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Die Gartenlaube (1877)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[547]

No. 33.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.[1]
Von Gustav von Meyern.
1. Der Spielmann.
Ein Vorspiel.

Es war an einem Aprilmorgen des Jahres 1477, als die Bewohner der Reichsstadt Aachen mit der Nachricht überrascht wurden, auf der Frankenburg, unweit der Stadt, sei der künftige Erbe des heiligen römischen Reichs, Maximilian, Sohn Kaiser Friedrich's des Dritten angekommen.

Wohl wußte man, daß der Prinz schon seit einem Monat sein Hoflager von Wien nach Köln verlegt hatte, und, wie überall, so wollte die öffentliche Meinung auch in Aachen von hochpolitischen Zwecken wissen, die ihn näher an die Westgrenze des Reiches geführt hätten. Waren doch Aller Augen zu jener Zeit nach Gent gerichtet, wo Maria, die junge, von Krieg und Aufruhr zugleich bedrängte Herrin von Burgund und Niederland, in ihrer Hofburg noch immer wie eine Gefangene gehalten sein sollte, obgleich sie dem Aufstande der niederländischen Städte durch Bewilligung aller Freiheiten längst die Spitze abgebrochen und gegen den gleichzeitigen Einfall der Franzosen in Burgund den Schutz und die alte Treue ihrer Staaten angerufen hatte. – Freilich, wer Maria in seiner Gewalt hielt, dem war Macht gegeben, durch ihre Hand über die Zukunft der reichen und blühenden Lande vom Jura bis zur Nordsee zu bestimmen, ja durch ein so mächtiges, wenn auch nur unter dem Herzogstitel vereinigtes Reich den Schwerpunkt des europäischen Gleichgewichts zu verrücken. Fast jeder der tonangebenden Höfe hatte deshalb schon für einen seiner Prinzen um sie geworben, und Ludwig der Elfte von Frankreich mochte seinen Raubzug in Burgund noch so sehr mit dem Vorgeben beschönigen, er wolle sich nur des heimgefallenen Mannlehens versichern: Niemand täuschte sich über seine Absicht Maria's Hand für den Dauphin zu erzwingen, denn mehr als Alles zeugte gegen ihn das damals allgemeine Sprüchwort: „Wer führt die Braut heim?“

Kein Wunder, daß unter solchen Umständen das plötzliche Auftauchen Maximilian's in Köln sofort die Deutung hervorgerufen hatte, auch er möge seine frühere Bewerbung wieder aufgenommen haben. Denn es war noch Allen sehr wohl im Gedächtniß, wie vor wenigen Jahren Kaiser Friedrich und Herzog Karl der Kühne, Maria's Vater, zur Verlobung ihrer eben erwachsenen Kinder in Trier zusammengekommen waren, aber auch, wie der ränkevolle elfte Ludwig es verstanden, das glühende Verlangen Karl's nach dem Königstitel dem Kaiser in verdächtigem Lichte darstellen zu lassen, wie dann das Mißtrauen des Einen den Jähzorn des Andern hervorgerufen, der in seiner Würde verletzte Kaiser plötzlich Trier verlassen und Karl von Stund' an einen Haß auf die deutsche Verbindung, wenn auch nicht auf Maximilian persönlich, geworfen hatte. Ja, kurze Zeit nachher, im Kölner Bischofsstreite, war man schon Zeuge gewesen, wie das burgundische Heer vor Köln dem kaiserlichen feindlich gegenüberstand und wie nur durch Vermittlung des päpstlichen Legaten eine leidliche Aussöhnung herbeigeführt wurde. Aber seit Maria's kriegerischer Vater am 5. Januar bei Nancy gegen Schweizer und Lothringer das Leben verloren hatte, zweifelten die guten Aachener keinen Augenblick, daß, wenn die junge Herzogin nicht in fremder Gewalt wäre, kein Anderer, als der ritterliche Max ihr Erwählter sein würde; waren doch Beide Geschwisterenkel, und wollte man doch wissen, daß sie seit ihrer ersten Verlobung treu an einander hingen.

Als sich daher jetzt die Kunde verbreitete, der Prinz sei auf der Frankenburg, eine Viertelstunde Weges von der Stadt, also fast Angesichts der burgundischen Grenze eingetroffen, da war es Allen klar, daß es sich um wichtige Ereignisse, vielleicht um Krieg oder Frieden, handele, und die Nachbarn riefen sich die außerordentliche Neuigkeit aus den Fenstern oder vor den Thüren zu, je nachdem der graue Aprilmorgen den Einen mehr und den Andern weniger lange in den Federn zurückgehalten hatte.

„He, Gevatter,“ hörte sich aus einem Fensterchen am [548] Portal der alten, unlängst zum Rathhause umgewandelten Kaiserpfalz ein ehrbarer Dachdeckermeister anrufen, als er in seinem niedrigen, schwarzen Filzhut und dem braunen, mit nachgemachtem Pelz besetzten „Trappert“, dem bei den Bürgern noch üblichen Urvater der vornehmeren „Schaube“, vor einem Karren mit Hohlziegeln einher schritt, um die Schäden auszubessern, die der Aprilsturm am Dache der Pfalz angerichtet, „he, Gevatter, wißt Ihr's schon?“

Der Meister sah auf und blickte in das spitznasige, pfiffige Gesicht des kleinen Rathsschließers oder „Castellans“, wie er sich lieber nennen hörte, der in Hemdsärmeln, aber zum Schutze gegen die frische Morgenluft schon mit der rothen, hinten im Nacken mit Zaddeln gezierten Mütze auf dem Kahlkopfe, im Fenster lehnte. Das Männchen galt für einen jener Spaßvögel, die man im benachbarten Flamland „Geestigart“ zu nennen pflegte, ohne Unterschied, ob sie ihre Späße auf mehr oder weniger geistige Art zu machen verstanden.

„Gott zum Gruß, Gevatter, was soll ich wissen?“ erwiderte der Angeredete stehen bleibend.

„Daß Prinz Max da ist und bei Euch in die Lehre gehen will!“

Die Gesellen, die den Karren zogen, lachten laut auf und blieben gleichfalls stehen. Vorübergehende traten hinzu.

„Danke für die Ehre!“ rief der Meister launig nach oben. „Wozu sollte der Prinz auch so hoch hinauf wollen, mit mein Handwerk zu lernen?“

„Weil es am Dache von Burgund etwas zu flicken giebt!“

„Glaub's!“ stimmte der Dachdecker mit Lachen bei.

Inzwischen hatte das laute Reden und Lachen auch die Nachbarsleute herbeigezogen. Baarhäuptig mit lang herunterhängendem, über der Stirn glattgeschnittenem Haar, der sogenannten „Kolbe“, oder schon im niedrigen Filzhut zum Ausgehen, kamen sie in ihren farbigen Wollenblousen, den Tuniken des Nordens, in ihren strumpfartigen Beinkeidern und farbig ausgeschlagenen Lederschuhen aus den Häusern geschlüpft, wie stelzbeinige Hofhähne, wenn sie nach dem Frühwetter ausschauen oder Morgenfutter wittern, und bald schwirrte es, gleich dem Gegacker auf dem Hühnerhofe, von Fragen und Gegenfragen laut durcheinander.

„He, Jungfer Sibylle,“ rief der Kleine einem Mädchen zu, das im braunen Leibchen über dem hochgeschürzten rothen Rocke, ein weißes Tuch gleich dem Weisel der Nonnen über dem Flachshaar mit langen Zöpfen, zwei Milcheimer am Schwengel über den Schultern trug und eben in das Portal einbiegen wollte, „he, Jüngferchen, Du kommst von der Frankenburg? Hohe Gäste angekommen?“

„Ja, Herr Castellan, der Prinz ist da.“

„Mit großem Gefolge?“

„Ein alter Ritter, ein schöner welscher Junker und viele Pferde und Hunde.“

„Pferde und Hunde als Gefolge!“ erscholl es in lautem Gelächter.

„Der Heerbann ist auf den Hund gekommen!“ witzelte das Männchen. „Aber ich sag' es Euch: Krieg giebt es doch, großmächtigen blutigen Krieg ... mit französischen Wölfen und vlämischen Sauen! Wo jagt man denn, Kleine?“

„Kann's nicht sagen, Herr. Aber da kommt Einer, der's besser weiß. Ist ein Vetter zum Herrn Waldvogt.“

Damit deutete das Mädchen auf die Straße, auf welcher zwei Männer hinter einander gingen, und wollte eintreten.

„Der Rothe?“ fragte der Rathsschließer noch.

„Nein, der Bunte!“ lachte das Mädchen und verschwand unter dem Portal.

Der Bunte, ein junger Mann in der Tracht der Armbrustschützengilde, stutzermäßig im kurzen bunt gestreiften, mit grauem Kaninchenfell besetzten „Scheckenrocke“, dessen am Handgelenk enge, bis oben aufgeschlitzte Aermel eine hellere Jacke durchblicken ließen, stolzirte in den eng anliegenden Beinkleidern und den langen Schnabelschuhen, einen Federstutz am Barett, die Armbrust seitwärts am Gürtel hangend, keck daher und sah sich, als er die Gruppe erreichte, alsbald von Fragenden umdrängt.

„Ihr kennt den Waldvogt?“

„Wißt Ihr, warum Prinz Max gekommen?“

„Nur zum Jagen?“

„Wo will er jagen? Was will er jagen?“

Auch der Rothe war jetzt herzugetreten und, als er die Fragen hörte, überrascht stehen geblieben.

„Das kann ich Euch ganz genau vermelden,“ erwiderte sichtlich geschmeichelt der Bunte, indem er sich selbstgefällig das lange Haar aus beiden Seiten des Gesichtes strich. „Der kaiserliche Waldvogt ist mein Herr Vetter. Prinz Max wollte längst gern auf Sauen jagen. Sintemal aber das Rudel mit den stärksten Ebern zwischen dem Hohen Venn und dem Ardennerwald wechselt, so hat mein Herr Vetter vorerst an den burgundischen Wildmeister in Verviers schreiben lassen, er solle ihm zu wissen thun, wann das Schwarzwild hüben liege, und ob er zu einer Grenzjagd mit dem Prinzen halb Part mit ihm machen wolle. 's hat lange gedauert, aber endlich ist Antwort kommen. Am hohen Venn, unweit der Grenze, liegt das Wild, und der Prinz wollte heute in aller Frühe mit meinem Herrn Vetter von der Frankenburg wegreiten. Er muß schon fort sein.“

„Mit Verlaub,“ nahm jetzt der Rothe das Wort, „welchen Weg nehmen sie da?“

„Ueber Eupen gen Montjoie,“ antwortete der junge Mann leichthin.

„Der Prinz wird doch nicht über die Grenze gehen?“ fragte Jener mit auffallendem Eifer weiter.

„Je nachdem. Warum auch nicht?“ versetzte der Andere, sich verwundert umwendend, zumal da dem Rothen ein Ausruf des Schreckens, wenn auch in unverständlicher Mundart, entfuhr. Und jetzt erst richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf den neuen Ankömmling.

Es war eine seltsame Erscheinung, der hagere Mann in der fremdartigen Tracht, der mit Fiedel und Bogen am Gürtelhaken als wandernder Spielmann vor ihnen stand. Auf dem kurzgekräuselten Haar von jener aschgrauen Farbe, die nicht altert, weil man ihr das Alter nicht ansehen kann, trug er eine rothe Filzkappe mit grünem Zweige. Ueber seinen Schultern hing eine gleichfalls rothe „Gugel“, jene aus einem Stück Tuch mit Kopfloch bestehende einfachste Gattung aller Mäntel, die bei Landbewohnern üblich war. Die grauen Beinstrümpfe dagegen hatte er, nach Art der Waldbewohner früherer Jahrhunderte, von den Schuhen bis über die Wade mit Bast umwunden.

Das Auffallendste an ihm aber war nicht die Tracht, sondern das Gesicht. Denn eingerahmt von ungewöhnlich dunklen, schräg nach oben laufenden Brauen über kleinen, grauen, verschmitzt blickenden Augen und einem krausen, nach burgundischer Sitte ausgezackten blonden Barte, erhob sich auf der ursprünglich leichtgebogenen Nase wie ein Vorgebirge ein großer röthlicher Höcker. Und wunderbar, dieses Promontorium schien nicht am Nasenbeine festgewurzelt, sondern nur ein Auswuchs der Haut zu sein, denn es ließ sich, je nach dem Willen seines Besitzers, durch ein bloßes Zucken der Gesichtsmuskeln auf so lächerliche Weise verschieben, daß derselbe sich schon mit dieser Kunst allein hätte für Geld sehen lassen können. Es war damals nichts Ungewöhnliches, daß wandernde Spielleute zugleich mehr oder weniger die Possenreißer spielten, um mit größerem Beifall auch größere Kupfermünzen zu ernten; aber das Kunststück, das der Rothe jetzt unmittelbar nach seinem Ausrufe und, wie es dem Kleinen im Fenster schien, absichtlich um die Aufmerksamkeit von seiner Frage abzulenken, den ihn neugierig Angaffenden zum Besten gab, verfehlte selbst auf die an derbe Späße Gewöhnten seine Wirkung nicht.

„He, was gafft Ihr?“ rief er, mit vorgestrecktem Kopfe im Kreise herum, die Nächsten groß anstarrend. „Habt Ihr noch keine richtige Nase gesehen? Da seht sie, seht sie, seht sie!“ Und mit tiefem Athemzuge seine weiten Nasenflügel aufblähend und sie zittern machend, schob er mit demselben Athem Höcker und Brauen in die Höhe und ließ sie im raschen Wechsel so krampfartig auf- und niedertanzen, daß die anfangs verblüffte Menge alsbald in ein unauslöschliches Gelächter ausbrach.

„Ein Affe, ein Affe!“ schrie es und lachte es von allen Seiten.

Auch der Kleine im Fenster schien seinen Verdacht vergessen zu haben und erlustirte sich weidlich an dem Schauspiele. Dann aber konnte er dem Verlangen nicht widerstehen, sich mit seinem grotesken Mitbewerber um die Gunst des Publicums auf „geistige Art“ zu messen.

„He, Nasenkönig,“ lachte er herunter, „was bist Du denn für ein Landsmann?“

[549] „Ein Zwilling,“ rief der Rothe hinauf, und schallendes Lachen belohnte die Antwort.

„Und was ist das für ein Wunderland, wo die Zwillinge wachsen?“

„Gelderland.“

„Ei, was Du sagst! Muß ein fruchtbar Land sein! Werden Alle da zu Zweit geboren?“

„Alle. Denn Jedermann kommt dort zuerst als herzoglicher Gelderer und zum Zweiten als verpfändeter Burgunder auf die Welt. Zuletzt geht er aber auch noch dem deutschen Reich zu Lehen.“

„Dann ist's kein Zwilling, dann ist's ein Drilling!“ ließ jetzt der Kleine zum Beifall der Menge seinen Witz leuchten.

„Wenn Ihr mit Eurem Drilling meinen Illing von seinem Zwilling loskauft, dann will ich Euch umsonst aufspielen!“ gab der Rothe zurück.

„Loskaufen vom Illing? Wie hoch ist der Schilling?“ reimte der Kleine weiter.

„Vierundneunzigtausend Goldgulden!“ rief der Rothe. „Denn das ist das Schandgeld, für das der alte Herzog Adolf Egmont von Geldern – Gott sei seiner Seele gnädig! – aus purer Bosheit gegen seinen Sohn sein schönes altes Gelderland an Burgund verpfändet hat!

O Arnold, Arnold, schlimmer Mann,
Das klagt Dich jetzt im Himmel an!“

Ein tiefer Ernst hatte sich bei diesen Worten über das Antlitz des Spielmanns gebreitet. Wie verwandelt lagen die scharfgeschnittenen, nur durch den Höcker verunstalteten Züge, erstarrtem Metallgusse gleich, in den alten Formen, die grauen Augen blickten kummervoll nach oben, und selbst die schneidende Stimme hatte einem tiefen Brusttone Platz gemacht.

Halb mit Verwunderung, halb mit Theilnahme blickten die Umstehenden auf ihn.

„Ei, borgt das Geld von Euern Nachbarn, den Kabeljau's, und zahlt es heim, dann seid Ihr frei!“ rief der Kleine herunter.

