Die Gartenlaube (1877)/Heft 15
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No. 15. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Mich friert, arme Toni,“ hörte er Emilie sagen; „die nassen Kleider liegen mir wie Eis auf der Haut. Mache Dich stark und laß uns langsam in das Haus gehen! Harro wird im Augenblicke kommen, und er darf uns nicht so schwach sehen.“
Der Friese trat derben Schrittes vor. Toni schreckte zusammen und wandte ihm ihr verstörtes und verweintes Gesicht zu.
„Ach, Herr Harro, nicht wahr, er ist todt, und wir werden ihn nicht wieder sehen?“ fragte sie mit bebender Stimme.
Er zuckte die Achseln. „Der Mann hat eine gefährliche Reise gemacht, Fräulein, wie ich sie nicht antreten würde, ohne zuvor mein Testament vor Notar und Zeugen richtig gestellt zu haben. Es stünde mir schlecht an, Hoffnungen zu erwecken, die ich selbst nicht theile; man muß auf das Schlimmste gefaßt sein. Wer indessen Glück hat, der ist gefeit gegen Alles. Nun dürfen Sie aber in dieser Kleidung keinen Augenblick mehr hier stehen, Fräulein Emilie.“
Er bemerkte, wie sie am ganzen Körper schauderte.
„Wollen Sie mir noch einen Gefallen erzeigen?“ fragte sie mit gezwungener Fassung, während er fühlte, wie ihre Blicke mit forschendem Ernst auf ihm ruhten.
„Ich stehe zu Ihrer Verfügung.“
„So eilen Sie auf dem kürzesten Wege um den Berg und bringen Sie uns Nachricht über das Schicksal des Verunglückten. Sie müssen ihn finden, lebend oder als Leiche.“
„Darf ich mir die Frage erlauben: Wer war dieser Mann?“
„Jetzt nicht,“ drängte sie mit zitternden Lippen; „Sie sollen noch Alles hören.“
„Nun denn, so will ich gehorchen, obwohl ich die moralische Ueberzeugung habe, daß der Mann, wer er auch sei, ein gewissenloser Schurke gewesen ist, der weder Ihrer Klagen noch meiner Mühe werth ist. Wollen Sie mich in einer Stunde noch sehen, auch wenn ich ihn nicht finde?“
„Ja,“ sagte Emilie, „aber lassen Sie uns den Glauben bis dahin, daß Sie ihn finden werden!“
Sie reichte dem Friesen die kalte, feuchte Hand, und er führte sie an seine Lippen.
„Auf Wiedersehen!“
Dann blickte sie ihm mit weitgeöffneten, thränenlosen Augen nach, bis seine hohe, mächtige Gestalt im Schatten verschwand, und nun erst brach ihre künstliche Haltung auf einen Moment zusammen.
„Es ist zu spät, Toni,“ murmelte sie mit erstickter Stimme; „er wird ihn nicht finden. Zerschellt oder ertrunken – die Wasser haben ihn fortgeschwemmt. Du hast ihn nicht allein geliebt, Mädchen. Du kannst ihn nicht so heiß geliebt haben wie ich, denn Du hast nicht das süße Gift seiner Liebesworte getrunken wie ich und Du weißt nichts von seinen Küssen. Todt – Alles aus! Nun brauche ich nicht mehr zu beten: Führe mich nicht in Versuchung! Er konnte der Deinige noch werden, Toni, aber vielleicht ist es gut, daß er es nicht geworden ist, für mich und für Dich. Weißt Du, wer ihn gemordet hat? Ich, ich selber! Ein heuchlerisches Versprechen von meiner Seite, etwas weniger Stolz, etwas mehr Duldsamkeit gegen Zwang, und es war Alles gut. O mein Gott, warum habe ich ihn nicht[WS 1] betrogen oder – nein, mit ihm sterben durfte ich nicht, denn ich will ja mit einem Zehren an den Altar treten. Ich will kämpfen, bis ich auch das Entsetzen dieser Nacht überwunden habe; es muß ja sein – der kalte, herzlose Gott auf dem Eisthrone will es so. Nur darf mich in der nächsten Stunde kein Mann sehen, vor Allem nicht der starke, unbeugsame, der mich hier gefunden hat. Er soll eine Stunde lang fern von uns suchen, und er soll den Glauben behalten, daß ich werth wäre, ein Mann zu sein. Das ist es, warum ich ihn fortgeschickt habe. Komm, Toni!“ – –
Harro war fast bis an den Fuß den Felsens gelangt, von wo er das jenseitige Thal überblicken konnte, aber hier überzeugte er sich, daß sein Gang ohne jedes weitere Hülfsmittel vergeblich sein würde. Das Thal lag dunkel; der Himmel war zur Hälfte schon mit finsterm Gewölk bezogen. In wenigen Minuten flogen die Vorboten desselben bis an den Mond heran. Dann brach mit Nothwendigkeit die volle Dunkelheit herein; wie sollte er da etwas finden ohne Laterne?
Er kehrte um und eilte in’s Wirthshaus zurück. Nur der Wirth war noch munter.
„Kommen Sie mit!“ sprach Harro; „es ist ein Unglück geschehen. Ein Mann ist mit dem Kahne den Fall hinuntergestürzt.“
Sie machten sich auf den Weg, jeder eine Stalllaterne, der Wirth überdies eine Leiter, Harro zwei Stangen tragend. So schritten sie in der Finsterniß um den Berg. Kalte, regendunstige Luft strömte vom Thale her; zur Linken klang das Geräusch des Flusses. Sie suchten lange am Ufer hin und kletterten bis dicht an den Fall. Naß von dem Sprühnebel, meinte endlich der Wirth: „Ich hätte es Ihnen gleich sagen können, daß da von einem Menschen nichts übrig geblieben sein wird, der vor einer halben Stunde herunter gefahren ist. Es wird gleich anfangen zu regnen; ich dächte, daß wir das Suchen aufgäben.“
[242] Harro nickte stumm, konnte es indessen doch nicht unterlassen, auf den Uferweg zu achten, so lange sie die Brücke noch nicht erreicht hatten. Plötzlich stand er still und zeigte mit der Laterne vor sich hin.
„Was ist das?“
Eine Stelle des trockenen, rissigen Weges war in auffallender Weise feucht. Auch der Rasen zwischen ihr und dem Flusse war naß und das Gras zeigte Lagerungen.
„Es wird von den Zigeunern sein,“ meinte der Wirth; „die braunen Teufel legen hier Nachtschnuren und werden sich bei der Gelegenheit eine Bütte voll Wasser mitgenommen haben.“
Sie schritten weiter. Vom Himmel begann in der That ein feiner Regen zu fallen, noch bevor sie das Wirthshaus erreichten; vom Mondschein war keine Spur mehr zu sehen. Harro legte seine Geräthe ab, ließ sich den Schlüssel zur Hausthür geben, die der Wirth nicht zu verriegeln versprach, und begab sich, von dem leisen Knurren der Hofhunde verfolgt, zu den beiden Mädchen.
Es war immerhin seltsam, daß Harro nicht auf den Einfall gekommen war, zu guter Letzt doch noch bei den Zigeunern anzufragen, ob sie das zuweilen so wunderlich spielende Geschick etwa mit dem Unglücksfalle in Beziehung gebracht hatte.
Wer um den ersten Mondschein an der Stelle gewesen wäre, welche der Friese und sein Wirth zuletzt so aufmerksam untersucht, der hätte die Gestalten der beiden Männer, die wir schon von dem Besuche Urban’s und des Fabrikleiters bei den Zigeunern her kennen, gesehen, wie sie fast unhörbar auf den nackten Sohlen den Weg aus dem Walde herauf kamen. Der Alte trug ein Fangnetz auf einer Stange über der Schulter, der junge Mann ein Bündel und eine Holzbütte.
Sie tauschten am Ufer wenige Worte und begannen, in entgegengesetzter Richtung auseinander gehend, ihre Arbeit. Der Jüngere mit der Bütte und dem Fangnetze wandte sich der Brücke zu, indem er von Zeit zu Zeit das Netz in das Wasser tauchte und wieder heraus schnellte; der Alte ging mit dem Bündel dem Wasserfalle näher, entfaltete es und wickelte das Fadenwerk auseinander, worauf er aus einer Stelle des Gebüsches Steine hervorholte und die beschwerten Schnuren eine nach der anderen vorsichtig in die Tiefe warf. Die Arbeit des Letzteren nahm viel Zeit in Anspruch, wenigstens hatte sein Gefährte die seinige viel früher aufgegeben und kam mit seinem Geräth herauf, um zu helfen, als jener noch nicht zur Hälfte fertig war.
„Es lohnt nicht, Vater.“
„Wir hätten die Aalreusen mitnehmen sollen, Michal,“ entgegnete der Alte melancholischen Tones. „Wir haben Holz hier und können dörren für den Winter. Es wird eine dunkle Nacht werden.“
„So holen wir sie hernach noch.“
Der Bursche ging in der That nach einiger Zeit den Fluß hinunter in den Wald, und man konnte ihn noch eine Weile pfeifen hören, während der Alte, im Grase auf dem Rücken liegend, das Heraufziehen der Wolken beobachtete.
Da weckte ihn ein ungewöhnliches Geräusch, wie das eines hart aufschlagenden schweren Gegenstandes, aus seiner bequemen Lage. Wie der Blitz richtete er sich halben Leibes auf und wandte den Kopf nach dem Falle hinüber. Er sah eine dunkle Masse aus dem wogenden Gischt auftauchen, verschwinden und wieder auftauchen, ein Ding, welches so ziemlich einen Kahn darstellte und welches, endlich auf eine ruhigere Oberfläche gelangend, pfeilschnell an ihm vorüber geführt wurde. In demselben Moment erregte etwas Anderes seine Aufmerksamkeit: am Falle oben schwankte zwischen Wasserstürzen eine menschliche Gestalt, welche plötzlich hernieder gerissen wurde, einige Zeit unsichtbar war und dann gleichfalls, wie zuvor der Kahn, im strudelnden Wasser trieb.
Der Zigeuner sprang auf, raffte das Fangnetz vom Boden und rannte, so schnell er konnte, am Ufer hin. Dabei überflog sein Auge den Zug der Strömung, in welcher der Körper schwamm. Mit gewaltigen Sprüngen überholte er denselben und faßte dann ein Stück hinter der Brücke Posto.
Seine Berechnung hatte ihn nicht getäuscht; das menschliche Wesen im Wasser kam hier dem Ufer so nahe, daß er mit dem vorgestreckten Netze im Stande war, es aufzuhalten. Aber dasselbe vollends heranzuführen, dazu reichte seine Kraft gegenüber derjenigen des Stromes nicht aus, er spannte alle Muskeln an, aber sein Arm begann endlich zu erlahmen, als er in der Noth plötzlich vom Waldwege her Schritte vernahm. Er stieß laute Rufe aus und einen Augenblick später stand der Zigeunerbursche neben ihm.
„Michal, ein Mensch! Hilf mir das Netz festhalten!“
Den vereinten Anstrengungen gelang es, den Körper an das Land zu ziehen. Da lag der Doctor Urban. Der Mond beschien den Starren, Leblosen, und das Wasser rieselte aus den Kleidern und Haaren auf den Rasen herab. Der Zigeuner und sein Sohn beugten sich knieend zu ihm nieder, um eine Spur Leben zu erhorchen, und zehn Schritte davon stand die braune Juschka mit dem glänzenden Linnenhemd um den Oberkörper und dem dunkelrothen Rock, der von den Hüften niederfloß. und blickte auf die Aalreusen zu ihren Füßen.
„Ist er todt?“ fragte sie ohne aufzusehen.
„Geh’ in’s Zelt zur Mutter!“ gab der Bursche zur Antwort.
„Sorg’, daß das Feuer nicht abstirbt!“ fügte der Alte hinzu.
Sie warf im Scheiden einen neugierig-schüchternen Blick auf den Daliegenden und tauchte dann in die Gebüsche.
Vater und Sohn sahen sich einen Moment forschend an.
„Es ist besser, Michal, wir tragen ihn an das Feuer. Wenn er lebendig wird, so wird er sehr freigebig sein. Ich spüre noch Athem,“ sprach der Alte, die Blicke niederschlagend.
Der Bursche nahm, ohne ein Wort zu sagen, die Beine des Verunglückten vom Boden auf, während der Alte am Kopfe anfaßte; ein leises Stöhnen machte ihn stutzig.
„Er lebt, und er muß verwundet sein; ich fühle etwas Warmes und glaube, daß er blutet.“
Sie luden den schwerfälligen Körper so sorglich wie möglich auf und trugen ihn in das Dunkel des Waldweges. Nach Verlauf von einigen Minuten bogen sie auf eine schmale Wiese ein, auf welcher die dunkle Silhouette des Wagens und das im Grase lagernde Pferd erkennbar waren. Ein leises Knurren, welches lebhafter wurde, als die Beiden mit ihrer Last sich näherten, verrieth, daß die Hunde gegenwärtig waren.
„Schlage das Zelt auf, Juschka!“ rief die Stimme des Burschen schon von Weitem.
Ein Feuerschein fiel auf die Wiese.
Die Zigeuner, welche sich mit dem kranken Weibe in diesem Waldasyle niedergelassen, hatten dem längern Aufenthalte entsprechende Vorkehrungen getroffen. Zwischen fünf Bäumen und mit deren Benutzung war durch Stricke und Tücher, soweit die letztern gereicht hatten, theilweise auch durch Zuhülfenahme von Reisig ein Bau, halb Zelt, halb Hütte geschaffen worden, der einen ziemlichen Raum einschloß. Der Anwesenheit Harro’s im Wirthshause und der Fürsprache desselben bei dem Wirthe, welcher zugleich die obrigkeitliche Person in der Erlenfuhrt darstellte, hatten es die Zigeuner zu danken, daß man sie unbehelligt gewähren ließ.
Ein mächtiges Feuer flackerte in dem Raume; der Rauch zog durch eine Oeffnung in der Decke ab. In einem Winkel blickte das abgezehrte Gesicht der Kranken mit den hektisch glänzenden, schwarzen, tief eingesunkenen Augen zwischen Decken hervor, die theilweise nicht mehr als Lumpen waren. Die braune Juschka lehnte an dem Buchenstamme zur Seite des Eingangs und hielt die Leinwand des aufgeschlagenen Vorhangs zwischen den Fingern. Langsam und vorsichtig ließen die Zigeuner den Körper vor dem Zelte nieder, daß das bleiche, edle Gesicht des Doctors, dessen Augen geschlossen waren, zu den Füßen des Mädchens im Feuerscheine zu liegen kamen.
Die Frau im Zelte begann heftig zu husten, und der Ton erstickte den kurzen Ausruf der Ueberraschung, den die junge Zigeunerin ausstieß. Sie beugte sich lebhaft zu dem Gesichte vor ihr hinab und prüfte aufmerksam die Züge mit wunderbar wechselndem Mienenspiele.
„Ich kenne ihn,“ sagte sie, als die Frau ruhig geworden war. „Und Ihr kennt ihn auch; sieh her, Michal!“
Die Männer betrachteten Urban, und der Bursche schnippte plötzlich mit den Fingern. „Der Arzt, Vater, der bei der Stadt Abends mit einem Andern am Wagen war.“
[243] „Ach, daß Gott, der Arzt!“ flüsterte die Kranke und machte vergebliche Anstrengungen, den Kopf zu erheben. „Es wäre doch gut, wenn er lebendig würde und mir hülfe.“
Der Alte untersuchte die Kopfwunde, aus der zwischen dem braunen üppigen Haare das Blut rann. Er hieß das Mädchen einen Lappen holen und riß ein Stück ab, welches er auf die quellende Stelle legte; dann begann er wunderlich mit den Fingern darüber hin und her zu streichen, indem er unverständliche Worte dazu murmelte. Nach einer Weile band er dem Verwundeten den Rest des Lappens um den Kopf, der Bursche faßte wieder mit an, und kurz nachher lag der Doctor, welcher jetzt deutlich Athem holte, auf der dem Lager des Weibes entgegengesetzten Seite des Feuers im Zeltraume.
Die Männer gingen der Netze wegen noch einmal an das Wasser. Als sie zurückkehrten, lag die braune Juschka zwischen den beiden Kranken dem Eingange gegenüber an die Zeltwand hingekauert und störte mit einem kurzen grünen Aste im Reisig herum, daß die Funken heller aufflogen.
„Hat er sich geregt?“ fragte der Alte, den Kopf neben dem zur Seite geschobenen Zeltvorhange hindurch steckend.
Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf.
„Du kannst Wache halten die Nacht; der Regen kommt, und es wird kalt. Der Mann wird trocknen müssen in der Nacht und die Mutter wird frieren.“
Die braune Juschka nickte, und kurz darauf hörte man die Männer auf den Wagen kriechen und ihr Lager aufsuchen.
