunundzwanzigtausend Mark macht.

Genug für heute über dieses Thema! Die sogenannten chemischen Surrogate und ihre Schädlichkeit wird der nächste Artikel zum Gegenstande der Untersuchung machen.

Dr. Gustav Dannehl.     



Ein Abend an der Themse 1856.
An Gottfried Kinkel.


Es war im Mai, doch keiner Blume Duft
Drang durch die offnen Fenster uns entgegen;
Herein nur zog die feuchte Meeresluft –
Fluthwelle war’s, bewegt von Ruderschlägen,

5
Durchjagt von hundert kleiner Dampfer Kiel;

Wir sah’n im Mondenschein die Furchen ziehen;
Es war ein schöner Abend im Exil,
Wie den Verbannten viele nicht verliehen.

Drei Freunde saßen wir am Themsestrand,

10
Umrauscht von einer Weltstadt wüstem Lärmen,

Verbannte Alle, fern vom Heimathland,
Das stumm in seinem Leid sich mußte härmen,
Das tief gebeugt, wehrlos zu Füßen lag
Dem rohen Sieger mit den Bajonnetten;

15
Es war die trübste Zeit der deutschen Schmach,

Die Zeit des Unmuths und die Zeit der Ketten.

Hub an der Eine aus Westfalens Gau’n
– Sie haben jüngst am Neckar ihn begraben –
Mein Ferdinand: „Nie sink’ uns das Vertrau’n!

20
Die Zukunft bringt uns dennoch Freiheitsgaben;“

Und sprach zu mir: „Du kamst zur rechten Zeit –
Dein Wort rief wieder wach mein altes Lieben.
Du gehst zurück zur neuen Heimath heut;
Amerikaner, grüß die Freunde drüben!“

25
Du sprachst von jenem Deutschthum über’m Meer,

Das mythisch einst noch unserm Humboldt däuchte,
Das Du geschaut, der Freiheit Missionär,
Das Du verglichst mit einer hellen Leuchte
In dunkler Nacht – ob sie auch einsam steht,

30
Einst wird sie scheinen auf der Weltenbühne;

Ich seh’ Dich noch, begeisterter Prophet.
Du sprachst, als ständest Du auf der Tribüne.

Wir saßen lange, lange jene Nacht.
Dann kam der Abschied, denn mein Schiff lag fertig;

35
Wir hatten fast den Morgen hergewacht –

Wie ist mir Alles noch im Geist gewärtig!
Wie anders kam es, als wir da geglaubt!
Zur Heimath lenktet spät Ihr Eure Schritte;
Sie wand den Lorbeer Euch um’s graue Haupt –

40
Da fühlte pochen froh sein Herz der Dritte.


Er liegt jetzt längst versunken in der Zeit,
Der schöne Abend – einsam wird’s und stille
Auch um mich her; der Weg ist nicht mehr weit,
Doch stark noch blieb der Glaube und der Wille.

45
Noch schimmert Deine Leuchte über’s Meer,

Und strahlen auch in Deutschland hell’re Flammen,
Bedenk’, das Oel fließt uns gar sparsam sehr,
Doch nimmer ganz bricht unser Docht zusammen.

Die Reihen lichten sich mit jedem Jahr,

50
und Achtundvierzig wird gemach zur Märe,

Die ausschmückt einst die Zukunft, wie: „es war
Einmal ein großer Kampf fern über’m Meere,
In Deutschland war’s, in unsrer Väter Zeit“ –
So wird die deutsche Jugend hier einst sprechen,

55
Doch nicht vergessen wird, was wir geweiht,

Auch wenn des letzten Flüchtlings Augen brechen.

Nicht lockt die Freiheit jetzt sie über’s Meer,
Sie folgen eines andern Leitsterns Blinken,
Doch was wir aufgebaut, oft thränenschwer

60
Das Auge, kann nicht ganz zu Boden sinken.

Wir sind im Werden noch, vom Ziel noch weit;
Noch muß sich Manches klären und gestalten;
Der deutsche Geist wirkt nicht mehr dienend heut’;
Er zählt zu den bestimmenden Gewalten.

65
Nach Allem hast Du damals schon gefragt –

Nach zwanzig Jahren sollst Du Antwort haben;
Nicht mythisch sind wir mehr für Euch, so sagt
Euch jeder Dampfer mit der Ceres Gaben.
Dem deutschen Geiste treu am fernen Strand.

70
Bleibt uns ein Wunsch nur: lernt uns näher kennen!

Sei Du Vermittler, Freund, im deutschen Land,
Deß Namen beide Länder ehrend nennen!

Chigaco, August 1877.

Caspar Butz.     

[603]

Ein Abend im Harem.
Von einer Dame.


Arabisches Sprüchwort:
     Reisen bringt Rosen
     Und scheue nur die Reisedornen nicht!
     Denk’ an die Reiserosen,
     Die köstlichen, die dir entgegenblühn!

Wir waren im Ramazan, dem durch die Religion gebotenen Fastenmonat der Bekenner des Islam. Diese Zeit häufigerer Gebete und leiblicher Enthaltsamkeit – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang soll nichts genossen werden – schließt mit dem großen dreitägigen Beiramfeste. Schreiberin dieses war in jenen Tagen Zeugin eines gemüthlichen Harems-Abendessens.

Einladungen finden zu dem abendlichen Festessen, dem Iftar, womit man nach Sonnenuntergang die Fasten bricht, nicht statt. So wurden wir denn durch eine Art Verabredung eine Viertelstunde vor Sonnenuntergang im Gouvernementsgebäude erwartet. Zuerst traten wir drei Damen, meine Freundin, eine Dolmetscherin und ich, mit unseren Herren in den Selamlik, das heißt in denjenigen Theil des Hauses, der bei den Muselmännern nur für die Herren bestimmt ist. „Selamlik“ heißt Friedensraum, „Haremlik“ verbotener Raum. Wir wollen hoffen, daß erstere Bezeichnung nicht etwa mit Bezug auf die völlige Abwesenheit der Damen im betreffenden Raum entstanden ist. Dies verbieten schon zwei Umstände. Erstens ist ein Vortheil der Haremseinrichtung jedenfalls der, daß Gardinenpredigten in Folge der völligen Unkenntniß der Frau von den Geschäften und Vergnügungen des Mannes hier fast unmöglich werden. Zweitens hat diese Bezeichnung des Gastzimmers des Hausherrn an sich seine tiefe Bedeutung in einem Lande, wo neben vielen anderen chevaleresken und interessanten Gebräuchen auch Dolch und Gift noch an der Tagesordnung sind.

Im Gouvernementsgebäude war dieses Friedenszimmer ein schöner Saal. Vergebens sahen wir uns aber nach der eigenthümlich türkischen Einrichtung, den Divans an den Wänden, den mit Perlmutter und Ebenholz eingelegten niedrigen Tischen, den schwellenden Teppichen mit ihrer entzückenden Farbenharmonie, um. Die Einrichtung sollte jedenfalls einen europäischen Empfangssalon imitiren; durch die bedenkliche Aehnlichkeit mit einem Eisenbahn-Wartesaal erster Classe verlor sie aber viel von ihrem Reize. Wer kennt die weinrothen Sammetmöbel mit Mahagonilehnen nicht, den geschmacklosen groß gemusterten Blumenteppich, den runden Tisch mit inhaltsleerer Platte? Hier fand man sie alle und war versucht, in Ermangelung einer Reisetasche Hut und Umhang abzulegen. Es fehlte alle Füllung mit anderen Möbeln, alle Kleinigkeiten, die ein Zimmer hübsch machen, und jeder Wandschmuck von Bildern. Letzteres ist allerdings aus der Religion des Islam erklärbar. Nicht Alle ahmen jenem Sultan nach, der sich malen und das Bild in seinem Zimmer aufhängen ließ, um die strenge Sitte zu brechen.

In diesem Selamlik waren sechs bis acht Herren versammelt. An der Art, wie sie sich niedergelassen hatten, erkannte man deutlich, daß man sich trotz der europäischen Einrichtung des Zimmers in einem außereuropäischen Lande befand. Wie ein Richter dem Gerichtshof, so saß hier der Wirth seinen Gästen gegenüber. In den erwähnten rothen Lehnstühlen hatten letztere im Halbkreis an einer Wand des Zimmers Platz genommen, und in einem Armlehnstuhl ihnen gegenüber sitzend, machte der Vali (Generalgouverneur) die Honneurs seines Hauses. Seine Gäste waren, außer uns, nur Muselmänner, die höheren Beamten der Provinz. Sie trugen europäische Tracht, aber das rothe Fez und sprachen alle französisch.