„Borgen? Heimzahlen? Heia lustig! Kurzgeschoren haben uns die Burgunder, daß uns Keiner auf unsere Wolle noch einen Stüber borgt! O, sie wissen auch warum! In ihrem Stalle behalten wollen sie uns, um uns in ihren Kriegen auf die Schlachtbank zu schicken, denn die Gelderer sind tapfere Leute! Aber treu sind sie auch, und hängen an ihrem Herzogshause und harren und hoffen, wie die Juden auf ihren Messias, auf einen neuen Lehnsherrn hier in Eurer Krönungsstadt, dem Gott einen starken Arm und ein willig Ohr geben möge für die Noth seines Drillings! – Gott zum Gruß, Ihr Reichsstädter! Ich dachte Euch was zu fiedeln, um ein Zehrgeld zur Reise zu gewinnen, aber nun ist mir's vergangen mitsammt der Reise! Denn daß Ihr's wißt, ich wollte nach Köllen an den Hof des Herrn Maximilian und ihm um guten Dank fremde Weisen vorspielen – darum fragte ich nach ihm! Wer mag jetzt wissen, wann er vom Jagen heimkehrt?“

„Das weiß ich!“ rief der Vetter des Waldvogts. „Wandert nur nach Köllen, Fiedler, schon morgen reitet der Prinz wieder heim. Und da habt Ihr auch ein Stücklein zum Zehrgeld.“ Dabei griff er in das Ledertäschchen, das ihm neben der Armbrust am Gürtel hing, zog ein halbes Schillingsstück hervor, warf es dem Spielmann, der demüthig die Kappe abgenommen hatte, vornehm hinein und stolzirte weiter. Von den Uebrigen aber thaten es ihm die Meisten nach, und Kupfermünzen und kleine Silberstücke fielen in die Mütze des Rothen, der sich gegen Jeden dankbar neigte. Nur der kleine Rathsschließer rührte sich nicht von der Stelle, und als der Rothe jetzt mit letztem Gruße eilig davonzog, raunte er, mit den Augen blinzelnd, zum Dachdecker hinunter:

„Hört, Gevatter! Wenn das kein Spion ist, dann soll dieses unser Rathhaus niemalen eine Kaiserpfalz gewesen sein.“

Und er mochte Recht haben. Denn kaum eine halbe Stunde darauf hätte er von der Frankenburg, des Weges nach Eupen, in gestrecktem Galoppe einen Reiter jagen sehen können, der von rückwärts in Gestalt und Art der Kleidung auf's Haar dem Spielmanne glich. Auch hing ihm am Sattel eine seltsam geformte Holftertasche mit einem länglichen harten Gegenstande darin. Und doch wieder konnte es der Spielmann nicht sein, denn Kappe und Gugel waren jetzt grau, und als der Reiter einmal rückschauend sein Gesicht wandte, war kein Höcker auf seiner Nase, und ein langer grauer Bart wehte ihm im Winde. Entweder also hatte der Rathsschließer Recht, und es war ein verkleideter Spion, oder der Fiedler hatte kein Märchen berichtet, und Gelderland war wirklich das Wunderland der Zwillinge, wo sich doch am Ende durch Vererbung des Bluts das ganze Volk so ähnlich sehen muß, wie ein Ei dem andern.




2. Auf dem Hohen Venn.

Der graue Aprilmorgen schien den wetterwendischen Sinn, mit dem er das Licht der Welt erblickt hatte, wie dies auch bei Menschen vorzukommen pflegt, noch um die elfte Stunde abgelegt und mit einem entschiedeneren Charakter vertauscht zu haben. Leider aber mußte ihm bei diesem löblichen Entschlusse mehr das Vorbild seines ungemein strengen Vorfahren, des Winters von 1477, als die Rücksicht auf seine noch in der Wiege liegenden Sprößlinge vor Augen geschwebt haben, denn verdächtig schwarze Wolken umhüllten ihm, wie böse Erinnerungen an Schneewehen, die düstere Stirn, die in Gestalt des Hohen Venn als Wetterprophet über der Umgegend lagerte. Hier, auf jenem gipfellosen, von Torfmooren und Sümpfen unterbrochenen Höhenrücken, der wenige Meilen südlich von Aachen über die Grenze hinweg den belgischen Ardennen zustrebt, mochte er in voller Einsamkeit über winterlichen Gedanken brüten zu können glauben. Aber er irrte sich. Laute Rufe aus hoher Luft schreckten ihm jäh das Gewölk von der Stirn, denn sie verkündeten mit heiseren Trompetentönen, daß es noch Gewalten gebe, die über allen Gedanken, selbst über denen des launischsten aller Despoten, stehen. Es waren lange Züge von Wildgänsen, die von Süden her, den spitzen Winkel ihrer Phalanx nach vorn gekehrt, den Nordwind durchschnitten, um den Triumphzug des nahenden Frühlings über die Erde ertönen zu lassen. Ja, dem finster dreinschauenden Wetterpropheten zum Trotze war einer oder der andere dieser südländischen Frühlingsboten, ja, waren selbst vornehmere Nordpolfahrer, gefiederte Fürsten aus dem Mohrenlande, vom Geschlechte der schwarzen Schwäne, so rücksichtslos, sich vor seinen Augen auf den unwirthlichen Sumpfmooren niederzulassen, die zwischen den Quellen der Botrange und der Helle sich diesseits und jenseits der deutschen Grenze durch Haide, Ginster und spärlich von Weidenstümpfen überragte Grasflächen hinzogen. Aber auch sie täuschten sich, wenn ihr Instinct sie hatte glauben lassen, daß keinem lebenden Wesen außer ihnen diese traurige Oede als Zufluchtsstätte dienen werde, denn bald deuteten ihre eigenen Bewegungen darauf hin, daß allerdings einheimische Bewohner vorhanden sein müßten.

Wer als aufmerksamer Beobachter unter dem Schutze des Waldrandes gestanden hätte, welcher sich wenige hundert Schritte südlich vom Moore in der Richtung nach Montjoie hinabsenkte, dem würde es nicht entgangen sein, wie das dürre Schilfrohr zwischen den Weidenstümpfen an den Rändern des Sumpfes hier und da gewaltsam auseinander gerissen wurde, daß die geknickten Halme im Winde davonflogen. Ab und zu würde er auch wohl gesehen haben, wie eine Wildgans sich mit kurzem Flügelschlage erschrocken aufhob, um sich gleichwohl unweit der Stelle arglos wieder niederzulassen – ein sicheres Zeichen, daß der scharfsinnige und schlaue Vogel sich von keinem blutlüsternen Feinde, wie dem Fuchse, dem Wolfe, oder gar dem bösen Menschen, bedroht wisse, sondern nur von irgend einem gewaltsamen, aber ihm ungefährlichen Geschöpfe aufgescheucht sei. Und wenn ihm ja noch Zweifel über die Natur des letzteren beigekommen wären, so würden ihn das ferne Rüdengebell und die Hornrufe, die jetzt aus der Richtung des Aachener Waldes herübertönten, zu dem Schlusse geführt haben, daß in diesen Sümpfen kein anderes jagdbares Wild, als das borstige Volk der Sauen, lagern könne.

Dieselbe Beobachtung schienen auch die beiden Männer zu machen, die in diesem Augenblicke unter den verkrüppelten Buchen des Waldrandes hervortraten, um, die Hand am Ohre, den fernen Tönen zu lauschen.

Nach Tracht und Ausrüstung waren es Waidmänner. Die naturfarbenen Kappen mit Habichtstutzen, die grauen Jagdröcke über den engen Beinkleidern, Schulterkragen und Wadenstiefeln von Hirschleder, die am Gürtel neben dem Waidmesser hängende Armbrust, und der Jagdspeer, dessen eisenbeschlagenes unteres Ende sie als Stock gebrauchten, kennzeichneten sie hinlänglich als solche.

[550] „Die Rüden haben unterwegs frische Fährten gespürt, darum schlagen sie an!“ sagte der Eine, ein graubärtiger Alter mit mürrischem Ausdruck, zu dem Andern, einem jüngeren Mann, dessen schwarzes, straff niederfallendes Haar seltsam mit dem röthlichen, in zwei Fuchsschwänzen über die Maßen lang herabhängenden Barte contrastirte. „Werden hier Arbeit finden! Dort im Moor, wo die Schneegänse aufstehen, wühlt das Sauwild haufenweis!“

„Ganz wie im vorigen Jahre um diese Zeit!“ nickte der Rothbärtige, einen flüchtigen Blick aus dem stechenden schwarzen Auge über das Moor werfend.

„Weiß, weiß, Ihr jagtet drüben mit dem Herrn Herzog von Aremberg, Eurem damaliger Herrn!“

„Ganz recht, aber nicht drüben: hüben!“

„Wie? Hier auf deutscher Seite?“

„Pah,“ lachte Jener, „wenn sie das Römische Reich das heilige nennen, dann hat mich mein Herr das Heiligthum oft genug 'profaniren' lassen, wie der Beichtvater es nennt!“

„Ist freilich kein Freund der Deutschen, der Herr Herzog!“ nickte der Alte vor sich hin. „Hält's, wie unser Bischof von Lüttich, mit den Franzosen!“

„Das möchte ich doch nicht Wort haben!“ wandte, nicht ohne einen mißtrauischen Blick auf den Alten zu werfen, der Rothbärtige ein.

„Nicht Wort haben, was alle Welt weiß?“ spottete der Alte. „Solch' Leugnen könnte nur bösen Zungen dienen, die Euch nachsagten, Ihr hättet den Dienst des Arembergers mit dem des Herzogs von Cleve vertauscht, um in Gent den französischen Kundschafter zu machen.“

„Elende Verleumdung!“ fuhr der Rothbärtige auf.

„Je nun,“ lachte bitter der Alte, „mögen sie's glauben, weil Ihr aus Welsch-Flandern seid, und Französisch Eure Muttersprache ist! Mir kann's gleich sein! Jetzt steht Ihr vor mir als Leibjäger des Herrn Herzogs von Cleve, der in der Genter Hofburg für unser gnädiges Fräulein befiehlt, und habt mir seinen schriftlichen Befehl vorgezeigt! 's ist hart für einen alten Mann, hart, hart! ... Wie wollt Ihr's also nunmehr anfangen?“

„Wie ich Euch sagte, wir müssen das Wild von Osten her über unsere Grenze zurücktreiben.“

„Wenn es sich's gefallen läßt,“ nickte, nicht ohne geheime Hoffnung, der Alte vor sich hin. „Ist noch immer das alte Ungethüm bei dem Rudel, das sie drüben in den Ardennen den 'Schrecken der Wälder' nennen! Das hält Stand, trotz aller Rüden der Welt, hat schon manch' einem die Eingeweide umhergestreut, und schon mancher Speer ist an ihm zersplissen. Mit ihm bleibt auch das Rudel, und ich möchte nicht der sein, den er annimmt.“

„Desto besser!“ lachte der Rothbärtige. „Hält er Stand, so hetzt man den wagehalsigen jungen Prinzen auf ihn, und das Unthier erspart uns vielleicht die Mühe, ihn drüben in den Hinterhalt zu locken.“

„Hört, Leibjäger,“ brummte der Alte, „dieser Hinterhalt molestirt mir das Gewissen, und wenn ich Euch gewähren lasse in dem, was ich nicht hindern darf, so ist das Alles, was der Herr Herzog von mir verlangen kann.“

„Gut, gut! Mehr begehren wir nicht von Euch. Was geht's auch Euch an? Alles fällt auf mich. Ich hab' ein Gewissen, wie Ihr, und mir macht's keine Pein. Mein Fall ist einfach. Der Herzog von Cleve schickt mich Namens unseres gnädigen Fräuleins zu Euch nach Verviers, um Schwarzwild für die Hoftafel zu bestellen, und giebt mir, wie Ihr gelesen, Vollmacht und Befehl für Euch und alle Wildmeister und alle Hauptleute mit, daß Ihr mir helfen sollt, die Praktiken des Herrn Maximilian in Köllen auszukundschaften. Nichts fürchtete er mehr, als der Prinz möge nach Gent kommen wollen, ehe denn acht Tage um sind, denn bis dahin muß sich entschieden haben, ob sein Herr Sohn Herzog von Burgund wird. Deshalb hat er auch auf alle Heerstraßen zur deutschen Grenze Mannschaft entsendet, um ihm den Weg zu verlegen, und zweihundert Rosenobles hat er mir für den versprochen, der ihm den Prinzen, wenn er sich über die Grenze wagt, in seine Gewalt bringt. Zweihundert Rosenobels, das macht zweitausendachthundert Schillinge. Morbleu! Ich also komme zu Euch nach Verviers und muß von Euch hören, daß das Hochwild mir in die Hände läuft, daß der Prinz hier Grenzjagd halten will; ich gehe zum Hauptmann der Cleveschen und zeige meinen Befehl, er giebt mir fünfzig Fußknechte mit, dort drüben hinter der Grenze in der Waldschlucht stehen sie bereit, hier liegen die Sauen, in die Schlucht bringe ich sie sicher, Alles stimmt; ich biete Euch halb Part – und da sprecht Ihr mir im letzten Augenblick von Gewissensmolesten! Gut, gut! So Ihr nicht mit mir theilen wollt, habe ich nichts dagegen. Kommt Ihr mir aber irgendwie in die Quere, so wißt Ihr, der Herzog von Cleve fackelt nicht lange!“

„'s ist schändliche Hinterlist!“ ächzte der Alte. „Ich mit meinen grauen Haaren, ein Collega des kaiserlicher Waldvogts, den ich mit dem jungen hohen Herrn selbst eingeladen!“

„Was wußtet Ihr davon, als Ihr's thatet? Und was kümmert Euch das Thun des Herzogs? Krieg ist Krieg! Mit den Franzosen ist's ein offener, und wer weiß, wer da zuletzt noch des Andern Herr wird, mit dem deutschen Prinzen aber ist's ein geheimer. Der sammelt sicher schon im Stillen seinen Heerbann, und Tausende werden bluten müssen, wenn er Niederland damit überzieht! Will es wohl wieder deutsch machen, wie es schon einmal gewesen. Jetzt läßt sich's noch hindern, und wer ein getreuer Diener ist, der muß dazu mithelfen. Was wird dem Prinzen auch Schlimmes geschehen! Auf vier Wochen in ein festes Schloß – das ist Alles. ... Achtung! Seht dort die schwarzen Punkte über dem Röhricht! Die Sauen winden, den Rüssel in der Luft! Die Deutschen müssen im Anzuge sein. Kommt ihnen mit mir entgegen! Dort oben ist das Kreuz, das Ihr zum Stelldichein vorgeschlagen habet! Ist einmal ein Jäger im Schneesturm dort verunglückt. Solch ein Wahrzeichen soll Unglück bringen. Lassen wir sie vor uns hin, dann fällt's auf sie! Nun, wie ist's? Kommt Ihr?“

Der Alte kämpfte noch immer mit sich.

„Ihr wollt nicht? Nun, so reitet in's drei Teufels Namen heim! Dort im Walde folgt Euer Knecht mit den Kleppern. Ich weiß, was ich zu thun habe, ich gebe mich, wie wir ausgemacht, für Eueren Nachbar, den Wildmeister von Theux, aus und besorge das Weitere. Gehabt Euch wohl!“

Sprach's mit unverhaltenem Ingrimm und schlug sich hinter den Stämmen den Waldrand hinan.

Der Graubärtige aber seufzte noch einmal tief auf, faßte dann einen gewaltsamen Entschluß und folgte ihm langsam zur Höhe.

Nur wenige Minuten, und unweit der Nordecke des Waldes, wo weithin sichtbar ein rohes Holzkreuz ragte, kam ein Trupp von vier Reitern herangesprengt. Ihnen folgte von fern auf Jagdkleppern ein Troß von Dienstleuten und Jagdhütern, welche eine Meute von zusammengekoppelten Rüden von gelblicher Farbe und ungemeiner Größe mit Peitschenhieben zur Ruhe verwiesen, so oft sie die längst gewitterte Nähe ihrer Beute mit lauten Jauchzern begrüßen wollte.

Am Holzkreuz hielten die Reiter, spähende Blicke um sich werfend. Nur der jüngste sprang vom Sattel und blickte, sein dampfendes Pferd am Zügel haltend, dienstbereit auf, als ob er Befehle erwarte.

Es wär ein schmächtig aufgeschossenes Jünkerlein von etwa siebenzehn Jahren, in Grün und Grau gekleidet. Das schwarzlockige Haar quoll ihm unter dem mit Spielhahnsfeder geschmückten Barett so üppig hernieder, daß er mit den weichen Zügen, gelblich wie Wachs, und den großen schwarzen Augen gar wohl für ein welsches Mädchen hätte gelten können, wenn nicht die enge Spannung des Wammses zwischen den Schultern, die scharfgeschnittene kecke Nase und eine gewisse Verwegenheit im Blick den angehenden Jüngling bekundet hätte. Sein knapper Anzug, die engen, aus den Schnabelschuhen gleichsam herauswachsenden Beinkleider, unter dem Gürtel an das grüne Wamms genestelt, mit dem Dolch am Kettchen und dem Täschchen am Gürtel, war noch der reine Typus der Tracht des Jahrhunderts; aber die vielen Falten des feinen Hemdes, das durch die Litzen des vorn im Dreieck geschnürten Wammses und an den Seiten der engen, zu freierer Bewegung am äußeren Ellenbogen gespaltenen Aermel hervorsah, konnten schon als Vorboten künftiger Schlitz- und Puffenzeit erscheinen.

So wartete er neben seinem Pferde, den einen Fuß nachlässig

[551]

Erstürmung einer Wassermühle beim Uebergang über die Donau bei Sistowa
Nach der Natur aufgenommen von Capitain N. Karasine



über den anderen geschlagen, in jener malerischen Stellung, die den Romanen eigen zu sein pflegt.

Aber nur einen Augenblick. Dann wandte er ungeduldig den Kopf zu dem ihm zunächst haltenden Reiter, einem grauköpfigen Kriegsmann mit breiter Narbe über der Stirn und strengen Zügen, aber treuherzigen Augen, dessen Koller von manchem Sturmwetter zu erzählen wußte, und dessen Schwert mit der breiten Klinge und dem langgewundenen Griff ein Beutestück aus den Hussitenkriegen sein mochte.

„Hier also, Ritter?“, rief er leise zu ihm auf. „Meint Ihr nicht, der Prinz wird hier absitzen?“

„Glaub's wohl,“ sagte der Alte. „Er späht mit dem Waldvogt nach den Burgundischen aus … und da kommen sie!“

(Fortsetzung folgt.)
[552]
Aus einem deutschen Kleinstaat.[2]
Von Karl Volckhausen.
II.