Das Mädchen war mit den beiden Kranken allein im Zelte.
Das Feuer knisterte, und der rothe Schein flackerte unruhig über die drei Menschen und über die Zeltwände. Die kurz abgebrochenen, unregelmäßigen Athemzüge Urban's waren kaum zu hören; desto vernehmlicher war der mühsame, ächzende, pfeifende Athem der kranken Zigeunerin, welche in heftigem Fieber lag. Sie hustete dann und wann, nicht viel im Ganzen, aber sie begehrte oft nach Wasser, und die braune Juschka stand jedesmal geduldig auf und brachte ihr das Verlangte in einem Blechbecher. Sie nahm hinterher ihren Platz bei der Zeltwand wieder ein, kaum drei Schritte von Urban entfernt, den Kopf zu diesem hinübergeneigt und zuweilen beobachtende Blicke auf ihn werfend.
„Meinst Du, daß er morgen aufstehen und mir helfen wird?“ fragte die Kranke einmal, als das Mädchen ihr den Becher von den Lippen genommen.
„Ich weiß es nicht, Mutter, aber der Dampf von seinen Kleidern steigt gerade auf – das ist ein gutes Zeichen,“ flüsterte die Tochter.
„Sieht er gut aus, wie der gelbhaarige Fremde, der immer herkommt?“
„Seine Augen waren trübe, als ich hineingesehen habe; er ist nicht so rein wie der.“
Die Bäume über dem Zelte begannen sich zu bewegen; die Aeste knarrten, und der Raum füllte sich mehr und mehr mit Rauch, worauf die braune Juschka den Vorhang zurückschlug und mit den Zipfeln am Buchengestrüpp unter dem Baume befestigte. Der Kranken, welche heftiger hustete, legte sie ein Tuch lose über das Gesicht. Der Regen rieselte auf die schauernden Blätter, und man hörte sein feines Zischen auf der Wiese, allmählich aber nahm er an Stärke zu; die Hunde bei dem Wagen begannen leise zu winseln; von den Bäumen rannen die Tropfen auf die Zeltdecken, und das Reisig, wo es die Wand bildete – an der Seite wo Urban lag – rasselte von ihnen. Sie fielen auch durch die weite Deckenöffnung blitzend in das Feuer. Die Bäume waren indessen dicht genug, um das Meiste abzuhalten, und nach einer Stunde hörte der Regen wieder auf.
Die junge Zigeunerin lag fröstelnd zusammengekrümmt und summte etwas vor sich hin.
„Juschka, singe etwas!“ murmelte die Stimme der Kranken unter dem Tuche; „vielleicht daß ich dann schlafe. Es ist schrecklich, wenn man nicht schlafen kann.“
Das Mädchen blieb liegen und erhob die Stimme nur ein wenig, um wie im halben Traum etwas zu Tage zu fördern, was weder gesungen noch gesprochen war, sondern ein Mittelding von Beidem. Aber die Worte konnte man verstehen:
„Fliegt das Mondlicht über den Berg,
Wo der graue Stein steht.
Grauer Stein am Wege,
Weißt du, wo mein Liebster geht?
Blutkorallen die Lippen sein.
Meines Mundes Weide,
Schwarzer Flecken auf weißer Kuh
Seine Augen beide.
Rossesmähne im Winde fliegt,
Wie sein Haar voll Glanz ist;
Blink von Silberknöpfen die Jack’,
Blank sein Stiefel zum Tanz ist.
Auf dem Wasserweidenbaum
Sitzen schwarze Raben:
Zehn Fuß unter dem Wasser tief
Liegt er begraben.
Ach, ihr weißen Wasser, sagt,
Was euch that mein Liebster?
Kleine Fische, schwimmt vorbei,
Denn er bleibt mein Liebster.“
Wenn sie die letzte Strophe gesungen hatte, fing sie bei der ersten wieder an.
Die Mitternacht war vorüber, und die Kranke schlief zuletzt ein, weil das Fieber nachließ. Aber die braune Juschka schlief nicht; das Gesicht lag auf dem bloßen ausgestreckten Arme, halb verdeckt von dem anderen, und ihre schwarzen Augen blinzelten unruhig in das verglimmende Feuer, bis sie die höchste Zeit gekommen fand, um es wieder anzufachen.
Nach ein paar Stunden begann der bewußtlose Mann laut und gleichmäßig zu athmen. Die Zigeunerin horchte und rutschte bis dicht zu ihm hin. Dann richtete sie sich ein wenig auf und sah ihm mit still verlorenen Blicken in das sich lebhafter färbende Gesicht, bis ihre kleine Hand sich hob und ihm leise über die Wange und die Stirn zu streicheln begann, welche letztere freilich von der Binde überzogen war. Sie hielt endlich ein, denn es war ihr, als ob seine Augenlider zuckten. Sie brachte ihr Gesicht dicht an das seine, um zu beobachten, aber nun sah sie nichts mehr von einer Regung. Danach lehnte sie sich zurück, blickte träumerisch in die Flamme, den Kopf in die Hand gestützt, und summte auf's Neue die Weise ihres Liedes, das sie vorher gesungen, bis sie endlich die letzte Strophe zwischen den Lippen sprach und sich wieder in den Anblick des Schlafenden versenkte.
„Ach, ihr weißen Wasser, sagt,
Was euch that mein Liebster?
Kleine Fische, schwimmt vorbei.
Denn er bleibt mein Liebster.“
Sie wagte es endlich, seine feuchtkalte Hand zwischen ihre Hände zu nehmen, als wollte sie dieselbe wärmen, und sie wurde wirklich zuletzt warm. Dann legte sie sich hinüber und wiederholte dasselbe Spiel mit der andern Hand. Zuletzt spitzte sie die Lippen und senkte ihr Gesicht auf das seine herab – –
Urban begann zu träumen, erst verworren und dumpf, dann klarer. Es war ihm, als überschatte ein Mädchenkopf seine Augen und als fühle er leidenschaftliche Küsse auf seinen Lippen brennen; seine Hände regten sich schwach und er stammelte mit halb erstickter Stimme: „Milli!“
Das junge Geschöpf, das so verwegen gespielt hatte, fuhr jäh zurück, aber nicht von diesem ersten Laut aus dem Munde des Genesenden, sondern von einem unerwarteten Geräusch auf der andern Seite des Zeltes. Sie sah, daß die Kranke wach geworden war, das Tuch abgeworfen hatte und sie mit brennenden angstvollen Blicken beobachtete.
„Juschka, mein Kind,“ sagte die heiserer Stimme der Zigeunerin, „komm her zu mir!“ Und als das junge Mädchen mit gesenkten Wimpern zu ihr hinübergerutscht war, fuhr das kranke Weib fort: „Ich glaube, daß ich doch bald sterben muß. Schwöre mir, daß Du nur eines Mannes Eigenthum werden willst, der zu unserem Stamme gehört.“
„Warum soll ich das schwören?“
„Ich sehe, daß Dir jener Mann, der da liegt, gefällt. Aber wollte er Dir etwas versprechen, was ehrlich klänge, so wäre es doch Lüge. Wenn man jung ist, glaubt man Vieles, was die weisen Väter nicht zu glauben rathen. Es gab einmal einen Mann von dem andern Volke – verflucht sei er! – der mit den Unsrigen zog, um mein Gatte zu werden, und als er es wenige Tage war, da stahl er sich eines Morgens davon bei einer großen Stadt; Niemand von unseren Leuten hat ihn wieder gesehen.“
Ein kurzer Hustenanfall unterbrach sie; dann sprach sie weiter: [244] „Sie haben dann Spott und Schande auf mich und meines Vaters Haus geworfen, bis Dein Vater mich in seinen Wagen nahm, daß wir allein und auf andere Straßen zögen, als die Uebrigen.“
„Er wird mir kein Leid anthun,“ entgegnete das Mädchen nach kurzem Besinnen ausweichend. „Meine Lebenslinie weiß nichts davon.“
„Hole ein Messer!“ gebot die Kranke heftig.
Die braune Juschka ging hinaus und kam mit dem Dolch zurück.
„Ritze Dich in den Finger und laß ein paar Tropfen in das Feuer fallen, und dann schwöre!“
Nach kurzem Kampfe entschied ein Blick auf das furchtbar erregte Gesicht der Frau. Den blutenden Finger über das Feuer haltend, sagte das Mädchen:
„Ich schwöre.“
Die Kranke legte den mühsam empor gehaltenen Kopf beruhigt zurück und schloß die Lider, während Jene hinausschlüpfte und ohne Waffe wiederkehrte, um ruhig ihre Lage zwischen dem Feuer und dem fremden Manne auf’s Neue einzunehmen.
Der Nachthimmel wollte gar nicht hell werden. Nach und nach fand sich wieder ein ziemlich heftiger Regen ein, und es war spät geworden, als die Zigeuner vom Wagen kletterten. Die braune Juschka hatte einen Topf über dem Feuer stehen, aus dem die Beiden etwas genossen, worauf sie sich an den Fluß hinunter begaben, um nach den Netzen zu sehen. Urban schlief noch immer, aber ziemlich unruhig sich hin und her werfend; der Alte hatte ihn mit befriedigtem Nicken betrachtet, als er in das Zelt gekommen war. Nach dem Abgange der Männer war es wieder still im Zelte, und der Regen hörte auf.
Plötzlich wurden draußen eilige Schritte laut, die Tritte derber Männerstiefeln. Die junge Zigeunerin spähte neugierig durch die Lücke seitwärts vom Vorhang und fuhr mit einem Schrei zurück. Der Schrei hatte die Wirkung, sowohl die schlummernde Kranke, wie auch Urban zu erwecken, der sich verwirrt aufrichtete, nach seinem Kopfe griff, wo er das Tuch fühlte, und dann mit großen Augen fragte: „Wo bin ich?“
Die braune Juschka antwortete nicht; sie stand dicht neben dem Kopfe der Mutter an die Zeltwand gedrückt, als ob sie diese durchdrängen wollte, und starrte angstvoll auf den Eingang.
Zwei Männer krochen unter dem von Nässe steifen Vorhange herein: der Friese Harro und der Fabrikleiter Bandmüller.
„Wahrhaftig, er ist es,“ rief der Letztere eifrig; „und er ist zum wenigsten nicht todt. Aber um aller Heiligen und Unheiligen willen – wer soll denn jetzt unsere Sache leiten? Es ist die höchste Zeit, daß wir drüben erfahren, wie? und wo? Alles ist schon auf den Beinen, aber Niemand ist da, der die Ordres ausgiebt, und meine Collegen wollen auf ihren Kopf allein nichts wagen. Mir gehorcht Niemand, und wer vom Comité da ist, behauptet bis auf diese Stunde, von Allem nichts zu wissen. Ich habe einen Wagen mitgebracht und bin froh, daß wir von dem braunen Lumpenpack am Wasser wenigstens erfahren haben, wo wir Sie finden konnten, Herr Doctor. Es bleibt gar nichts übrig: Sie müssen mitfahren oder es wird aus Allem nichts. – Sieh da, Schätzchen, wir reden nachher zusammen,“ wandte er sich mit flüchtigem Drohblick zu dem Mädchen hin.
„Ich fahre mit, versteht sich,“ sagte der Doctor. „Guten Morgen, Herr Harro! Ich denke, Sie sind längst in England oder wer weiß wo.“ Er machte eine gewaltsame Anstrengung sich zu erheben, aber die Kraft verließ ihn, und er sank zurück und lag ein paar Secunden mit geschlossenen Augen.
„Es geht nicht,“ stammelte er blaß; „meine Glieder sind wie Blei. Ich dachte diese Nacht nicht daran, daß ich heute früh noch einen Funken Leben haben könnte, um für Eure Revolution verantwortlich zu bleiben. Ich muß mich erst besinnen, wie das Alles gekommen ist. – Ja – ja –“ flüsterte er, und dann kam wieder etwas wie eine kurze Ohnmacht über ihn. „Es wird doch wohl nichts werden,“ fuhr er nach einer kleinen Pause kräftiger fort, indem er die Augen wieder öffnete; „die Weiber – die Weiber! Sie machen den besten Kopf verrückt. Wenn ich mich recht erinnere, so bin ich den Wasserfall hinuntergestürzt, und es scheint, daß die Zigeuner mich aufgefangen haben. Eine so schöne Revolution fix und fertig, und nun soll sie unterbleiben! Nein, das darf nicht geschehen; es wird ja anderwärts auch losbrechen. Revoltirt nur drauf und drein, baut Barricaden vor allen Zugängen vom Rheine her, besonders auf der Chaussee so viel wie möglich! Wie steht’s mit der Eisenbahn?“
Er sprach die letzten Worte aus Schwäche so leise, daß sie kaum verständlich waren. Bandmüller begriff, was der Doctor meinte.
„Sie sind heute früh nach verrichteter Sache zurückgekommen,“ sagte er zögernd und zuckte die Achseln; „aber sie müssen es sehr ungeschickt angefangen haben, denn kurz ehe ich hierher fuhr, ist dennoch ein Zug angekommen. Man hat also wohl den Schaden in der Nacht noch gefunden und ausgebessert.“
„Dumm – sehr dumm!“ flüsterte Urban. „Wollen Sie nicht an meine Stelle treten, Herr Harro?“ sprach er lauter, indem er die Augen auf den Letzteren richtete. „Sie finden Alles vorbereitet, die Leute, das Material – Sie brauchen blos zu disponiren. Herr Bandmüller wird Ihnen jede wünschenswerthe Auskunft geben. – Mein Plan, mein schöner Plan!“
„Fahren Sie mit mir, Herr Harro!“ drängte Bandmüller. „Ich freue mich, daß mein Absteigen im Wirthshause mir die Ehre Ihrer Bekanntschaft vermittelt hat. Es war das, wie ich annehme, ein Fingerzeig der Vorsehung.“
„Wohlan denn, ich will,“ sprach der Friese pathetisch und hob die Schwurfinger in die Luft. „Ich wollte mir eigentlich etwas Rechenschaft über eine gewisse Kahnfahrt mit einer Dame ausbitten, Herr Doctor, denn ich nehme an der Ehre und dem Wohlergehen dieser Dame sehr lebhaften Antheil. Aber wo die große Sache ruft, da müssen persönliche Rücksichten schweigen. Ohnehin sind Sie jetzt krank – Ah, was ist das?“
Niemand von den eifrig sprechenden Männern hatte seither auf jene Ecke geachtet, in welcher sich die beiden Frauen befanden, Niemand das geisterhafte, haßverzerrte Gesicht gesehen, mit welchem die Kranke in äußerster Spannung auf die Worte des Fabrikleiters gelauscht hatte.
„Juschka, den Dolch, den Dolch, aber schnell!“
Die junge Zigeunerin, welche die leisen, keuchenden Worte vernommen, war mit der wunderbaren Gewandtheit, über welche sie verfügte, unhörbar an den Eingang geschlichen und mit so wenig Geräusch hinausgeglitten, daß weder Bandmüller noch Harro, die ihr den Rücken zugekehrt, etwas davon gewahr geworden waren. Dabei war ihr freilich der Umstand zu Hülfe gekommen, daß der Fabrikleiter durch die Verhandlung mit Urban sichtlich auf das Angelegentlichste beschäftigt wurde. Sie war nicht wieder in das Zelt zurückgekehrt, sondern draußen hatte es beim Kopfende des Lagers gegen die Zeltwand geklopft, und dann hatte sich die Waffe unter dem Leinen hindurchgeschoben, gierig erfaßt von dem halbtodten Weibe, in welchem der Rest von Leben noch einmal zu einer dämonischen Kraftäußerung aufflackerte.
Sie schob sich langsam aus ihren Lumpen hervor, einen Rock um die Hüften und die Füße schwerfällig umwickelt, und kroch, durch das rauchende Feuer gedeckt, bis in die Nähe Bandmüller’s, den sie keinen Moment aus den Augen verlor. Sie spürte nichts von Schwäche, von dem Wühlen und Bohren in der Brust; mit der Muskelspannung des Gesunden richtete sie sich plötzlich hinter dem Fabrikleiter auf und holte mit der blitzenden Waffe aus –
Es fragt sich, ob sie die Kraft gehabt hätte, den beabsichtigten Stoß mit hinlänglicher Wucht zu führen. Aber es kam nicht so weit. Die Bewegung hinter Bandmüller hatte rechtzeitig die Augen Harro’s auf sich gezogen, der in rascher Geistesgegenwart den Bedrohten am Rockaufschlage erfaßte und vorwärts riß.
