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Die Gartenlaube (1876)/Heft 50

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[833]

No. 50.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Es lag etwas Furchtbares in der Klanglosigleit der Stimme, in der Starrheit der Züge der Fürstin; es war ergreifender als der Ausbruch des wildesten Schmerzes. Auch Waldemar vermochte nicht sich diesem Eindruck zu entziehen, er beugte sich zu ihr nieder.

„Mutter,“ sagte er bedeutsam, „noch ist der Graf in seinem Vaterlande, und noch ist Wanda hier. Sie hat mir heute unbewußt selbst den Weg gezeigt, auf dem sie allein noch zu gewinnen ist. Ich werde ihn gehen.“

Die Fürstin schreckte empor. Ihr Blick suchte mit banger, angstvoller Frage den seinigen – sie las die Antwort darin.

„Du wolltest versuchen –?“

„Was Ihr versucht habt. Ihr seid daran gescheitert – ich weiß es – vielleicht gelingt es mir.“

In dem Antlitz der Fürstin schien es wie ein Hoffnungsstrahl aufzuflammen aber er erlosch sofort wieder – sie schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, das unternimm nicht! Es ist vergebens. Und wenn ich Dir das sage, wirst Du wohl überzeugt sein, daß versucht worden ist, was nur im Bereiche der Möglichkeit lag. Wir haben Alles aufgeboten und Alles umsonst. Pawlick hat seine Treue mit dem Leben bezahlt.“

„Pawlick war ein Greis,“ versetzte Waldemar, „und überdies eine vorsichtige, ängstliche Natur. Er besaß wohl Aufopferung genug, aber nicht die nöthige Umsicht, nicht im entscheidenden Augenblick die nöthige Tollkühnheit. So etwas erfordert Jugend, Verwegenheit und vor allen Dingen ein volles persönliches Eintreten.“

„Und die vollste persönliche Gefahr! Wir haben es erfahren, wie sie dort drüben Grenzen und Gefangene bewachen. Waldemar, soll ich auch Dich noch verlieren?“

Waldemar sah sie erstaunt und befremdet bei den letzten Worten an, die wie ein Aufschrei des Schmerzes klangen, aber trotzdem flammte eine helle Röthe in seinem Gesichte auf.

„Es gilt die Freiheit Deines Bruders,“ erinnerte er.

„Bronislaw ist nicht mehr zu retten,“ sagte die Fürstin hoffnungslos. „Setze Dein Leben nicht auch noch an unsere verlorene Sache! Sie hat genug Opfer gekostet. Denke an Pawlick’s Schicksal, an den Fall Deines Bruders!“ Sie ergriff seine Hand und schloß sie fest in die ihrige. „Ich lasse Dich nicht fort. Es war Vermessenheit, wenn ich vorhin sagte, ich hätte nichts mehr zu verlieren; in diesem Augenblicke fühle ich, daß mir doch noch Eins geblieben ist. Ich will mein letztes, mein einziges Kind nicht auch noch hingeben – geh’ nicht, mein Sohn! Deine Mutter bittet Dich darum.“

Das war endlich der Ton, die Sprache des Mutterherzens, die Waldemar noch nie von diesen Lippen gehört hatte. Auch für die stolze, willensstarke Frau war die Stunde gekommen, wo sie Alles um sich zusammenbrechen sah und sich verzweiflungsvoll an das Einzige klammerte, welches das Schicksal ihr noch gelassen hatte. Der verstoßene, zurückgesetzte Sohn trat endlich in seine Rechte; freilich hatte sich erst das Grab für seinen Bruder öffnen müssen, um ihn in diese Rechte einzusetzen.

Eine andere Mutter und ein anderer Sohn wären sich jetzt wohl in die Arme gesunken, um in aufwallender Zärtlichkeit die lange, tiefe Entfremdung zu vergessen. Diese beiden Naturen waren zu hart und in ihrer Härte einander zu ähnlich, als daß sie sich so schnell hätten wiederfinden sollen. Waldemar sprach kein Wort, aber er zog – zum ersten Male in seinem Leben – die Hand der Mutter an seine Lippen, die lange und fest darauf ruhten.