Die Umgebung der Externsteine ist einer der schönsten Punkte des lippischen Waldes. Was die menschliche Hand dort gethan hat, um die Anmuth der Scenerie zu heben, ist nicht gerade viel, aber verdienstlich, anerkennenswerther noch, daß dasjenige, was die Natur aus eignen Mitteln schuf, mit mehr Respect behandelt worden ist als anderwärts. Die Axt des Holzhauers, deren Spuren der lippische Wald leider gar zu viele aufweist, ist hier doch ein wenig maßvoller gehandhabt worden. Gleich am Saume des Waldes, den man vom Städtchen Horn aus auf der nach Paderborn führenden Chaussee in fünfzehn bis zwanzig Minuten erreicht, blickt man zur Rechten in einen Hain mächtiger alter Eichen, der sich mählich hinabsenkt in eine Schlucht. Ein geheimnißvolles Halbdunkel und eine tiefe nur vom Kreischen des Hähers und dem Klopfen des Spechts unterbrochene Stille herrscht unter diesen Baumkronen. Vorüber dann an einer grünen Matte links und einem Wirthshause von wunderlicher Architectur rechts gelangt man an die größten der Felsen. Gleich riesigen Pförtnern stehen sie vor der Thalschlucht, welche von Höhen rechts und von Höhen links eingefaßt wird und welche den Durchblick gestattet auf die im Hintergrunde sich aufthürmenden, malerisch geschichteten Waldmassen. Was die Felsen selber betrifft, so erscheint es wie ein barocker Einfall der Mutter Natur, daß sie von den Gliedern der selbigen Unterwelt ein paar hinauswachsen ließ über ihre Cameraden um mit Baum und Busch und Haidekraut und Moos, den licht- und luftliebenden Kindern der Oberwelt, zu fraternisiren. Denn, wenn jene Steinblöcke in ihrer allernächsten Umgebung auch noch einige Genossen haben – im übrigen Walde tritt das felsige Knochengerüst selten anders als in Steinbrüchen zu Tage. Wer etwa von Paderborn oder Detmold her stundenlang den Wald durchwandert hat, ohne auf irgend Etwas den Externsteinen Gleichartiges zu stoßen, und nun sich plötzlich diesen grauen Riesen gegenübersieht, der schaut sie vielleicht ebenso verwundert an, wie der berauschte Student in des verflossenen und verstorbenen und hoffentlich nunmehr seligen preußischen Cultusministers Liede den Mond. Die Sohle des Thales, vor dem die Externsteine – der Bürger von Horn nennt sie schlechtweg die „Steine“ – Wacht halten, ist von einem kleinen Bache durchflossen. Ein Damm hält ihn auf, zwingt ihn so, einen kleinen See oder, wenn das bescheidener klingt, einen großen Teich zu bilden, und unmittelbar an den Felsen rauscht das überschüssige Wasser über das Wehr hinab. Eine Wanderung um diesen kleinen See auf den wohlgepflegten Pfaden, die Schatten gewähren ohne doch der Ausblicke zu ermangeln, ist ein idyllischer Genuß. Zumal am Morgen oder Abend eines sonnigen Herbsttages, wo die Blätter bereits angefangen haben sich zu gilben oder zu bräunen und wo man sicher ist, nicht wie an den Sommertagen auf Schwärme von Touristen zu stoßen. Ein paar Schwäne ziehen auf dem See stumm ihre Kreise, im Hintergrunde steigt aus dem einsamen Forsthause ein Rauchwölkchen empor, eine wilde Taube gurrt, aus weiter Ferne ertönt auch wohl der Ruf des brünstigen Hirsches – sonst ist Alles still und athmet Frieden und Ruhe. Zuverlässigere Zeugen des Zaubers, den diese Gegend in sich trägt, als ich sind die Künstler, welche dieselbe vielfach durchstreifen. Allsommerlich kommt seit mehreren Jahren eine Anzahl Düsseldorfer Maler hierher, um die an Motiven überreiche Landschaft auszubeuten. So trafen auch wir eines Nachmittags, als wir den See umwandert hatten, am Forsthause den Maler Kröner, dessen Jagdscenen sich des wohlverdienten besten Rufes erfreuen. Er hält sich jährlich Monate lang in Horn auf und hat von meinem jagdliebenden Freunde Hausmann, der das Revier der Stadt Horn in Pacht hat, einen Theil dieses Reviers übernommen.

Auf unseren Wanderungen in der Nähe der „Steine“ war mir von besonderem Interesse eine Bergwand, die sich gleichfalls zu dem kleinen See hinabsenkt. Auf weitetem Umwege durch ein am Waldrande gelegenes kleines Dörfchen führte mich mein ortskundiger Begleiter dahin. Die Wand ist zum Theil mit Eichen bestanden. Es sind uralte, graue Häupter, über die schon manches Jahrhundert hinweggerauscht sein mag. Sie sind gar nicht so hoch und mächtig, aber jeder einzelne Baum hat seine ausgeprägte charaktervolle Individualität. Der steinige Grund und der rauhe Nordwest hat ihnen das Leben schwer gemacht. Man sieht ihnen den Kampf um’s Dasein an. Im Wetter gehärtet stehen sie da als Vorbilder westphälischen Trotzes und altcheruskischer Kraft. Das gewaltige Wurzelgeflecht, das ihren Stamm umlagert, konnte nicht Raum finden in dem felsigen Boden, und umklammert denselben dafür um so krampfiger und fester, nur spärlich von der dünnen mit Moos und Flechten bewachsenen Kruste überdeckt. Der Stamm ist kurz und gedrungen und trägt ein keineswegs reiches, aber wunderbar knorriges, wild phantastisches Geäst. Hier und da hat der Sturm einen Wipfel gebrochen, der Wetterstrahl eine Krone gestreift, aber die gierige Hand der lippischen Domänenverwaltung ist an diesen Zeugen der Vergangenheit – sei es aus Respect, sei es in der Erkenntniß, daß sich so gar viel Capital nicht daraus schlagen ließe – schonend vorübergegangen. Hoffen wir, daß sie dies auch ferner thue.

Einen tieferen Blick in den lippischen Wald that ich am Tage, als ich Horn verließ. Ich hatte den Wunsch geäußert, das Hermanns-Denkmal noch zu besuchen, und Hausmann bot mir seine Begleitung an. Morgens zu guter Stunde ward das Rößlein angeschirrt, und in raschem Trabe brachte es uns durch die Feldmark von Horn zum Dörfchen Berlebeck. Hier ist es, wo die Sommergäste des lippischen Waldes vorzugsweise ihr Standquartier aufschlagen. Und sie haben guten Grund dazu. Das langgestreckte Thal mit seinem krystallklaren Bache im Grunde, mit den zwischen Gärten und Baumgruppen zerstreuten Häusern und Gehöften ladet zum Verweilen ein. Ueberdies sind der anmuthigen Punkte genug in der Nähe – Bergkuppen mit weiter Aussicht, schattige Wege an den Hängen und in den Schluchten, auch die Trümmer einer alten Burg (der Falkenburg) fehlen nicht.

Wir fuhren zunächst an dem Bache hinauf, um dessen Quelle zu sehen. In einem von ein paar Buchen beschatteten kühlen Grunde, dicht unter den Wurzeln der Bäume, sprudelt das Wasser kräftig hervor. Die Buchen sind uralte, mächtige Stämme, mit starkem, fast eichenartig knorrigem Gezweige. Mit dem Bedauern, daß von dem Hochwalde, der einst diese Schluchten bedeckte, nur so spärliche Reste übrig gelassen, sieht man von ihnen hinweg auf das junge, niedrige Gestrüpp der Hänge und Hügel umher.

In dem Dorfkruge zu Berlebeck gab Hausmann den Wagen ab mit der Anweisung, ihn in’s benachbarte Dorf Heiligenkirchen zu bringen. Dann stiegen wir aufwärts, zwischen Gehöften und Feldern, die sich malerisch an den Bergwänden hinausziehen, hindurch, und gelangten bald an den Rand des Waldes. Wir standen vor einer Gitterpforte. „Was ist denn das?“ fragte ich, die Hand an das Thor legend, den Freund. „Ist hier mitten in den Bergen ein Hirschpark etablirt?“

„Man hört’s,“ erwiderte er, „daß Du lange nicht in der Heimath warst. Der ganze Wald ist Hirschpark; er hat als fürstliches Gehege schon lange die Ehre, umgittert zu sein. Solch ein Zaun, wie Du ihn hier siehst, läuft um den gesammten Stock des Waldes, nur die Vorberge, die Ausläufer mit ihren kleineren isolirten Gehölzen sind uneingefriedigt geblieben.“

„Und warum das?“ fragte ich weiter.

„Zum Theil, um das Wild zu schützen vor den Wilddieben und vor den jagdberechtigten Grundbesitzern am Waldrande, zum Theil aber auch, damit die fürstliche Domänencasse keine Wildschäden zahlen muß für die Verwüstungen, welche die Hirsche auf den angrenzenden Feldern anrichten.“

„Meinst Du denn, daß der Gewinn dem Aufwande, welchen Anlage und Erhaltung dieses Gitters verursacht, entspricht? Wenn man auch das Material zu diesen dicken Pfählen in Fülle selbst besitzt, so hat man doch die schweren, dichtgespannten Eisendrähte und die Arbeit nicht umsonst.“

[553] „Nein,“ sagte er lachend, „das glaube ich freilich nicht. Die Wilddiebe finden doch wohl ihren Weg in das große Revier, und die Beute an Hirschen, welche die benachbarten Jagdberechtigten davon trugen, zusammengerechnet mit den Wildschäden von ehedem, deckt lange nicht die Kosten des ungeheuren Gitters, das mehrere Quadratmeilen umrahmt. Bei alledem züchtet man auch kein Wild ersten Ranges innerhalb dieser Zäune. Der Edelhirsch, wenn er zur vollen Entwicklung seiner Kraft und Schönheit gelangen soll, muß ungehemmt streifen und hinaustreten können in die Vorberge; vielleicht aber,“ fügte er hinzu, „hat das Gitter auch noch seine Nebenzwecke. Man will das Laubsammeln der Erwachsenen hindern und das Beerensuchen der Kinder controlliren können.“

„Ist es wahr,“ fragte ich, „daß der im vorigen Herbste verstorbene Fürst einmal höchsteigenhändig einem Knaben im Walde einen Sack mit Laub abgenommen und den Inhalt ausgeschüttet hat?“

„Verbürgen,“ entgegnete Hausmann, „kann ich’s freilich nicht; aber man erzählte es allgemein.“

Die Umzäunung des Waldes ist auch für den Touristen höchst unbequem. Auf Richtwege, auf das regellose Umherstreifen über Berg und Thal, darf er sich nicht einlassen. Er läuft sonst Gefahr, plötzlich vor dem Gitter zu stehen und Viertel- oder halbe Stunden weit gehen zu müssen, bis er eine Pforte findet. Er muß den Waldwegen folgen. Das thaten denn auch wir. In sanften Windungen führte uns der Pfad auf die Höhe um eine Einsenkung herum, und nach einstündigem Wandern waren wir auf der Spitze der Grotenburg, am Fuße des Hermanns-Denkmals. Ich hatte das vollendete Standbild noch nicht gesehen. An der Wiege des Denkmals hatte ich allerdings sozusagen als Taufzeuge mit gestanden. Bei der Grundsteinlegung – es sind lange Jahre her – spielten die Gymnasiasten von Detmold, zu denen ich damals gehörte, eine hervorragende Rolle. In altdeutschem Rocke mit übergeschlagenem Hemdkragen, schwarzem Sammtbarett mit weißer Feder, umgürtet von schwarz-rothgelber Schärpe, schritten wir im Festzuge auf die Grotenburg, hinter einer prächtigen Fahne drein, die von Detmolder Frauen gestickt war und die ein braungelockter, kräftiger Commilitone trug. Das war in der Denkmalsgeschichte die Periode des Enthusiasmus. Sie ging rasch vorüber, der Bau stockte und es folgte die Periode der Ironie. In den vierziger Jahren, als der Spott fast die einzige Waffe war, welche der Freiheits- und Einheitsdrang in Deutschland schwingen konnte, schonte der Zug der Zeit auch das Denkmal des Cheruskerfürsten nicht. Wer etwa noch ein paar Jahrgänge des von Otto Lüning[WS 1] redigirten radicalen „Westfälischen Dampfbootes“ besitzt, wird darin zahlreiche Spuren jener Ironie auffinden können. Dann kam die Periode der Vergessenheit. In der Zeit, wo der Czar Nicolaus in Europa, Manteuffel in Preußen und Hannibal Fischer in Lippe dominirte – wer dachte da noch an’s Hermanns-Denkmal – mit Ausnahme von Bandel und von einem kleinen Kreise Getreuer? Erst die Bismarck’sche Realpolitik hat dem Künstler geholfen, seine Idee in die Wirklichkeit zu setzen; der neue deutsche Staat legte sich in’s Mittel und das Erzbild ward fertig.

Diese Perioden der Denkmalsgeschichte flogen an meiner Seele vorüber, als ich dem Heros der deutschen Vorzeit gegenüberstand. Aber hinweg mit den Erinnerungen, sie stören den Genuß an der Gegenwart! Es ist ein wunderbar prächtiger Octobertag – ich will ihn mir gerade hier weder durch historische noch durch ästhetische Krittelei verderben! Zwei Momente stimmen harmonisch zusammen und üben auf den Beschauer, der sich der Stimmung naiv hingiebt, eine mächtige imposante Wirkung: die riesige Männergestalt und der Ort, wo sie steht. In dem gewaltigen Gliederbau, in der Haltung des Cheruskers prägt sich eine feste, selbstbewußte Kraft aus, in der landschaftlichen Scenerie eine ruhige Größe. Von dem hochragenden Leibe des Recken schweift der Blick auf die Baumkronen in der Nähe, die im Winde leise und geheimnißvoll rauschen, von den Baumkronen hinweg durch die Lichtung über das Buschwerk und über die Gipfel der umliegenden Hügel und Berge in die weite duftige Ferne – da ist ein voller glücklicher Einklang!

Wir brachten eine gute Weile am Denkmal zu und genossen die dort herrschende einsame Ruhe in vollen Zügen. Dann stiegen wir wieder abwärts. Das Dorf Heiligenkirchen, unser nächstes Ziel, lag lockend drunten im Thal, die Fahrstraße dehnte sich in weitem Bogen – so kletterten wir auf’s Gerathewohl hinunter, fanden nach einigem Suchen glücklich eine aus dem fürstlichen Gitter führende Pforte und erreichten einen abkürzenden Pfad. Im Wirthshause war Hausmann’s Fuhrwerk richtig angelangt; wir nahmen ein ländliches Mahl ein, dann rollten wir weiter nach Detmold zu. Heiligenkirchen, wie Berlebeck vom Bache durchströmt, verräth schon die Nähe der Residenz. Zwischen den Bauerngehöften sieht man Häuser in modernem Villenstyl und hie und da begegnen uns Menschen in städtischer Tracht und im Promenadenschritt. Fast der ganze Weg von Heiligenkirchen bis Detmold – die Entfernung mag eine Stunde betragen – ist in der That eine reizende Promenade. Ein wunderschöner Baumschlag rechts und links an den Höhen, saftige Wiesen, durch welche der Bach sich hindurchschlängelt, im Grunde – das dehnt sich hin bis unmittelbar an die Häuser der Residenz. Es war mir das prächtige Thal so wohlvertraut aus früherer Zeit und doch so neu in seiner zauberischen Schöne.

„Wie hübsch ist doch das Ländchen!“ sagte ich zu meinem Begleiter.

„Es ist wahr,“ erwiderte Hausmann, „und wie Du, sagen es Alle, die auch andere durch ihre Schönheit berühmtere Theile des deutschen Landes gesehen. Aber,“ fuhr er nach einer Weile, das Pferd zu langsamerer Gangart nöthigend, fort, „ich kann diese Herrlichkeiten kaum betrachten, ohne daß sich die bittere Erinnerung mir einmischte: wie übel auf diesem prächtigen Stück Erde gewirthschaftet ist und gewirthschaftet wird. Wie eine mittelalterliche Burgruine im Walde, so liegt Lippe im deutschen Reich. Von dem etwa zwanzig Quadratmeilen großen Fürstenthum sind etwa vier Quadratmeilen, also ein Fünftheil (vierundzwanzig bis dreißig Millionen Mark an Werth), Domanialgut, und der Rest wird als Zubehör des fürstlichen Domanialgutes betrachtet.“

„Aber meinst Du nicht,“ sagte ich, „daß Eure neue Aera dem ein Ende machen könnte?“

Er zuckte die Achseln. „Du hast unser neues Wahlgesetz gelesen, und ich brauche Dir die Tendenz desselben nicht zu deuten. Die ganze künstliche Zersplitterung der Wählerschaft weist darauf hin, daß man dem, was bisher ungesetzlich prakticirt wurde, jetzt nur die Form der Gesetzlichkeit geben will. Mit den hundertundzwanzig bis hundertunddreißig höchstbesteuerten Wählern erster Classe und den achthundert Wählern zweiter Classe legt man die Masse der zwanzigtausend Wahlberechtigten in der dritten Classe lahm.“

„Sollte denn auch die zweite Classe der Regierung ein so sicheres Contingent stellen?“ warf ich ein.