„Ah, was ist das?“
„Verräther!“ schrie das Weib mit heiserer Stimme und ihre hohlen schwarzen Augen glühten, als Bandmüller sich herumwandte und ihr verdutzt in das Gesicht sah. „Kennst Du mich?“
„Eine Verrückte!“ rief der Fabrikleiter und fiel ihr in den Arm, mit dem sie auf’s Neue die Waffe schwang. „Was habe ich mit Dir zu schaffen, altes Skelet! Leg’ Dich in die Ecke und stirb!“ Er schleuderte die Unglückliche so heftig zurück, daß sie taumelnd zu Boden stürzte. Der Dolch flog aus ihrer Hand gegen die Zeltwand; das Blut der wunden Brust quoll ihr vom Munde; ihre brechenden Augen hafteten unverwandt auf dem Rohen, der sich mit einer Geberde der Verachtung zu Harro hinkehrte – –
Draußen vor dem Zelte ertönte der laute Aufschrei einer weiblichen Stimme – –
Einige Secunden später war die Zigeunerin todt.
„Warum ich nur – ’s ist wunderbar! –
Hier aus dem Park, so hell und klar,
Mich in des Waldes Dunkel sehne
Und es durchspähe unverwandt?
Warum ich an dem Zaune lehne
Am Waldesrand?
Warum? Ist doch die Frage dumm!
Ich weiß es nur zu gut, warum?
Wo aber bleibt er heut’ so lange?
Mir macht auf meinem Jägerstand
Die Einsamkeit doch oft recht bange
Am Waldesrand.
Hier reicht der Wald dem Park die Hand,
Wo ich den schmucken Jäger fand
Und wo er mich im Kahn gefunden.
Seitdem bin ich so gern am Land!
Der alte Kahn ist festgebunden
Am Waldesrand.
Wie mächtig solchem Jägersmann
Im Wald die Liebe wachsen kann,
Das ist fürwahr nicht auszusagen.
Die Herzen lodern wie im Brand,
Wenn sie so nah’ zusammen schlagen
Am Waldesrand.
Wie lang’ er heut’ im Walde bleibt!
Zu arg ist’s, wie er’s heute treibt.
Jetzt schmoll’ ich! Heut’ will ich Dich meiden –
Rasch löse ich des Kahnes Band.
So räch’ ich meiner Liebe Leiden
Am Waldesrand.“
Sie schmollt – und schon hebt sie den Schritt
Zum Kahn, da hört sie seinen Tritt –
Da lehnt sie starr und stumm am Zaune.
Wohl fühlt sie seine Schmeichelhand –
Wohin entflieht die böse Laune
Am Waldesrand?
Er spricht so süß, sie lauscht so gern,
Im Auge lächelt längst der Stern –
O seht, sie kann sich’s kaum erwehren,
Es zuckt und ruckt, mit Mund und Hand
Geschwind nach ihm sich umzukehren
Am Waldesrand. –
Fr. Hofmann.
Die Wissenschaft scheidet, was in der Sprache verbunden ist; sie lehrt uns in ihrer Sprache als ein Vielfaches und Gesondertes erkennen, was in den Worten der allgemeinen Sprache in Eins zusammenfließt. Und dies also ist der vorzüglichste Grund, weshalb die wissenschaftliche Psychologie darauf verzichtet, vom Herzen zu reden. Sollten wir vielleicht nur aus diesem Grunde, weil die Wissenschaft das Wort vermeidet, die Sache, nämlich das Herz, für unergründet oder für unergründlich halten? Oder müßten wir, wenn nun die Psychologie ihre eigene und volle Weisheit uns darböte, wenn das, was hier zusammengesetzt in einem Namen erscheint, dort in seiner Auflösung und in der Ordnung fester Begriffe uns vorgeführt würde, müßten wir dann vielleicht aufhören zu bekennen, was man bisher behauptet hat, daß das menschliche Herz unergründlich sei? Mit nichten: Lange wird das menschliche Herz noch unergründlich bleiben; ich meine, diese psychologische Thatsache selbst, daß wir das Herz für unergründlich halten, wird sich noch oft und lange wiederholen. Zunächst aus subjectiven Gründen. – Um das Einfachste nur flüchtig zu berühren: was dem Menschen immer sein Herz als unergründlich erscheinen läßt, ist das, was wir mit einem Worte als den faustischen Drang im Menschen bezeichnen können, jenen faustischen Drang, der mit einem Blick aller Dinge Wirkungsart und Samen, der die Brüste der Natur, die Quellen alles Lebens in einer Schau ergreifen will; so möchten wir auch, wenn wir nach dem Wesen und Leben des Herzens fragen, mit einem einzigen Blick überschauen, mit einem einzigen Gedanken weit und fest, tief und klar erfassen, was so im Innersten die ganze geistige Welt bewegt. Wir alle, die wir hier sind, wir haben diese Sehnsucht; in wenigen knappen Sätzen möchten wir es wissen, was denn nun eigentlich das Grundwesen des menschlichen Herzens ist; wir möchten auch die goldenen Eimer sichtlich steigen sehen, die aus des Daseins tiefster Quelle schöpfen.
Solche Erkenntniß giebt es nicht. Im Reiche des Geistes so wenig wie in dem der Natur; das eigene Innere ist uns näher als alle Außenwelt, aber sein Wesen und Wirken müssen wir dennoch mühsam und langsam in seiner Breite und Fülle erforschen. Wenn wir dann aber an die Fülle der einzelnen Thatsachen gehen, begegnet uns eine zweite Schwierigkeit. Wir müssen die Thatsachen beobachten, sichten und sammeln, alles dies aber besteht in einer reflectirenden Thätigkeit, die wir auf unsere Gefühle richten müssen, und eben diese stört uns den Proceß der Beobachtung. So wie es körperliche Stoffe giebt, welche man niemals bei Lichte besehen kann – Chlorsilber z. B. wird vom Licht zersetzt (daher man eben die Photographien mit Hülfe desselben herstellt): will ich also den Stoff bei Licht besehen – sehe ich ihn, so sehe ich ihn schon nicht mehr; denn unter der Bedingung, unter welcher er gesehen werden kann, ist er schon ein anderer geworden: so auch können wir die Gefühle schwer unmittelbar beobachten; das Licht der Reflexion zersetzt sie. Wir sind in Folge dessen meist auf Erinnerungen angewiesen, und es entstehen besondere Schwierigkeiten für den Psychologen, das innerste und eigentlichste Wesen der Gefühle dennoch festzuhalten.
Aber nicht blos persönlich in uns (subjectiv), sondern auch, sachlich in den Gefühlen selbst (objectiv) liegen für die ordnende und zusammenfassende Betrachtung Hindernisse, welche schwer zu überwinden sind. Vor allem ist es ihre Mannigfaltigkeit. Alle Arten von Genuß und Befriedigung, alle Arten von Schmerz und Kummer, welche wir empfinden, alle sanften und herben, alle süßen und harten, alle erhebenden und alle niederbeugenden Erregungen unseres Gemüths werden zusammengefaßt unter einem Namen des Herzens; haben doch die verschiedenen Schulen der Psychologie fast jede sogar eine eigene Eintheilung für die Gefühle. Zwar wird durch verschiedene Eintheilung die Anzahl der beobachteten Erscheinungen nicht vermehrt, aber es erweist sich daraus, daß sie verschiedenartig in ihren Beziehungen, mannigfaltig in ihrer Qualität, daß ihre Formen und Functionen so vielgestaltig sind, daß eben jeder Denker ein neues System der Ordnung in der bloßen Auffassung derselben entwickelt.
In und neben mancher andern Eintheilung mögen wir als ein Netz, welches das ganze Gebiet mit Fäden der Ordnung umspannt, mancherlei unterscheiden: erstens Gefühle des eigenen Befindens und Seins, Gefühle von Wohl und Uebel, von Kraft und Schwäche, von denen die Wahrnehmung unseres eigenen Selbst begleitet ist; sodann die Gefühle, welche an die einzelnen Thätigkeiten, an das Gelingen oder die Hemmung derselben sich anknüpfen; die Art, wie unsre Arbeit von Statten geht, ob in harmonischem Flusse und erfolgreich, oder stockend, gehemmt und vergeblich, der Kampf gegen Schwierigkeiten, der Wettstreit mit andern Kräften mit seinen Siegen und seinen Niederlagen – alles Dies ist von besondern Arten von Gefühlen umspielt, durch welche der Reiz und Werth des Lebens sich mehrt oder mindert. Daran schließen sich dann ferner: die Gefühle des Selbst, vom einfachen Selbstgefühle, in welchem die Schätzung und Hegung des eigenen Ich sich ausprägt, durch alle Weisen der Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit sich selbst; süßer Friede und bittere Reue, Gleichmuth bei Selbsttreue, Unmuth bei Schwanken – sie heben und senken und erfüllen mit den mannigfachsten Formen unser Selbstgefühl. Wie sich dieses erweitert durch Zusammenschließung des eigenen Selbst mit andern im Ehrgefühle, und wie dann alle jene Gefühle der Zusammenschließung unter den Menschen hinzutreten, entsprießen derselben die reichsten Schätze, aber auch die Bitterkeiten unsrer Seele. Alle Seelenverbindung, von der einfachsten [247] Freundlichkeit und dem Wohlwollen bis zu den Gefühlen der Freundschaft, der Liebe, und schließlich jene ersehnte und gesuchte Zusammenschließung des endlichen Wesens mit seinem unendlichen Schöpfer in der Religion: welch eine Fülle und Mannigfaltigkeit! Endlich aber wird unsre Seele bewegt in jenen objectiven, idealen Gefühlen, die ich vorher bereits in ihrer Anwendung genannt habe; das Wahrheitsgefühl vor Allem, welches die Menschheit treibt zur unablässigen Forschung, welches uns drängt zum Suchen, zum Zweifeln, um endlich zum Lichte der Wahrheit durchzudringen; die Gefühle der Schönheit, der Sittlichkeit, welche ja das Leben der Gesellschaft und das Leben des Einzelnen in seinem wahren Werthe, in seiner innern Würde erst aufbauen.
Alle diese Gefühle können wir als einfache bezeichnen, jedes einzelne aber bietet uns eine Vielheit der Formen. Denken wir z. B. an das eine Gefühl des Muthes – wie mannigfaltig verschieden ist der Muth bei den Menschen! Wie wenig treffen wir bereits die Charakteristik, die Signatur eines Menschen, wenn wir ihn als muthig oder sein Gegentheil bezeichnen! Der eine, der vielleicht muthig wäre in der Schlacht, würde es nicht wagen, Nachts über den Kirchhof zu gehen; der andere ist muthig zu Lande, zur See aber wankt dennoch sein Herz; dieser ist vollkommen muthig bei Tage, bei Nacht aber schwindet ihm der Muth. Und wie verschieden sind die Arten des Muthes selbst da, wo er in einer ganz gleichen Form als Muth der Aufopferung sich zu erkennen giebt, wie verschieden, wenn man so recht eigentlich und tief innerlich die Sache ansieht, bei jenen Spartanern, welche unter Leonidas sich hingeopfert haben für die Ehre ihres Vaterlandes, bei jenen Maccabäern, welche sich hinopfern ließen, um das Gesetz ihres Gottes zu erhalten, und bei all den Märtyrern, welche für den Glauben, dem sie leben, auch sterben! Und würden wir nicht fast an jedem Gefühle ebenso wie an dem des Muthes eine solche Vielheit der Formen und Arten aufzeigen können?
Von der unendlichen Mannigfaltigkeit im Gefühle der Liebe legt die Poesie aller Völker und Zeiten ein überwältigendes Zeugniß ab, das alle Wissenschaft überflügelt und bedrückt.
„Aber nicht blos verschiedenartig in ihrer Form, ebenso mannigfach in ihrem Grade sind ja alle diese Gefühle, und wie sie in Form und Kraft verschieden sind, so wiederum nach persönlichen Verhältnissen. Dasselbe Gefühl, in jedem Alter ist es bei uns ein anderes, und ein anderes auch fast in jedem Stande; hat aber schon jedes Gefühl eine eigene Färbung, je nach den Stufen der Bildung, so ordnet es sich auch verschieden für Jeden in das Ganze seines Lebens ein und spielt eine andere Rolle darin.
Alles dies gilt von den einfachen Gefühlen, aber wir haben nicht blos einfache, wir haben auch gemischte Gefühle, gemischt bald aus gleichartigen, bald sogar aus ungleichartigen und widerstrebenden Gefühlen. Gleichartig bis zum Entsetzen ist’s, wenn Schmerz über vergangenes Leid, Kummer über gegenwärtiges, Sorge um zukünftiges sich zusammenfinden, um den Gram auszumachen; im Gegentheil ist in der Begeisterung meistentheils die Bewunderung des Gegenstandes, für welchen wir begeistert sind, mit dem Muthe und der Hoffnung, für ihn zu wirken, verbunden, und dazu gesellt sich das Gefühl der eigenen Kraft, in dieser Wirksamkeit sich bethätigen zu können, um eine einheitliche, erhöhte Stimmung zu erzeugen.
Aber auch verschiedene Gefühle, die entweder der Zufall aneinander bringt, oder die aus derselben Sache folgen, bewegen gleichzeitig unser Gemüth. Wie kann das menschliche Herz gefoltert werden durch entgegengesetzte Gefühle, wie wenn etwa in einer Familie in derselben Stunde ein Kind geboren, ein anderes von hinnen genommen wird! Solcher Zufälligkeit, obwohl glücklicher Weise selten von solcher Nähe und Schärfe des Gegensatzes, sind wir fort und fort in jeder Stunde ausgesetzt, daß verschiedene Ereignisse an unsere Seele herantreten und entgegengesetzte Gefühle hervorbringen, aber auch aus einem und demselben Ereignisse können sie fließen. Wenn ein aufleuchtender Gedanke in uns ist, der uns mit einer gewissen Seligkeit erfüllt, während er auf der andern Seite liebgewordenen Glaube oder angenehme Illusionen uns raubt, wenn wir den doch nicht allzu seltenen Fall erleben, daß wir von einer geliebten Person eine Erbschaft zu machen haben – ein edles Herz windet sich unter diesem ihm aufgezwungenen Gegensatz von Freude und Schmerz; – wenn wir zu Gunsten eines Anderen auf ein Glück, auf eine Freude verzichten, aber mit Freude den Schmerz des Verzichts ertragen: so fließen hier überall aus gleichem Ereignisse verschiedene, entgegengesetzte, und dennoch gleichzeitige Gefühle.
Die Gefühle folgen ebenso wie alle inneren Vorgänge und alle äußeren Erscheinungen einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Auch ohne wissenschaftliche Erkenntniß haben wir nicht nur eine dunkle Vorstellung von derselben, sondern wir rechnen auf sie, wir handeln selbst und erwarten Handlungen von Anderen auf Grund dieser Gesetzmäßigkeit, wie wir auch ohne die Wissenschaft der Physiologie vielen Gesetzen, die sie kennen lehrt, aus Erfahrung folgen. Mindestens aber ist es die lange Erfahrung selbst, an Anderen und an uns selbst gemacht, welche uns dort wie hier gewisse Gefühle bestimmt erwarten läßt. Das Leben aber überrascht uns damit, daß wir gar nicht selten, bei Anderen und bei uns, Gefühle auftreten sehen oder Formen und Grade dieser Gefühle, die wir nicht erwartet hätten. Wir glaubten uns doch zu kennen; wir hätten das Auftreten dieses Gefühls, in dieser Verbindung, mit dieser Macht bei uns nicht für möglich gehalten. Frühreife und spät blühende Gefühle treffen wir, die uns in Staunen versetzen, oder Gefühle, welche mit unseren Gesinnungen und Meinungen so wenig zu harmoniren scheinen. Wir hätten z. B. nicht gemeint, daß uns eine, daß uns diese Landschaft so entzücken könnte, daß wir diesen Zug von Eitelkeit, jenen von Neid noch in uns antreffen könnten. Und dann eben sagen auch wir uns mit einer gewissen Verzweiflung, daß doch das menschliche Herz unergründlich sei.
Wenn wir nun aber mit Hülfe der Psychologie uns hinaushöben über alle diese Verschiedenheiten, wenn wir die Leitstäbe fänden, um alles dies einzuordnen, sodaß wir einen klar und wohl gesichteten Ueberblick über alle diese Arten von Thätigkeiten des menschlichen Herzens hätten, und die Gesetze derselben zu erkennen uns anschicken dürften, wäre es dann ergründlich für uns? Das heißt: erschiene es uns ergründlich? Denken wir nur an das Eine: trotz alledem und alledem würde uns der Gedanke kommen, daß in jeder Stunde – was sage ich: Stunde! – daß in jeder einzelnen Minute Millionen und abermals Millionen Herzen schlagen, und in jedem Schlage ist es ein anderes Gefühl, in jedem eine andere Regung, jedes von einem andern Gegenstande getragen und erhoben oder gedrückt und niedergebeugt. Wiederum wäre es schließlich die sinnverwirrende Mannigfaltigkeit, welche uns daran verzweifeln ließe, das menschliche Herz zu ergründen, während die Wissenschaft still und besonnen ihren Weg geht, um das verwirrende Chaos dieser Mannigfaltigkeit zu lichten und zu ordnen, mit Maß und Gesetz zu durchdringen. Eins aber kommt noch hinzu, was auch die Wissenschaft noch zu wenig beachtet hat, um deswillen uns das Herz unergründlich erscheint und welches reichlich und reiflich beachtet werden muß, damit es in Zukunft ergründet werde.