„Doch wie ist es mit dem Harem?“ höre ich fragen. Geduld! Es geht nicht so rasch. Nur der Hausherr kann uns Europäerinnen dort einführen, obgleich wir erwartet werden.

Man führte uns Damen zum Sopha; ganz wie in Europa folgte nun eine allgemeine Unterhaltung, und erst als unsere Herren an dem Tschibukrauchen Theil genommen hatten, das man auch uns scherzhaft anbot, frug uns seine Excellenz mit freundlichem Lächeln, ob wir ein wenig zu seiner „Familie“ gehen wollten. Das Wort „Frau“ in der Bedeutung Gemahlin des Sprechenden darf nicht ausgesprochen werden. Es heißt immer „Familie“, auch wo keine Kinder und nicht mehrere Frauen im Harem sind! Man muß dann die Frau mit ihren Dienerinnen darunter verstehen.

Auf unsere zustimmende Antwort reichte der Vali mir den Arm; meine Freundin und die Dolmetscherin mußten aber ungeführt folgen, da kein anderer Mann als der Gemahl den Corridor, der zur Haremsthür führt, betreten darf.

Es ging an der Wache vorbei und dann durch leere Flure, bis wir zuletzt durch einen langen, schmalen Corridor an den Haremseingang gelangten. Hier klopfte der Pascha an die Thür; diese öffnete sich leise und ohne daß wir Jemand bemerkten. Wir traten ein und fanden uns in einem Vorflur, auf welchen sich verschiedene Thüren öffneten. Vor einer derselben sahen wir eine einzelne Dame stehen. Sie trug ein wallendes, weißes Gazekleid, war mittelgroß, üppig gebaut und von hübschen und einnehmenden Gesichtszügen. Der Vali führte mich dicht zu ihr heran, ließ mich in demselben Augenblicke los und stellte mich kurz vor. Darauf machte er Kehrt und verschwand schleunigst durch seine Thür. Er war augenscheinlich etwas im Dilemma zwischen europäischer und Haremssitte. Nach letzterer war es ja überhaupt ganz unpassend, daß er den Besuch seiner Frau erblickte.

Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich einer unverschleierten vornehmen Türkin gegenüber. Unsere erste Begrüßung war, da ich leider so viel wie gar nichts von ihrer Sprache verstand, stumm, denn die Dolmetscherin mußte sich zuerst in der gebührenden Entfernung halten.

Die weißgekleidete Dame, welche die Gemahlin und zwar die einzige des Pascha war, führte uns in diejenigen inneren Gemächer, welche zur einen Seite des Vorflurs lagen. Es waren zwei kleine Wohn- oder Empfangszimmer, fleckenlos weiß, aber sehr einfach eingerichtet. Rohrgeflecht-Matten bedeckten den Boden. Weißgemalte Wände, weiße Gardinen, weiße, in schönen, dicken Mustern gehäkelte Schutzdecken auf den Divans machten einen gar freundlichen Eindruck. Ein kleiner Tisch in der Mitte des Zimmers bildete nebst den Divans und den auf der Erde liegenden weißen Kissen das ganze Mobiliar. Auf dem Tisch standen zwei Kerzen, und zwei kleine vergoldete oder goldene Kelche und Albums lagen darauf. Die Fenster waren offen, die „Jalousien“ jedoch dicht geschlossen.

In ihrem weißen, goldfunkelnden Gewand ließ sich die Dame des Hauses auf den einen, wir, nach eben erlernter Sitte, auf dem gegenüber befindlichen Divan nieder, und durch Vermittelung der Dolmetscherin begannen wir zu plaudern. Ich wollte, ich könnte die friedliche, lauschige, ja poesievolle Stimmung schildern, welche mich in diesen von der Außenwelt völlig abgeschlossenen kleinen, weißen Zimmern ergriff. Während die Haremseinrichtung, von außen betrachtet, nur etwas Entwürdigendes hat, kommt man im Inneren derselben auch auf andere, ganz von diesen verschiedene Gedanken. Diese Ruhe, dieser Herzensfriede, dieses Behütetsein gleich dem kostbarsten Juwel muß doch auch seine unleugbaren Vorzüge haben. Ein Vergleich zwischen dem christlichen und dem muhamedanischen Eheleben giebt viel zu denken. Das Meiste, was sich darüber sagen läßt, wird indessen doch wohl zu unseren Gunsten ausfallen.

Die Frau des Hauses empfing uns allein; erst als wir schon in lebhafter Unterhaltung waren – sie war ebenso freundlich und entgegenkommend, wie ihr Mann seinen Gästen gegenüber im Selamlik – erschienen nach und nach einige andere Mitglieder der Familie.

Zuerst trat eine Dame ein, die uns als ihre Nichte und Frau ihres Neffen vorgestellt ward. Dann guckte deren neunjähriges Töchterchen mit einer circassischen Gespielin und noch einem anderen dreijährigen Kindchen durch die Thür und wurde hereingerufen. Die beiden kleinen Mädchen gaben uns sehr gesittet die Hand. Eine ältere Dienerin, die ganz das Wesen einer gut behandelten europäischen Kinderwärterin hatte, hielt sich ihrethalben im Vorflur auf. Andere Dienerinnen, oder vielmehr Sclavinnen, sahen wir vorläufig nicht. Die Kinder ließen sich auf eines der breiten, niedrigen Kissen am Boden nieder. Die Nichte nahm eine Art Puffstuhl neben dem Divan, auf dem die Tante thronte, ein.

[604] Es war ein kühler Octoberabend, und wir waren deshalb unserer ziemlich geschlossenen europäischen Visitentoilette froh. Die türkischen Damen fanden es jedoch nicht zu kühl, um Gaze über bloße Arme und Schultern zu tragen. Sie empfingen uns in vollständiger Abendtoilette, die sie freilich, wenn nicht im Negligé, stets tragen. Ihre schönen, vollen Arme und ebensolche Schultern kamen dadurch vortrefflich zur Geltung. Die Damen sahen für dieses Alter – achtundzwanzig und fünfunddreißig Jahre – sehr gut aus, ja die Tante, die Frau Pascha, war entschieden eine türkische Schönheit. Sie hatte ein schönes Profil, nur mit etwas niedriger Stirn, einen blendenden Teint und herrliche, dunkle Augen. Auch ihr Mund war sehr lieblich, voll und frisch roth, und das Lächeln schien unzertrennlich davon zu sein. Ueberhaupt war eine wohlthuende Heiterkeit, gepaart mit Würde, über ihr ganzes Wesen ausgegossen. Sie war wirklich eine „sympathische“ Person, wie man hier im Süden sagt. Ihre Toilette bestand aus einem weißseidenen Unterkleid, über welches ein Ueberkleid von mit Gold bestreutem Tüll unaufgerafft zu Boden floß, und ein blauseidener Gürtel hielt die blousenartig geschnittene Taille fest. Diese war herzförmig ausgeschnitten und eine reiche Brillant-Agraffe nestelte sie an der Brust zusammen. Ein kleiner blauseidener Shawl war durch das Haar gewunden.

Die Nichte trug, auch auf weißer Seide, ein ähnliches Ueberkleid, welches aber nicht von Tüll, sondern von breit goldgelb und weiß gestreifter türkischer Seidengaze war. Eine schwarze Emailbroche mit großen Brillanten prangte am Ausschnitt ihres Kleides. Den blauseidenen Shawl hatte sie aber nicht, wie ihre Tante, zwanglos durchs Haar geschlungen, sondern in strengerer Etikette, als kleinen Turban, auf dem Kopfe befestigt. Sie war dunkelblond, sah phlegmatisch aus und sprach kein Wort.

Die Kinder, unter denen die kleine Türkin an Hübschheit und aufgewecktem Wesen bedeutend von der kleinen Circassierin übertroffen wurde, waren ganz geschmackvoll europäisch gekleidet. Die Großnichte präsentirte sich im grauen Caschmir-Faltenkleidchen und rosa Schärpe und reicher rosa Schleifengarnitur und in lang hängendem reichem kastanienbraunen Haar. Die kleine Circassierin, die in ihrer Erscheinung zierlicher, in ihrem Ausdrucke intelligenter war, als die Türkin, trug ein graues Kleid mit Miedertaille, blaue Schärpe und eine weiße Blouse über den zarten, kleinen Hals.