„Leider nur zu wahrscheinlich.“ entgegnete Hausmann, „denn in ihr stecken fast all die Elemente der Bureaukratie, welche in unserem Verfassungswirrwarr alle Selbstständigkeit verloren haben.“


Unter solchen Gesprächen waren wir in Detmold angelangt. Verweilen konnte ich dort nicht; die Zeit, die ich dem Besuch im Lippische widmen durfte, war um. Ich schied von Hausmann mit herzlichem Händedruck, schickte meinen Reisesack zur Post und machte mich zu Fuß auf den Weg nach Lemgo. Als ich, die Cigarre im Munde, die Hauptstraße der Residenz entlang ging, erinnerte ich mich, daß das Fürstenthum doch eine der Errungenschaften von 1848 nicht verloren hat – die Rauchfreiheit nämlich. Vor dem März war es streng verboten, mit brennender Cigarre namentlich an den Wachtposten vorüber zu gehen. In den Märztagen, als der revolutionäre Luftstrom durch alle Poren drang, kam die komische Scene vor, daß ein Posten einem rauchend vorübergehenden Advocaten die Cigarre aus dem Munde nahm und sie zwischen die eigenen Zähne steckte. Jetzt passirte ich die Hauptwache am Schloßplatz ohne Anstand und nahm die befriedigende Gewißheit, daß Lippe doch nicht so ganz hinter unserer Zeit zurückgeblieben, mit auf den Weg. [554]

Rothes Glas?[3]
Eine Episode aus dem Eisenbahnleben.
Von M. M. von Weber.

„Janos, Ihr seid ein vollständiger Narr,“ sagt der Streckeningenieur der Bahn, welche, südöstlich von Temesvar, die unermeßlichen Getreide- und Kukuruzflächen des Banats durchzieht, zu dem mit abgezogener Mütze vor ihm stehenden Bahnwärter Nr. 128, der zugleich die kleine Personenstation Jam-Saag verwaltet; „ein vollständiger Narr, sage ich Euch; hättet selbst Nichts zu beißen und zu brocken, wenn Euch hier das Brod nicht in den Mund wüchse; vier Kinder, und nehmt den kleinen fremden Wechselbalg noch dazu! Hübsch ist das Mädel allerdings. Wie seid Ihr zu dem Unsinn gekommen?“

„Ja, Herr, das kam so. Drüben an der Flügelbahn sind Arbeiter, wälsche, bei der Marosbrücke, können nicht sprechen mit uns, aber brave Leute, hungern, um Geld zu sammeln. Lag ein Gang von ihren, Jahr voriges, vierzehn Mann hoch in Zelten mitten im Kukuruz von Kloster Zekas. Durften kein Feuer machen wegen Brand im Felde, trockenen. Kamen täglich Weiber meilenweit aus Dörfern hinüber mit Suppe, jämmerlicher. Lief Kind immer neben jungen Weib von diesen; kam sehr, sehr weit her, hübsches Kind, alt wie mein jüngstes. Saßen immer nieder auf Schwelle von Bahnhaus, ruhten aus, todtmüde. – Weinte oft das Kind – wegen Schmerz im Fuß und Schwitz und Müde. Sagt eines Montags mein Weib, was heut’ ist drüben bei Großmutter in Lagos, wo in Schule königlicher, sehr gute, meine vier Kinder – alle –. Janos, sagt sie, erbarmt mich das Kind. Gleicht es der Juscha, was drüben ganze Woche in Schule, königlicher, mit den andern. Sind wir einsam ganze Woche – willst Du, Herr, lassen wir spielen hier das Kind und essen die Woche bei uns – Sonntag mit Kindern unsrigen. Ist hübsch der Fratz[4] und gut; Pane[5] Inspector – sehen wie lacht mit Augen, schwarzen! Sage ich: laß dableiben Kind, wenn wiederkommt mit Mutter seiniger. Arme Frau küßte uns Hände, glücklich war sie, konnte sehen Fratz ihrigen täglich, und brauchte nicht zu füttern den Fratz. Wissen aber, Pane Inspector, daß kam Fieber unter Arbeiter, wälsche, Jahr voriges. Mußten geräumt werden Zelte von allen – sämmtlichen. Aber ehe geschehen konnte, starb Vater von Kind, und Mutter ihrige kam nicht wieder. Ist wohl auch gestorben – wahrscheinlich Kindchen blieb bei uns – Winter, Sommer. Wohin damit auch?“

„Hättet es bei der Bauunternehmung anmelden sollen, Janos; sie hätte es in die Heimath der Arbeiter, nach Wälschland geschickt.“

„O nein, Pane Inspector, nein – so weit – armes Wurm – lieber Fratz – Kinder meinige haben es lieb und wir auch.“

„Nun, ganz schön, Janos, mich geht es nichts an; es bleibt Euch aber lebenslang zur Last. – Wenn wir alle Kinder der Arbeiter, die am Sumpffieber sterben, adoptiren wollten! Ihr seid ein Narr. Gute Nacht. Vergeßt nicht, morgen die Casse nach Temesvar einzuliefern – werdet nicht viel darin haben – aber ’s ist Samstag. Regulativ-Paragraph siebenzehn! und überdies denkt daran, daß wir auf der Strecke die Strolche O. und K. zum Teufel jagten, die Ihr ja früher hier auf der Station hattet, und die Bescheid wissen; auch daß Cassenlieferungszeit ist. Die Kerls stehlen unverschämter, als es selbst hier in Ungarn zulässig ist. Paßt auf, daß sie Euch keine Visite machen. Gute Nacht, Janos!“

Die Dräsine des Strecken-Ingenieurs, von sechs kräftigen Armen getrieben, verschwindet im Abenddunkel und dem leichten Nebeldunste, der aus den hohen Kukuruzfeldern neben der Bahn blattduftig und durchsichtig sich über die Bahn legt. Janos bedeutet Alles in Allem auf der kleinen Station, die eigentlich nichts als ein halbverlorener Haltepunkt auf öder Bahnstrecke ist, von nur zwei Zügen täglich befahren. Er expedirt den Getreidejuden, der dem grundbesitzenden Cavalier, dem die Schulden an der Kehle stehen, das Getreide für ein Sündengeld auf dem Halme abgeschwindelt hat, oder den Schweinehändler, der die Kukuruzmast seiner „Waare“ inspicirt, oder den Wälderausschlächter, der eben wieder ein Stück Gesundheit, Klima und fruchtbares Wetter in Gestalt eines herrlichen Urwaldes, quadratmeilengroß, in Eisenbahnschwellen und Faßdauben verwandelt hat; oder den Sohn der Pußta, der in den nächsten Flecken zur Stuhlrichterwahl saufen geht – aber wenige von alledem fallen auf der abgelegenen Station auf die Bahn. Die Casse ist daher klein, und dem wackern Janos genügen zur Hülfeleistung ein alter Weichensteller, der einst bei einem Zusammenstoße aus einem „feschen Conducteur“ zu einem armen Krüppel wurde, und des Janos tüchtiges Weib, eine Sachsin aus Siebenbürgen, die lesen und schreiben kann und Herz und Kopf auf dem rechten Flecke hat. Heut ist sie zur Verproviantirung der wie eine Insel im Kukuruzmeere liegenden Station zur Stadt gefahren; der alte Weichensteller Ferenz hat Tagesdienst gehabt und Janos ist mit dem Kinde allein.

Im „Kukuruzmeere“ wahrlich liegt die Station! So weit das Auge reicht in Nord, Süd, Ost und West, Nichts als das übermannshohe Geröhricht der edlen Pflanze. Vom röthlichen Lichte des tiefstehenden, unvollkommenen Sonnenwendemondes im Südosten herab geht ein leichter Nachtwind über die unermeßliche Ebene durch das fruchtbare Ried hin, in dem der Büffel, der vom Sumpfufer der Berzaba heraufsteigt, schmale Pfade tritt, wie im baumhohen Grase der Savannen Amerikas. Der Kukuruz birgt hier den Betyaren und den Büffel so gut, wie das hohe Gras dorten den Bison und die scalphungrige Rothhaut. Und der Wind läßt hier nicht sanfte, weiche, duftende Wogen am Waldrande branden, wie in den blonden Fluthen des Getreides, sondern nur hohe Blüthenrispen, spitz und pfeilartig, millionenfältig glitzern und sich neigen, wie ebenso viel Hellebardenspitzen einer wandernden Heerschaar. Und drunter, im dunklen Gewirre der langen scharfen Blätter, blitzt es hier und da auf, wie von blanken Klingen und klirrt es leise, wie diese thun, wenn sie sich kreuzen. Und da und dort ragt es dunkel und schwarz empor, wie Masten von in diesem Meere gesunkenen Schiffen, an denen das Mondlicht blau herabrinnt. Es sind die Schwengel der Ziehbrunnen, die Wahrzeichen der ungarischen Ebene. Und die Luft ist voll, weit und breit, vom weichen behaglichen Gequake zahlloser Frösche („ungarische Nachtigallen“ nennt sie der Spöttermund der „Schwaben“[6]), die in den Wassergräben der Bahn, in den Lachen der Moorniederung hausen. Nur wenn, wie auf ein allgehörtes Commando, dies Getön, welches das Ohr seiner Unablässigkeit wegen nicht mehr hört, schweigt, wird man gewahr, daß es eben die Luft noch füllte, und hört das leise Rascheln und Klirren im Kukuruz und das ferne Brüllen der Büffel an der Theiß.

Die Eisenbahn hat „eine Furche gezogen“ in die Unermeßlichkeit des „Kukuruzmeeres“. Die Telegraphendrähte schweben darüber, wie blitzende Spinnweben im Mondlicht, und ferne Lichtpunkte künden, daß hier Menschen auf Menschen harren.

Das ist das Bild der ungarischen Ebene, grandiös in seiner schlichten Unermeßlichkeit wie Prairien, Pampas, Llanos und Savannen, und doch so viel freundlicher, menschennäher als jene; wie das unendliche ausgebreitete Nährfeld anmuthender ist, als das unabsehbare Jagdgebiet.

Die Zeit für den letzten der wenigen Züge, welche die Station passiren, ist da. Janos nimmt das Kind auf; den kleinen Gefährten seiner Einsamkeit, den er bis dahin, des Kühlwerdens der Nachtluft froh, spielend und schäkernd auf den Knieen gehalten, und trägt es in sein kleines Bett, das in der luftigen Wachstube steht, deren zwei Fenster, zum Ausguck, rechts und links auf die Bahn gehen. Dann zündet der treue Mann die Lampe auf dem Tische an, die seinem einsamen Nachtmahle [555] leuchten soll, und bereitet die Signallaterne für das Zeichen vor, das er dem herannahenden Zuge zu geben hat.

Es ist kein Bedürfniß da, ihn halten zu lassen. Kein Passagier begehrt den Zug zu besteigen, und auf Janos' kleinem Dienstgebiet ist alles in Ordnung, deshalb hat er dem Zuge das weiße, unveränderte Licht seiner Signallaterne zu zeigen, welches ihm zuruft. „Fahr zu, Alles in Sicherheit!“ Sorgsam entfernt daher Janos die bunten Scheiben aus dieser Laterne. Denn das durch die grünen hinausscheinende Licht würde den Zug ohne Anlaß zur „Vorsicht“, zum „Langsamfahren“ mahnen; das rothe aber ihm „Halt“ gebieten.

Und diesem Befehle, mit rothem Strahle hinausgeblitzt auf die Bahn, wagt kein Locomotivführer, kein Bremser auch nur einen Augenblick den Gehorsam zu versagen. Weiß er doch, daß Leib und Leben an diesem Augenblicke hängt. Ein „rothes Licht“, ein „Haltsignal“ auf offener Strecke wirkt auf das ganze Personal eines Zuges elektrisch, unwiderstehlich, wie das Aufblitzen eines feindlichen Schusses auf eine in der Nacht marschirende Colonne. Der Begriff „Halt“ durchfährt alle Sinne, alle Fäuste in jähem Ruck – denn vielleicht – liegt da, dicht vor ihnen, in der Finsterniß – Schreckniß und Tod.

Und die Dampfpfeife gellt in vielfach wiederholtem, schneidendem Aufschrei: „Alle Hand an die Bremsen“ und der Locomotivführer reißt die Hebel zurück, welche die Triebkraft der Locomotive nach rückwärts wirken lassen; und in rasender Hast dreht der Heizer die Kurbel seines kraftvollen Hemmwerks am Tender – und Funken sprühen von den brennenden Bremsklötzen empor, und blaues Feuer zeichnet das Gleiten der Räder auf den Schienen – bis der schnaubende, eiserne Koloß still steht.

Das magische, so mächtig und unwiderstehlich beherrschende Glas entfernt also Janos aus der Laterne und legt es sorgsam neben seinen milder herrschenden Genossen, das grüne, auf den Tisch, und zündet ihre Flamme an. Aufmerksam sitzt das Kindchen im Bette auf, seiner Arbeit zuschauend; in erst halb erlernter Sprache mühsam und gebrochen und doch kindlich unermüdlich plaudernd und fragend, so daß Janos endlich das krause dunkle Köpfchen mit ernster Mahnung, nun zu schlafen, auf das Kissen niederdrücken muß, ehe er, den Zug erwartend, vor das Haus tritt.

Das Kind aber schläft nicht – verstohlen hebt es das Köpfchen wieder empor. Da liegen sie ja, auf dem Tische, die wunderbaren Tafeln, durch welche die Mutter einmal seine dunkeln Augen in die Welt blicken ließ. Es war damals Winter und – doch – das eine machte, daß der ganze helle, grüne sonnige Frühling da war, und – vor dem andern fuhr es zurück – da brannte ja die ganze Welt! – Wie gern hätte das Kind das Wunder noch einmal gesehen – aber der Vater hatte mit harter Strafe gedroht, wenn es sich unterstünde eine der Tafeln in die Händchen zu nehmen – und da lagen die Tafeln jetzt, ganz wie des Kindes Schiefertafel, harmlos auf dem Tische, und der Vater war draußen, ach – nur einen Blick!

Indeß sitzt Janos vor dem Hause, auf dem Holzstumpfe, auf dem die Frau ihr Küchenholz spaltet, das Signal erharrend. Dienst und Kinder und Sorgen gehen im Halbschlummer an ihm vorüber. Da raschelt es knackend und schwer niedertretend im Kukuruz – das ist ein Büffel, der den Weg nach dem Wasser des Bahngrabens sucht! er kann über die Bahn trotten, wenn der Zug kommt, erreicht werden – ausgleisen machen mit seinem ungeschlachten Körper; eilig bückt sich Janos nach dem für solche Fälle unter dem andern Werkzeuge liegenden Stachelstock zum Treiben der Stiere – da – wird ihm eine dicke Bunda[7] über den Kopf geworfen, kräftige Arme umschlingen, ihn fast erstickend, seinen Hals; ehe er sich aus seiner gebückten Stellung aufrichten kann, ist er zu Boden geworfen und gebunden – aber, obgleich dumpf, dringt doch durch den seinen Kopf umhüllenden groben Stoff, laut genug die Raubgesellen zu erschrecken, sein Hülfsgeschrei. –

„Macht den Kerl doch stumm!“ hört er eine Stimme flüstern.

„Todtschlagen?“ fragt eine andere.

„Meinetwegen, rasch – rasch.“

„Nichts da! Nicht todtschlagen,“ flüstert eine dritte; „hat er Euch denn gesehen und erkannt? – Nein? – Nun, so stopft ihm nur das Maul tüchtig!“

„Womit?“

„Reißt die Signalfahne vom Stock – so – und nun haltet ihm die Nase zu. Sobald er das Maul aufthut, hinein mit der Fahne, unter die Bunda und tüchtig mit dem Knüppel hinterhergestoßen, erstickt er, ist's seine Sache – so, der ist jetzt stumm!“

Wie ein Bündel Holz wird Janos hinter einen Holzstoß geworfen, wo sein dick umhüllter Kopf schmerzlich gegen die Scheite schlägt. Da dringt es grell und dröhnend durch all die erstickende Umgebung an sein Ohr: Glockenschläge – eins – zwei – Pause – eins – zwei – das elektrische Signal des kommenden Zuges.

„Heilige Mutter Gottes, wenn der hielte, wäre Alles gerettet!“ denkt der Geknebelte in seiner Todesangst, „aber warum soll er halten?“ –

„Donnerwetter!“ hört er dann rufen, „da kommt der Zug, ich dachte, er sei längst vorüber. Wenn der hält, holt uns der Teufel. Geschwind die Laterne hinaus, da steht sie in der Stube. Weißes Licht gegeben, damit er vorbei stolpert. Gott verdammt! Ehe der Zug vorbei ist, kann nichts gemacht werden, die Casse ist festgeschraubt, wir brauchen Zeit!“

Janos hört die Thür schlagen, rasche Fußtritte mehrerer Männer.

„Hier ist die Laterne, gieb Du das Zeichen, Du verstehst's. Ihr Anderen tretet hier in den Schatten!“

Dann wird's still, ganz still. Da beginnt es in der Ferne klappernd zu dröhnen – der Zug! da ist der Zug! Das Dröhnen kommt näher, die Schienen beginnen leise zu klirren –

„O allergnädige Mutter Gottes, thue ein Wunder, halt ihn an!“ seufzt Janos; „ich hänge ein zinnern Wagenrädchen, drei Pfund schwer, in deine Kirche zu Maros!“

„Es wäre infam, wenn er hielte; da wäre Alles umsonst gewesen. Geschwind, weißes Licht! Hoch, hoch mit der Laterne! Recht sichtlich – so,“ ruft eine Stimme.