Nämlich dies Eine noch: das menschliche Herz hat seine Geschichte; auch die Gefühle sind Gegenstände historischer Entwickelung. Es ist schwer, den Antheil, den das Gefühl an der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit hat, festzustellen. Die Werke des Geistes finden ihre ausgeprägte Form und werden in dieser deutlich überliefert; auch die Richtungen des Willens finden in den Ereignissen, wie in den Institutionen, welche die Menschen durch ihre Energie geschaffen haben, ihre feste Ausprägung. Was das Gefühl, die innern Zustände während dieser Willensenergie, während dieser geistigen Arbeit der Menschen gewesen ist, das entzieht sich meist mindestens dem unmittelbaren Blicke unseres Auges. Es ist eine tiefe Symbolik der Natur, daß wir von hingegangenen Generationen wenigstens die Schädel in späterer Zeit finden, und wir können an ihnen messen, wie die Menschheit, wie einzelne Nationen allmählich verschieden entwickelte Formen für das Gefäß ihrer geistigen Thätigkeit, ihre Intelligenz gefunden haben, das Herz aber, sobald es zu schlagen aufhört, ist es auch der Verwesung preisgegeben. Welche Gefühle in der Geschichte mitgewirkt haben und wie die Gefühle selbst Gegenstand historischer Entwickelung sind, das ist um so viel schwerer zu entdecken; – daß sie aber historisch alle entwickelt sind, das entzieht sich wohl keinem von uns, sobald wir auf den Gedanken hingewiesen werden. Welche weiten Abstände hat ein in allen Wandlungen allerdings gleichartiges Gefühl, das deshalb auch stets mit gleichem Namen bezeichnet wurde, wie das der Ehre [248] oder das Gefühl der Freundschaft oder der Liebe im Laufe der Zeit, im Leben der Menschheit von Epoche zu Epoche, von Nation zu Nation durchmessen!
Halten wir nur einen Augenblick uns ein Beispiel gegenwärtig von dem, was für uns ein unmittelbar zugehöriger Gegenstand unserer Herzensbefriedigung, unserer Herzensbedürfnisse ist, so können wir den ganzen Weg ermessen, den die Menschheit durchzumachen hatte. Die Liebe der Menschen zu dem aufwärts steigenden Geschlechte, die Liebe der Kinder zu ihren Eltern, überhaupt der jüngern Generation Fürsorge, Hochachtung, Pietät für die ältere Generation erscheint uns als etwas absolut Selbstverständliches; dieses echt menschliche Verhältniß – ich sage echt menschlich, denn diesen Zug allein konnten wir von den Thieren nicht lernen; die Liebe einer Generation zur abwärts steigenden andern zeigt sich fast bei allen Thieren; die Mutter immer, meist auch der Vater, hat eine gewisse Sorge für sein Junges, aber eine Sorge der Jungen für die Alten finden wir bei keinem Thiergeschlechte, das also ist echt menschlich, und nichts desto weniger ist es ein Erzeugniß historischer Entwickelung. Wir kennen heute noch Stämme unter den Menschen, die so cannibalisch sind, daß sie eben ihre Eltern, wenn sie alt und dienstunfähig geworden sind, verspeisen, andere, welche den Alten, sobald sie arbeitsuntauglich geworden sind, auch das Leben nicht mehr gönnen und sie der Wüste und dem Hungertode preisgeben. Erwägen wir, welch ein Weg der Geschichte es gewesen ist, von diesem Verhalten der Jungen gegen die Alten bis zu den Empfindungen, welche sich darin kundgeben, daß „alt“ ein Kosewort ist, daß „alt“ das Herzigste ausdrückt, was man sagen kann, – wenn man von einem neugeborenen Kinde sagt: „Dat oll lütt Worm!“
Wenn man den Gedanken der Geschichte der Gefühle ausspricht, meint man, sage ich, sofort zustimmen zu können und zustimmen zu müssen, ja man sieht den Gedanken als einen selbstverständlichen an, und doch bis auf die allerneueste Zeit herab ist dieser Gedanke keineswegs den Menschen geläufig, noch waren sie geneigt, weil die Geschichte der Gefühle sich dem Auge auch des Forschers leicht entzieht, ihn anzuerkennen. Ich erwähne nur den Einen, Buckle, dessen „Geschichte der Civilisation“ ja so viel Anklang auch bei uns in Deutschland gefunden hat. Er ist noch der Meinung, daß die Menschen in Bezug z. B. auf ihre sittlichen Gefühle zu allen Zeiten gleich gewesen sind; die Veränderungen, welche in der moralischen Welt vor sich gehen, seien nur abhängig von der Veränderung in der theoretischen Erkenntniß. Es habe zu allen Zeiten gegeben und werde geben den Unterschied von Tugend und Laster und die Vertheilung werde ziemlich dieselbe bleiben. Hier ist das Zarteste, das Feinste, das eigentlich Unwägbare in unserm innern Leben mit einem Hauche hinweggewischt, statt daß wir Alles daran setzen sollten, zu einer wirklichen Geschichte der menschlichen Gefühle zu gelangen. Wenn wir einmal eine solche Geschichte des menschlichen Gefühls besitzen werden, dann werden auch alle jene Widersprüche verschwinden, von denen unser tägliches Gespräch voll ist, wenn wir vom menschlichen Herzen reden, und weshalb es den Denkern immer so unergründlich scheint.
Ist es nicht so, daß wir jetzt, wenn uns irgend etwas erzählt wird, etwa aus einer fernen Zeit oder einem fernen Volk, daß wir gleich geneigt sind zu meinen: „es ist doch das Herz überall gleich,“ und in der nächsten Stunde, weil ein Geschwister vom andern sich im Grunde tief unterscheidet, doch wieder zu sagen: „überall ist doch das Menschenherz verschieden und fein abgestuft und schattirt“. Bald sagen wir: „das Herz und seine Regungen sind allgemein menschlich; es ist bei einem Volke wie beim andern“ und dann wiederum: „alles ist doch national verschieden; in jedem Volke zeigt sich – und das ist eben das Wahre der Beobachtung – auch was scheinbar vollkommen das Gleiche ist, dennoch in feinen Unterschieden von einander abweichend“. Ebenso sagen wir bald, wenn wir irgend aus vergangener Zeit ein Ereigniß hören, das an unser Herz klingt und unsere Sympathie erweckt: „das menschliche Herz war doch allezeit gleich“, und doch wissen wir – wir haben es ja eben genauer gesehen – daß das menschliche Herz zu aller Zeit verschieden war. Bald sind wir der Meinung, daß auch das menschliche Herz abhängig ist von der historischen Tradition, daß, je nachdem die Vorfahren gelebt und gewirkt, je nachdem ihr geistiges und inneres Leben sich gestaltet, auch die Gefühlsweise der Menschen sich verändert, und dann wiederum sagen wir und müssen doch auch sagen: „in jedem Menschen fängt sein Herz von Neuem zu leben an; in jedem einzelnen Herzen beginnt von Neuem wieder die Regung seines Gemüths; jeder einzelne Mensch muß von sich aus, von dem leeren Anfang, die Stufe erklimmen, welche vergangene Zeiten erstiegen haben“. Dazu kommt endlich noch der andere Gegensatz; bald sagen wir: „das menschliche Herz ist doch überall Natur; wenn alle Künste sonst den menschlichen Geist berücken, wenn die Lebensverhältnisse künstlich gestaltet werden können, im Herzen erlischt die Stimme der Natur nicht“, und auf der andern Seite sehen wir, daß auch das Herz so völlig abhängig ist von der Cultur und ihren Stufen, daß auf verschiedenen Culturstufen, in verschiedenen Culturepochen, in verschiedenen Culturrichtungen auch das Gefühl verschieden ist.
Wenn das Verschwinden dieser täuschenden Gegensätze der theoretische Gewinn einer Geschichte des menschlichen Gefühls sein wird, dann wird auch noch ein praktischer Erfolg daraus kommen für uns Alle. Eins werden wir zu erkennen haben: wohl ist das menschliche Gefühl Gegenstand historischer Entwickelung; seine höchsten und reinsten Formen treten nicht in die Erscheinung, ohne daß oft durch viele Generationen eine Verfeinerung, eine Veredelung des menschlichen Herzens stattgefunden hat, ohne daß die Gefühle allmählich durch die Mitwirkung der Weisheit, der Dichtkunst, des edelsten Wollens, zu der vollendeten Form gekommen sind, welche sie eben empfangen haben – obwohl aber so das Gefühl abhängig ist von der Geschichte seiner Entwickelung, so ist dennoch hier nicht, wie bei den anderen Richtungen des inneren Lebens, mit der Geschichte sein Fortgang bereits gesichert. Gedanken, welche einmal erobert sind, gehen nicht leicht wieder in der Geschichte verloren; historische Institutionen, welche geschaffen sind, überleben alle die Gesinnungen, aus welchen sie hervorgegangen sind, im Gefühle aber geht jederzeit, im Ganzen der Menschheit, in jedem Volke, in jedem Einzelnen der Weg aufwärts und abwärts. Täglich, stündlich sind wir vor diesen aufwärts und abwärts führenden Scheideweg gestellt; täglich und stündlich sind wir davor gestellt, daß wir in unserm Gefühl eng, klein, egoistisch oder groß, frei und hingebend sein können. Die Erbschaft der Geschichte in Bezug auf die Veredelung des Gefühls geht jeden Tag wieder verloren, es sei denn, daß wir selbst sie uns von Neuem gewinnen. Geschichtlich ist das menschliche Gefühl, aber dieser geschichtliche Erfolg muß jeden Tag und jede Stunde von den Einzelnen und von der Gesammtheit von Neuem wieder errungen werden.
Bei Gelegenheit des Besuches, den Kaiser Wilhelm im vorigen Jahre bei den Wagner-Vorstellungen dem Könige von Baiern in Bayreuth abstattete, bewohnte der Kaiser das bei genannter Stadt gelegene Lustschloß Eremitage. Die Zeitungen brachten bei Gelegenheit einige Notizen über Eremitage. Wir hoffen das Interesse unsrer Leser durch eine ausführliche Skizze über den interessanten Ort zu fesseln.
In den oberfränkischen Kreis des Königreichs Baiern theilten sich einst zwei Herren, ein weltlicher und ein geistlicher, der Markgraf von Brandenburg-Bayreuth und der Bischof von Bamberg. Das Markgrafthum Brandenburg-Bayreuth zählte etwa zweihunderttausend Einwohner. Friedrich Wilhelm der Erste von Preußen hatte den an Sparsamkeit gewöhnten Markgrafen Georg Friedrich Karl im Sommer des Jahres 1730 in dem damals noch winzig kleinen, unscheinbaren Bayreuth besucht. Der Etiquette gemäß hatte der Markgraf seinen königlichen Gast in einem eine halbe Meile von Bayreuth entfernten Dorfe in seinem Staatswagen aufgenommen, an dem die historischen Erinnerungen vielleicht noch das einzige Bemerkenswerthe waren. Die Dienerschaft hatte Mühe, das vierrädrige schwankende Möbel aufrecht [249] zu erhalten – so schlecht waren die Wege. Der König erzürnte sich darüber gewaltig; seine Flüche verhallten im Toben eines hereingebrochenen Gewitters. Die Hände gefaltet, saß der Markgraf still neben dem aufgeregten Könige.
„Herr Vetter,“ redete ihn dieser in seiner derb-natürlichen Weise an, „was macht Ihr ältester Sohn so lange auf Universitäten?“ Erbprinz Friedrich befand sich damals auf der wegen ihrer calvinistischen Richtung vielbesuchten Universität Genf. – „Lassen Sie ihn doch heimkommen! Ich will ihm meine älteste Tochter zur Frau geben.“
Der darob nicht wenig geschmeichelte Vater glaubte in dem ihm vom Könige übermachten Portrait der Prinzessin eine stille und gute Landesmutter zu erblicken. Mit Entsetzen mußte er aber die Wahrnehmung machen, daß die fürstliche Schwiegertochter das Gegentheil von Dem war, was er erwartet hatte. Sie war in seinen Augen ein Weltkind, weil sie Reisen, Musik, Komödien, Ballets, überhaupt kostspielige Feste liebte, und – was bei dem Markgrafen dies Alles überwog – sie war eine Philosophin, Verehrerin und Freundin Voltaire’s, in welchem er den Antichrist zu erblicken glaubte. Im Disputiren ließ sie einen Altdorfer Professor weit hinter sich zurück. Daß sie die Musen und Künste, die Cultur in diesem von denselben bisher gemiedenen Winkel deutscher Erde einführte – für diese Würdigung freilich war sein Gesichtskreis zu eng. Nach ihres Schwiegervaters Tode, der 1735 erfolgte, ging die Markgräfin an die Vollendung und Verschönerung des Lustschlosses Eremitage, das sie von ihrem Gemahle bei seinem Regierungsantritte zum Geschenke erhalten hatte. Dieser auf den Raum einer Viertelquadratmeile hingezauberte Mikrokosmus war ein Product ihres phantasiereichen, weitausstrebenden Geistes. Daß es ein Mikrokosmus war und blieb, davon ist die Schuld dem Schicksale beizumessen, das sie nach ihrer geistiger Beschaffenheit zu großen Dingen, zur Trägerin der vier Kronen der britischen Monarchie bestimmt hatte. Die Vorsehung, oder vielmehr die österreichische Politik, hatte später ihre Gedanken geändert und der Fürstin eine Krone auf das Haupt gesetzt, deren Glanz nicht wie der von Großbritanniens Krone über die Meere dahin strahlte, eine Krone, welche die großen Pläne, die der Fürstin im Gedanken an ihre einstige Bestimmung sich erzeugt hatten, auf ein reell sehr eng begrenztes Gebiet einschränken mußte.
Der Hügel, auf welchem das Lustschloß liegt, ist von drei Seiten vom rothen Maine umflossen. Im Jahre 1715 war der Ort noch ganz mit Wald bedeckt. Markgraf Georg Wilhelm hatte das Vorderteil des Hauptgebäudes, das ein geschlossenes Viereck bildet und aus scheinbar unzugehauenen Sandsteinblöcken aufgeführt ist, zu einem Jagdschlößchen bestimmt, den Wald in einen Garten umwandeln lassen und dem Ganzen den Namen „Eremitage“ beigelegt. Der Name rührte von mehreren im Walde zerstreut liegenden Eremitenhäusern her, die der Fürst mit einer ausgesuchten kleinen Gesellschaft beiderlei Geschlechts bewohnte. Hier gerirte man sich „A l'Eremite“. Alles, was an den Glanz der Welt hätte erinnern können, war streng ausgeschieden; das Hofkleid wurde mit einem Eremitenkleide von braunem Zeuge vertauscht; ein Strohhut, ein Flaschenkürbis und ein Stab bildeten den übrigen einsiedlerischen Schmuck. Die Lebensweise vollendete den Einsiedler; man speiste mit hölzernen Löffeln aus braunirdenem Geschirr. Die Freuden der Gesellschaft durften beide Geschlechter nur zu bestimmten Stunden genießen. Der Fürst gab das Zeichen dazu mit einer Glocke, die auf dem Thürmchen seines Eremitenhauses angebracht war.
Ihren im achtzehnten Jahrhunderte weitverbreiteten Ruf verdankt die Eremitage zumeist der Markgräfin Sophie Wilhelmine, des großen Friedrich's Lieblingsschwester. Sie schien hierher geführt zu sein, um mit ihrer sittlichen Reinheit und ihrem geistiger Nimbus diesen Ort zu entsühnen, um ihn von den Spuren eines Verbrechens zu reinigen. Dasselbe enthüllt die tiefe Verworfenheit eines Weibes, das den heiligen Namen einer Mutter geschändet hatte – einer Mutter, die aus verletzter Eitelkeit die Lebensblüthe ihres Kindes brach.
Christiane Sophie Wilhelmine, die einzige Tochter des Markgrafen Georg Wilhelm, war bis zum zwölften Jahre am Hofe ihrer Tante, der Königin von Polen, erzogen worden. Sie ward bewundert wegen ihrer Schönheit, verehrt und geliebt um ihrer Sanftmuth und Sittsamkeit willen. Desto mehr wurde sie von ihrer Mutter gehaßt, einer geborenen Prinzessin von Weißenfels. Die Markgräfin Wilhelmine schildert sie als eine Frau, die noch in späten Jahren ihre körperlichen Reize sich erhalten hatte. Die Tochter, jünger in ihrer Erscheinung, reizvoller, frischer, drohte sie zu verdunkeln – und darum beschloß sie, ihr eigenes Fleisch und Blut zu verderben. Die Feder sträubt sich, die dunkle That zu berichten, zu der ein Kammerherr von Wobeser die Hand lieh.