Nachdem die Kinder ein wenig bewundert worden waren, sprachen wir von allerlei Anderem, auch von Musik, wobei unsere Wirthin erwähnte, daß auch sie früher gespielt habe.

Eine andere Bemerkung war uns amüsant. Die „Hanum“ – das heißt türkisch „Dame“ – bat uns, zu entschuldigen, daß sie uns nicht ihre neuen Kleider zeige. Dieselben seien noch von Constantinopel unterwegs. Es ist nämlich bei den türkischen Damen Sitte, zur Unterhaltung des Besuches, auch wohl zur Befriedigung der eigenen Eitelkeit, die Staatsgewänder auszukramen. Unnatürlich ist dieses ja durchaus nicht, und welche Dame, bei uns und in allen andern Ländern Europas, wäre nicht schon oft von ihren Freundinnen in ein Vertrauenszimmerchen gezogen worden, um eine neu empfangene Toilette oder ein reizendes Hütchen zu bewundern? „Steht es mir auch, und kann ich es tragen?“ Aber das bleiben eben Vertrauenssachen, die man nicht, wie im Morgenlande, bei den ersten Besuchen zu erwähnen pflegt.

Wir sahen nun, daß die türkischen Damen uns ganz natürlich und nach ihren Sitten empfingen und daß es mit einer Aenderung in den Harems zum Modernen, von der man fabelt, nicht so weit her sei. Die Kinder konnten noch kein Wort französisch – „da es noch zu anstrengend für sie sei“. Nachdem noch bemerkt worden war, daß wir die Bastmatten, die übrigens wunderhübsch sind, entschuldigen möchten, „die Teppiche seien noch nicht ausgepackt“, erschien eine Dienerin an der Thür und bat uns, zum Essen hinunter zu kommen.

Vom Vorflur aus gelangten wir, in feierlicher Procession, in den unteren Stock und in eine Art von Vestibül. Wir sahen durch eine Thür in den von einer hohen Mauer umgebenen Garten, wo Wäsche an den Bäumen trocknete. Man sieht, es war auf Eleganz kein Anspruch gemacht; dazu lieben die türkischen Damen viel zu sehr ihre Bequemlichkeit. Ueberhaupt liegen die schönen Einrichtungen des Lebens in orientalischen Häusern nur ganz auf der Oberfläche und erstrecken sich kaum weiter als auf Toilette und Eßservice. Daher die Witze, welche unter den Hiesigen darüber cursiren, daß die Türkinnen dann und wann Betten hätten, aber nie darin schliefen, und daß man in den elegantesten armenischen Häusern schmutzige Stiefel in allen Ecken stehen sähe, welches Letztere ich bezeugen kann. Glücklicher Weise brauche ich hier nicht die Gastfreundschaft mit einem solchen Tadel zu lohnen. Die Bedürfnisse der Türken sind einfach, das ist wahr, aber es fällt einem an Kleidung und Zimmereinrichtung große Ordnung und Reinlichkeit angenehm auf. Die hausfrauliche Aufmerksamkeit unserer liebenswürdigen Wirthin an der Tafel, daß die Dienerinnen auch Alles ordentlich besorgten, machte mir einen besonders guten Eindruck. Und der Blick aus den dunklen Augen war in solchen Momenten gar energisch. Die acht bedienenden Geister, gekaufte circassische Sclavinnen, zitterten davor und gaben sich die größte Mühe, behende und geräuschlos zu sein.

Die Ordnung des Mahles war folgende: Als wir in das kleine, auch weiß angestrichene Eßzimmer traten, hatten wir den hübschen Anblick des schön gedeckten Tisches, auf welchem Candelaber, Silber, Glas und Porcellan den unverkennbaren französischen Stempel trugen. Vor jedem Couvert stand ein mit den zierlichsten Eßwaaren bedecktes silbernes Brett, die Mitte desselben aber nahm eine kleine Schale ein, in der eine dicke weiße Suppe angerichtet war. Ringsum waren auf Puppentellern allerlei pikante kleine Delicatessen geordnet. Zwei lange dünne Brödchen von ungesäuertem Teige fehlten nicht, und dieses Ganze, welches mit Grün und Blumen umkränzt war, bildete den „Iftar“, das heißt den eigentlichen Ramazan-Imbiß, mit dem man die Fasten bricht und den sich der arme Soldat in der Caserne so gut wie der Pascha verschafft und, mit künstlichen Blumen umsteckt, vor sich hinstellt.

Wir ließen uns an diesem Tische nieder und attakirten zuerst den Iftar. Verzeihung, wenn in Folgendem nur von Gerichten die Rede ist! Beinahe zu unserer Betrübniß wurde uns der Iftar schnell weggezaubert. Er sah so niedlich aus. In der Folge kamen allerdings so viele Schüsseln, daß es uns nicht möglich war, den Anforderungen an unsere Eßlust zu genügen. Wir mußten eigentlich, hätten wir es recht überlegt, auch den ganzen Tag gefastet haben. Ueberdies ist es eine große Unhöflichkeit, ein Gericht ungekostet vorübergehen zu lassen.

Das Mahl begann mit jungem Puter, dessen weit ausgehöhltes Innere mit einer Farce aus Bouillonreis und Pinienkernen gefüllt war. Eine sehr empfehlenswerthe Zubereitung. Die Dienerinnen reichten uns französisches Brod dazu und schenkten Wasser ein. Denn so üppig das Mahl, so einfach war das Getränk. Im Harem scheint es also nicht einmal Sherbet (Fruchtsaft mit Wasser) zu geben, während unsere Herren ihn doch im Selamlik bekamen. Dem Puter folgten gefüllte Gurken, ein Gericht, welches man ja auch bei uns kennt; darauf Pilav, das heißt Reis mit Hammelfleisch. Kleine Blätterteigpasteten folgten, dann ein Fischgericht. Nun kam ein süßer, fetter Kuchen, der förmlich Oel und Honig fließen ließ; dann erschienen Hammelfüßchen, ganz wie bei uns zubereitet, und man nöthigte mir eingemachte Pfefferfrüchte dazu auf. Auf die Gefahr hin, mir den Mund zu verbrennen, doch der Warnung eingedenk, nichts abzuweisen, nahm ich davon.

Die Krone des Mahls war ein Harem-blanc-manger, in dessen dicker, überaus feinparfümirter sahniger Masse Mandel-, Nuß- und Pinienkerne verstreut waren; man sagte uns, es sei nach arabischem Recept zubereitet, und reichte uns goldene Löffel dazu. Die Gestalten der Dienerinnen (sie trugen Waschkleider, meist weiß, und weiße Jacken und Kopftücher) huschten mit den leichten Bewegungen der Circassierinnen um den Tisch. Nur eine von ihnen war wirklich hübsch, aber alle hatten einen schönen Wuchs und feine Taillen, sowie einen lichtvollen, intelligenten Blick. Wer kennte nicht das entzückende Bild der Gräfin Potocka? Nun, der Typus der Circassierinnen ist genau in ihr getroffen.

Etwa eine Stunde war vergangen, als wir uns erhoben. Wir folgten dem Beispiel unserer Wirthin, ebenso wie beim Beginn des Mahles, darin, daß wir an einen Waschständer traten und uns Mund und Hand netzten. Nun begaben wir uns wieder in den oberen Stock, wo uns nach wenigen Minuten Parfüm gereicht wurde, um auf’s Taschentuch gegossen zu werden. Dann wurde Kaffee präsentirt. Er wurde auf einem kleinen Dreifuß vor unseren Augen gekocht und uns auf einem mit einer prächtigen, [605] goldgestickten Sammetdecke bekleideten Brette gereicht. Ich that es jenem Engländer fast gleich, der, einer Anekdote nach, alle Fehler, die man begehen kann, im Orient beging. Ich nahm das henkellose Porcellantäßchen aus dem Untersatz von Silberfiligran, auf dem es stand, heraus und verbrannte mir die Finger, bis man mir schleunigst den kleinen schalenförmigen Schutz wieder unter die Tasse stülpte.

Die Frau des Hauses zeigte uns ihre Albums. Es machte einen eigenthümlichen Eindruck, sie in dem modernen Photographienbuche von hinten ab, nach orientalischer Sitte, die auch beim Lesen und Schreiben gilt, blättern zu sehen. Es waren nur Bilder aus Constantinopel. Wir sahen alle Sultans, soweit Portraits von ihnen überhaupt noch existiren, alle Prinzessinnen des jetzt regierenden Hauses und auch die anderen männlichen Mitglieder der Familie. Einige schöne Armenierinnen, denen, was Regelmäßigkeit der Züge und Lieblichkeit des Ausdrucks betrifft, nur die größten europäischen Schönheiten an die Seite gestellt werden können, riefen unsere Bewunderung wach. Wiederholt äußerte unsere Wirthin ihr Bedauern, von all diesen Bekannten getrennt zu sein. Das Bild einer alten Dame wurde mit dem lachenden Ausrufe: „O, eine Alte!“ schleunig überschlagen.