„Du bleibst?“ bat die Fürstin.

Er richtete sich empor. Die helle Röthe lag noch auf seinem Gesichte, aber die wenigen Minuten hatten es völlig umgewandelt. Groll und Bitterkeit waren verschwunden; es leuchtete wohl noch Trotz daraus hervor, aber ein freudiger, siegesgewisser Trotz, der bereit ist, das Schicksal in die Schranken zu fordern.

„Nein,“ entgegnete er, „ich gehe. Aber ich danke Dir für diese Worte – sie machen mir das Wagniß leicht. Ihr habt mich von jeher als Euren Feind betrachtet, weil ich zu Euren Plänen nicht die Hand bot, ich konnte und kann das auch jetzt nicht, aber den Grafen einem unmenschlichen Urtheilsspruche zu entreißen, verbietet mir nichts. Ich will es wenigstens versuchen, und wenn irgend einer, so vollbringe ich es. Du kennst den Sporn, der mich treibt.“

Die Fürstin gab ihren Widerstand auf – sie konnte dieser Zuversicht gegenüber nicht ganz hoffnungslos bleiben.

„Und Wanda?“ fragte sie.

„Sie hat mir heute gesagt: ‚Wenn mein Vater frei wäre, ich würde den Muth finden, Allem zu trotzen, um Deinetwillen.‘ Sage ihr, ich würde sie vielleicht einst an diese Worte erinnern! Und nun frage mich nicht weiter, Mutter! Du weißt es ja, ich muß allein handeln, denn nur ich stehe außer Verdacht; Ihr seid beargwohnt und beobachtet. Jeder Schritt, den Ihr thut, [834] verräth das Unternehmen; jede Nachricht, die ich Euch sende, gefährdet es. Legt es in meine Hände – und nun lebe wohl! Ich muß fort – wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.“

Er berührte noch einmal flüchtig die Hand der Mutter mit seinen Lippen und eilte dann fort. Die Fürstin empfand den schnellen kurzen Abschied fast schmerzlich; sie trat an das Fenster, um dem Fortreitenden noch einen Gruß nachzuwinken, aber sie wartete vergebens darauf, daß er zu ihr emporblicken sollte. Wohl suchten seine Augen ein Fenster des Schlosses, als er langsam und zögernd aus dem Hofe ritt, aber es war nicht das ihrige. Sie hingen so fest und beharrlich an Wanda’s Erkerzimmer, als müsse dieser Blick die Kraft haben, die Geliebte zum Abschiedsgruße heranzuzwingen. Um ihretwillen ging er ja doch allein in das Wagniß, die Mutter, die eben geschlossene Versöhnung, das Alles versank, sobald es sich um seine Wanda handelte.

Und er erreichte es in der That, sie noch einmal zu sehen. Die junge Gräfin mußte wohl im Erkerfenster erschienen sein, denn Waldemar’s Gesicht leuchtete plötzlich auf, als habe ein Sonnenstrahl es berührt. Er warf einen Gruß hinauf, dann gab er seinem Normann die Zügel und flog, schnell wie der Sturmwind, aus dem Schloßhofe.

Die Fürstin stand noch immer an ihrem Platze und sah ihm nach; zu ihr hatte er nicht zurückgeblickt; sie war vergessen, und mit diesem Gedanken senkte sich auch zum ersten Male jener Stachel in ihre Seele, den der Sohn so oft gefühlt hatte, wenn er ihre Zärtlichkeit gegen Leo sah. Und doch drängte sich ihr gerade in diesem Augenblicke unwiderstehlich die Ueberzeugung auf, der sie bisher immer noch nicht ganz hatte Raum geben wollen, daß gerade ihr Erstgeborener das Erbtheil besaß, das dem jüngsten Lieblingssohne von jeher gefehlt hatte, die unbeugsame Kraft und Energie der Mutter, daß er auch in Geist und Charakter Blut von ihrem Blute war.