Da gellt ein langgezogener Pfiff der Locomotive durch die Nacht daher.

„Hurrah, er fährt durch!“ jubeln drei rauhe Kehlen.

„Alles verloren, was wird nun?“ denkt, halb erstickt, mit schwindenden Sinnen Janos.

Da folgen dem langen Pfiffe, gellend wie Nothschrei, kurz, abgestoßen, noch einer, zwei, drei, fünf, sechs.

„Hölle und Satan, der pfeift ja zum Bremsen und Halten!“ ruft eine der rohen Stimmen. „Gebt Fersengeld, der Teufel kommt! Schnell in den Kukuruz! Schlagt die Signallaterne entzwei! Klirrend fliegt sie an die Wand.

„Sollten wir nicht erst noch den Janos abthun?“

„Zu was? – Hallo, da sind sie schon!“

Der Kukuruz schlägt über den dunklen Gestalten zusammen; der Zug stiebt heran. Funken sprühen unter seinen gebremsten Rädern hervor, die Erde dröhnt, noch ein Keuchen, eine nach dem Monde hinaufgeblasene Dampfwolke – und er steht. Eine Anzahl uniformirter kräftiger Männer springen von den Wagen; voran der Oberconducteur, der rasch und offenbar zornig auf das Bahnhaus zuschreitet.

„Warum läßt man uns hier halten – und kein Mensch da? In des Teufels Namen, was soll das heißen? Warum hat man uns rothes Licht gegeben?“

„Hier, Herr Oberconducteur, liegt die Signallaterne zerschmettert, aber kein rothes Licht ist drinn.“

„Da ist etwas faul, durchsucht das Haus!“ befiehlt der Zugchef. „Wo sind die Leute? Hier ist nur ein kleines Kind im Zimmer – und hier stöhnt etwas hinter dem Holzstoß!“

„Da ist's – so wahr Gott lebt, ein geknebelter Mann – 's ist der Janos, Bahnwärter Nr. 128, und die Signalfahne als Knebel im Maule! Das sieht einem Besuche der Betyaren ähnlich, wie ein Ei dem andern. Weg mit dem Knebel! – Erzählt, Mann.“

Und Janos, nachdem der Halberstickte Athem geschöpft und seine Gedanken gesammelt hat, erzählt, was ihm geschehen, und äußert den Verdacht, daß es die entlassenen Leute gewesen sein könnten, da die Betyaren den Eisenbahndienst und seine Localität und die Ablieferungszeit der Casse offenbar gekannt haben müßten.

„Aber das Alles,“ unterbricht der Zugchef die breite Erzählung, „erklärt es noch nicht, daß wir das rothe Signallicht [556] bekommen haben. Die Räuber haben es uns doch gewiß nicht gegeben!“

„Ist auch unerklärlich für mich,“ sagte Janos nachdenklich mit gesenktem Kopfe. „Hatte doch selbst genommen Glas, rothes, aus Laterne –“ plötzlich erhebt er den Kopf strahlend: „Nein, Pane Oberconducteur, gnädigster – ist Wunder – ist Wunder – hat Mutter Gottes – Allergnädigste – erhört Gebet meiniges in Todesnoth und hat gegeben selbst Haltsignal rothes, mit Laterne weißer!“ –

„Schnickschnack, alberner,“ sagt der Oberconducteur halb lachend, halb ärgerlich[WS 2], „untersuchen wir die Sache! Kommt Janos, zunächst in die Wachstube.“ Die Männer treten ein. Das Kind sitzt erschrocken auf dem Tische vor der Lampe; als Janos eintritt, läßt es entsetzt die rothe Glasscheibe, die es in den Händchen hielt, fallen und streckt weinend die Arme Janos entgegen.

„Nicht böse sein, Papa! nicht schlagen, Licht so schön roth, hier – draußen – überall. Bitte, bitte, nicht schlagen!“

„Da haben wir ja den kleinen Signalisten,“ ruft der Oberconducteur lachend. „Das kleine Mädel hat durch die Scheibe vor der Lampe geguckt und draußen gab das ein rothes Signal. Janos, Janos, wenn's auch die Mutter Gottes nicht gethan hat, ein Wunder ist wirklich an Euch geschehen. Ohne den kleinen Balg hätten sie Euch doch noch am Ende die Windpfeife zugeschnürt – von der Casse gar nicht zu reden. Die Sache ist aufgeklärt; fahren wir weiter. Ich lasse Euch den Zuggensd'arm hier. Gute Nacht!“

Der Zug rollt von dannen. Janos hält, mit heißen Augen vor sich hinstarrend, das Kind im Arme.

Am andern Tage fährt der Streckeningenieur, auf seiner Dräsine heimkehrend, am Bahnhause Nr. 128 vorbei.

„He, Janos! Guten Morgen; gratulire Euch, daß man Euch noch gratuliren kann. Drinnen auf der Hauptstation hat die Geschichte Alle gerührt; sie schicken Euch heute ein Fäßchen Erlauer. Laßt das Mädel nicht zu viel davon trinken. Ihr seid aber doch kein Narr gewesen, als Ihr das Kind behieltet. Adieu!“




Charlotte Venloo.
Von E. Werber.
(Fortsetzung.)

Die Arme um eine Säule des Kamins geschlungen, stand Charlotte, weiß wie ihr Gewand, auf das vom rechten Arme kleine Blutstropfen niederfielen; in der Mitte des Zimmers stand, hochaufgerichtet und uns mit kühnem Blicke messend, Vialez.

„Was thun Sie hier?“ fragte Henry und wollte zu Charlotte eilen. Vialez vertrat ihm den Weg: „Mein Lieber,“ sagte er mit kalter Höflichkeit, „nicht zu viel Eifer – ich bitte. Was wollen Sie hier, im Zimmer meiner Frau?“

Henry taumelte und blickte mich starr an.

„Sie haben Madame Venloo verwundet,“ rief ich entrüstet.

„Nicht doch!“ sagte er kalt. „ich bin kein Bösewicht, kein Bandit, kein Mörder. Meine Frau wollte mir nicht glauben, daß ich lebendig bin; sie hielt mich für ein Gespenst. Um ihr zu beweisen, daß ich lebe, schloß ich sie in meine Arme, und da sie sich immer noch fürchtete, wollte sie sich von mir losreißen und ritzte sich – ich weiß nicht an was.“

Wir standen sprachlos. Charlotte heftete wie eine Wahnsinnige ihre entsetzten Augen auf Henry.

„Sie werden nun die Güte haben, meine Herren, sich zu entfernen,“ fuhr Vialez fort. „Ich habe meine Frau seit zwei Jahren nicht gesehen; ich liebe sie und habe ihr Vieles zu sagen –“ Bei diesen letzten Worten blickte er nach Charlotte zurück.

Ich fragte mich, ob Vialez verrückt sei oder Henry und ich.

„Madame,“ sagte jetzt Henry mit bebender Stimme, „ist Herr Vialez Ihr Gemahl?“

„Sie zweifeln?“ rief Vialez lächelnd.

Charlotte antwortete nicht; sie blickte immer noch in Henry's Auge. Henry fragte sie noch einmal: „Ist Vialez Ihr Gemahl?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte sie.

„Sie wissen es nicht? Wie ist das möglich?“

„Mein Mann liegt in Barcelona begraben; ich habe an seinem Grabe gebetet.“

„Sie hält mich immer noch für ein Gespenst,“ sagte Vialez.

„Aber dieser Mann ist kein Gespenst, Madame, ich kenne ihn – er ist ein Mensch, ein Mensch von Fleisch und Blut.“ Ich dachte durch diese Worte sie zu beruhigen, sie aber schauderte vom Scheitel bis zum Knie.

„Ich bitte Sie zum zweiten und letzten Male sich zu entfernen,“ sagte Vialez mit schneidender Kälte.

„Bleiben Sie!“ rief Charlotte gebietend.

Vialez’ Gesicht flammte auf. „Charlotte, Sie haben sich sehr verändert. Sie sind nicht mehr das sanfte Kind, welches ich an den Altar führte.“

„Sie haben die Stimme meines Mannes, aber nicht sein Gesicht,“ sagte Charlotte, die aus ihrem Entsetzen erwacht war.

„Ja, Sie haben einen schönern Mann den Ihren genannt, und jetzt steht ein häßlicher vor Ihnen. Die Blattern haben mein Gesicht häßlich tätowirt, und ich begreife, daß ich Ihnen nicht mehr gefalle, schöne Frau. Aber gestehen Sie, daß ich wenigstens meine Augen behalten habe, die Ihnen so gut gefielen! – Nicht wahr, Donna?“

Wie klang seine Stimme traurig!

Sie ertrug seinen flehenden Blick und sagte: „Legitimiren Sie sich beim Gesandten!“

„Aber,“ warf ich ein, „Vialez ist ja ein naher Bekannter, ein Freund des Gesandten.“

„Vialez – das ist möglich. Allein mein Mann hieß nicht Vialez, sondern Huesbar,“ rief Charlotte.

„Ha! Ein Funke, ein Licht!“ sagte Henry. „Sind Sie der ehemalige Präsident der spanischen Zollämter?“

Auf Vialez’ Lippen trat ein Lächeln, aber auf seiner Stirn schwoll eine dunkle Ader. „Haben Sie vielleicht den Präsidenten Huesbar gekannt?“ fragte er.

„Nein,“ antwortete Henry ruhig. „aber ich war in Barcelona, als er dort an den Blattern starb, zu seinem Glücke, denn er wäre wegen Betruges zur Galeere verurtheilt worden.“

Vialez lachte. „Und Sie glauben, daß ich aus dem Grabe gestiegen bin, um mich zur Galeere verurtheilen zu lassen? Wahrlich, diesen Ehrgeiz hat Vialez nicht. Ich habe einen süßeren, weit süßeren Ehrgeiz, den, meine Frau zu besitzen. Die Liebe ist das Einzige, was wirklich ist; alles Andere ist nichts. Was ist es, hochgesteckt, gelehrt und berühmt zu sein? Die Frauen waren stets mein Durst und mein Ehrgeiz, und – ich habe sie beherrscht, alle, blonde und schwarze, sanfte und stolze, hohe in rauschenden Seidengewändern und niedere in erbärmlichen Kattunröckchen. Ich knickte den Fächer der Dame und schloß den lachenden Mund der Bäuerin; ich machte die Castagnetten der Tänzerin verstummen und entwand den Rosenkranz den frommen Händen der Beterin. Ich siegte auch hier“ – er zeigte auf Charlotte, die den Blick zu Boden schlug und sich fester an die Säule drückte. „Aber die Besiegte besiegte mich, die sanfte Taube sog mir das Mark aus der Seele und machte aus mir einen demüthigen, einen treuen Mann. – War es nicht so, Charlotte?“ fügte er weich hinzu.

Nach einem tiefen Athemzug sagte sie: „Wenn Sie nicht der Präsident Huesbar sind, so sind Sie auch nicht mein Gemahl.“

„Charlotte!“ stöhnte Vialez.

„Wenn Sie Ihre Rechte an mich geltend machen, so haben Sie vorerst den Muth, zu gestehen, daß Sie der zur Galeere Verurteilte sind!“

„Und wenn ich es gestünde, was gewännest Du dabei, Charlotte? Ich nähme Dich mit mir in’s Gefängniß und in den Tod.“

„Nicht in’s Gefängniß und nicht in den Palast, nicht in die Hölle und nicht in den Himmel! Wir sind geschieden, wie das Wasser vom Feuer geschieden ist,“ rief Charlotte, ihn mit einem vernichtenden Blicke messend.

[557] „Bei Gott, Du bist ein kühnes Weib, Charlotte, und meines Hasses, wie meiner Liebe werth. Denn ich kann hassen – glaubst Du es nicht, Charlotte?“

„Ja, ich glaube es, aber ich fürchte mich nicht vor Ihrem Hasse.“

„Nicht? O – o! – ich will Dir die Furcht lehren, Charlotte, wie ich Dir die Liebe lehrte. Aus Deinen schönen Augen, die ich sonst mit meinen Küssen schloß, will ich die Wasser des Leidens quellen lassen. Deine stolze Seele will ich martern, wie die Knaben den Schmetterling an eine Nadel stecken und ihn jeden Tag ein wenig tiefer rücken, recht langsam – o! – ich will Dich züchtigen mit meinem Haß, mit dem Haß der Liebe.“

„Ihre Worte sind unedel, empörend. Enden Sie diese Scene, entfernen Sie sich!“ rief Henry.

„Und mit welchem Rechte gebieten Sie hier?“ fragte Vialez ruhig.

„Mit dem Rechte der Freundschaft,“ erwiderte Henry fest und würdevoll.

„Ah! Sie sind ein Freund meiner Frau, Sie auch wahrscheinlich?“ – hier sah er mich an.

„Ich habe die Ehre, ein Freund der Madame Venloo zu sein,“ sagte ich mit einer Verbeugung.

„Vortrefflich! Und wo, wenn ich fragen darf“ – er setzte sich in einen Fauteuil und nahm die freie, sichere Haltung eines Mannes an, der sich zu Hause fühlt – „wo hat sich diese Freundschaft geschlossen?“

„Wünschen Sie, daß ich spreche?“ sagte Henry sich zu Charlotte wendend. Sie nickte.

„Wir wurden Freunde durch einen Schiffbruch auf der Ueberfahrt von Dover nach Ostende. Von achtzehn Menschen blieben sechs am Leben, und unter diesen befanden sich Madame Venloo und wir Beide.“

„Und wahrscheinlich haben Sie zur Rettung dieses schönen Wesens beigetragen? Ich müßte Ihnen für diese Ritterdienste die Hände drücken, wollte ich nicht lieber meine Frau auf dem Grunde des Meeres wissen, als sie so, so zu finden.“

„Juan!“ rief Charlotte mit Entrüstung und mit einem Blick voll verzehrenden Feuers.

„Juan!“ wiederholte er leise, und seine tiefe Stimme bebte. „Juan! So hast Du meinen Namen nicht vergessen, Charlotte? – Ich danke Dir.“

Er stützte seinen Kopf in beide Hände. Henry sah mich bedeutungsvoll an und dann die arme Charlotte, die ihre Stirn an die Säule drückte.

„Weißt Du noch, Charlotte,“ sagte Vialez weich, seinen Blick – o welch einen Blick! – auf ihre zarte Gestalt heftend, „weißt Du noch, was mir geschah, als Du mich zum ersten Male ‚Juan‘ nanntest?“

Charlotte blieb stumm und unbeweglich.

„Weißt Du es nicht mehr, Charlotte?“

„Erbarmen!“ wimmerte sie.

Ein Lächeln voller Seligkeit schwellte Vialez’ Lippen und goß einen Schimmer von Schönheit über sein häßliches Gesicht; sein Auge glänzte feucht, und seine schönen Hände zitterten. Mit einer Stimme, weich, verführerisch, wie ich niemals eine gehört, sagte er langsam:

„Es war spät am Abend – ich geleitete Deinen Vater nach Hause. Deine Laute klang von den dunkeln Gebüschen des Gartens herüber. ‚Gehen Sie dorthin!‘ flüsterte Dein Vater lächelnd, ‚und sagen Sie Charlotten gute Nacht!‘ Wir waren schon Verlobte, und ich war sehr glücklich, aber ich hatte doch einen großen Kummer; Du nanntest mich immer Don Huesbar, obschon ich Dir so oft gesagt: ich heiße Juan. Ich fand Dich unter einem Granatbaume sitzend, ganz vom Mondlicht übergossen; um Dich herum lagen abgefallene Blüthen, und der Geruch der Orangenbäume wob um Dich einen heiß duftenden Schleier. Mit verliebter Ehrfurcht küßte ich Deine Hände. – ‚Setze Dich, Don Huesbar!‘ sagtest Du. ‚Juan,‘ bat ich, ‚Juan!‘ ‚Nein, ich kann es nicht,‘ flüstertest Du. Ich schwieg. Die Nacht zog stille Zauberkreise um mich, und ich küßte das Spitzentuch, welches Deine Schultern verhüllte. Da schobst Du mich sanft zurück und sagtest: ‚Dieses muß ich Dir verweisen, Don Huesbar.‘ ‚Juan,‘ bat ich, ‚Juan!‘ ‚Es ist gar nicht schicklich, daß man einem Mädchen so das Spitzentuch zerreiße, Don Huesbar.‘ ‚Juan,‘ bat ich, ‚Juan!‘ ‚Nein, ich kann es wahrlich nicht,‘ seufztest Du. Ich saß stille und verschüchtert und wagte kaum noch Deine Hand zu küssen, und wir sprachen lange nichts. Die Nacht war so stille. Ein leises, schnelles Pochen wurde hörbar. Du blicktest mich an und fragtest: ‚Was klopft nur so?‘ ‚Das – das thut mein Herz,‘ sagte ich. Da nahmst Du meinen Kopf in Deine Hände, hier, an den Schläfen, und hauchtest: ‚Juan!‘ Und da, da vergingen mir die Sinne. – Mit einem nassen Tüchlein wecktest Du mich wieder und führtest mich bis zur Gartenthür und sagtest: ‚Gute Nacht, Juan!‘ Um drei Uhr Morgens, als die Sterne bleich wurden, stand ich noch vor der Gartenthür, und als dann die Bauern zur Stadt herfuhren, ging ich mit diesem Gedanken: Ich habe meinen guten Engel gefunden.“

Vialez schluchzte. – Charlotte sank gebrochen auf den Divan, der beim Kamine stand. Und Henry? Er drückte eine Hand auf die Stirn, die andere auf das Genick, wie Einer, dem der Kopf zerspringen will.