Und hier schließt sich am besten die Schilderung einer eigenthümlichen Unterhaltung an, die uns nun geboten wurde. Es traten nämlich nach und nach mehrere alte Frauen der Nachbarschaft ein, denen zwar anscheinend nur an dem Ramazanabend die Gastfreundschaft gewährt wurde, indem sie, nach draußen eingenommenem Essen, ihre Pfeife im Zimmer der Hausfrau rauchen durften, die aber in Wahrheit auch noch zur Belustigung der Frau Pascha und ihrer Gäste dienen sollten. Für uns Fremde hatten Gestalt und Kleidung dieser guten Alten schon etwas Lachenerregendes. Ihre kurzen Röckchen und bunten, grünen oder rothen Kattunhosen mögen jungen Mädchen ganz hübsch und kleidsam stehen, aber das Alter heischt Faltenwurf und Länge der Kleidung. Uebrigens waren sie sauber und mit Sorgfalt gekleidet, und ihre groben Gazeschleier waren schneeweiß.

Mit liebenswürdigem Humor kamen die guten Wesen dem, was von ihnen erwartet wurde, nach und redeten uns mit übertriebenen Schmeicheleien an. Wir hatten auch Gelegenheit zu sehen, daß diese für uns seltsame Behandlung des Alters nicht blos bei den Frauen des Volkes stattfand. Eine immer noch ganz stattlich aussehende ältere Tante der Frau Pascha trat jetzt erst ein, wurde von dieser mit freundlichem Lächeln empfangen und ließ sich, uns auch mehr humoristisch als ceremoniell begrüßend, auf dem niedrigen Sitze der Alten, einem etwa sechs Zoll hohen Kissen, nieder. Auch sie war nicht in Toilette, sondern trug einen weißen Schlafrock und eine blau und weiß gestreifte Sammetjacke; ihren Kopf bedeckte ein bunter Turban.

Unsere Herren erwarteten uns längst, und als der Pascha durch seine Thür erschien, um uns zu empfangen, war er sichtlich erfreut über unsere heiteren Gesichter. Wir konnten ihm aufrichtig versichern, daß wir entzückt über die Liebenswürdigkeit seien, mit der man uns aufgenommen. Nach wechselseitigen Betheuerungen, daß wir uns gegenseitig öfter besuchen würden, nahmen wir endlich Abschied.




Vom deutschen Feuerwehrtag in Stuttgart.
I.


Nach den großen welterschütternden Ereignissen der Jahre 1866 und 1870 bis 1871, welche für unser deutsches Vaterland die lang ersehnte nationale Einheit brachten, hatte es ganz den Anschein, als ob die auf die gewaltige Anspannung der Volkskräfte naturgemäß folgende Erschlaffung sich gleich einem Mehlthau namentlich auch für lange Zeit auf die Entwickelung derjenigen Vereine legen werde, welche zu idealen Zwecken, zur Erhaltung und Uebung der körperlichen Kraft und Gewandtheit, gegründet waren. Von dieser Erscheinung wurde insbesondere das deutsche Turnvereinswesen betroffen und mit Schmerz mußte der sein Volk lieb habende Mann wahrnehmen, daß die Turnplätze sich immer mehr und mehr entvölkerten, während die Jagd nach materiellem Gewinn immer toller wurde und die damit Hand in Hand gehende Genußsucht sich in der allerbedenklichsten Weise steigerte. Diese ungünstige Einwirkung war deutlich auch auf den großen deutschen Volksfesten zu verspüren und die Meinung Vieler ging sogar so weit, daß sie behaupteten, diese Feste, gleichviel ob sie von den Sängern, Turnern oder Schützen gefeiert würden, hätten sich überlebt und würden niemals zu dem Glanze sich emporheben können, mit dem unter Anderem das Turnfest von 1863 in Leipzig von Statten ging. Es ist wahr, es sprach eine Zeitlang Vieles für eine solche Anschauung, indessen wie in der Natur Sonnenschein und Regen regelmäßig nach einander wiederkehren, so ist es auch in unserem Volksleben schon wieder anders geworden, und alle Anzeichen dafür sind vorhanden, daß auf die Periode der Erschlaffung und des Niederganges wieder eine Zeit der Kräftigung und des Aufschwunges folgen wird. Zu diesen Merkmalen darf man mit Fug und Recht das schöne und imposante Fest rechnen, zu dem in den Tagen vom 11. bis 15. August viele Tausende kräftiger deutscher Männer aus allen Theilen des Reiches und der stammesverwandten angrenzenden Länder nach der Hauptstadt Schwabens, dem von Rebenhügeln rings umgebenen Stuttgart, herbeigekommen waren. Ich meine den zehnten deutschen Feuerwehrtag, der einen über alle Erwartung ausgezeichneten Verlauf genommen hat und dessen Bedeutung für die fernere gedeihliche Entwickelung des deutschen Feuerlöschwesens es wohl gerechtfertigt erscheinen läßt, daß auch die „Gartenlaube“ seiner gedenke.

Zu dem guten Gelingen des Festes hat sehr wesentlich der Umstand beigetragen, daß in Württemberg und in Süddeutschland überhaupt das Institut der freiwilligen Feuerwehr bei der Gesammtbevölkerung in hohem Ansehen steht und in den verschiedenen Volksschichten eine Verbreitung gewonnen hat, wie es bisher in Nord- und Mitteldeutschland bei Weitem nicht der Fall ist. Nur das Herzogthum Braunschweig etwa kann in dieser Beziehung einen Vergleich aushalten. Hand in Hand mit dieser allgemeinen Betheiligung des Publicums geht die einsichtsvolle Fürsorge, welche die württembergische Landesregierung dem Feuerwehrwesen angedeihen läßt. Sie ist schon seit einer langen Reihe von Jahren bemüht gewesen, anregend und fördernd einzugreifen und allmählich über das ganze Land ein dichtes Netz von Feuerwehren zu verbreiten. Die Denkschrift, welche das königlich württembergische Ministerium des Innern in Folge der Ermächtigung des Königs Karl über das Feuerlöschwesen in Württemberg hatte ausarbeiten lassen und von der jedem Vertreter auf dem Stuttgarter Feuerwehrtag ein Exemplar eingehändigt wurde, war von Neuem ein Beweis, daß in Württemberg die Staatsverwaltung es als ihre Aufgabe betrachtet, dem gemeinnützigen Institut der freiwilligen Feuerwehr in jeder Weise entgegenzukommen. Dieser Denkschrift war die aus Anlaß der Brüsseler Ausstellung für Gesundheitspflege und Rettungswesen im vorigen Jahre verfaßte Schrift mit Ergänzung derselben nach dem neuesten Stande zu Grunde gelegt worden. –

Die Gründung von Feuerwehren in Württemberg fällt in das Jahr 1832. Es bildete sich damals als ein schwacher Anfang in der vormaligen Reichsstadt Gmünd eine militärisch organisirte „Rettungsgesellschaft bei Feuersgefahr“, auf dem Principe der Freiwilligkeit beruhend. Die Bildung einer vollständig organisirten Feuerwehr verzog sich noch bis in das folgende Jahrzehnt, in welchem zu Durlach im Großherzogthum Baden im Jahre 1846 die erste freiwillige Feuerwehr sich bildete. Schon im Mai des folgenden Jahres fand dieser Vorgang Nachahmung in der nahe gelegenen württembergischen Stadt Heilbronn, in der Maschinenfabrik zu Eßlingen, in den Städten Tübingen und Oehringen und auch in einigen anderen württembergischen Oberamtsstädten.

Die überraschenden Erfolge der kleinen, aber wohlgeübten und disciplinirten Schaaren gegenüber den Erfahrungen mit den ungeordneten Massen des alten Systems erwarben den Feuerwehren mehr und mehr Freunde. Wo noch Vorurtheil und Abneigung gegen die neue Einrichtung herrschten, da half eine Entscheidung der obersten Recursbehörden nach, wonach den Gemeinderäthen

[606]

Zum 400jährigen Jubelfest der Universität Tübingen.
Tübingen mit seinen Hauptgebäuden und Kloster Bebenhausen. Nach der Natur aufgenommen.
Alma mater tubingensis.
1477 . 1877
Alte Aula. Neue Aula.
Tübingen.
Rathhaus. Kloster Bebenhausen. Stift oder ev. th. Seminar.