Es war in den Vormittagsstunden eines kühlen, aber sonnigen Maitages, als der Administrator von L. zurückkehrte, wo er seine Kinder abgeholt hatte. Herr und Frau Professor Fabian befanden sich bei ihm im Wagen. Dem Professor schien die neue akademische Würde recht gut zu bekommen und die Ehemannswürde ebenfalls. Er sah wohler und heiterer aus als je. Seine junge Frau hatte mit Rücksicht auf die Stellung ihres Gatten eine gewisse Feierlichkeit angenommen, die sie möglichst zu behaupten strebte und die einen komischen Contrast zu ihrer jugendlich frischen Erscheinung bildete. Zum Glücke fiel sie sehr oft aus ihrer Rolle und war dann ganz und gar wieder Gretchen Frank, in diesem Augenblicke aber herrschte die Frau Professorin vor, die mit sehr viel Haltung neben ihrem Vater saß und ihm von ihrem Leben in J. erzählte.

„Ja, Papa, der Aufenthalt bei Dir wird uns eine rechte Erholung sein,“ sagte sie und fuhr sich mit dem Taschentuche über das blühende Gesicht, das nichts weniger als erholungsbedürftig aussah. „Wir von der Universität werden ja fortwährend von allen nur möglichen Interessen in Anspruch genommen und müssen überall unsere Stellung vertreten. Wir Germanisten stehen ja überhaupt im Vordergrunde der wissenschaftlichen Bewegung.“

Du scheinst mir allerdings sehr im Vordergrunde zu stehen,“ meinte der Administrator, der mit einiger Verwunderung zuhörte. „Sage einmal, Kind, wer sitzt denn eigentlich auf dem Lehrstuhle in J.? Du oder Dein Mann?“

„Die Frau gehört zum Manne; also kommt das auf eins heraus,“ erklärte Gretchen. „Ohne mich hätte Emil die Professur überhaupt gar nicht annehmen können, so bedeutend er auch als Gelehrter ist. Professor Weber sagte ihm noch vorgestern in meiner Gegenwart: ‚Herr College, Sie sind ein Schatz für unsere Universität, aber für das praktische Leben taugen Sie ganz und gar nicht; darin wissen Sie sich nicht zurechtzufinden; es ist nur ein Glück, daß Ihre junge Frau Sie darin so energisch vertritt.‘ Er hat auch vollkommen Recht – nicht wahr, Emil? Ohne mich wärst Du in gesellschaftlicher Hinsicht verloren.“

„Ganz und gar!“ bestätigte der Professor gläubig und mit einem Blicke dankbarer Zärtlichkeit auf seine Gattin.

„Hörst Du, Papa, er sieht es ein,“ wandte sich diese an ihren Vater. „Emil ist einer von den wenigen Männern, die es begreifen, was sie an ihrer Frau haben. Hubert hätte das nie gethan – Apropos, wie geht es denn eigentlich dem Assessor? Ist er noch immer nicht Regierungsrath?“

„Nein, noch immer nicht! Und aus Groll darüber hat er seine Entlassung genommen. Mit dem Beginne des nächsten Monats verläßt er den Staatsdienst.“

„Welch ein Verlust für die Ministersessel unseres Landes!“ spottete Gretchen. „Er hatte einen davon bereits für die Zukunft mit Beschlag belegt und probirte regelmäßig die Ministerhaltung, wenn er in unserem Wohnzimmer saß. Plagt ihn noch immer die fixe Idee, überall Verschwörer und Hochverräther zu entdecken?“