„Henry, laß uns gehen!“ sage ich.

Vialez erhob eine Hand: „Nein, bleiben Sie! Meine Frau liebt Einen von Ihnen – welchen?“

In diesem entsetzlichen Augenblicke trat Caspar Raick herein:

„Don Huesbar – hier, hier finde ich Sie?“ Es lag ein solcher Schmerz in des alten Mannes Stimme, daß ich bis in’s Mark davon erschüttert wurde. „Meine Tochter, mein einziges Kind ist verführt, entflohen mit Ihrem Burschen, Sie haben mein Kind verführen lassen, um Ihren Zweck zu erreichen. Fluch –“

„Halt!“ rief Vialez und richtete sich hoch auf. „Armer, alter Mann, ich habe keine Schuld an Ihrem Gram. Ihre Tochter war im Einverständniß mit meinem Eusebio, noch ehe ich eine Ahnung davon hatte. Ich wußte nicht, daß Marion Ihre Tochter ist; ich wußte nicht, daß Sie hier sind; ich wußte nicht, daß Madame Venloo – meine Frau ist. Ihre Tochter erzählte Eusebio, ihre Herrin sei eine Spanierin, es sei etwas Geheimnißvolles in ihrem Leben, und mehrere andere Umstände, welche – denn Eusebio verschwieg mir nichts – meine Aufmerksamkeit, meinen Verdacht erweckten. Ich gab Eusebio den Auftrag, Marion dazu zu bestimmen, mir die Gelegenheit zu verschaffen, die geheimnißvolle Dame sehen zu können. Sie verrieth ihm die gestrige Ausfahrt; das Weitere errathen Sie. Oder nicht? Gut, so werde ich ausführlicher sein. Durch Eusebio ließ ich Marion bestimmen, mich im Geheimen in Madame Venloo’s Zimmer einzuführen; sie that es heute, als die Dunkelheit anbrach. Fürchtend, ihre Handlung möchte eine schwere Strafe nach sich ziehen, bat sie mich um meinen Schutz. Ich gab ihr einige Zeilen an die Aebtissin der Ursulinerinnen, Rue d’Isabelle; dort werden Sie sie finden. Eusebio ist in meinem Hause, in seinem Zimmer. Sie können sich davon überzeugen.“

„Verzeihung, Verzeihung, theures Kind meines Herrn, meines Wohlthäters!“ rief Caspar und sank vor Charlotte auf die zitternden Kniee. „O, daß mein, mein Blut Sie verrathen hat!“

„Sei ruhig, Caspar!“ sagte sie und hob den alten Mann auf. „Du hast ja keine Schuld. Marion ist auch nicht so schuldig, wie Du glaubst. Das hat so kommen müssen.“

Caspar fuhr mit der Hand über die nassen Augen und fragte, dicht vor Vialez tretend: „Was denken Sie nun zu thun, Don Huesbar, Präsident?“

Gereizt antwortete Vialez: „Ich gedenke meine Frau mit mir zu nehmen.“

„Haben Sie den Muth, Ihre Frau der Schande auszusetzen?“

„Alter Mann, hättest Du nicht weiße Haare, so würde ich Dir lehren, wie man zu Don Huesbar spricht,“ erwiderte Vialez düster.

Caspar war ein derber Niederländer, auf den die spanische Ritterlichkeit keinen Eindruck machte. „Don Huesbar,“ sagte er rauh, „ich habe dem sterbenden Vater dieser Frau versprochen, ihr ein Vater zu sein, wenn sie einen braucht. Als solcher spreche ich jetzt zu Ihnen und nicht als der Diener, der ich war. Als Vater dieser Frau werde ich handeln, und sollten Sie dadurch zu Grunde gehen.“ Und nun wandte er sich zu Henry und mir: „Meine Herren, was ich jetzt mit Don Huesbar zu reden habe, verträgt keine Zeugen.“

[558] „Im Gegentheile,“ rief Vialez und bot uns mit seiner gewohnten Courtoisie Sitze an. „Im Gegentheile, ich wünsche, ich bitte, daß die Herren hier bleiben und Zeugen unserer Unterredung seien.“

„Nun, auf Ihren ausdrücklichen Wunsch,“ versetzte ich. Henry war keiner Worte fähig.

„Sie werden mich zu Dank verpflichten. Charlotte, erlauben Sie, daß die Herren hier bleiben?“

„Ja,“ sagte sie und blickte dann nach Henry, der sich den Schweiß auf der Stirn trocknete.

„Ich danke Ihnen, Charlotte. Und nun, mein Schwiegervater der Zweite, reden Sie!“ Mit diesen Worten setzte er sich mit der Ruhe eines Staatsmannes.

Nach einer Pause, in welcher die goldene Pendeluhr auf der Commode zehn heisere Schläge that, fing Caspar Raick an:

„Don Huesbar, als Ihre Frau in Madrid die Nachricht erhielt, Sie seien an den Blattern in Barcelona erkrankt, warf man ihr, am gleichen Tage, mit Steinen die Fenster ein.“

„Arme Charlotte!“ rief Vialez.

„Sie kannte die Ursache dieser Beschimpfung nicht. Perez, Ihr wüthendster Feind, schrieb ihr am Abend:

‚Donna, Ihr Gemahl ist wegen Betruges angeklagt. Es ist bewiesen, daß er, der Präsident aller Zollämter des Königreichs, seit Jahren im Geheimen den Schleichhandel an der Küste und im Gebirge beschützte und so der Krone ungeheure Summen entzog, während er selbst großen Gewinn davon hatte. Sollten Sie öffentliche Beschimpfungen erleiden, so stellen Sie sich unter meinen Schutz!‘“

„Sind Sie zu meinem Feinde gegangen, Charlotte?“ fragte Vialez.

„Nein, ich ging zu Ihnen.“

„Charlotte!“ rief Vialez und wollte sich erheben. Sie sagte schnell:

„Nicht aus Liebe, denn ich liebte Sie nicht mehr; ich ging zu Ihnen, um Ihnen Geld zur Flucht zu bringen.“

„Geld!“ sagte Vialez mit dumpfem Tone.

„Als ich mit Caspar nach Barcelona kam und in’s Hospital, wo Sie krank gelegen, sagte man uns, Sie seien todt und begraben. Ich ging auf den Friedhof, betete auf Ihrem Grabe und ließ Ihnen einen Denkstein setzen. Wer ruht in jenem Grabe? Wem habe ich den Denkstein setzen lassen?“

„Einem Manne aus Cuba, dem Sennor Berduz.“

„Und wie ging dies zu, Don Huesbar?“ fragte Caspar.

(Schluß folgt.)




Bestrafter Vandalismus.

Es war eine reizende Schilderung, welche vor fünfzehn Jahren in unserer „Gartenlaube“ M. M. von Weber dem Elbgestade der sogenannten Sächsischen Schweiz widmete. „Fast vertikale Felswände,“ schrieb er, „auf deren Vorland und Kamm kräftiger, duftreicher Forst von kerzengeraden Tannen und hellgrünen Buchen und Birken sich emporstreckt, in deren kühlen, quellenreichen Schluchten, von keinem Windzuge berührt, das edle Farrnkraut seine tropischen Formen in üppiger Fülle aus tiefem Moose auftreibt und Wald von zauberischem Grün seine sonndurchglitzerte Wölbung gegen einen schmalen Streifen blauen Himmels abschließt, begleiten links und rechts den mäandrischen Lauf der Elbe von der böhmischen Grenze bis Pirna herunter. Das tausendfache Echo dieser Felswände, an deren barocken, bald gnomenhaft hockenden, bald langgedehnt in die Luft strebenden Formen der Schall sich wunderlich bricht, leiht dem engen Stromthale eine wohllautvolle, nie ermüdende Stimme. Das tiefe, wandernde Sausen des Waldes mischt sich hier mit dem rauschenden Ruderschlage fernherkommender Dampfböte, dem weithinschallenden monotonen Rollen der Eisenbahnzüge, dem Murmeln des Stromes und dem Brausen der Mühlen in den Gründen zu einer melancholisch tönenden, aber beredten Sprache unendlichen Lebens.“ Leider ist diese Schilderung nur noch zum Theil richtig. Auf drei Viertheilen der angegebenen Strecke, von Pirna bis Schandau, ist die ehemalige Fels- und Waldpracht der Ufer vernichtet, häßliche gelbe Sandhalden stoßen an den Strom und ziehen sich hinauf bis zu dem gespaltenen Gesteine, über dessen grell leuchtenden Wundflächen noch ärmliche Reste des ehemaligen Uferschmuckes stecken, die Niemand ohne Entrüstung ansehen kann. Nur der böhmische Elblauf von Tetschen und die kurze sächsische Strecke bis Schandau zeigen uns noch das Gestade in seiner wirklich entzückenden Herrlichkeit; von da an besteigt der Reisende am besten den Eisenbahnwaggon und drückt die Augen zu, um an den Zeugnissen eines Raubbaues, wie er nicht ärger getrieben werden kann, unverletzt in seinen Gefühlen vorüber zu kommen.

Wenn Mißbrauch durch das Alter geweiht werden könnte, so wäre hier freilich die Weihe vollständig. Da zwar das Resultat vor Aller Augen steht, die Art dieser Felsenverwüstung zur billigsten Bausteingewinnung jedoch weniger bekannt ist, so lassen wir hier die zu obiger Elbthal-Schilderung gehörige Beschreibung[8] derselben aus der Feder des auf diesem Gebiete sachverständigen M. M. von Weber folgen: „Seit den Jahrhunderten,“ sagt er, „in denen aus dem berühmten, schönen Steine, welcher ‚Pirnaischer Sandstein‘ heißt, in Nähe und weiter Ferne Kirchen und Brücken, Paläste und Festungsmauern, Museen und Wohnhäuser gebaut worden sind, wird dieser Stein in unveränderter, unverbesserter, gefahrvoller Weise gewonnen.

In mehr oder minder mächtigen, fast ganz horizontal gelagerten Bänken, die unter einander so gut wie gar nicht verbunden sind, thürmt sich dieser Thonsandstein zu den Felsen der Sächsischen Schweiz auf. In höchst unregelmäßiger Vertheilung durchfahren diese Bänke Verticalklüfte, die meist mehrere derselben mit scharfen, glatten Flächen durchschneiden. In der Steinbrechersprache heißen die Klüfte ‚Lose‘, d. h. Stellen, wo der Stein selbst losbricht, wenn ihm seine Unterstützung genommen wird. Auf diese Formation des Sandsteins der Sächsischen Schweiz gründet sich die Methode von dessen Gewinnung.

Man sucht eine Felsmasse guter, bauwürdiger Beschaffenheit aus, die durch ‚Lose‘ von der Gesammtmasse genügend getrennt erscheint. Einen solchen Felsenkörper nennen die Steinbrecher ‚eine Wand‘. Man arbeitet die unterste Felsenbank desselben so lange und so tief heraus, bis die Masse sich in verticaler Richtung in den Losen, in horizontaler, vermöge des Durchbrechens der festen Bänke, vom Felsen trennt, das Uebergewicht nach vorn bekommt und, sich selbst in leichter behandelbare Stücke zertrümmernd, zusammenstürzt. Die so mit einem Male herabgeworfenen Massen variiren an Gewicht von zehntausend bis mehrere hunderttausend Centner.

Wie nahe der Augenblick des Ueberstürzens an den des Feststehens grenzt, wie schwer sich alle Einwirkungen von Nässe, Temperatur, wechselndem Anquellen und Zusammentrocknen des Erdreichs, der Wechsel der Cohäsion und Reibung des Gesteins, Angesichts so ungeheurer, unregelmäßiger Massen, deren Schwerpunkt nur ganz ungefähr zu taxiren ist, abschätzen lassen, liegt auf der Hand, und damit tritt auch das ganze, ungeheure Maß der Gefahr, das mit den letzten Arbeiten beim ‚Hohlmachen‘, so heißt in der Steinbrechersprache das Unterminiren der Felswände, verknüpft ist, vor die Seele. Aber diese Gefahr wird noch wesentlich durch die Form, in der die Arbeit ausgeführt wird, vermehrt.

Meist wird, um Gestein, Material und Arbeitslohn zu sparen, die ‚Hohlung‘, welche oft 20 und 30 Ellen tief, bei einer Breite von 30 bis 100 Ellen, in den Felsen hineinreicht, so niedrig gemacht, daß der Arbeiter nur liegend arbeiten kann, indem er auf einem Strohkissen mit der linken Schulter ruht und nur kriechend die furchtbare grabähnliche Kluft zu verlassen im Stande ist. An ein schnelles Entfliehen ist daher, wenn ‚die Wand‘ Zeichen von Bewegung geben sollte, nicht zu denken.

Die ersten dieser Zeichen bestehen in dumpfen, kanonenschußähnlichen Knallen im Innern der Felsmasse, wodurch sich das Durchbrechen der Gesteinbänke zu erkennen giebt. Die Steinbrecher

[559]

Der Wandsturz bei Wehlen in der Sächsischen Schweiz.
Nach der Natur aufgenommen von Albert Richter in Dresden.

[560] sagen, wenn diese schauerlichen Warnungssalven aus dem Innern des Gebirgs heraus erschallen: ‚die Wand schreit‘. Stählerne Nerven gehören dazu, um es bei diesen Dröhnungen in der Nähe einer solchen Wand auszuhalten!

Meist aber dauert dies Knurren im Felsenstocke Tage und Wochen lang, ehe sich eine merkliche Bewegung der Wand zeigt. In Steinbrüchen, welche mit einiger Vorsicht betrieben werden, unterstützt man, vom ersten Schreien der Wand an, dieselbe mit einer großen Anzahl mannsstarker Stempel von kräftigem Holz, um dem allzu plötzlichen Sturze vorzubeugen.

Sorgsam legt der gewissenhafte Bruchmeister zwischen einige dieser Stempel und die Felsendecke alte Tassen, Pfeifenköpfe oder die Scherben des Bierseidels, das bei der letzten Flucht von stürzendem Gestein zerschlagen wurde. Das allergeringste Herabrücken der ‚Wand‘ zerdrückt diese Scherben dann mit lautknirschendem Klirren. Dies ist den in der Höhlung Arbeitenden dann das Signal zu eiliger Flucht. Kaum aber haben die Symptome der Bewegung wieder aufgehört, hat die Wand sich wieder ‚gesetzt‘, so sieht man auch die tollkühnen Steinbrecher wieder in die schauerliche Gruft der ‚Hohlung‘ kriechen, und auf’s Neue hört man, tief hinten in der feuchten, niedrigen, lichtlosen Kluft allenthalben Eisen auf Stein klingen, um die Hohlung noch tiefer zu machen.

Nach den ersten deutlichen Bewegungen der ‚Wand‘ hört das Knacken, Knallen und zornige Poltern im Innern des in seiner Ruhe gestörten steinernen Riesen nicht auf. Da hört man Sand rieseln, Kiesel in Spalten kollern; Gesteinschalen lösen sich und schlagen klatschend herab, Felsbänke verschieben sich mit tiefem, mächtigem Knirschen, und in den oben erwähnten Losen lockert sich Geröll und Lehm und zeigt die tief hineingehenden, trennenden Spalten. Und endlich löst sich auch der moosige Waldboden auf dem Kamme der Wand! Die alten Stämme, die seit hundert Jahren die Zweige im Sturme kämpfend verschränkten, rücken auseinander; die uralt verschlungenen Wurzeln zerren sich wundgerungen aus dem dichten Geflecht, das zerrissene Moos hängt in Festons in der neuerstandenen Kluft, und ein Stück duftender, rauschender Wald neigt mit der sinkenden ‚Wand‘ dem kahlen steinigen Abgrunde zu.