[607] WS: Das Bild wurde auf der vorigen Seite vervollständigt [608] erforderlichen Falles die Befugniß zugesprochen wurde, jeden an sich tüchtigen Einwohner zwangsweise in die Feuerwehr einzureihen. Freiwillige und Berufsfeuerwehren haben seither in Württemberg gewetteifert, dem hohen und schönen Zwecke zu dienen, der beiden gleichmäßig vorgeschrieben ist, und es besteht kein wesentlicher Unterschied mehr zwischen ihnen. Die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehren sind sich bewußt, daß sie Bürgerpflicht erfüllen, und die Mitglieder der Berufsfeuerwehren ihrerseits setzen, wo es gilt, ihre Kräfte ebenso freudig ein, als ob sie freiwillige wären.

Im Jahre 1853 wurde ein Anfang mit der Einführung von Feuerwehrversammlungen oder Feuerwehrtagen gemacht. Die erste derartige Versammlung fand am 10. Juli 1853 in Plochingen statt, und es waren dabei zehn württembergische Feuerwehren vertreten. Welchen Anklang diese Versammlungen fanden, das bewies schon der vierte, 1857 in Karlsruhe abgehaltene Feuerwehrtag, an dem hundertundfünfzig Vertreter von Feuerwehren Theil nahmen. Auf dem Feuerwehrtage zu Augsburg im Jahre 1862 wurde die Bildung von Landesfeuerwehrverbänden beschlossen, und schon im Jahre darauf kam auf dem Feuerwehrtage in Stuttgart die Gründung eines Landesverbandes der württembergischen Feuerwehren zu Stande.

Weitaus am erfolgreichsten aber wirkte für die Gründung und Verbreitung von Feuerwehren die Gründung einer Centralcasse zur Unterstützung verunglückter Feuerwehrmänner und deren Hinterbliebenen. Die Unterstützungscasse wurde nach längeren Verhandlungen und mit Genehmigung des Ministeriums des Innern dergestalt gegründet, daß die Gebäude-Brand-Versicherungsanstalt ein Procent ihrer Jahreseinnahmen und die in Württemberg concessionirten Mobiliar-Versicherungsgesellschaften ein halbes Procent derjenigen Brutto-Einnahmen an Versicherungsprämien beisteuern, welche sie im vorhergehenden Jahre erzielt haben. In den Zeitraum von 1868 bis 1876 ist auf diese Weise die Gesamtsumme von 218,931 Mark in die Centralunterstützungscasse für die württembergischen Feuerwehren geflossen. Im dem gedachten Zeitraum beliefen sich die Unterstützungen an beschädigte Feuerwehrmänner und an die Hinterbliebenen der in ihrem Beruf verunglückten Feuerwehrmänner auf 52,116 Mark, die Beiträge an Gemeinden und Feuerwehren, die nach Befriedigung des vorgenannten Bedürfnisses ebenfalls aus der Unterstützungscasse zu anderweiten Feuerlöschzwecken gegeben werden können, auf 154,548 Mark. Nach einer neunjährigen Zusammenstellung kommt jährlich eine Verletzung auf 3600 Mann und ein Todesfall auf 27,500 Mann.

Der gegenwärtige Stand des Feuerlöschwesens im Königreich Württemberg ist in folgenden Zahlen ausgedrückt. Es bestehen in diesem Lande 542 Feuerwehren mit 70,570 Mitgliedern, 2537 Fahrfeuerspritzen, worunter 2 Dampfspritzen, 3476 Trag- und Handfeuerspritzen, 137,415 Meter Schläuche zu den Fahrspritzen, 6920 Feuerleitern, 5366 kleinen Stock- und Dachleitern. Diese Löscheinrichtungen haben zusammen einen Werth von nahezu 5,000,000 Mark.

An diese Schilderung des Entwickelungsganges der Feuerwehren in Württemberg möge eine kurze Darlegung über das Feuerlöschwesen in den anderen deutschen Staaten geknüpft sein. Schwer ist zu sagen, wie es kam, daß sich dasselbe in den letzten Jahrzehnten so riesenhaft, insbesondere in Baiern, entfalten konnte. Auch vor dieser Zeit haben Regierungen, Vereine und tüchtige einzelne Kräfte an der Verbesserung der Zustände mit Einsicht und festem Willen gearbeitet, einen durchschlagendem Erfolg aber nirgends zu verzeichnen gehabt. Die Erklärung, wie das, was man so lange vergeblich angestrebt, in unserer Zeit so plötzlich zum Durchbruch kommen konnte, wäre eine culturgeschichtliche Studie, nur verständlich im Zusammenhange mit dem freudigen Fortschreiten auf allen anderen Gebieten menschlicher Thätigkeit.

Es ist nicht nur die Folge des Aufschwunges der gesammten Technik oder des zunehmenden Wohlstandes, auch nicht die Folge irgend einer neuen Erfindung oder der Anregung einzelner Männer; es ist eben eine jener tausend Blüthen, welche die merkwürdige Zeit, in der wir leben, zur Entfaltung gebracht hat.

Ein altbewährter Feuerwehrmann, Magirus in Ulm, nimmt in seinem trefflichen, soeben in neuer Auflage erschienenen Werke „Das Feuerlöschwesen in allen seinen Theilen“, auf das ich noch mit einigen Worten zurückkommen werde, an, daß ohne Zweifel der Hamburger Brand mitgewirkt habe, welcher vom 5. bis 8. Mai 1842 fünfundsiebenzig Straßen mit viertausendzweihundertneunzehn Wohnhäusern und drei Kirchen zerstörte und hundert Menschenleben kostete. Die Erkenntniß, daß das Bestehende nicht mehr genüge, war zu Anfang der 1840er Jahre durchgedrungen.

Es ist nicht möglich, mit positiver Sicherheit anzugeben, welche Stadt die erste moderne Feuerwehr eingerichtet hat. Unter die ersten gehört jedenfalls Meißen, wo am 7. Juli 1841 ein „freiwilliges Lösch- und Rettungscorps“ errichtet wurde. Das Corps hatte schon 1842 bei vielen großen Bränden, von denen Meißen in diesem Jahre heimgesucht wurde, Gelegenheit, seine Thätigkeit in rühmlichster Weise zu bekunden. Auch Barmen hatte um diese Zeit ein allen neueren Anforderungen entsprechendes Lösch- und Rettungscorps. In Durlach wurde 1846 eine organisirte Feuerwehr gegründet, welche bereits wenige Monate später bei dem großen Theaterbrand in Karlsruhe, wobei achtundsechszig Personen auf schreckliche Art um's Leben kamen, eine tüchtige Probe ihrer Leistungsfähigkeit ablegte. In demselben Jahre wurden im Königreich Sachsen die Turnerfeuerwehr zu Leipzig und die Feuerwehr zu Großenhain in's Leben gerufen. Bis zu der zweiten Hälfte der 1850er Jahre ging es mit der Gründung von Feuerwehren noch langsam vorwärts. Die damals auch jugendlichen Turnvereine haben, getreu ihren Tendenzen, sich willig zur Verfügung gestellt und durch ihre auf dem Turnplatze erworbene Kraft und Gewandtheit die Errichtung tüchtiger Steigerabtheilungen erleichtert. Dies erklärt auch, daß die ersten Feuerwehren beinahe ausschließlich als Uniform die Turnjacke getragen haben.

Gegen den Uniformsrock mit blanken Knöpfen herrschte damals eine allgemeine Abneigung, welche ihren Grund in den politischen Zuständen hatte. Der Bürgerstand war zum großen Theil mit einer ausgesprochenen Antipathie gegen alles Militärwesen erfüllt; „er wollte keinen Soldatenrock tragen“. In diesen Anschauungen hat sich inzwischen ein solcher Umschwung vollzogen, daß mancher jüngere Leser zu obiger Behauptung vielleicht den Kopf schütteln wird. Ganz derselbe Umstand hatte auch die Wirkung, daß man stramme, militärische Haltung nicht in dem Maße durchführen konnte, wie dies jetzt mit Recht gefordert wird und eingeführt worden ist.