Die Markgräfin Wilhelmine erzählt in ihren Memoiren die Geschichte, und wenn diesen Aufzeichnungen auch nicht überall stricte Glaubwürdigkeit beizumessen sein möchte, so ist diese dunkle Seite aus den Annalen des Hoflebens des achtzehnten Jahrhunderts doch noch nicht widerlegt worden. Nach denselben wäre von Wobeser von der Mutter gedungen worden, die Tochter zu Falle zu bringen. Für seine Bemühungen um die Gunst der Prinzessin erntete er jedoch nur deren Geringschätzung und Verachtung. Die Mutter griff zu einem gewaltsamen Mittel. Sie ließ den Kammerherrn im Schlafzimmer der Prinzessin sich verbergen – die Folgen blieben nicht aus. Unter dem Vorwande einer Krankheit entfernte die Mutter die Tochter vom Hofe. Als die Zeit der Entbindung nahete, begab sich die Mutter mit ihr nach der Eremitage. Die Prinzessin gab zwei Knaben das Leben. Nicht achtend die Bitten und Vorstellungen der Anwesenden, nahm die unnatürliche Großmutter die Neugeborenen, trug sie im Schlosse umher und ergoß sich in Verwünschungen gegen das schamlose Geschöpf, das sich ihre Tochter nannte. Die Kinder starben an der zarten Behandlung durch die Großmutter bald nach der Geburt. Den Vater der Prinzessin traf die Unglücksnachricht auf der Jagd.
Die Prinzessin wurde auf die Plassenburg gefangen gesetzt, aber nach dem Tode ihres Vaters von dem Nachfolger desselben, dem Schwiegervater der Markgräfin Wilhelmine, aus ihrer Haft befreit. Sie lebte bis zu ihrem Lebensende in einem unscheinbaren Hause zu Culmbach, das noch heute das Prinzessinhaus heißt. Aber auch an der Mutter sollte sich die strafende Gerechtigkeit erweisen, wenn auch diese Strafe lange nicht der Größe des Verbrechens entsprechend war. Die Markgräfin-Wittwe, welcher Erlangen als Wittwensitz angewiesen worden war, faßte hier eine rasende Neigung zu ihrem Hofcavalier, dem mährischen Grafen Hoditz; sie verheirathete sich später mit ihm. Er verließ sie, nachdem er sie durch seine Verschwendungssucht ihres ganzen Vermögens beraubt hatte, sodaß sie in Wien auf die Mildthätigkeit des Adels angewiesen war. Das war in der Eremitage geschehen – damals, als der von der Zeit ergraute Sandstein des Schloßgebäudes noch licht war und die Gemächer von ihrem Schmucke noch neu erglänzten.
Den Mittelpunkt der Vorderfront des Wohngebäudes bildet ein mit grau und rothem Fichtelbergischem Marmor bekleideter Saal von ziemlicher Größe. Betrat man ihn vom Hofe aus, dessen Viereck von allen Seiten Gebäude einschlossen und in dessen Mitte ein Springbrunnen beständige Kühle verbreitete, so lagen rechts die Zimmer der Markgräfin, links die ihres Gemahls. Die letzten noch sichtbaren Reste ihrer einstigen Pracht sind die noch gut erhaltenen Deckengemälde; die historischen, dem Alterthum entnommenen Gegenstände behandeln antike, heroische Tugenden. Ueber dem Eingange in diesen Saal prangt in Stein gehauen das brandenburgische Wappen, und im Innern begegnet man überall den Zeichen des brandenburgischen, später preußischen rothen Adlerordens. Das erste Zimmer rechts vom Saale ist mit gelbem Damast und Lambris von schwarzem und gelbem Marmor bekleidet. Die silbernen Borden, von denen die Markgräfin spricht, sind nicht mehr zu entdecken. Vielleicht sind sie im Laufe der Zeit vergoldet worden. Das nächste Gemach ist mit Brocat in Blau und Gold ausgeschlagen. Die Ausstattung des dritten, kleinern Eckgemaches ist japanisch und ein Geschenk Friedrich’s des Großen. Es hatte eine hübsche Summe Geldes gekostet und war nach Versicherung des Gebers das einzige, das nach Europa gekommen war. Der Grund der Tapete ist von gekerbtem Golde; die Figuren sind in Basrelief mit chinesischer Sauberkeit und Genauigkeit ausgeführt.
Von da tritt man in das Musikzimmer von weißem Marmor mit grünen Feldern, aus welchen in erhabener Vergoldung die Embleme der Musik hervortreten. Unter dem Kamine üben die frischen, pikanten Züge eines lebensgroßen weiblichen Portraits auf das Auge nicht geringe Anziehungskraft. Es ist das Bildniß [250] eines Hoffräuleins der Markgrafin, jener Albertine von Marwitz, später verheiratheten Gräfin Burghaus, die von ihrer Gebieterin so sehr geliebt wurde und die derselben zum Lohne für diese ihre Liebe das Herz ihres Gemahls raubte. Rings um das Zimmer läuft eine Galerie sehr schöner weiblicher Portraits von den berühmtesten Meistern jener Zeit. Es sind die Bildnisse von fürstlichen Zeitgenossinnen der Markgräfin; auch die ihrer schönen Schwestern sind darunter. Eigenthümlich ist es, daß so wenige Portraits der Markgräfin selbst existiren – d. h. aus ihrer späteren Zeit. Aus ihrer Kindheit und Jugend hat man deren mehrere im Charlottenburger und Berliner Schlosse. Man kennt von ihr als Markgräfin im Grunde nur ein Bild, das in mehreren Copien existirt – eines in der ersten rothen Vorkammer des Schlosses in Berlin. Das ist jedenfalls aber nicht das Original. Dieses befindet sich in einem der Räume des früheren Sommerschlosses bei Bayreuth auf dem sogenannten „Brandenburger“ in dem Leers’schen Kinderstifte. Die „Gartenlaube“ ist das einzige Journal, welches dieses Bild reproducirt hat (Jahrgang 1856, Nr. 28). Die Markgräfin ist in Lebensgröße und lesend abgebildet; sie trägt eine Art Eremitenkleid, eine schwarze Robe mit langem Kragen, die mit hochrothen Schleifen geschmückt ist. Auf ihren Knieen ruht ein Bologneserhund; in der rechten Hand, die des Pinsels eines Carlo Dolce würdig wäre, hält sie ein Buch; der Ellbogen des linken Armes ist auf den mit Büchern bedeckten Schreibtisch gestützt. In der Hand ruht das schöne denkende Haupt, von dessen äußerem Umfange man kaum glauben möchte, daß ein so reicher Schatz von Gedanken darin wohnen konnte. Das große tiefblaue Auge blickt ernst, klar und heiter. Diese zarte Haut, unter der das Astgewebe der Adern sich hinschlängelt, frischte im Volke die Sage von der schönen Augsburgerin auf, durch deren Hals man den Strom des rothen Weines fließen sah. Es liegt Ruhe in diesem Antlitz voll lieblicher Schönheit, nicht jene kalte, todte Ruhe, die aus Verzagen abgeschlossen hat mit dem Fühlen, mit dem Kämpfen des Lebens, nein, eine Ruhe, die sich im Gefühle einer höhern Wesenheit aus schweren Kämpfen emporgerungen hat, eine Ruhe voll Leben und Seele, höher fühlend als die übrige Welt, aber für sie fühlend, ihren Schmerz, ihre Freuden mit empfindend. Wer ahnte in dieser Ruhe Kampf, heißen, wogenden Kampf, von dem dieses Herz entbrannt war, als Liebe und Entsagung gebietend gegen einander auftraten! Der Markgraf, ihr Gemahl, war ihr geistig nicht gewachsen. Er war ein hübscher, wenn auch nicht sehr vornehm aussehender Mann, ein Stück Natursohn. Aber gerade dieser Gegensatz erklärt ihre Liebe zu ihm, die ihr so manche Stunde verbittern sollte. Nebenan jenes kleine braune Gemach mit den erhabenen Blumen auf braunem Lack ist der Ort, wohin die beleidigte Gattin flüchtete, wenn die Wunden zu bluten anfingen. Hier fand sie Trost in den Werken der Dichter und Weisen, die sie umgaben, Trost in der Aufzeichnung ihrer Lebensschicksale, den berühmten Memoiren. „Hier ist es,“ schreibt sie aus diesem Raume, „wo ich diese Memoiren schreibe und viele Stunden mit meinen Betrachtungen hinbringe.“
Von den Zimmern der Markgräfin aus erblickt man zur Rechten im Gebüsche zwei Bauwerke, ein steinernes Theater mit offener Scene und eine einsam stehende hohe und schmale Wand mit antiker Säulenverzierung. Es ist ein Denkmal, das die Markgräfin ihrem Lieblingshunde hatte errichten lassen. In dem Briefwechsel mit ihrem Bruder, dem Könige, befinden sich als jeux d'esprit, als Erzeugnisse übermüthiger Laune, Briefe, welchc die Lieblingsthiere der Markgräfin aus Bayreuth an die Windhundexcellenzen in Sanssouci schrieben. Unter diesem römisch antiken Gemäuer ruht einer derselben. An der Vorderseite des Theaters sind an einer Stelle die Worte in den Stein gehauen: „Albertine de Marwitz mieux gravée dans mon coeur que sur cette pierre.“ Jedenfalls ist dieses Geständnis der Erguß eines liebeentbrannten Pagenherzens oder die berechnete Schmeichelei eines Höflings. Aber daß so etwas unter den Augen der Markgräfin geschehen konnte, geschehen durfte, das beweist, bis zu welchem Grade die ebenso schöne wie kecke Märkerin Macht über die Sinne des Markgrafen gewonnen hatte. Aus der Chronik des Hofes ist ein Factum bekannt geworden, welches ihr Wesen am deutlichsten portraitiren möchte. Der Onkel des Markgrafen Friedrich, später dessen Nachfolger, Prinz Friedrich Christian, war aus Altona, wo er in dänischen Diensten stand, nach Bayreuth gekommen. Zur Mittagstafel nach der Eremitage eingeladen, ertrug er manche Extravaganzen der Marwitz mit verbissenem Grimme. Zuletzt ging sie in ihrem kecken Uebermuthe so weit, ihm über die Tafel zuzurufen: „Prinz, sing’ man mir mal Eens!“ Im Zorn sprang der Angeredete von der Tafel auf. „Was unterstehst Du Dich?“ rief er ihr mit einem derben Schimpfworte zu. „Ich bin jeder Zeit Prinz von Brandenburg. Ich will aber Bayreuth nicht wieder sehen.“ Mit diesen Worten verließ er den Saal und kam nicht eher wieder nach Bayreuth, als bis er nach dem Tode seines Vorgängers als regierender Fürst die Huldigung des Landes empfing.
Die glänzendste Zeit hatte die Eremitage wohl in jenen Augusttagen des Jahres 1743 gesehen, wo Friedrich der Zweite und Voltaire dort weilten. In dem Buche „Voltaire und die Markgräfin von Bayreuth“ von Georg Horn ist ein Mehreres über die politische und literarische Tragweite dieses Besuches des großen Königs in den fränkischen Fürstenthümern gesagt. Unten am Fuße des Hügels verbarg sich unter hochragenden Bäumen eine Einsiedelei – sie stellte die Ruinen eines den Musen geweihten Tempels dar. Innerhalb desselben war ein Gemach mit Majoliken, ein anderes mit den Bildnissen der berühmtesten Philosophen. Wie mag „Frère Voltaire“, wie er sich in Erinnerung an die Eremitage in den Briefen an die Markgräfin oft selbst zu nennen beliebte, wie mag er geschmunzelt haben, als er hier sein Bild neben den Portraits Newton’s, Leibnitz’s, Loke’s, Bayle’s entdeckte! Die Ruinen der Einsiedelei stehen noch, aber Majoliken und Bilder sind daraus verschwunden. Auch Theater wurde bei diesem Besuche gespielt und zwar in jenem offenen steinernen Bau. Unter hohen, rauschenden Bäumen ertönten die Verse aus „Mort de César“; unter den Acteurs waren der Dichter, die Markgräfin und Prinz August Wilhelm von Preußen.
Daß die Markgräfin nicht nur verstand geistreiche Briefe zu schreiben, Madrigaux zu machen, daß sie auch in Stein zu dichten verstand, davon zeugt ein nach ihrer Idee und unter ihrer Aufsicht errichtetes Gebäude unterhalb des Schlosses. Dasselbe bildet einen offenen Halbkreis, dessen Mitte ein Pavillon in Form einer Kuppelrotunde durchschneidet. Das Vorbild hierfür ist in jener berühmten Rotunde von Sanssouci zu suchen, deren Form und Ausschmückung der Markgräfin bei ihrem Entwurfe jedenfalls vorgeschwebt hat. Die beiden Flügel bilden offene Arcaden, hinter denen die Gemächer liegen. Die Außenseite des ganzen Gebäudes ist nach einer gewissen Ordnung mit weißen, blauen und rothen Kieseln von der Größe eines Taubeneies bedeckt, die in den Kalk eingedrückt sind. Man denke sich an einem sonnenglänzenden Sommerabend die wunderbare Farbenpracht, die aus diesen bunten Prismen über das ganze Gebäude fluthet. Die schillernden Farben der springenden, rauschenden und glitzernden Wasser, die den steinernen Leibern der Götter und Ungethüme aus dem weiten Bassin entsteigen, und inmitten dieser Umgebung hoher Rüstern und Ulmen, unter blühenden Orangenbäumen, deren die Eremitage siebenhundert hatte, die Gesellschaft des Hofes mit ihren schwerseidenen, rauschenden, schleppenden Gewändern, ihren graziösen Formen und ihrem Kreuzfeuer von Witz und Coquetterie – und man hat ein Bild von Eremitage aus dieser Zeit, der glänzendsten, welche das Schloß je gesehen hat.
Dreißig Jahre später – wie einsam dieser Lust- und Freudenort! Die Statuen und Urnen überzogen sich mit Moos; die kunstvollen Wege verwandelten sich in Wildnisse; die Grotten versanken; die künstlichen Ruinen wurden wirkliche – überall das Schweigen, die Ruhe des Verfalls. Dann wurden eines Tages im Frühling des Jahres 1793 Thüren und Fenster weit geöffnet, um das Sonnenlicht in die verlassenen Gemächer einzulassen, in welchen die Spinngewebe ihre märchenstille Arbeit bereits gethan hatten; die verblichenen Damastmöbeln wurden neu bezogen – und Eremitage wurde wieder in bewohnbaren Zustand versetzt. Der dirigirende Minister Freiherr von Hardenberg hatte sich das Schloß zum Sommersitz gewählt; er hielt daselbst mit seiner Tochter Lucie, der späteren Gräfin Pappenheim und darauf Fürstin Pückler, Hof. Aber mit dem alten politischen Staate war auch der Staat des Lustschlosses dahin. Lucie Hardenberg trug keine Brocatgewänder mehr; die neue Zeit hatte die alte schleppende Pracht mit ihren Fesseln abgestreift. In weißem Mousselin schwebte Lucie auf dem grünen Rasen dahin, [251] und höchstens flatterte ein blauseidenes Band in ihrem prachtvollen, entfesselten Haar.
In dieser Zeit konnte man eines Tages einen jungen, hochgewachsenen Menschen mit lichtbraunem Haar und blauen Augen, aber in ärmlichem Gewande hier einherwandeln sehen, trunken von all’ den Eindrücken dieser verblichenen Pracht, die einem dichterischen Geiste so sympathisch ist. Wie war sein Heimathsort, aus dem er kam, sein armes Dorf, in dem er seine Jugend einsam und mit den Träumen seines Geistes verlebt hatte, wie war das öde, nüchtern, kalt gegen diese Eindrücke, die ihm hier sich entgegendrängten, so voll, so mächtig, so überwältigend, daß er sich in einem Geistes- und Sinnentaumel befand! Diese eingestürzten Statuen und Urnen, die verfallenen Tempel und Lusthäuser, die leeren Bassins mit ihren moosgrünen Göttern, die düsteren Alleen und melancholischen Grotten, und dann wieder als Widerspiel ein Blick aus diesem Dornröschenmärchen in das grüne, lebendige, sonnenhelle Bayreuther Thal, sein Marienthal, auf den alten Kirchthurm von St. Johannes, auf die Höhen des Fichtelgebirges, hinter denen seine Heimath lag! Und dann stieg der junge Mensch wieder hinauf und schrieb in Hof, im schmucklosen einsamen Stübchen, in dem seine arme Mutter am Spinnrädchen saß, seine Romane, die ein Schatz unserer Literatur sind, und wo sich in denselben zwei Seelen nach Sehnen, Schmerz, Trennung, Schuld oder Reue in Liebesjauchzen begegnen, da geschah es hier, unter den Linden und Rüstern von Eremitage. Was braucht es noch gesagt zu werden, daß hier von Jean Paul Friedrich Richter die Rede ist? Der Dichter wurde von den Napoleonischen Generalen abgelöst, die sich's hier bequem machten und die seidenen Polster absaßen, bis 1810 das Lustschloß mit dem Lande an Baiern kam.