Ist es aber so weit nun mit dem sterbenden Felsgliede, dann werden, von vorsichtigen Brechern, Reihen von mächtigen Holzkeilen auf der Höhe in die gebildeten Spalten getrieben, ein Theil der stützenden Stempel wird dünn gehackt und der Rest mit tiefen Bohrlöchern versehen, die man mit Pulver füllt und mit langsam brennenden Zündern versorgt. Mit gewaltigen Holzschlägeln wird, von colonnenweis aufgestellten Leuten, oben auf die Keile geschlagen und Keil vor Keil gesetzt, wie der Spalt sich weitert und der Felskoloß sich neigt. Ununterbrochener wird Knallen, Prasseln, Rieseln und Kollern im Innern – jetzt neigen sich die ersten Stämmchen auf dem Kamme und stürzen mit einem mächtigen Gusse von Schutt in die Tiefe, jetzt folgen ihnen große Geröllsteine und donnern, in Staub zerberstend, auf das Holz herab – jetzt lösen sich Schalen, Hunderte von Centnern an Gewicht, und erfüllen das Thal mit hallendem Donner. Immer leichter ziehen die Keile! Jetzt wird von einem beherzten Manne Feuer an die Zünder in den stützenden Stempeln gelegt. Weit hinaus weckt der Knall des zersplitternden Holzes das Echo der Waldberge, der leichte, blaue Pulverrauch wirbelt empor. – – Jetzt der zweite Schuß, der dritte, fünfte, zehnte – das Echo braust ununterbrochen – die Wand hüllt sich in blaue Pulverschleier! – Da schüttelt sie plötzlich die Krone von Wald von ihrer hohen Stirn – mit stöhnendem Sausen stürzen die Reihen der Fichten, in der Luft wirbelnd, mit Grund und Boden, Schutt und Land in die Tiefe. Ein Katarakt von Geröll folgt! – ‚Die Wand kömmt!‘ Die Erde scheint sich zu spalten, denn riesige Risse schießen, so weit und breit der Blick die Felswand umfaßt, über die hohe Steinmasse dahin. – Dem Zuschauer schwindelt – die Grundfeste der Erde scheint in Bewegung – die Wand neigt sich – und nun ist nichts als Erdezittern und Donnern und Durcheinanderwälzen von Felsblöcken und unermeßliches Staubgewölk, über das, wie vulcanisch geschleudert, Baumstämme und Felsen emporspringen und aus dem hervor eine Anzahl hausgroßer, unförmlicher Blöcke, wie eine Heerde wildgewordener Elephanten, den Wald wie Gras zerquetschend, hinunter nach dem Strome setzen. – Und die ganze Atmosphäre ist nur eine Sturmesbewegung von Schall und Luftdruck – und dann wieder vollkommene Todesstille. Die erschütterten Menschen schweigen, wie die erschrockenen Vögel. – Alles ist vorüber, und nur der Fels sieht so ganz anders aus, wie seit zehntausend Jahren. –

So fällt die vorsichtig gefällte, glücklich stürzende Wand.“

Daß aber die größte Vorsicht nicht vor unvermuthetem Sturz einer Wand schützt und wie Unvorsichtigkeit sich rächt, dafür hat die jüngste Zeit zwei Beispiele gegeben: jenen Bergsturz bei Schandau, am 25. Januar 1862, und den jüngsten unweit Wehlen, am 23. Juli dieses Jahres. Beide waren vom höchsten Glück begleitet: bei dem furchtbaren Ereigniß ging kein Menschenleben verloren. Aber ein Unterschied herrscht zwischen beiden: bei Schandau wurden vierundzwanzig verschüttete Steinbrecher mit ewig bewundernswürdigem Heldenmuth unter Tausenden von Centnern Gesteins hervor gerettet – und bei Wehlen hat der sträflichste Leichtsinn viele Menschen in äußerste Lebensgefahr versetzt.

Auch der prachtvolle Stromschmuck in der Nähe der allbekannten Basteifelsen mußte der Speculation zum Steinopfer fallen. Eine sehr hohe Wand war durch „Hohlmachen“ zum Sturz vorbereitet. Man mußte obrigkeitlich die Möglichkeit, daß Gestein in den Fluß fallen könne, voraussehen, denn die Bruchunternehmer hatten für etwaige Räumungskosten eine ansehnliche Caution erlegt. Noch am Sonntag, den 22. Juli, stand die Wand ruhig. Die Anzeichen des nahe bevorstehenden Sturzes bemerkte man am folgenden Tage gegen sechs Uhr Abends. Von da an war auf keines Augenblickes Länge mehr der Niederbruch zu berechnen. Die Warnungsposten standen an den Ufern. Da kommt sieben Uhr fünfzehn Minuten das Dampfschiff stromab von Rathen her. Das vom Ufer aus gegebene Signal zum „Stoppen!“ wird auf dem Schiff nicht verstanden; es fährt ruhig vorwärts. Endlich merkt man auch dort die Gefahr, aber indem die Schaufelräder zum Stillstand gebracht werden, rufen die „Hohlmacher“: „Die Wand steht still“ und der Bruchmeister giebt das Signal: „Passiren mit voller Kraft!“ So fuhr das Schiff hart am drohenden Felskoloß über die Stelle hin, auf welcher fünf Minuten später Tausende von Centnern riesiger Felsentrümmer das Strombett bedeckten. Schon eine Minute nach der Vorüberfahrt des Dampfers erdröhnte im Innern des Bergs das Krachen vor dem Sturz. –

Da an die unterhöhlte Wand eine größere Masse Gesteins in der Höhe sich zum Sturze anschloß, als fachmännisch angenommen werden konnte, so überschlug sie sich und sperrt nun mit den zerrissenen ungeheuren Fetzen der einstigen Uferzierde drei Viertheile des Stromes.

Ob nach solchen Erfahrungen dem so ehrwürdig alten und beliebten Raubbau zur Steingewinnung im Felsenpark der Sächsischen Schweiz ein Ende gemacht werde, ist in Geduld abzuwarten. Verschweigen dürfen wir aber nicht die Wahrnehmung eines Berichterstatters des „Leipziger Tageblattes“. Er sagt: „Zu dem weltberühmten ‚Basteifelsen‘, zu dem alljährlich tausend und aber tausend Sommerfrischler aus allen Welttheilen wallfahrten, gehört ein herrlicher Ausflug auf einer kurz vorspringenden Felskante nach der Elbe zu, von wo aus man eine wunderbare Rundschau genießt. Diese Felskante, auf ihrer Krone mit einem kreisförmigen Geländer versehen und mit einer großen Flaggenstange ausgestattet, bildet nach der Elbe zu eine förmliche Nase, welche die unteren Felspartien überragt und so zu sagen in der bloßen Luft hängt. Auch diesem seit altersgrauer Zeit von aller Welt gekannten und geschätzten Aussichtspunkt ist von der steinwühlenden Speculation der Untergang geschworen; denn unter diesem Felsvorsprunge hat man viele, viele Meter tief in den Berg hinein Steine gebrochen, unbekümmert um das Schicksal der thronenden Felskante! Bei dem steilen Abstreichen der Gesteinmassen des Basteifelsens ist es nur eine Frage der Zeit, ob nicht jener herrliche Aussichtspunkt über lang oder kurz ebenfalls in den Fluthen der Elbe sein Grab findet!“

Sollte die Achtung vor der Schönheit der Natur nicht stark genug zur Erzeugung stromsichernderer Beschlüsse sein, so wird der Stromverkehr, welchem in seinen drei Hauptclassen: der Dampfschifffahrt, der Kettenschleppschifffahrt und der Flößerei, durch solche Störungen sehr bedeutende Verluste drohen, mit dem Gewicht des Geldkastenschlüssels wohl noch zum Rechten hinlenken.



[561]
Streifzüge bei den Kriegführenden.
9. Zwischen Schlachtfeldern.
Auf dem Wege; bei den Brunnen. – Strandbatterien und Monitors bei Rustschuk. – Wieder in Sistowa. – Der Czar und die junge Bulgarin. – Großfürst Alexis. – Ein Besuch beim Gouverneur von Sistowa. – Don Carlos als Schlachtenbummler. – Plewna.

Schon in Rumänien zeigen die Landstraßen überall Merkmale des Krieges. Es herrscht da zwischen üppigen Korn-, Kukuruz- und Weizenfeldern, die sich heuer eines besondern Segens erfreuen, das regste Leben. Von Bukarest bis zur Donau erstreckt sich eine bandwurmartige, ununterbrochene Kette von Proviant- und Munitionskarren, die sich in dem langsamsten Tempo bewegen, von Ochsen und schwarzen Büffeln gezogen, geführt von walachischen Bauern, die wohl für eine rasche Kriegführung nicht das richtige Verständniß besitzen, denn sie mäßigen noch den sehr gelinden Eifer ihrer Thiere. Jede dieser Wagencolonnen, die manchmal aus sechszig, achtzig, hundert sehr primitiven Vehikeln besteht, bewegt sich unter dem Commando eines Aufsehers, des Herrn „Oberochs“, wie man ihn scherzweise nennt. Die Etappen dieser Wagencolonnen bezeichnen zahlreiche, längs des Weges verfaulende Rinder- und Pferdecadaver, die hier ganz ruhig verwesen, bis die Fliegen, die Raben und die Hunde das letzte Stück Fleisch von den Knochen gelöst haben.

Bei jeder Pferdetränke geht es eigenthümlich zu. Die Brunnen sind hier sehr tief in die Erde gegraben – oft viele, viele Klafter, der Kübel hängt hoch oben auf einem schräg gegen den Himmel sich aufrichtenden Holzbalken. Mittelst eines Ruckes an dem hintern Theile des Balkens wird der Kübel an seiner Kette herabgelassen, tief, tief, bis das Gewicht dem Knechte anzeigt, daß der Behälter mit Wasser gefüllt ist. Schwerfällig wird dann der Kübel in die Höhe gehoben – voller Sehnsucht warten Thiere und Menschen, bis derselbe mit der Flüssigkeit die Oberfläche erreicht hat. Namentlich wenn ein Trupp auf dem Marsche begriffener Soldaten bei einem solchen Ziehbrunnen – deren es überall auf freiem Felde giebt – angekommen ist, wird dem schlammigen schmutzig aussehenden Wasser mit solcher Begierde zugesprochen, daß mehrere Brunnen zur Verzweiflung der Bauern bereits ausgetrocknet sind. Selbst wenn ein Transport Verwundeter zu einem solchen Brunnen gelangt, giebt es ein Stoßen und Drängen um den Kübel. Wer nicht absolut auf das Strohlager gefesselt ist, springt vom Wagen und sucht sich vor dem Cameraden den Kessel zu füllen oder den Mund an den Rand des Kübels zu bringen. Ja, bei der Hitze und bei diesem Staube ist das schlammige Brunnenwasser für den vertrockneten Gaumen ebenso kostbar als der beste Wein.

Der Tag begann zu grauen, als unser Fuhrwerk die Anhöhe von Fratesti gegenüber von Rustschuk erreichte. In einem prachtvollen Parke zwischen hohen Eichen lagerten die Soldaten alle in tiefem Schlafe. Der Park ist trotz der Kriegszeit in vortrefflichem Zustande, und man könnte glauben, wenn man durch die bekiesten Wege wandert, daß die Herrschaft sich nur des Sommeraufenthalts erfreue, während in der That ein ganzes Regiment sich hier in Villeggiatur befindet. Oben im Herrenhause wohnt der Commandant mit seinen Officieren, dicht daran hat ein speculativer Grieche eine Gartenrestauration errichtet, die sich in vollster Blüthe befand, denn dieselbe war um vier in der Frühe entweder schon oder noch geöffnet. Der Aufwärter war gerade daran, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, als es ein-, zwei-, dreimal dumpf durch den Morgenwind knallte! Gleichzeitig sah man unten im Thale kleine Rauchwolken aufsteigen. Das Gefecht war ein Artillerie-Solo. Das Zielobject waren mehrere im Hafen von Rustschuk ankernde Schiffe, Monitors und kleine Kutter, die sich dem Anscheine nach anschickten, die Anker zu lichten, wenigstens sah man über jedes Fahrzeug einen gelinden Dampfqualm aufsteigen. Je dichter der Qualm wurde, je rascher folgten die Schüsse auf einander, und man wurde gewahr, daß die erwähnten Schiffe das einzige Zielobject der Batterien waren. Um jedoch in Sistowa anzulangen, ohne die Hitze zu spüren, machte ich mich wieder auf den Weg, ehe das Artilleriegefecht sein Ende erreicht hatte. Als ich mich ungefähr eine halbe Stunde später an der Krümmung des Weges, wo man die Donau aus dem Auge verliert, umdrehte, sah ich zwei sehr starke Rauchwolken längs des türkischen Ufers aufsteigen. Später erfuhr ich, daß diese von dem Brande zweier türkischer Kutter herrührten, die von den Kugeln von Slobosia getroffen waren. Dadurch wurde eine gegen die Brücke von Simnitza-Sistowa gerichtete Expedition vereitelt.

Um Mittag erreichten wir das in ein Staubmeer gehüllte Simnitza, das Eldorado der Fliegen, die hier myriadenweise herumschwärmen und Niemanden in Ruhe lassen. Ohne Aufenthalt ging es über die Brücke. Die Brücke von Simnitza, gegenwärtig der einzige Communicationsweg zwischen Rumänien und Bulgarien, ist von so primitiver Bauart, daß zwei Wagen nicht gleichzeitig hinüber und herüber können, die Passanten, d. h. Militärs oder außerordentliche befugte Civils müssen daher „Queue“ machen, wie beim Theater, und abwarten, bis die Reihe an sie kommt. Es bedarf manchmal zwei Stunden, ja noch mehr, ehe die Passage frei ist. Fahnen von verschiedenen Farben, die am entgegengesetzten Ende der Brücke aufgehißt werden, geben das Zeichen zum Weitermarsch, aber noch ist die Probe nicht bestanden. Die zwei- bis dreihundert Wagen, welche soeben die schwankenden Bretter passirt haben, ließen Spuren ihres Vorüberfahrens zurück, aufgerissene Balken, klaffende Holzlücken. Jetzt müssen die Zimmerleute an die Arbeit und den Schaden gut machen. Der Militär von Fach kann die nachlässige Bauart dieser Brücke nicht hart genug verurtheilen, und alle Ausreden über die Schwierigkeiten der Ueberbrückung eines solchen Stromes wie die Donau, über den Mangel an Material etc. zeigen nur Eines, daß den Russen doch nicht all die Hülfsmittel der heutigen perfectionirten Kriegführung zur Verfügung stehen. Die nämliche Ceremonie wiederholte sich bei der zweiten über den eigentlichen Donauarm führenden Brücke, so daß eine Straße, die bequem in fünfundzwanzig Minuten durchgangen oder durchritten werden könnte, einen Zeitaufwand von nicht weniger als drei Stunden erforderte. Am Ufer, in dem gastlichen Hause des Donau-Dampfschifffahrts-Agenten Herrn Stancef, stieg Kaiser Alexander kurz nach der Besetzung von Sistowa ab. Der Czar schien an der Unterhaltung mit dem schlichten Bürgersmann viel Wohlgefallen zu finden. Als einige Tage später der Kaiser nach Sistowa zurückkehrte, erfreute er seinen Gastgeber mit der Mittheilung, daß er ihm eine Auszeichnung bestimmt habe, und wirklich erschien Tags darauf ein Adjutant, welcher Herrn Stancef eine große schwere Medaille am roth-weißen Bande (etwa vom Umfang eines silbernen Fünfmarkstückes) überreichte. Diesem Ehrenzeichen war eine zarte Aufmerksamkeit beigefügt, eine Brosche mit Ohrgehängen für die achtzehnjährige Tochter des Hauses, die während der Anwesenheit des Czars die Honneurs gemacht hatte. Ich sah das Geschmeide, welches dem Fräulein vortrefflich stand: eine weiße Perle mit Diamanten besetzt. Was doch ein Kaiser, der in den Krieg zieht, alles in seinen Koffern mitnehmen muß!

Herr Stancef, der als erster bulgarischer Bürger den Kaiser auf heimathlichem Boden begrüßte, war es auch, der dem letzten Kaïmakam von Sistowa in unfreiwilliger Weise zur Flucht verhalf. Das Gespann des Donau-Dampfschifffahrts-Agenten war weit und breit als das vorzüglichste in der ganzen Umgegend bekannt. Außerdem konnten die ungarischen Braunen nicht sehr strapazirt sein, denn die Furcht vor den in der nächsten Gegend um die Stadt hausenden Räubern benahm seit lange jede Lust an Ausflügen.

Da erschien am Morgen des verhängnißvollen 27. Juni ein Kawaß des Kaïmakam (Gouverneur) von Sistow in der Agentur und ersuchte mit aller Höflichkeit Herrn Stancef, seine Pferde und seinen Wagen dem erwähnten Gouverneur, Beschir-Bey, „auf eine halbe Stunde zu leihen“. Ich zweifle, daß Herr Stancef besondere Lust hatte, diesem Wunsche zu willfahren, aber ein Blick auf die Straße zeigte ihm zwei bewaffnete Zaptiés, welche dem so höflich vorgebrachten Desideratum eine nachdrückliche Sanction zu geben bestimmt waren. Herr Stancef fügte sich in's Unvermeidliche. In seiner Kutsche mit seinen Pferden kutschirte der letzte Kaïmakam von Sistowa über alle Berge. Bis zur Stunde sah man „Roß und Wagen nicht wieder“, ebenso wenig den Diener, den Herr Stancef beauftragt hatte, über das Gespann zu wachen. Dieser Beschir-Bey hatte überhaupt das Talent, sich besonders verhaßt zu machen (er ist ein Arnaute, und als solcher gehört er zu den allerfanatischsten Feinden der Giaurs), die ihm untergebenen Christen zu schinden und, so oft sie seinen Schutz gegen die Gewaltthaten der Muselmänner anriefen, mit Hohn von sich zu weisen. Man erzählte mir mehrere Geschichten, durch welche die Wuth der Bulgaren, die sich in der Plünderung und Verheerung des türkischen Viertels kund that, nicht gerechtfertigt, aber wohl erklärt wird.

In den Appartements, wo sich der Kaiser eine kurze Zeit aufhielt, wohnt jetzt der dritte Sohn des Kaisers Alexander, der schmucke Großfürst Alexis. Derselbe hat das Commando über die Donauflotille, die indessen bisjetzt nur aus sehr winzigen Fahrzeugen bestand. Seit man jedoch in Nikopolis zwei Monitors erbeutet, lebt Großfürst Alexis wieder auf. Er kann es nicht erwarten, als Commandant wirklicher Kriegsschiffe aufzutreten. Er fuhr bereits auf einem Kutter nach Nikopolis, um daselbst die erbeuteten Schiffe zu besichtigen und die nöthigen Reparaturen anzuordnen.