Nach den dem Magirus'schen Buche entlehnten statistischen Angaben, die allerdings von der auf dem Stuttgarter Feuerwehrtag vorgetragenen Statistik schon überholt sind, bestanden 1876 in Baden 273, in Baiern 2920, in Sachsen 240 und in den verschiedenen deutsch-österreichischen Kronländern 782 Feuerwehren. Die neueste, vom Ausschuß des Verbandes der deutschen Feuerwehren bewirkte statistische Erhebung hat für das deutsche Reich allein am Schlusse des Jahres 1876 einen Gesammtbestand von 5965 Feuerwehren mit 531,000 Mannschaften und 16,000 Feuerlöschmaschinen nachgewiesen, sodaß man also mit Fug und Recht sagen kann, die deutschen Feuerwehren sind gegenwärtig eine riesengroße Armee, und sie bilden einen mächtigen Factor, mit dem die Leiter und Regierer der Staatswesen zu rechnen haben.

Nachdem auch Norddeutschland mit der Gründung freiwilliger Feuerwehren nicht zurückgeblieben ist, wird die Zeit nicht mehr fern sein, in der man mehr auf das Erhalten des schon Geschaffenen, als auf neue Gründungen wird bedacht sein müssen. Daß es schwerer ist, zu erhalten, als neu zu gründen, ist eine Erfahrung, die zahlreiche Beispiele aufzuweisen hat.

Die weitaus stärkste freiwillige Feuerwehr ist diejenige in Stuttgart. Ich halte es für eine Pflicht der Dankbarkeit, der Organisation dieses Elitecorps, welches soeben seine erstaunliche Leistungsfähigkeit vor den Augen der Vertreter von ganz Deutschland gezeigt hat, in kurzer Weise zu gedenken. Mancher deutsche Feuerwehrmann wird sicher von ihm gelernt, wird aus seinen Vorführungen zweckmäßige Anregungen mit in die Heimath genommen haben.

Die Stuttgarter Feuerwehr bildet ein unter dem Commandanten sehendes selbstständiges Corps, das in zwei räumlich abgetheilte und je eine vollständige, in Bezug auf Geräthschaften und Organisation selbstständige Feuerwehr bildende Abtheilungen (Bataillone) eingetheilt ist. Nur bei dringenden Fällen und auf besonderen Anruf hat das eine Bataillon dem anderen zu Hülfe [609] zu kommen. Die Alarmirung der Bataillone geschieht durch Trommeln des Militärs, durch die Hornsignale der Hornisten und durch Zeichen von Glocken, bei Nacht außerdem durch Aushängen farbiger Laternen von den Thürmen. An der Spitze des ganzen, vollständig nach militärischen Regeln geschulten und ausgerüsteten Corps steht der Commandant, dem in Brandfällen allein die specielle Leitung der Gesammtlöschmannschaften und Anstalten, unter dem Befehl des Stadtdirectors, zusteht. Beigegeben ist dem Commandanten ein Stellvertreter, der ihn in seiner Abwesenheit zu vertreten hat, und ein Adjutant. An der Spitze eines jeden Bataillons steht ein Major. Das erste Bataillon zerfällt in sechs, das zweite Bataillon in fünf Compagnien. Jede Compagnie hat als Führer einen Hauptmann. Jedes Bataillon hat a) eine Steiger-Compagnie, b) eine Spritzen-Compagnie, c) eine Zubringer-Compagnie, d) eine Butten- und Schöpfer-Compagnie, e) eine Rettungs-Compagnie. Die Steiger-Compagnien haben je 4 Züge mit zusammen 90 Mann, die Spritzen-Compagnien je 4 Züge mit zusammen 180 Mann, die Zubringer-Compagnien je 4 Züge mit 142 Mann im ersten Bataillon und 122 Mann im zweiten Bataillon, die Butten- und Schöpfer-Compagnien je 3 Züge mit zusammen 65 Mann, die Rettungs-Compagnie im ersten Bataillon 4 Züge mit zusammen 85 Mann, und die Rettungs-Compagnie im zweiten Bataillon 3 Züge mit zusammen 65 Mann. Außerdem verfügt die Bezirksfeuerwehr in Stöckach und der Prag, zwei Vororten von Stuttgart, welche die sechste Compagnie des ersten Bataillons bildet, über einen Bestand von 120 Mann. Der Führer eines Zuges ist der Lieutenant. In jedem Zuge sind ferner ein bis zwei Obmänner und ein bis zwei Ersatzmänner sowie ein Hornist; jedem Bataillon sind endlich zwei Aerzte zugetheilt.

Der gesammte Mannschaftsbestand der Stuttgarter Feuerwehr beträgt nahe an eintausenddreihundert Mann. Diesem Verhältniß entsprechend ist auch die Ausrüstung an Lösch- und Rettungsgeräthen, welche nach ihrer Vorführung während des Feuerwehrtages eine sehr reichliche und vorzügliche genannt werden muß. Es möge nochmals bemerkt sein, daß die Stuttgarter Feuerwehr schon seit längerer Zeit zwei Dampfspritzen besitzt.

Die Wahl der Officiere, Vertrauensmänner, Obmänner und Ersatzmänner geschieht durch schriftliche Abstimmung auf je vier Jahre durch die Mannschaften, während die Wahlen des Commandanten und seines Stellvertreters unter dem Vorsitz und der Leitung des Stadtdirectors mit Beiziehung des Oberbürgermeisters durch die sämmtlichen Officiere bewirkt werden. Die beiden letzteren Wahlen unterliegen der Genehmigung des Stadtgemeinderaths und der Bestätigung der Staatsregierung. Die Verwaltung allgemeiner Angelegenheiten besorgt der Verwaltungsrath. Beide Bataillone beziehen abwechselnd alltäglich eine Stadtwache und eine Wache im Theater bis nach Beendigung der Vorstellung.

Die Stuttgarter Feuerwehr besitzt eine Corpscasse. Aus derselben werden die Anschaffungen und die Unterhaltung der Geräthschaften und Mannschaftsausrüstungen, die Verwaltungskosten und überhaupt sämmtliche laufende Ausgaben des Corps bestritten. Die Einnahmen dieser Cassen bestehen aus den Beiträgen der Staatscasse im Betrage von zweihundertundsechszig Mark, der Stuttgarter Mobiliar-Feuer-Versicherungscasse im Betrage von fünfundachtzig Mark und regelmäßigen Beiträgen der Stuttgarter Einwohner im Betrage von etwa zweitausendfünfhundert Mark. Den Rest der Ausgaben deckt auf Grund eines alljährlich vorzulegenden Etats die Stadtcasse, im durchschnittlichen Betrag von etwa fünf- bis sechstausend Mark, so daß die jährlichen Gesammtkosten für die Unterhaltung des Corps sich auf acht- bis neuntausend Mark belaufen. Sodann besteht eine Unterstützungs- und Sterbecasse, deren Mitglied jedes Corpsmitglied sein muß, und neben derselben noch eine Privatkrankencasse, in welche der Eintritt freiwillig ist.

Damit glaube ich im großen Ganzen ein zutreffendes Bild von der Organisation der Stuttgarter Feuerwehr gegeben zu haben, einer Genossenschaft, die unter den freiwilligen Feuerwehren Deutschlands entschieden den ersten Rang einnimmt und welche in jeder Beziehung als ein mustergültiges Beispiel vorgeführt werden darf. Dem patriotischen und aufopfernden Bürgersinn, welcher in ihr die treibende und belebende Kraft bildet, verdankt es die Stadt Stuttgart, daß sie einen äußerst geringfügigen Betrag für Feuerlöschzwecke aufzuwenden hat, während andere große Städte hierfür ganz bedeutende Geldopfer zu bringen haben.

Ueber den Verlauf des Feuerwehrtages selbst wird ein zweiter Artikel die nöthigen Mittheilungen enthalten.




Blätter und Blüthen.