König Ludwig der Erste von Baiern räumte seinem Vetter Herzog Pius die Eremitage als Sommersitz ein; der Großvater der Kaiserin von Oesterreich bewohnte bis zu seinem Tode dieselben Gemächer, welche einst Markgraf Friedrich und Hardenberg inne hatten. Schade, daß sie eine so totale, moderne Umwandlung erlitten hatten! Es giebt Orte, die als Reliquien behandelt werden müssen. Solche Orte sind Sanssouci und die Eremitage. In diesem also modernisirten Flügel finden sich noch einige Bilder von Persönlichkeiten des preußischen Königshauses und des brandenburgischen Hauses aus dem vorigen Jahrhunderte, aber über die Personen, welche sie vorstellen sollen, herrscht unter den Leuten, welche die Führer abgeben, vollständige Confusion. Es wäre an der Zeit, daß hier einmal eine historische Sichtung vorgenommen würde. Wie man sich erzählt, hat der deutsche Kronprinz bei seinem Besuche des Schlosses viele irrthümliche Traditionen in Bezug darauf berichtigt. Im Sommer 1851 war Eremitage von dem Könige Max von Baiern, dessen Gemahlin und seinen beiden Söhnen einige Zeit bewohnt. Eremitage ist eine der Jugenderinnerungen König Ludwig's des Zweiten von Baiern. Es scheint, daß diese Erinnerung zu einer Vorliebe in ihm geworden ist. Bei den Besuchen, die der König dem oberfränkischen Kreise abstattet, unterläßt er es in seinem pietätvollen historischen Sinne niemals, Schloß Eremitage und dessen Erinnerungen seine Huldigung darzubringen. Dann erholte sich König Otto von Griechenland während einiger Sommer hier von der Unruhe und den Enttäuschungen seines griechischen Königthums. Im Sommer 1874 stattete der Kronprinz des deutschen Reiches und von Preußen dem Lustschlosse in den Stammlanden des brandenburgischen Hauses seinen Besuch ab, neunundsechszig Jahre nach jenem letzten Besuche des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten und der Königin Louise im fränkischen Lande wieder der erste Hohenzoller in diesen Räumen, bis im Sommer 1876 Kaiser Wilhelm hier als Gast des königlichen Schloßherrn war und die Erinnerung an diese Stätte seines Geschlechts neu belebte.
Den Entwickelungsgang großer Männer von Station zu Station zu verfolgen, hat immer etwas ebenso Fesselndes wie Lehrreiches; die Jahre namentlich, in denen sich im Knaben der Eintritt in's Jünglingsalter anbahnt, sind von tiefgehendem psychologischem Interesse und dürfen daher, wo es sich um die Betrachtung des Werdens und Wachsens ausgezeichneter Geister handelt, niemals außer Acht gelassen werden.
Zur Entwickelungsgeschichte Lessing’s sind somit die Jahre 1741 bis 1746, welche er auf der Fürstenschule zu Meißen verbrachte, von hoher Wichtigkeit, und sind die nachfolgenden, bisher noch nirgends veröffentlichten Notizen über diese Lebensphase unseres großen Literaturreformators daher sicher nicht uninteressant. Auch hier gilt das Wort: schon die Tatze verräth den Löwen.
Am 21. Juni des Jahres 1741 wurde Gotthold Ephraim Lessing in St. Afra recipirt. Die Schule zerfiel damals in zwei Abtheilungen, die Oberlection und die Unterlection; jede derselben setzte sich aus zwei Classen und diese wiederum aus je drei Decurien zusammen, sodaß es im Ganzen vier Classen und zwölf Decurien gab. In Folge der trefflichen Vorbereitung, welche Lessing durch den Pastor Lindner genossen, wurde er gleich in die elfte Decurie gesetzt, in der er bis Michaeli desselben Jahres verblieb. Regelmäßig im Frühjahre und Herbste wurden Prüfungen veranstaltet, sogenannte Emendationen, über deren Ausfall Zeugnisse ausgestellt wurden, die als Rescripte dem königlichen Ministerium eingeliefert werden mußten. Diese Censuren Lessing’s nun, in gedrechselt-classischem Latein geschrieben, sind zu interessant, als daß wir sie nicht in deutscher Uebersetzung mittheilen sollten.
1) Michaelis 1741. Er wurde ermahnt, dem guten Eindrucke, den sein schmuckes Aeußere macht, nicht durch eine Neigung zur Eigenwilligkeit und Keckheit zu schaden, und schien den Ermahnungen Gehör zu geben. – Kauderbach.
2) Ostern 1742. Er ist nicht unbedeutend begabt, bedarf aber strenger Leitung, um pflichtgemäß und gewissenhaft den gesetzlichen Forderungen zu genügen. – Weiß.
3) Michaelis 1742. Er ist reich begabt und sein Betragen ruhig, von dem Tadel aber der Unsorgsamkeit ist er nicht immer freizusprechen. – Weiß.
4) Ostern 1743. Seinen bedeutenden Anlagen entspricht ein sorgfältiger Fleiß, seinem Fleiße erfreuliche Fortschritte. – Weiß.
5) Michaelis 1743. Sein wissenschaftlich reger und thätiger Geist macht sichtlich Fortschritte; rücksichtlich seiner sittlichen Ausbildung ist sein Betragen zu versteckt, als daß er von jeder Verstellung freigesprochen werden könnte. – Hoere.
6) Ostern 1744. Er besitzt einen scharfen Verstand und ein ausgezeichnetes Gedächtnis; auch seine sittliche Ausbildung schreitet fort. – Hoere.
7) Michaelis 1744. Er erhöht das Lob seiner vorzüglichen Begabung durch viele Studien, sogar in der Mathematik und durch tadellose Führung. – Hoere.
8) Ostern 1745. Mit schnellforschendem Geiste eignet er sich die Kenntnisse in der Mathematik, und was sonst noch gelehrt wird, an; allein er wird ermahnt, die Uebung seines Stiles nicht zu vernachlässigen. – Grabener.
9) Michaelis 1745. Es giebt kein Gebiet des Wissens, auf das sein lebhafter Geist sich nicht würfe, das er sich nicht zu eigen machte; nur ist er bisweilen zu ermahnen, seine Kräfte nicht über Gebühr zu zersplittern. – Grabener.
10) Ostern 1746. Seinen für jedes Gebiet der Wissenschaft sich interessirenden und beanlagten Geist schult er durch großen Fleiß und ziert ihn durch erfreuliche Fortschritte, durch eine keineswegs verkehrte, wenngleich ziemlich feurige Gemüthsart. – Grabener.
Die eigentliche Abgangscensur Lessing’s ist leider nirgends aufbewahrt; er verließ die Schule am 30. Juni 1746, nachdem er fünf Jahre auf derselben verweilt. Ein zweimaliges Bittgesuch, das Lessing’s Vater auf dessen unablässiges Drängen eingereicht hatte, ermöglichte diesen zeitigen Abgang vom Gymnasium, an dessen sechsjährigem Cursus man eisern festhielt.
In der elften Decurie war Lessing also nur wenig mehr als drei Monate gewesen, während er alle anderen Stufen regelmäßig in je einem halben Jahre durchlief. Danzel in seinem sonst vortrefflichen Buche über Lessing hat daher entschieden Unrecht, wenn er behauptet, es wäre mit Lessing’s Aufrücken in der Schule „zuerst langsam gegangen“. [252] Der allgemeine Eindruck, den obenstehende Censuren Lessing’s auf uns machen, ist ein durchaus günstiger: es ist doch immerhin zu verwundern, daß jene zum Theil so ehrsam pedantischen Schulmeister Lessing’s Natur, seinen scharfen Verstand und wissenschaftlichen Erkenntnißtrieb so gut erkannten. Schon von der zweiten Censur an in stets wachsender Proportion steigert sich das Lob seiner Anlagen, seines Fleißes und seiner Fortschritte. Daß Lessing selbst in der Mathematik Außergewöhnliches leistete (eine Wissenschaft, die, nach Lessing’s eigenen Worten, seinem Verstande vornehmlich zusagte), scheint dem Conrector Hoere und dem Rector Grabener ganz besonders und aus leicht ersichtlichen Gründen zu imponiren: ist es doch auch jetzt noch Mode, daß der „classische Philologe“ mit einer gewissen Geringschätzung auf die Mathematik herabschaut und sich sogar etwas darauf zu Gute thut, „nichts auf diesem Gebiete geleistet zu haben“, um durch diese Erklärung den Beweis zu liefern, daß er ein gar großer Philologe sein müsse.
Bei dem kecken, lebendig-frischen Sinne des Knaben kann es uns nicht Wunder nehmen, daß Lessing in der ersten Zeit seines Meißner Schülerlebens sich nicht allzu wohl fühlte und zu manchem Tadel Anlaß gab. Sein feurig-lebhaftes Temperament, sein trotzig-fester Sinn wollte sich nicht recht in den langsam-gemessenen Gang der vorgeschriebenen Studien, in die klösterlich-strenge Ordnung fügen; sein heller Geist und die schnelle Fassungskraft verlangten reichlichere Nahrung; er war eben „ein Pferd“ – nach des Rectors Ausspruche – „das doppeltes Futter bedurfte“, und seine frische Lebenskraft sprudelte über zu allerhand kecken Worten und schnellen Urtheilen. Es sind uns daher jene tadelnden Bemerkungen, er sei eigenwillig und keck und bedürfe strenger Zucht, durchaus nicht auffällig; Lessing war eben „ein guter Junge, aber etwas moquant“ – wie einer der adeligen Schulinspectoren in seinem Schülerverzeichniß neben Lessing’s Namen geschrieben. Mit dem Conrector Hoere scheint Lessing überhaupt auf etwas gespanntem Fuße gestanden zu haben und zwar durch eigene Schuld. Danzel berichtet darüber Folgendes:
„Da Lessing schon einer der ersten Schüler war und zu den Inspectoren gehörte, wohnte er als solcher einst einer der Sonnabend-Conferenzen bei. Der Rector fragte, warum die Schüler in dieser Woche – der Conrector Hoere war gerade Hebdomadarius gewesen – so spät in’s Gebet gekommen. Alles schwieg, nur Lessing nicht, der voreilig genug war, seinem Nachbar zuzuflüstern: ‚Das weiß ich.‘ Der Rector, der es hörte, befahl ihm, es laut zu sagen. Anfangs wollte er nicht, endlich platzte er heraus: ‚Der Herr Conrector kommt nicht gleich mit dem Schlage; daher denkt jeder, das Gebet gehe nicht sogleich an.‘ Der Herr Conrector mochte es nicht mit gutem Gewissen in Abrede stellen können und rief aus: ‚Admirabler Lessing!‘ Seitdem hießen diesen seine Schulkameraden nicht anders, als aber Lessing’s Bruder kurz nach dessen Abgange zur Universität auf die Schule kam, entließ ihn Hoere bei der Aufnahmeprüfung mit den Worten: ‚Nun geh in Gottes Namen, sei fleißig, aber nicht so naseweis wie Dein Bruder!‘“
So erklärlich diese Tadelsäußerungen waren, so befremdend muß uns der Vorwurf der „Verstellung“ erscheinen, den ihm in der Michaelis-Censur 1743 der Conrector Hoere macht. Der rücksichtslos offene, gradherzige Sinn Lessing’s und Verstellung! Um für diesen unglaublichen Vorwurf eine nur einigermaßen verständliche Erklärung zu finden, müssen wir uns die Person des Conrector Hoere genauer ansehen.
Hoere war an dem Gymnasium der Hauptvertreter des classischen Alterthums, ein Mann von reichem Wissen, aber pedantisch-steifem Wesen; auch für die deutsche Poesie war er empfänglich, freilich nach seiner Art, sich conservativ in den althergebrachten geistlosen Formen Gottsched’scher Regeln bewegend. Sonst wird uns ausdrücklich noch überliefert, Hoere sei strenggläubig gewesen – und das will viel sagen: es war ja selbstverständlich, daß der Conrector einer orthodoxen Anstalt, welche Prediger erziehen sollte und in welcher die Wissenschaft nur im Dienste der Religion gepflegt wurde, strenggläubig war. In welcher Potenz muß aber diese Strenggläubigkeit aufgetreten sein, wenn sie noch so ausdrücklich hervorgehoben zu werden verdiente! Natürlich ist es, daß auf einer solchen Anstalt nur der vorwärts kommen und Anerkennung finden konnte, welcher in religiösen Dingen gläubig war; für einen Zweifler war in St. Afra kein Boden. Und das ist so unerhört nicht – ist es doch auf mehr als einem preußischen Gymnasium noch heutzutage Sitte, die moralische Reife der abgehenden Zöglinge nach der Anzahl der Bibelsprüche und Psalmen, Kirchenlieder und Gebete zu beurtheilen, welche sie auswendig herzusagen wissen.
Bedenkt man nun alledem gegenüber, daß die Keime zu Lessing’s späterer religiöser Gedankenfreiheit sich schon auf der Schülerbank zu Meißen herausbilden mußten, veranlaßt und begünstigt durch jenen Sinn für Wissenschaftlichkeit, der bereits im väterlichem Hause von nicht genug geschätztem Einflusse auf ihn war, so wird man jenen Vorwurf Hoere’s wohl begreifen. Lessing, zu klug, um nicht zu merken, daß Bleiben, Fortschreiten und gute Censuren auf der Fürstenschule durch Strenggläubigkeit bedingt seien, andererseits aber zu aufrichtig und geradherzig, als daß er erheucheln konnte, was er nicht empfand, verhielt sich in religiösen Dingen passiv und ließ mindestens dieselben auf sich beruhen.[1] Dieses in gewisser Hinsicht zweideutige Wesen Lessing’s ist aber wahrscheinlich dem orthodoxen Eifer des Herrn Conrectors nicht entgangen und hatte jenen Vorwurf der Verstellung zur Folge. – Es scheint aber, als hätten die glänzenden Leistungen Lessing’s, sein ernstes Streben und seine sittliche Reinheit bald das Herz des orthodoxen Lehrers gewonnen, wenigstens ist jener schwere Tadel von Hoere nie wiederholt worden.
Unter der Leitung Grabener’s, einer ungleich feiner organisirten Natur, entfaltete Lessing’s Geist freier seine Schwingen und warf die letzten Fesseln einer gewissen Pedanterie ab, die ihm durch eine scharfbegrenzte Studienordnung und Klosterzucht künstlich anerzogen worden war, welche aber ihrerseits das Gute gehabt hatte, den feurigen Geist vor Maßlosigkeit zu bewahren und zu unerschütterlicher Selbstständigkeit zu stählen. – Wie stolz aber auch St. Afra auf diesen ihren großen Zögling gewesen und noch ist, beweist jene Säcularfeier, die am 21. Juni 1841, dem Gedenktage der Aufnahme Lessing’s, zu Meißen begangen wurde, bei welcher Gelegenheit unter Anderem auch der Primus Afranorum eine Rede gehalten, in der er Lessing „als Vorbild im redlichen Wahrheitsforschen“ darstellte.
Die junge Frau hatte sich mühsam erhoben. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Stuhllehne; die andere hatte sie gegen die Schläfe gepreßt, als müßte sie ihre Gedanken gewaltsam zusammenhalten.
„Ihr glaubt mir nicht,“ klagte sie müde und gleichgültig. „Ich habe Alles gesagt, was ich weiß. Möge denn das Gesetz seinen Lauf nehmen! O mein armer, armer Vater, wenn ich wenigstens Dich überzeugen könnte!“
„Gott wird helfen.“ Er riß sein wankendes Kind heftig aufschluchzend an seine starke Brust und hielt es fest umklammert. „Ich glaube Dir. Gottes Engel müßten selber trügen, wenn Dein Gesicht lügt.“
„Wo blieb die Flasche, von der die Baronin spricht?“ wandte ich mich Sibyllen zu. Sie zuckte die Achseln. In mir kämpften die widerstrebendsten Empfindungen. Rührend, daß es einem durch die Seele schnitt, war der Ausdruck stiller Resignation auf dem jungen Gesicht der unglücklichen Blanche, als sie sagte:
„Die Flasche nahm ich am Tage nach Falkenstein’s heftiger
[253][254] Erkrankung vom Nachttische. Mir ahnte, daß ihr giftiger Inhalt seinen Zustand herbeigeführt, daß er sterben wollte, weil er mich untreu glaubte. Den Gedanken ertrug ich nicht. Wenn alle Welt mit Fingern auf mich wiese und mich des moralischen Gattenmordes anzuklagen kam! Ich flüchtete mit dem Fläschchen in mein eigenes Schlafzimmer, warf es in die tiefste Ecke des Schubfaches und verschloß dasselbe doppelt; den Schlüssel steckte ich zu mir.“
„Und wie kam Belladonna in Ihre Hände? Wie konnten Sie sich das tödtliche Gift verschaffen?“ fragte ich strenge.