Als bulgarischer Patriot ist Herr Stancef mit den Mitgliedern der neu eingesetzten autonomen Regierung stark befreundet. Ich nahm mit großer Genugthuung seine Offerte an, mich verschiedenen der neuesten Volksbeglücker zu präsentiren. Vor Allem dem Vive-Gouverneur der Stadt, Herrn Zarkoff. Dieser war mir dem Namen nach nicht unbekannt, und die geehrten Leser, welche die orientalische Frage kennen, werden sich vielleicht erinnern, daß Herr Zarkoff vor etwa einem Jahre in Gesellschaft eines andern Bulgaren, des Herrn Balabanoff, eine Rundreise durch die europäischen Hauptstädte unternahm, um bei der Diplomatie und bei der Presse so viel Sympathien als möglich für die unterdrückten Stammesgenossen einzuheimsen. Ich weiß nicht, in wiefern die Reise des Herrn Zarkoff von Erfolg begleitet wurde, aber ich erinnere mich, daß er mit seinen Genossen in eine herbe, sehr persönliche Polemik verwickelt wurde. Heute ist er wohlbestallter Gouverneur von Sistowa und ertheilt Audienzen in dem nämlichen Zimmer, wo noch vor wenigen Wochen der Kaïmakam Beschir-Bey nach seiner Weise Gerechtigkeit übte.

Der „Konak“, das Regierungsgebäude von Sistowa, liegt hoch oben auf der Spitze des Hügels, an welchem die Stadt aufsteigt. Es ist ein sehr einfaches Haus von europäischer Bauart, mit einem großen gepflasterten Vorhof, wo es indessen bunt genug aussieht. Im Vorsaale desselben traf ich mehrere breitschulterige Bauernkerle im Kittel, welche um den Arm eine weiße Schärpe mit einem grünen Kreuz trugen. Es waren dies die neuen bulgarischen Gensd’armen, welchen es nur an Ausrüstung und Waffen fehlte. Einer dieser Landjäger in partibus nahm mir meine Karte ab und führte mich in den „Salon“ des Gouverneurs. Ein höchst einfacher „Salon“. Vermuthlich mag der muselmännische Kaïmakam die kostbare Einrichtung in Sicherheit gebracht haben, denn sein christlicher Nachfolger muß sich mit einem großen Tisch, zwei schäbig aussehenden Divans und drei Stühlen begnügen. Im „Salon“ befanden sich außer dem Gouverneur ein katholisch-bulgarischer Priester im Talar mit wallendem Haare, der mich mit demonstrativer Freundlichkeit begrüßte, und zwei Bauern, die sich offenbar noch unter [562] türkischem Regimente glaubten: sie hatten, ehe sie die amtliche Stube betraten, die Stiefel ausgezogen. Der Gouverneur, ein kräftig aussehender Mann von fünfzig Jahren mit intelligenten Gesichtszügen, trug die Kleidung, wie sie jetzt dem Civilisten am besten steht, der einen Theil des Kriegerlebens mitmachen muß, hohe Reitstiefel, eine Zwilchhose und ein leichtes Röckchen. Er gab mir mit der größten Bereitwilligkeit alle Aufschlüsse über das eingeführte bulgarische Selfgovernment. Vorläufig, sagte er mir, habe man einfach die türkische Ordnung beibehalten, nur an die Stelle der muselmännischen Beamten christliche gesetzt, für die höheren Stellen meistens solche Bulgaren, die in Rußland erzogen wurden und selbst im Staatsdienste des Czaren ergrauten.

Ich wagte die höchst delicate Frage, wem das türkische Viertel in Sistowa eigentlich den trostlosen Zustand verdanke, in dem es sich befindet. Herr Zarkoff antwortete mit großem Freimuthe, daß von bulgarischem und walachischem Gesindel die Plünderung begonnen und von russischen Soldaten vollendet worden sei.

„Die eigentliche Schuld liegt an den türkischen Behörden,“ bemerkte Herr Zarkoff, „hätten sie uns benachrichtigt, daß sie die Stadt mit der muselmännischen Bevölkerung verlassen, so hätten die ordentlichen Bürger von Sistowa für Aufrechterhaltung der Ordnung und Wahrung des Eigenthums gesorgt.“

Das war recht schön gesprochen, und möglicherweise hätten die guten Absichten der „ordentlichen Bürger von Sistowa“ ausgereicht gegen das bulgarische und walachische Gesindel – aber gegen den kühnen Griff der Kosaken? Ja, der alte Napoleon hatte Recht: „C’est la guerre!“ Der Krieg bringt immer das Schlimmste mit – auch wenn er „für Christenthum und Humanität“ geführt wird.

Nach dem Besuch beim Gouverneur stattete ich einer „französischen Restauration“, die sich seit dem Donauübergang in Sistowa etablirt hatte, meine Visite ab. Der Herr des Hauses wendete seine ganze Aufmerksamkeit einem noch ziemlich jungen Manne zu, mit blondem Bart, der an einem kleinen Brettertische in Gesellschaft von zwei Herren saß, von welchen man den einen sofort als französischen Adeligen von echtem Schrot erkannte. Die drei Gäste hatten die Hitze des Tages mit Sect recht ausgiebig bekämpft, wenn man nach den auf dem Grase kollernden Flaschen mit silbernem Halse urtheilen darf. Und wieder brachte der Wirth eine neue Auflage der Cliquot’schen Werke, die er mit einer tiefen Verbeugung dem jungen Manne mit blondem Barte präsentirte. „Votre Altesse veut-elle que je verse?“ frug der Wirth devot, und als er nach vollbrachter Credenzarbeit an mir vorüber huschte, raunte er mir „C’est Don Carlos“ in’s Ohr. Und richtig! Es war der Prätendent mit seinem Adjutanten, dem Marquis de Montserrat, und noch irgend einem Champagner vertilgenden Spanier ohne Bedeutung. Der ehemalige Brodherr des braven Pfarrers von Santa Cruz bummelt in der That auf den Schlachtfeldern, wie sich’s der gewissenhafteste und eifrigste Kriegsreporter nicht besser wünschen könnte. Er macht seine Touren auf einem prachtvollen arabischen Hengste, den er bei seiner Ausweisung aus Paris mitgenommen hat. Sein Gepäck folgt ihm in einem großen Wagen. Wie es heißt, will Don Carlos nun nach Plewna, wo es blutig hergeht. Und in der That, während wir uns in dem Garten des Franzosen gütlich thun, sehen wir durch die geöffnete Thür den langen, langen Zug der Verwundetenwagen, die sich nach der Richtung des Spitals, welches sich in der türkischen Stadt befindet, bewegen, all die unglücklichen Kosaken von jenem Plewna, wo, wie ein dumpfes Gerücht geht, die russischen Waffen schwere Demüthigung erfahren haben sollen. Aus den Karren ertönt leises Wimmern, mit Mühe unterdrücktes Stöhnen und Geächze. Ein junger Mann mit feinen Gesichtszügen und sympathischem Aussehen gesellt sich zu uns; es ist der Hauptdelegirte der Gesellschaft des rothen Kreuzes, welche in Sistowa ein bedeutendes Depot errichtet hat. Der junge Mann ist außer sich. Man hat ihn gar nicht verständigt, daß eine Schlacht bevorstehe, und jetzt verlangt man plötzlich Hülfe für Tausende von wackeren Leuten, die nun wegen Mangel an Fürsorge seitens ihrer Chefs hülf- und trostlos an ihren Wunden verbluten müssen. Ja, „Christenthum und Humanität“ sind schöne Worte, aber sie verpflichten nicht einmal dazu, gegen die eigenen Leute christlich und human vorzugehen.

Paul d’Abrest.



Blätter und Blüthen.

Der Kampf bei einer Wassermühle und – Plewna. Die S. 551 mitgetheilte Kriegs-Illustration des Herrn Capitain N. Karasine hat den Vorzug, einen wirklich malerischen Anblick zu bieten. Diese Mühle bildete das Hauptdepot der türkischen Position in Sistowa. Einer weiteren Erklärung bedarf es hier nicht, und das ist gut, denn die Ereignisse haben jene Donaukämpfe der Russen bereits so weit in den Hintergrund gerückt, daß dieses Bild uns nur veranlassen kann, der gegenwärtigen Situation der Kriegführenden (erste Augustwoche) unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Plewna! Da steht das Wort, das mit der Macht des Schalls der Posaune von Jericho den Reichskoloß Rußland zum Zittern brachte. Wir haben damit wieder einmal eine Erscheinung erlebt, wie frühere Zeiten sie selten, unser wandlungsreiches Jahrhundert sie schon mehrmals gebracht, die Erscheinung, daß ein Schlag, mitunter auch ein Doppelschlag genügt, um ein lange angestauntes absolutistisches oder reactionäres Herrscherthum trotz erprobtester Machtfülle und Starrheit zu erschüttern oder zu brechen.

Es sind ungeheuerliche Träume gewesen, von welchen der panslavistische Hochmuth bei der bisherigen Führung des Türkenheeres in Europa sich umgaukeln ließ. Der „kranke Mann“ galt schon als besiegt, und der Siegesrausch spornte die politische Phantasie des Moskowiterthums bereits so heftig, daß man hocherhabenen Geistes erkannte, auf wie ungesunden Grundlagen die gesammte Cultur der westlichen Nachbarn beruhe und wie nothwendig es sei, daß der slavische Genius auch über jene verkommenden Staaten, namentlich der Germanen, seine veredelnde Herrschaft ausbreite.

Da blasen die türkischen Posaunen von Plewna, und die so hoch aufgeschwollene Donner- und Triumphwolke, die nach Ost und West hin droht, patscht mit einem Schlage zusammen, verschwindet vollständig und läßt dem verdutzten Europa plötzlich zwei Bilder contrastirendsten Inhalts sehen: hier das Hauptquartier auf der Flucht und dort den schon vielbedauerten kranken Mann plötzlich die imponirendsten Proben einer ganz respectablen Gesundheit zeigend. Nicht die verlorene Schlacht, sondern die bedenkliche Art der nächsten und die großen Hoffnungen der ferneren Folgen derselben können den Tag von Plewna zu weltgeschichtlicher Bedeutung erheben.




Die Schnelligkeit des Gedankens ist zum Sprüchwort geworden. Dieses bezieht sich natürlich lediglich auf die Schnelligkeit, mit welcher man die subjective Vorstellung zu fassen vermag, an einem weit entlegenen Orte zu sein; es wird hier also in der That eine Entfernung gar nicht durchmessen, denn diese Vorstellung entspringt in uns und bleibt in uns. Die Schnelligkeit aber, mit welcher die auf die Werkstätte der Gedanken, das Gehirn, wirkenden Reize und Anregungen durch die Telegraphendrähte dieses Organs, die Nerven, in Wirklichkeit fortgepflanzt werden, ist eine überraschend geringe und erreicht noch nicht die der Dampfkraft, geschweige denn die des Telegraphen. Diese ist von den Physiologen festgestellt worden, und zwar durch ungefähr folgenden Versuch. Durch Schließung eines galvanischen Apparats wird ein Zeichenstift dergestalt vorgeschoben, daß er auf einem durch ein Uhrwerk bewegten vorüberstreichenden Cylinder einen Strich vorzeichnet. Dieser galvanische Apparat wird durch einen zweiten galvanischen Apparat geschlossen, bei welcher Gelegenheit ein Funke überspringt. In dem Augenblicke also, in welchem der Funke überspringt, fängt der Zeichenstift an zu markiren. Hat nun Derjenige, welcher das Experiment ausführt, sich vorgesetzt, sobald er den Funken erblickt, mit seinem in Bereitschaft gehaltenen Fuße auf eine an der Erde befindliche Vorrichtung zu drücken, welche durch einen elektromagnetischen Telegraphen den zeichnenden Apparat wieder öffnet, so hört der Zeichenstift auf zu markiren.

Die Zeit, welche zwischen dem Anfangen und Aufhören des Markirens verflossen ist und die durch die Länge des Strichs auf dem Cylinder dargestellt wird, ist mithin erforderlich gewesen, eine mit unserm Auge gemachte Wahrnehmung nach unserm Gehirn und von dort nach unserer Fußspitze fortzupflanzen. Da man weiß, wie viel Umdrehungen der Cylinder in der Secunde macht, und seinen Umfang kennt, kann man die verflossene Zeit berechnen. Diese beträgt – es weichen natürlich die einzelnen Untersuchungen in ihren Resultaten von einander ab – durchschnittlich etwa 1/5 bis 1/6 Secunde, und zwar für die Fortpflanzung auf eine Strecke, die ungefähr der Länge des menschlichen Körpers entspricht, also nicht ganz zwei Meter. Wir vermögen also unsern Willen, der, wenn auch nicht gerade identisch mit unsern Gedanken, doch immerhin ein Resultat derselben und gleich ihnen der Ausfluß unserer geistigen Kräfte ist, in den Bahnen unseres Körpers mit einer Schnelligkeit von ca. zehn Meter in der Secunde fortzupflanzen.

Der Geschäftsmann aber, beispielsweise in Berlin, würde mit dem „Flug der Gedanken“ sehr unzufrieden sein, wenn er seine Absichten in Bezug auf ein Gewinn versprechendes Börsengeschäft seinem Agenten in Wien nur mit verhältnißmäßig derselben Schnelligkeit mittheilen könnte, mit der er seine Absichten bis zu seiner Fußspitze zu befördern vermag – er zieht sicher den Telegraphen vor.
V. K.

Vermißt. Der Schmiedegeselle Fritz Woigk, vierundzwanzig Jahre alt, untersetzt und kräftig, mit blauen Augen und blonden Haaren, aus Barleben bei Magdeburg, ist seit 4. Mai dieses Jahres verschwunden. Aller Nachforschungen ungeachtet ist bis jetzt nicht in Erfahrung gebracht worden, ob derselbe noch lebt oder verunglückt ist. Die tiefbekümmerten Eltern bitten dringend um jede bezügliche Mittheilung.


Kleiner Briefkasten.

P. V. M. in H. Ihre Anfrage beantworten wir mit den folgenden Versen von Helene von Götzendorff-Grabowski, welche vor vielen andern uns zugegangenen spruchartigen Poesien wohl der Veröffentlichung werth sind:

Pilgerloos.

     Stammbuchblatt für’s Leben.

Unter allen dunkeln Stunde eine,
Wo des Glückes Sonnenlicht Dir scheine!
Unter allen kampfesheißen Tagen
Einen, der des Sabbaths Stern darf tragen!
Und erblüht inmitten harter Steine
Eine duftig junge Rose – eine!
Endlich, nach des langen Wegs Beschwerde
Schlummer – und ein Häuflein kühler Erde!
Mehr ist, Wandersmann, Dir nicht beschieden.
Lebe fromm und gehe hin in Frieden!

Eine blutige That in W. war nicht zu gebrauchen und ist den Weg aller Maculatur gegangen.

K. in S. Nein, Blumenthal’s Monatshefte für Dichtkunst und Kritik sind wieder eingegangen.

G. v. K. Gedicht nicht verwendbar. Von guten Schriften über Ulrich von Hutten können wir Ihnen nur das wissenschaftliche Werk von Strauß (Bonn) und die populäre Biographie von Reichenbach (Leipzig) empfehlen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mit dieser historischen Erzählung glauben wir unseren Lesern eine Gabe von ungewöhnlicher Bedeutung darzubieten. Nicht nur der Gegenstand, die blühende Jugendgestalt des ritterlichen Lieblingskaisers der Deutschen im tapferen Ringen um die schöne Maria von Burgund, ist von fesselnder Kraft. Die Dichterarbeit selbst, die uns den Kampf um die Braut im glänzenden historischen Rahmen zeigt und in deren Anschauen wir kaum wissen, ob wir die tiefen geschichtlichen Studien oder die lebensfrische, farbenprächtige Darstellung mehr bewundern sollen – sie bestimmt uns, im voraus dieses Urtheil über die vorliegende Erzählung auszusprechen. Der Verfasser, Gustav Freiherr von Meyern-Hohenberg in Constanz, hat in unserer Literatur bereits einen klangvollen Namen als ausgezeichneter Lyriker und Dramendichter und hat selbst längere Zeit dem Coburg-Gothaischen Hoftheater als Intendant vorgestanden. Die so vielen unserer Dichter abgehende genaue Kenntniß des Lebens „am Hofe“ kam ihm auch bei diesem „Zeitbild“ sichtlich zu Gute. Ein freundlicher Zufall ist es, daß wir mit der Veröffentlichung desselben zugleich das vierhundertjährige Jubiläum der Hochzeitsfreude von Max-Teuerdank und Maria-Ehrenreich feiern.
    D. Red.
  2. S. Nr. 17, Jahrg. 1877.
  3. Beruht auf einer wahren Begebenheit. Die Eisenbahnkundigen mögen den leichten Zwang entschuldigen, der den Dienst- und Betriebsverhältnissen um der novellistischen Form willen angethan wurde. Die Ortsnamen sind fast sämmtlich fingirt.
    D. Verf.
  4. Oesterreichisch für „Kind“.
  5. Slavisch: „Herr“.
  6. So nennen die Ungarn alle Deutsche.
  7. Ungarischer weiter Rock.
  8. Vgl. „Der Bergsturz bei Schandau“. Jahrgang 1862 der „Gartenlaube“, Nr. 10 und 11.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Lünig
  2. Vorlage: ägerlich