Das „Licht der Schwaben im Festschmuck“. (Mit Abbildung auf Seite 606 und 607.) „Stoßt an! Tübingen lebe, hurrah hoch!“ So wurde unzählige Male aus alten und jungen Kehlen und Herzen mit gemeinsamer Begeisterung gesungen, als vom 8. bis 11. August die schwäbische Universität Tübingen ihr vierhundertjähriges Jubiläum feierte. – Wer irgendwie mit dem akademischen Leben Fühlung hat, der weiß, daß mehreren der sogenannten kleinen Universitäten ein ganz besonderer Zauber anhaftet, eine Art Liebeszauber, der sich in die Studentenherzen einschleicht und darin sitzen bleibt bis in die ältesten Tage. Manche nachdenkende Geister haben die Ursache dieses besonderen Reizes in der Schönheit der örtlichen Lage solcher Hochschulen gefunden, Andere in der großen dort vorherrschenden Lebensungenirtheit; ein Tübinger Festgast erkennt wenigstens einen Theil dieses Zaubers in dem „Contrast zwischen der universalen Tiefe und Weite des denkenden, forschenden Geistes, der keine irdischen Schranken kennt, mit der anspruchslosen Erscheinung der Wohnstätten, deren bloßer Anblick auf den üppigen feinen Lebensgenuß, wie ihn die größeren Städte bieten, verzichten heißt“, ein Contrast, den, wie er meint, Tübingen nur mit wenigen ihrer Schwestern theilt – aber ganz gewiß mit Heidelberg, Jena, Marburg und noch etlichen.

Diese kleinen Städte mit ihren engen, winkeligen Gassen, denen erst die neueste Zeit eine moderne Prachthülle um die alte behäbige Haustracht legt – welche Geister haben in ihnen gelebt und gewirkt, welches Firmament von Sternen aller Größen prangt hier am Himmel der Wissenschaft und der That, – und wie klein sind alle Verhältnisse des geselligen Verkehrs, wie bescheiden die Wohnungen, wie einfach die Kunstgenüsse und wie beschränkt selbst die Mittel dazu! Das macht die geistige Größe an solchen Orten so verehrungswürdig, und sicherlich geht auf den Studenten ein Strahl dieses Hochgefühls über und pflanzt vor Allem den Stolz auf seine Hochschule ihm in’s Herz, und die köstliche Ungebundenheit des akademischen Daseins sorgt dafür, daß neben jenem Stolz die Liebe einen ordentlichen Platz erhält. Und so kommt’s, daß selbst der Aelteste, wenn er im Kreise ergrauter Jugendgenossen auf den alten Kneipplätzchen nur eine Stunde gesessen und ein paar der uralten Leiblieder gesungen, die Verwüstungen der Jahre an all den alten Gesichtern zu vergessen und, an den alten Witzen und Spitznamen anknüpfend, das ganze Jugendgefühl herbeizuzaubern vermag. Man hat’s erlebt, welche Wunder dieser Art in einer solchen Universitätsstadt menschenmöglich sind.

Der vielbesungene Graf Eberhard im Barte hat die Hochschule in seiner festen Stadt Tübingen im Jahre 1477 gestiftet. Die Stiftungsurkunde ist am 3. Juli ausgestellt, nachdem vom Papste Sixtus dem Vierten die Erlaubnißbulle dazu am 13. November 1476 erlassen worden war. – Tübingen war die dreizehnte deutsche Hochschule, und sie hat allezeit festgestanden bis zu ihrem vierten Jubiläum, dessen Hauptverlauf wir nun in der Kürze erzählen, nicht für die Festgenossen, sondern weil vielleicht mancher alte Tübinger, der weit in der Ferne, jenseits der Meere, weilt, wohin die „Gartenlaube“ den Weg gefunden, sich daran erfreuen kann. Daß eine Stadt, in welcher die Studentenschaft (jetzt über elfhundert Studirende) mehr als zehn Procent der seßhaften Bevölkerung beträgt, ein solches Fest wie ein Mann feiert, ist selbstverständlich. Die ganze Stadt prangte in Allem, was zum reichsten und sinnvollsten Festschmuck gehört. Schon am Vortag des Festbeginnes, am Dienstag, den 7. August, schwoll von Stunde zu Stunde der Strom der Einziehenden an, zogen die Festgenossen von der lockigsten Jugend bis zum eisgrauen Alter durch die Straßen und Gassen und feierten jene unbeschreiblichen Wiedersehen, die zu den köstlichsten Perlen solcher Feste gehören. Eine hervorragende Auszeichnung war die Theilnahme des Königspaares am Feste; es hielt am Dienstag Nachmittag seinen Einzug und nahm seinen Wohnsitz in dem nahen Bebenhausen, dem zu einem königlichen Jagdschloß umgewandelten prachtvollen Klostergebäude.

Der Mittwoch drohte das Fest mit Regen zu stören; der freundlichere Abend vereinte endlich über zweitausend Festgäste in der schönen Platanenallee zwischen Neckar und Canal. Stark vertreten waren besonders die Schweizer, deren Redner, Ständerath Gengel aus Chur, hier schon der Feststadt einen silbernen Pokal als Ehrengeschenk überreichte. Um acht Uhr versammelten sich alle Ehrengäste, voran die Deputirten von fünfunddreißig Hochschulen, im Museum. Von außerdeutschen Universitäten waren vertreten: Wien, Prag, Graz und Agram, Leyden, Utrecht und Groeningen, Upsala, Lund und Christiania, Basel, Bern und Zürich, endlich Dorpat. Unter den deutschen Deputirten glänzten zwei Märtyrer trübster deutscher Zeit: der siebenundsiebenzigjährige Karl Hase aus Jena, einst politischer Sträfling auf dem Hohenasperg, und Zeller, der im Ausland eine Heimath suchen mußte, „weil er einer wissenschaftlichen Richtung angehörte, die seiner Heimath verfehmt war.“ Beide wurden als die höchsten wissenschaftlichen Zierden dieses Festes geehrt. Am Donnerstag, den neunten August, fanden die akademischen Hauptfestlichkeiten in der „neuen Aula“ statt. Punkt halb zehn Uhr erschien der König mit der Königin und dem Prinzen Wilhelm, auch einem ehemaligen Zögling der Hochschule. Der König selbst hielt die Eröffnungsrede, eine warme und würdige Ansprache, welche in allen Zeitungen verdiente Verbreitung gefunden. Hierauf folgten in langer [610] Reihe die Glückwunschreden der Sprecher sämmtlicher Deputationen. Nach dieser Feier begann ein Festzug, welcher in seiner ganzen Ausdehnung eine volle Wegstunde einnahm und mit Kanonendonner und Glockengeläute eingeleitet wurde. Der Weg des Zuges führte über den Markt, wo von Festjungfrauen jede Fahne mit einem Lorbeerkranz geschmückt wurde, und dann in die große Hauptkirche. Das königliche Paar sammt den Ehrengästen nahm in der Mitte derselben Platz; Händel's „Messias“ ertönte, und dann hielt der derzeitige Rector der Hochschule, Professor Weizsäcker, die Festrede. Mendelssohn’s „Gloria patri“ schloß die kirchliche Feier.

Der Nachmittag war der festlichen Geselligkeit gewidmet, um drei Uhr fand in der Aula die Vorstellung der auswärtigen Deputirten vor dem Königspaar, um vier Uhr das Festmahl in der Turnhalle statt, Alles mit den üblichen Ansprachen und Tosten. Im Museum erfreute die akademische Liedertafel zahlreiche Gäste mit musikalischem Genuß. Der Abend vereinigte die Festgenossen beim großen Commers im Rathhause, bei welchem der König das erste Hoch auf die gesammte Studentenschaft ausbrachte. Die Stadt selbst war prachtvoll beleuchtet, am herrlichsten der Platz um Uhland’s Bildsäule.

Am Freitag, den zehnten August, war abermals die Aula der Schauplatz einer akademischen Feier: der Ehrenpromotionen der sieben Facultäten, denn Tübingen hat für die Staats- und für die Naturwissenschaften besondere Facultäten errichtet, und die Theologie theilt sich in die evangelische und die katholische Facultät. Der derzeitige Kanzler, Staatsrath von Rümelin, leitete die Feierlichkeit ein. Nach derselben begann der eigentliche akademische Festzug, welcher in drei Gruppen das erste Jahrhundert der Universität darstellte. Die erste Gruppe zeigte den Schauplatz selbst, das pfalzgräfliche Palatium Hohentübingen; die zweite führte alle bei der Gründung betheiligten Persönlichkeiten vor, und die dritte die Hochschule selbst mit ihren ersten Mitgliedern vom Rector und Kanzler bis zu den Pedellen. Auch ein Hochzeitszug fehlte dabei nicht; ähnlich wie in Ulm stellte auch hier das Volk sich selbst dar in seinen Trachten und als Costümgestalten. Aus dem Festzuge erwuchs das eigentliche Volksfest der Feier. Neben demselben ging das Königsfestmahl in Bebenhausen für etwa tausend Gäste von Statten. Am Abend wurde an verschiedenen Orten mancher Salamander gerieben.