„Muß auch das gesagt werden?“
„Ja.“
„Die Zeit liegt so weit hinter mir,“ sagte Blanche erröthend, „daß sie mir wie ein gaukelnder Traum vorkommt. O, wie furchtbar ernst, wie schwer ist das Leben! Wie ist es möglich, es zu vertändeln, wie ich es kürzlich noch gethan! Meine Eitelkeit hat Fürchterliches herbeigeführt. Ich galt – Ihr wißt es – für die schönste Frau unseres Kreises. Da kam nach längerer Abwesenheit der Adjutant meines Mannes mit einer jungen Frau heim. Sie war weniger regelmäßig gebildet als ich, aber sie hatte ein paar Augen, die alle Welt entzückten. Ich sah beleidigt, empört, zum Aeußersten gereizt, all meine Bewunderer zu meinem Feinde übergehen. Für eine Frau, die nur der Welt lebt“ – sie sprach es schamhaft zögernd und tief niedergeschlagen – „kommt das einem socialen Todesurtheile gleich. Ich zermarterte mein Hirn, wie diesem Mangel der Natur abzuhelfen sei, und mein Unstern spielte mir ein Buch über orientalische Frauen und ihre Schönheitsmittel, besonders über die Anwendung von Belladonna zur Vergrößerung der Pupille, in die Hände. Ein fieberhaftes Verlangen nach dem Besitze dieses Mittels erfaßte mich. In G. war ich zu bekannt, um den Versuch zu wagen. Ich benutzte daher den nächsten Ausflug in unsere Provinzhauptstadt dazu. Und leider ist es mir nach mehrfachem Mißerfolge geglückt, in einer Apotheke einen Provisor durch reiche Entschädigung zur Ueberlassung eines Fläschchens Belladonna zu überreden.“
Sie sank erschöpft zurück. Der Oberst nahm sie in die Arme und legte sie sanft auf ein Sopha nieder. Sie schloß die Augen und lag still und regungslos eine lange Weile.
„Oberst,“ wandte ich mich dem von Aufregung ermatteten Vater zu, „Sie müssen sich Ruhe gönnen!“
„Ich glaube, es macht mich noch wahnsinnig,“ murmelte er dumpf. „So wahr ich an Gott glaube, sie ist unschuldig, und Sie behaupten doch, daß er an Gift starb?“
„So wahr[2] ich an Gott glaube,“ wiederholte ich feierlich.
„Alles Nacht und Dunkel,“ sagte er in äußerster Verzweiflung, „ein undurchdringliches Geheimniß, das für mich nur ein Lichtpunkt durchstrahlt: mein Kind ist es nicht, das den Frevel beging.“
Ich hatte den Oberst auf eines der Ruhebetten niedergezwungen und ihm ein paar Tropfen Morphium gegeben, um seine Nerven zur Ruhe zu bringen. Dann winkte ich Sibyllen, und wir traten auf die Veranda hinaus. Das Unwetter hatte inzwischen ausgetobt. Die Sonne trat im Untergehen noch einmal hervor. Sie entlockte dem feuchten Erdreich und dem Blumenflor ein Meer von Duft. Wir stiegen langsam die Steinstufen herab.
„Nicht da hinunter!“ warnte Sibylle, als ich mich, den vom Gewitterregen aufgeweichten Erdboden nicht beachtend, dem Parke zuwenden wollte, „lassen Sie uns in den Obstgarten gehen! Dort sind die Wege mit Kies bestreut und daher viel passirbarer.“
Wir gingen in ernstem Gespräch langsam um das Haus herum und mußten den Küchengarten passiren. Plötzlich stehe ich wie gefesselt still. Der Platz kommt mir nicht fremd vor, und doch weiß ich, ich habe ihn noch nie betreten. Habe ich ihn im Traum gesehen? Nein, jetzt weiß ich’s. In der Todesnacht des Commandanten hab’ ich vom Bogenfenster der Treppe aus diese Partie des Gartens im Mondschein gesehen. Bleichgelbe Blumen, die eine schöne Aehre bilden, mit dunkelpurpurnen, unten rothbraunen Adern, wuchsen in großer Menge darauf. Ich weiß nicht, welch’ segensvoller Impuls mich jetzt diesen Gewächsen näher treten hieß; unwillkürlich beugte ich mich herab und unterwarf die widerlich betäubend riechende Blume einer genaueren Prüfung. Ich brach eine der Pflanzen ab und betrachtete mir sinnend und nachdenklich den ästigen, etwas klebrigen, zwei bis drei Fuß hohen Stengel und die lanzettförmigen Blätter, die abwechselnd darum standen, gekrümmte, schmutzig-grüne, wollige Blätter mit weißen Haaren, wie der Haushofmeister in jener denkwürdigen Nacht eines von meinem Aermel gebürstet hatte.
„Sibylle!“ Ich brachte es athemlos kaum hervor; in mir begann es ahnend zu tagen, – „kommen Sie, die Sie eine gute Botanikerin sein sollen, meinem Gedächtniß zu Hülfe! Sagen Sie mir, ist das nicht Hyoscyamus niger?“
„Ja, schwarzes Bilsenkraut,“ bestätigte sie verwundert.
„Licht!“ – Ich mag es förmlich hinausgeschrieen haben. Sie starrte mich an, als wäre ich von Sinnen.
Ich beugte mich nieder und suchte. – Ich hatte nach einer halben Secunde den kostbaren Fund gethan. Wie der Staatsanwalt seine Anklage auf Combinationen weiter baut, so hatte ich mit dem einen Lichtpunkte divinatorisch den Faden weiter gesponnen und hob das corpus delicti auf, das Blanche vor öffentlicher Bloßstellung bewahren sollte.
Es war ein kleines Bündel vertrockneten Hyoscyamus niger. Weil es nur halb trocken war, hingen die einzelnen zusammengeschrumpften, bald höher, bald tiefer abgebrochenen Stiele so eng zusammen.
„Triumph, Sibylle! Blanche ist unschuldig.“ Wie eine Siegestrophäe schwang ich das trockne Bündel mir um den Kopf, und dann eilte ich die Allee hinab und stand gleich darauf in der Küche.
„Geht Alle hinaus!“ herrschte ich das Personal an, das wie das aufgescheuchte Federvieh aus seiner gemüthlichen Kaffeesitzung aufgeschreckt war, und nur die Köchin, die sich scheu vorüber drücken wollte, hielt ich am Arme fest und bedeutete sie barsch, zu bleiben. Sibylle war mir gefolgt. In angstvoller Spannung sah sie meinem befremdlichen Treiben zu.
„Fräulein Unruh, ich bitte Sie, dienen Sie meinem Verhör hier zum Zeugen und führen Sie das Protokoll!“
Die Köchin war kreideweiß geworden. Sie hockte auf der Küchenbank nieder und nahm zu dem gewöhnlichen Mittel solcher Leute ihre Zuflucht: sie zog ihre Schürze vor den Mund und fing kläglich zu weinen und zu winseln an.
„Wenn Sie nicht still sind und mir nicht offen und vernünftig antworten, werd’ ich die Polizei gleich herein rufen.“
Das half.
„Wie heißen Sie?“
„Christine Auguste Mertens.“
„Verheirathet oder unverheirathet?“
„Wittwe.“
„Wie alt?“
„Einunddreißig Jahre.“
„Wie lange hier im Dienst?“
„Fünf Monate.“
„Hatten Sie Grund, Ihrem Herrn Böses zuzufügen?“
„Nein, er war ein sehr guter Herr.“
„Warum haben Sie ihn dann durch Bilsenkraut vergiftet?“
Ehe sie leugnen konnte, zog ich das Bündel aus der Tasche und hielt es ihr unter die Augen. Sie wurde um noch einen Schatten bleicher und fuhr erschrocken auf. „Das haben Sie in der Todesnacht Ihres Herrn in der Hand gehabt, als ich Sie fest hielt; Sie haben es dann hinausgetragen und auf den Schutthaufen geworfen, wo das Bilsenkraut wächst.“
Sie sah mich aus großen Augen wahrhaft entsetzt an und machte mir nun schnell umfangreiche Geständnisse, die ich als Resumé hier wiedergebe:
Frau Mertens war eine lebenslustige Wittwe, und da sie am 28. Juli zur Hochzeit gebeten war und vor dem Hochzeitsfest noch einen Gang zu machen hatte, war sie an diesem Abend sehr eilig. Mit den übrigen Dienstboten stand sie nicht allzu gut. Keiner wäre für sie eingetreten, und das Abendbrod für Excellenz brodelte auf dem Feuer und mußte noch tüchtig mit Petersilienwurzel versehen werden, die Excellenz am Hühnerfricassée besonders liebte. Da, wie der Retter in der Noth, kommt Gretchen, Frau Mertens’ siebenjährige Tochter, um die Mutter zu besuchen, aus der Stadt hinauf.
„Lauf ’mal hinaus und hol’ eine Hand voll Petersilie! Gleich vorn auf dem Erdhügel, weißt Du? Reiß’ die Wurzel mit aus und komm’, was Du laufen kannst! – Ich hab noch schnell einen Gang zu machen. Putz’ die Wurzel hübsch sauber ab, schneid’ sie in den Topf und paß mir auf, daß nichts überkocht oder anbrennt!“ [255] Frau Wittwe Mertens entfernte sich eilfertig. Gretchen empfing sie, als sie heimkehrte, mit einem ängstlichen Gesicht und sagte ihr, daß der Herr Kammerdiener zweimal nach dem Hühnerfricassée gefragt habe. Das Abendbrod war unter Gretchen’s Händen vollendet und jeder Abfall beseitigt worden.
Am Abend vor dem Tode des Commandanten fand die Mertens das Büschel im Abfallkasten zwischen Asche und Knochen. Wer beschreibt ihren Schrecken? Eine fürchterliche Ahnung dämmerte ihr auf. In ihrer Todesangst kannte sie nur das einzige Streben, die Reste des verhängnißvollen Krautes zu entfernen, damit es eventuell nicht gegen sie zeuge. Sie hatte, wie wir wissen, die Blätterstengel wieder an den Ort getragen, von wo Gretchen sie geholt hatte.
Das der Erfolg meines Verhörs.
Inzwischen hatte der Haushofmeister discret angeklopft. Er brachte mir die Botschaft, daß College Vogel da sei und mich bäte, zur Ausfertigung des Todtenscheins mich nach oben zu bemühen.
„Sagen Sie dem Herrn Obermedicinalrath, ich ließe ihn bitten, denselben allein auszustellen, Günther, ich wäre ganz meines Herrn Collegen Meinung.“ Zögernd genug kam’s heraus.
Als wir wieder hinauf kamen, überreichte mir Günther das fertige Document.
„So kann denn in Gottes Namen morgen die Beisetzung erfolgen, Fräulein Sibylle. Sehen Sie“ – ich überlief das Schriftstück schnell – „der Commandant General von Fink-Falkenstein ist am dreißigsten Juni an Magenkatarrh und hinzugetretener Apoplexie gestorben. O weiser Jünger Aesculap’s! Veröffentlichen müßte man es auf allem Gassen. Belassen wir es dabei! Ihr Freund ist todt – Friede seiner Asche! Und jetzt zurück zu den Lebenden! Sie sind eine gottgeweihte Krankenpflegerin und werden bald, wenn mich nicht Alles trügt, Ihren Beruf wieder aufnehmen können.“
„Blanche – die Baronin?“ fragte sie ängstlich.
„Nein, sie wird gesunden und erstarken in guter Luft und veränderter Umgebung, und je eher dies geschieht, um so besser für sie und meinen Freund, in dessen Körper schwere Krankheit sich vorbereitet; ich selbst muß morgen zurück in den Kreis meiner Berufspflichten, aber in Ihnen lasse ich meinen braven, tüchtigen Famulus zurück. In Ihre Hände lege ich vertrauensvoll Ernst Waldow’s Leben.“
In der Gruft der Edlen von Falkenstein ruhte längst der Letzte dieses alten Geschlechts. Jahre waren in’s Land gegangen.
Sibylle Unruh hatte meinen Freund, der, wie ich vorhergesagt, in schwere Krankheit verfallen, gepflegt, unermüdlich, aufopfernd, wie das nun einmal so in ihrer Natur liegt, und dann – dann hatte sie sich selber niedergelegt und war unhörbar und fast ungeahnt aus der Welt geschieden, die für sie nur Dornen gehabt hat. Auf ihrem Grabstein steht über ihr stilles, wirkensreiches Leben zu lesen: „Sie war das bravste Herz unter der Sonne.“ Ich glaube, die Nachtigall, die da im blühenden Syringenbusch ihr zu Häupten schluchzt, weiß, daß es ein wahlverwandtes Wesen ist, das tief da unten den ewigen Schlaf schläft.
Blanche von Falkenstein ist glücklich geworden. Wenige Monate nach dem Tode ihres Gatten genas sie eines Mädchens, das den Namen Sibylle empfing. Die Kleine sollte nicht vaterlos bleiben. In Monaco hatte ein glückliches Geschick die junge Wittwe mit einem Herrn von Treskow zusammengeführt, der seine blühende Frau durch den Tod verloren. Gleicher Schmerz ließ die beiden Herzen sich schnell finden. Unter der Sonne des Südens wurde der Bund geschlossen.
„Er hat sorgenvolle Tage gehabt, und die machen den Menschen nicht fröhlicher,“ schrieb mir Waldow damals über seinen neuen Schwiegersohn; „aber er ist ein echter Mann, ein fleißiger Landwirth, ein redlicher Mensch. Er wird der kleinen Sibylle der Vater sein, den Falkenstein seinem Kinde selber gewählt haben würde. Eine besonders brillante Partie ist er zwar nicht, aber das ist gerade ein Segen für meine kleine flatterhafte Blanche. Der Mensch muß zu thun haben, wenn ihn der eigene regsame Geist nicht vor Verflachung behütet. Das, was man eine Liebesheirath nennt, ist es nicht, aber ich hoffe, es wird eine glückliche Ehe geben.“ – –
Vor ein paar Monaten gab ich dem allgemeinen Bestürmen meiner Freunde am Rheine nach und suchte sie in ihrem romantisch gelegenen Heim auf. Unterwegs schloß sich mir ein junger Maler, Spanier von Geburt, an, und da es ein fröhlicher, geistvoller Gesell war, ließ ich mir die Gesellschaft gern gefallen und benutzte meinen freien Zutritt bei den jungen Treskows, ihm auf ihrer Besitzung ein Nachtlager zu verschaffen.
Wir hatten unser Fuhrwerk am Fuße des Abhanges verlassen, um das wundervolle Landschaftsgemälde im Gehen besser zu genießen. Rüstig schritten wir aus; plötzlich öffnete sich vor uns der Gutshof mit seinem villenartigen Herrenhause.
Unter der rebenumkränzten Säulenveranda war reges Treiben. Ein lebendes Bild in blühendem Rahmen stellte sich da entzückend zusammen. Auf der untersten Treppenstufe saß, ein glückliches Lächeln auf dem holden Antlitz, Blanche von Treskow; sie trug ihr zartes kleines Mädchen auf dem Schooße, welches die Blumen des Frühlings eifrig in die blonden Haare der jungen Mutter steckte.
Blanche war so versunken in Mutterstolz und Mutterglück, daß sie uns gar nicht kommen hörte.
„Madonna, o bella donna!“ rief der junge Spanier hingerissen in entzückender Ueberraschung.
„Still, nie wieder das Wort!“ Ich legte ihm mahnend die Hand auf den Mund. Blanche war aufgefahren, bleich bis in die Lippen. „Nie wieder,“ sagte ich nachdrücklich, „denn es weckt Erinnerungen, über welche kaum die Lethe hingeflossen. Damit Sie aber eine passende Bezeichnung für Ihre ,bella donna’, unsere liebenswürdige Wirthin, finden, mein junger Freund – wir nennen Frau von Treskow nur: Unsere liebe Frau.“
Das Werk eines Socialdemokraten. (Mit Abbildung Seite 253.) Die Ergebnisse der letzten Reichstagswahl haben den Namen eines Mannes vielfach in den Vordergrund des Interesses gerückt, dessen politisches Wirken bisher vorwiegend auf die Zustände und Institutionen seines engeren Vaterlandes Mecklenburg gerichtet war und der bei seinem nunmehrigen Eintreten in größere Bahnen des öffentlichen Lebens wegen seiner ausgesprochenen Parteistellung ein Gegenstand allgemeiner Discussion geworden. Wir meinen den Hofbaurath G. A. Demmler in Schwerin, den socialdemokratischen Abgeordneten für den Landkreis Leipzig. Nachdem das Für und Wider der Wahl Demmler’s und dessen Qualification für die ihm zugefallene parlamentarische Aufgabe von allen Standpunkten aus und in allen Blättern eingehend erwogen worden, dürfte ein Blick auf eine Schöpfung an der Zeit sein, welche uns den ungewöhnlichen Mann von einer andern Seite, als bildenden Künstler, zeigt. Diese Schöpfung ist das Schloß Schwerin, das wir unsern Lesern in unsrer heutigen Nummer im Bilde vorführen.
Wer dem stolzen Fürstensitze im Lande der Obotriten an einem hellen Sommertage zuschreitet, wenn lichter Sonnenglanz auf den Wassern des prächtigen Schweriner Sees liegt und die Zinnen und Kuppeln des Schlosses weit hinaus erglänzen über Wald und Wiesen, dem wird sich die Berechtigung des Urtheils unabweislich aufdrängen, das unsre ersten Bauverständigen fast einmüthig gefällt haben: Schloß Schwerin ist, was den Adel der monumentalen Wirkung betrifft, unter den gesammten Fürstenhäusern Nord- und Mitteldeutschlands das erste und imposanteste.
Auf einer Insel der südlichen Bucht des Sees, inmitten einer offenen Wald- und Wasserlandschaft malerisch gelegen und durch zwei Brücken einerseits mit der Stadt Schwerin, andererseits mit dem Schloßgarten verbunden, erhebt es sich aus dem mit feinstem künstlerischem Tact auf der Insel selbst geschaffenen Burggarten in wahrhaft romantischer Großartigkeit. Und doch hat die Geschichte des Schloßbaues mit landschaftlicher Romantik nur sehr wenig zu thun. Nicht eine ästhetische Laune fürstlichen Eigenwillens war es, die sich die Insel im stillen See für den Prachtbau auserkor; der Entscheidung des gekrönten Bauherrn für dieses Terrain lagen vielmehr historische Motive zu Grunde; denn das Schloß, wie wir es heute vor uns sehen, steht an derselben Stelle, wo sich in alten Zeiten eine Burg erhob, die als Sitz der von den Sachsenherzögen eingesetzten Grafen von Schwerin ein Bollwerk gegen die Obotriten bildete. Das Schloß ist nur die Ausführung eines Werkes, das mecklenburgische Fürsten seit vier Jahrhunderten geplant und auf den Resten jener alten Burg zum Theil in großgedachten Anfängen ausgeführt haben; nicht unbedeutende Theile der alten Bauten sind in die neue Schöpfung aufgenommen worden.
Als der eigentliche Bauherr des heutigen Schlosses ist aber der jetzt regierende Großherzog Friedrich Franz der Zweite zu betrachten, welcher im Jahre 1843, bald nach seinem Regierungsantritt, den Neubau begann. Als Grundlage für die Neugestaltung des Schlosses galt das Princip, den Styl der neuen, den Schloßhof vollkommen schließenden Bauten möglichst dem Charakter der Schöpfungen früherer Bauherren [256] anzuschließen. Für die Durchführung dieses Principes trat nun Demmler, der dem großherzoglichen Hause persönlich nahe stand, mit einer ersten Skizze des Schloßbaues ein, die im Wesentlichen für alle späteren Entwürfe wie für deren Ausführung maßgebend geblieben ist, so daß man ihn mit Recht den Schöpfer des prächtigen mecklenburgischen Fürstensitzes nennen kann.
Mit dem vollen Einsatz seines seltenen Talentes förderte er den Bau zugleich als einsichtsvoller Künstler wie als thatkräftiger Leiter desselben, bis er, in die politischen Kämpfe des Bewegungsjahres 1848 verwickelt, und dadurch in eine schroffe Stellung zu der herrschenden Regierungspartei gerückt, aus dem Staatsdienste entlassen und somit seiner leitenden Stellung beim Schloßbau enthoben wurde. Mit der obersten Führung des Baues wurde nun der Geh. Ober-Baurath Stüler in Berlin betraut, der das Werk unter Beihülfe erprobter Kräfte, wie des Hofbauraths Willebrand in Schwerin und des Geh. Reg.-Raths Zwirner in Köln, welcher Letztere den Entwurf des zu der Schloßkirche hinzugefügten neuen Chors lieferte, zu Ende führte. Vorbild für die Neubauten des Schlosses war in erster Linie das im edelsten Styl gehaltene, unter Franz dem Ersten vollendete Schloß Chambord bei Blois, und wie es heißt, war es namentlich König Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen, der eine Anlehnung an dieses Werk der französischen Früh-Renaissance dringend empfahl, ein Umstand, der bei der endgültigen Entscheidung des Großherzogs den Ausschlag gegeben haben soll. Die Haupttheile des Schlosses wurden im Jahre 1852 unter Dach gebracht, und am 26. Mai 1858, also zwölf Jahre nach dem Beginn des Baues, zog die großherzogliche Familie feierlich in das neue Prachthaus ein.
Ohne hier auf die Einzelnheiten im Aeußeren wie im Inneren des Schweriner Schlosses eingehen zu können, eines Bauwerkes, dessen Herstellung, nebenbei bemerkt, die verhältnißmäßig geringe Summe von 3,240,000 Mark erforderte, wollen wir nur noch bemerken, daß dasselbe wesentlich aus fünf verschiedenen Theilen besteht, welche ein unregelmäßiges, verschobenes Sechseck bilden, und sich, wie unsere Abbildung zeigt, zu einem vollendet schönen Ganzen gestalten. Das durch Styl und Lage des Baues vorherrschende malerische Element, das sich wohl an der Nordostecke am frappantesten geltend macht, beeinträchtigt die monumentale Wirkung desselben in keiner Weise; beide Momente stehen hier vielmehr im schönsten Einklang, und so darf man wohl sagen, daß das Fürstenhaus am Schweriner See für alle Zeiten als ein leuchtendes Muster jener echten und idealen Baukunst hingestellt werden muß, welche auf eine harmonische und einheitliche Wirkung den Hauptaccent legt.
Die letzten Ehren einer deutschen Sängerin. Es war im Juni des Jahres 1854. Die Glocken des Klosters von St. Fernando tönten ernst und feierlich. Ein unabsehbares Menschengewoge wälzte sich durch die Straßen von Mexico. Man hörte Vorübergehende den Namen Henriette Sontag flüstern – den Namen der deutschen Sängerin, die hier so jäh und plötzlich, auf fremder Erde, sterben sollte (17. Juni). Noch vor wenigen Tagen hatte sie mit ihrer wunderbaren Stimme eine Welt begeistert, hatte bei glänzendem Lampenschein mit vollendeter Meisterschaft als „Tochter des Regiments“ die Herzen für sich eingenommen, und heute bewegte sich langsam und schwer der Leichenzug durch die Straßen, der ihre entseelte Hülle zur letzten Ruhestätte begleiten sollte.
Es war wohl kein Herz unter ihren Landsleuten, welches nicht bang und bewegt schlug, wenn es der Frau gedachte, die da unter den Blumen, die in so übergroßer Fülle ihren Sarg deckten, still und für ewig schlummern sollte.
Aus glänzender Sphäre herausgerissen, hatten sie Verhältnisse gezwungen, noch einmal die Bühne zu betreten, und mit dem ganzen Heldenmuth der Gattin und Mutter war sie über den Ocean gesegelt, um zu arbeiten für die Ihrigen. Mit Begeisterung war sie hier begrüßt worden, und als sie zum ersten Male die Bretter betrat – in unveränderter Jugendfrische, mit der anmuthigen Eigenart ihres Wesens, dem Ausdruck der Seelengüte und Tiefe in den lieblichen Zügen – da wollte der Jubel kein Ende nehmen. Der Genius aber mit der Leyer im Arm, der sie an ihrer Wiege so überreich bedachte, er senkte weinend sein Gesicht. Die Blume, die so wunderbar geblüht, sie sollte nicht langsam verwelken; die Saite der Harfe zersprang – und die Seele von Henriette Sontag war bei Gott.
Die Sonne schien hell und glänzend; unermeßlich und blau dehnte sich der Himmel über die Erde. Mir war es in tiefster Seele, als müßte es plötzlich dunkel werden, wo sich der Zug hinausbewegte, als wäre die Fackel, mit der diese große Künstlerseele die Erde erleuchtete, so hell und strahlend gewesen, daß es Nacht werden müsse, nun sie erloschen.
Aber sie sollte nicht allein und einsam zu Grabe gehn – hinter ihrem Gatten folgten ihre deutschen Brüder in Mexico. Da war wohl nicht Einer, der es nicht an diesem Sonntagmorgen als heiliges Bedürfniß empfunden hätte, die Heimath hier zu vertreten. Als der wunderschöne Choral „Wie sie so sanft ruhn, alle die Seligen“, von einigen hundert Männerstimmen gesungen, durch die Kirche brauste, da bebte gewiß das Gefühl durch alle Seelen, daß es gehobene Momente giebt im Menschenleben, Momente, wo Raum und Zeit verschwindet.
Der Sarg wurde in die Gruft gesenkt und ein deutsches Gebet gesprochen. Die feierliche Stimmung, in welcher sich die Menschenmasse nach und nach verlor, hallte noch lange nach in den deutschen Herzen.
Als man die Krankheit und den plötzlichen Tod der berühmten Frau eingehender besprach, da tauchten fabelhafte Geschichten auf, die sich fast zu den grauenhaftesten Verbrechen gestalteten. Man wollte wissen, daß Henriette Sontag nicht an der Cholera verschieden, sondern daß sie vergiftet worden. Unglaubliche Märchen entstanden aus hingeworfenen Worten und flogen von Mund zu Mund. Die deutsche Bevölkerung war so aufgeregt wie nie, und wollte die Sache ergründen.
Gingen ihrem Sterben wirklich so tragische Scenen voraus, wie sie im Publicum verbreitet waren? Was hilft die Frage? Ihr Herz hat ja aufgehört zu schlagen. Die deutsche Gesellschaft, die sich in Mexico ein freundliches Asyl gegründet, hat ihr Bild in ihrem schönsten Saale aufgehängt; ein unverwelklicher Lorbeerkranz umgiebt seinen Rahmen, und unter dem Namen Henriette Sontag stehen die Worte:
„Wo man singt, da laßt Euch ruhig nieder!
Böse Menschen haben keine Lieder.“
Ein deutsches Herz vergißt schwer, was es geliebt, und die Frau, die dort so glänzend und so flüchtig als Meteor geleuchtet, ist selbst bei denn Mexicanern unvergeßlich. Als man einige Monate später ihre Gruft geöffnet und den Sarg herausgehoben, um ihn zur Heimath zu befördern, da waren es wieder unzählige Freunde, die ihn geleiteten.
Adolf Glaßbrenner ist begraben, aber nicht vergessen. Noch leben Unzählige, denen er das Herz erfreut hat und die nicht ohne Beschämung auf den schmucklosen Hügel im Jerusalemer Friedhof blicken, unter welchem ein solcher Volksdichter ruht. Wir sind überzeugt, daß alle Diese es als eine Gelegenheit zur Bethätigung ihres Dankbarkeitsgefühls freudig begrüßen, wenn wir sie darauf hinweisen, daß die „Vossische Zeitung“ am 27. März einen Aufruf veröffentlicht hat, an ihre Expedition Beisteuern zu einem Denkmal für Adolf Glaßbrenner einzusenden, über deren Empfang und Verwendung ein Verein von allgemein bekannten Männern Rechenschaft ablegen wird. Wir bitten auch unsere Leser, jenem Aufruf recht warme Beachtung zu schenken.
Berichtigung. In der Redactionsbemerkung zu dem Artikel „Aus den letzten Lebenstagen Beethoven’s“ von La Mara in Nr. 12 unseres Blattes ist in der Titelangabe des dort erwähnten Buches statt „Charakterköpfe“ zu lesen: „Studienköpfe“.
B. J. in Posen. Auf Ihre Anfrage, ob und wie es einem jungen Mädchen möglich sei, als Elevin in eine Apotheke einzutreten, können wir Ihnen nach einem Artikel in der Frauenzeitung „Neue Bahnen“, Nr. 24 des Jahrgangs 1876 folgende Auskunft ertheilen. Es ist keine Frage mehr, daß Frauen und Mädchen zur Bereitung von Heilmitteln, wie zum Verkehr mit dem Publicum in Apotheken gut geeignet sind; die Probe dafür ist gemacht worden, wenn auch in Deutschland und der Schweiz dies bis jetzt nur im Kreise der Familie geschehen konnte und hinter dem Rücken des Gesetzes ausgeführt werden mußte, das bei uns den Frauen noch nicht einmal den Zutritt zu den Prüfungen in diesen Fache gestattet. Solche Versuche wurden bis jetzt bei uns fast ausnahmslos in den Familien von Apothekern und Aerzten gemacht. Hier bleibt der Volksvertretung im Reichstag und auf den Landtagen noch eine Aufgabe zu lösen, und zwar nach dem würdigen Beispiel Hollands. Das Apothekerwesen ist, wie die genannte Zeitschrift berichtet, in Holland frei; es werden dort für dasselbe keine Concessionen verliehen; Jeder, der qualificirt ist, kann eine Apotheke errichten: aber die gesetzlichen Bestimmungen für die Erlangung der Qualification sind um so strenger. Für die Qualification giebt es drei Grade: den Grad des Lehrlings, des Gehülfen und des Hauptapothekers. Vom Lehrling fordert man ein Examen in holländischer und lateinischer Sprache, sowie die praktische Fertigkeit, die Recepte technisch auszuführen, vom Gehülfen: Kenntniß der holländischen, lateinischen, deutschen und französischen Sprache, der Mathematik und Algebra. Im sehr strengen Examen wird über Naturgeschichte, Chemie, Botanik, Zoologie, Mineralogie und pharmaceutische Technik geprüft. Der Hauptapotheker hat nach zweijährigem Dienste in einer holländischen Apotheke eine Prüfung in der officinellen Botanik, Pharmakologie und Pharmakodynamik, in der Arzneibereitungskunde und in der Toxikologie zu bestehen.
Schon seit 1865 gewährt das holländische Gesetz auch weiblichen Lehrlingen Zutritt zum Apothekerberufe. Zu ihren Gunsten schuf die Gemeinnützige Gesellschaft Hollands 1868 in Amsterdam eine private Vorbereitungsschule für Apothekerlehrlinge, in welcher im Cursus von 1876 auch vierzig junge Mädchen ausgebildet worden sind. Die meisten fanden sofort auf dem Lande Anstellung. Hat bis jetzt ihre Betheiligung sich auch auf die Lehrlingsstufe beschränkt, so sind sie doch von den höheren Stufen nicht ausgeschlossen, aber auch der Lehrling steht sich in Holland bei freier Station jährlich auf achthundert bis tausend Franken. Die Apotheke würde auch bei uns dem weiblichen Geschlecht einen ebenso passenden wie lohnenden Beruf bieten.
G. W. in Naumburg. Sie thun uns Unrecht, wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten irgendwo den blauen Gummibaum zur Zimmercultur empfohlen, um die Luft zu verbessern. Davon ist vielmehr nur in der durch ein Flugblatt verbreiteten Reclame einer Gärtnerei die Rede; unsere Notiz in Nr. 37 vorigen Jahrgangs enthielt nichts dergleichen. Wir theilen im Gegentheil Ihre Ansicht, daß deutsche Wohnzimmer und italienische Sümpfe nicht nach derselben Methode zu behandeln sind, um gesund gemacht zu werden.
J. K. R. in München. Die uns genannte Firma können wir als eine solide nicht empfehlen und müssen Ihnen daher abrathen mit derselben eine Verbindung anzuknüpfen. – „Den alten (?) Onkel“ werden wir, so sehr dies den Wünschen unserer Leser entsprechen würde, aus nahe liegenden Gründen nicht portraitiren und überlassen dies andern Blättern, soweit sie hierin nicht schon vorangegangen sind. – Allerdings ist der von Ihnen genannte Autor eine Zierde unseres Blattes. Sein Schriftstellername ist, wie Sie richtig vermuthen, ein Pseudonym. Er lebt als Privatgelehrter in Berlin.
M. D. in St. Der Verfasser des Artikels „Slavische Osterfeier“ in unserer Nr. 13 ist A. Forstenheim.
- ↑ Was den Gang der religiösen Entwickelung Lessing’s anbetrifft, so möge hier dringend auf einen vortrefflichen Aufsatz von H. Landesmann (Hieronymus Lorm) verwiesen sein, der in des Verfassers „Philosophisch-kritischen Streifzügen“ (Berlin, Mitscher und Roestell 1873) unter der Ueberschrift „Lessing“ zu finden ist, und der auch sonst noch eine Fülle der anregendsten Gedanken über Lessing enthält.
- ↑ Vorlage: 'war'
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: uicht