Am 11. August schien das Wetter den Schluß der öffentlichen Festlichkeiten gesetzt zu haben; es regnete. Dennoch setzten die unerschrockenen Festleute die vorgenommenen Ausflüge durch. Die größte Schaar erstieg den Hohenzollern, und dort endlich wurde, wie der Festberichter der „Allg. Ztg.“ gesteht, „eine von Manchen schmerzlich empfundene Lücke ausgefüllt“, indem der Münchener Professor Bursian ein Hoch auf dem deutschen Kaiser ausbrachte. So endete das Fest patriotisch und tactvoll.

Unsere Illustration ist genügend durch die Unterschriften der einzelnen Bilder erklärt. Zwei merkwürdige Gebäude aus alter Zeit sind das restaurirte Rathhaus mit der Portraitfigur des Hochschulstifters und das sogenannte Stift, jene weltberühmte Anstalt, aus welcher eine Reihe der ausgezeichnetsten Männer Würtembergs hervorgegangen ist. Das Tübinger Schloß, die „Veste Hochtübingen“, ist jetzt eine Burg der Wissenschaft und gehört auch in vielen baulichen Theilen zu den Zierden Tübingens. Was unsere Ueberschrift anbelangt, so ist Tübingen von alten und neuen Poeten als „Herd des Lichts“ oder „Licht der Schwaben“ gepriesen worden und trägt diese Bezeichnung mit Ehren.




Eine Probe mindestens tausendjährigen Weines. Bei der vielbesprochenen Weinprobe, der sich die Reichsboten im letzten Winter zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes unterzogen haben, fehlte in der stattlichen Reihe berühmter und minder berühmter Marken auch nicht der unbezahlbare „Rosenwein“ des Bremer Rathskellers. Diejenigen, welche diesen duftigen Trank, der vortrefflich als Taschentuchparfüm zu brauchen sein soll, aus Versehen gekostet haben, versichern, daß seine Säure sogar diejenige eines berühmten norddeutschen Gewächses übertrifft, von dem Einige versichern, daß sein Saft Löcher in die innere Fußbekleidung fresse, Andere hingegen, daß er vorhandene Löcher zusammenziehe. Neben dem Fläschchen des berühmten, ehrwürdigen Nasses lag auf jedem Tische des Probesaals ein zierlich gedrucktes Täfelchen mit einer Berechnung des Tropfenwerthes jenes Rosenweins. Da nämlich im Jahre 1624, als jenes Faß gefüllt wurde, das Stück zu acht Ohm 300 Thaler kostete, so würde heute nach der Zinseszinsenrechnung der Tropfen auf 1,932,366 Mark berechnet werden müssen. So ehrwürdig und unbezahlbar dieser Rosenwein nun auch sein mag, dennoch wird er tief in den Schatten gedrängt durch ein Fläschchen Wein, welches man kürzlich zu Aliscamps bei Arles in Frankreich aus der Erde gegraben hat, das weit über tausend Jahre, ja wahrscheinlich über fünfzehnhundert Jahre zählt und dessen Inhalt gleichwohl sich trinkbarer erwies, als der Stolz Bremens. Dieses Weinfläschchen entstammt nämlich einem römischen Grabe, und ist nach alter Sitte dem Todten zur Wegzehrung in's unbekannte Land mitgegeben worden, wie man noch hier und da die Todten mit Lebensmitteln und Kleingeld versieht, einer Anschauung gemäß, die bis in die allerältesten Zeiten zurückreicht, sofern man schon in vorhistorischen Gräbern neben den menschlichen Skeleten die Reste von Bärenschinken und ähnlichen Delicatessen findet. Die Ampullen oder Weinfläschchen, die man in römischen Gräbern sehr häufig gefunden hat, haben ein gewisses Aufsehen dadurch erregt, daß man ihren eingetrockneten, häufig rothbraunen Inhalt früher für „Märtyrerblut“ gehalten und hier und da wohl auch als Reliquie verehrt hat.

In dem in Rede stehenden Fläschchen, welches ein Herr Augier angekauft und der Gläsersammlung des Museum Borelly verehrt hat, war das vermeintliche „Märtyrerblut“ nun unverändert erhalten, weil man nämlich die Vorsicht gebraucht hatte, es am Halse zuzuschmelzen, ohne Zweifel in der Voraussetzung, daß die Geister sich auch an geistigen Getränken in zugeschmolzenen Flaschen stärken können, wenn sie nur wollen. Da sie aber die Gabe, und wie wir sogleich sehen werden, mit gutem Grunde, verschmäht haben, ist das neunzehnte Jahrhundert in die Lage gekommen, auch einmal fünfzehnhundertjährigen Wein probiren und analysiren zu können, was bis jetzt noch nicht dagewesen ist. Daß übrigens der Käufer nicht mit einem Kunstweine neueren Datums angeführt worden sein kann, bewies hinlänglich der Zustand des Glases, welches sich durch die lange Einwirkung der Feuchtigkeit von innen wie von außen stark „entglast“, erwies, sodaß es sich nach der Entleerung nicht von Neuem zuschmelzen ließ, sondern in der Löthrohrflamme zerblätterte, wie es eben nur sehr altes Glas thut. Der berühmte französische Chemiker Berthelot hat diesen uralten Wein analysirt und der Pariser Akademie im Mai dieses Jahres darüber Bericht erstattet. Die gelbliche Flüssigkeit enthielt die gewöhnlichen Bestandtheile eines schwachen Weines, zeigte eine geringe Blume und enthielt deutliche Spuren von Essig, woraus unter den obwaltenden Verhältnissen geschlossen werden muß, daß man den Manen nicht gerade etwas Excellentes anzubieten für nöthig befunden hat. Trotzalledem ist die Hinterlassenschaft einzig in ihrer Art, und Liebhaber von Rechnungs-Aufgaben mögen nach dem Exempel des Rosenweins berechnen, wie hoch der Tropfen dieses, wenn auch angesäuerten Märthyrerbluts unter der Voraussetzung, daß es wenigstens zwölfhundert Jahre alt ist, zu rechnen wäre.




Die Todtenliste der Gartenlaube ist wieder um einen Namen reicher geworden, der vorzüglich den älteren Lesern unseres Blattes lieb und werth ist. Am 11. August dieses Jahres starb auf seiner Villa zu Kötzschenbroda bei Dresden Karl August Reinhardt im Alter von neunundfünfzig Jahren. Als Landschaftsmaler und Caricaturenzeichner, als Romanschriftsteller und Humorist unausgesetzt thätig, gehörte er zu jenen Künstlernaturen, welche, obgleich mit reicher Erfindungsgabe und einem leichtflüssigen Productionstalente ausgestattet, von der Noth des Lebens gedrängt, nicht immer jene Fülle und Tiefe der Kraft bewähren, die durch rastlose innerliche Arbeit bildet und hebt, was die Natur freiwillig gewährt hat. Nichtsdestoweniger hat Reinhardt durch die Frische seines Witzes, die Schärfe seiner Satire vielfach belebend und klärend gewirkt und auch auf dem Gebiete schöngeistigen Schaffens und objectiver Schilderung aus Zeit und Leben manches Achtungswerthe geleistet, wovon unter anderem die fünfziger Jahrgänge unseres Blattes Zeugniß ablegen. Ein ehrendes Andenken in ihm bei uns und gewiß auch bei Vielen unter unseren Lesern gesichert, besonders aber werden alle Freunde des einst so viel verbreiteten „Dorfbarbiers“ das Andenken an den unverwüstlichen Humor Reinhardt's mit einem dankbaren Lächeln freundlicher Erinnerung ehren.




Zur gefälligen Notiznahme. Da wir mehr und mehr, namentlich aber nach Eingang des nicht zum Abdruck gelangten Artikels „Die Schlacht von Plewna“, zu der Ueberzeugung gekommen sind, daß unsere Herren Kriegs-Correspondenten im Hauptquartier nicht in der Lage sind, mit derjenigen rücksichtslosen Objectivität und Ueberzeugungstreue zu schreiben, welche im Interesse der Wahrheit und des politischen Selbstgefühls gefordert werden muß, so haben wir dieselben beauftragt, nur in solchen günstigen Fällen uns zu berichten, wo freie und ungezwungene Bewegung der Schilderung und des Urtheils ausnahmsweise möglich ist. Wenn also unsere Kriegsartikel von jetzt ab seltener erscheinen, aber – wir hoffen es zuversichtlich – um so authentischer und sachlicher ausfallen werden, so glauben wir damit nur dem Interesse unserer Leser zu dienen.
Die Redaction.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.