Frank lachte. „Das weiß ich wirklich nicht, denn ich habe ihn seit Deiner Verlobung kaum gesehen und nicht ein einziges Mal gesprochen. Seitdem hat er mein Haus in Acht und Bann gethan, nicht ganz mit Unrecht. Du hättest ihm die Nachricht auch wohl schonender mittheilen können. Wenn er jetzt nach Wilicza kommt, was nicht oft geschieht, so steigt er unten im Dorfe ab, ohne den Gutshof zu betreten. Ich bin der Verhandlungen mit ihm überhoben, seit Herr Nordeck die Polizeiverwaltung selbst in Händen hat. Uebrigens kann der Assessor jetzt für einen reichen Mann gelten; er war ja der Haupterbe des Professor Schwarz, der vor einigen Monaten gestorben ist.“

„Wahrscheinlich am Gallenfieber,“ ergänzte die Frau Professorin.

„Gretchen!“ mahnte ihr Gatte, halb bittend, halb vorwurfsvoll.

„Mein Gott, er hatte doch nun einmal ein so galliges Temperament. Er war darin gerade so extrem, wie Du es in Deiner Langmuth bist. Stelle Dir vor, Papa, Emil hat gleich nach seiner Berufung nach J. an den Professor geschrieben, einen Brief voll Demuth und Liebenswürdigkeit, in welchem er sich förmlich entschuldigte, sein Nachfolger geworden zu sein, und feierlich seine Unschuld an dem ganzen Universitätsstreite versicherte. Der Brief ist natürlich nie beantwortet worden; trotzdem fühlt sich mein Herr Gemahl jetzt, wo diese unliebenswürdige Berühmtheit endlich aus der Welt geschieden ist, veranlaßt, ihm einen großartigen Nachruf zu widmen, und beklagt darin den Verlust für die Wissenschaft, als wäre der Verstorbene sein innigster Freund gewesen.“

„Ich that es aus voller Ueberzeugung,“ sagte Fabian in seiner sanften ernsten Weise. „Der schroffe Charakter des Professors hat nur zu oft die Anerkennung beinträchtigt, die man ihm schuldig war. Ich fühlte mich verpflichtet, daran zu erinnern, was die Wissenschaft in ihm verloren hat. Mag sein persönliches Auftreten gewesen sein wie es wolle, er war eine bedeutende Kraft.“

Gretchen warf verächtlich die Lippen auf. „Meinetwegen! Aber jetzt zu der Hauptsache! Herr Nordeck ist also nicht in Wilicza?“

„Nein,“ versetzte der Administrator einsilbig. „Er ist verreist.“

„Ja, das wissen wir; er schrieb meinem Manne schon vor längerer Zeit, daß er einen Ausflug nach Altenhof zu machen beabsichtigte und wahrscheinlich einige Wochen dort bleiben werde. Jetzt, wo er alle Hände voll im Wilicza zu thun hat – das ist doch seltsam!“

„Waldemar hat Altenhof ja stets als seine eigentliche Heimath betrachtet,“ wandte der Professor ein. „Er konnte sich deshalb auch nie entschließen, das Gut zu verkaufen, das ihm Herr Witold im Testamente vermachte. Es ist nur natürlich, daß er die Stätte seiner Jugendzeit einmal wieder aufsucht.“

Gretchen machte eine sehr ungläubige Miene. „Du solltest Deinen ehemaligen Zögling doch besser kennen! Der hängt sicher keinen sentimentalen Jugenderinnerungen nach, während er mitten in der Riesenarbeit ist, seine slavischen Güter zu germanisiren. Dahinter steckt etwas Anderes, wahrscheinlich seine Liebe zu der Gräfin Morynska, die er sich endlich einmal aus dem Sinne schlagen will, und das wäre auch das Beste. Diese Polinnen sind bisweilen ganz unvernünftig in ihrem nationalen Fanatismus, und Gräfin Wanda ist es nun vollends. Dem Manne, den sie liebt, ihre Hand nicht reichen zu wollen, nur weil er ein Deutscher ist! Ich hätte meinen Emil genommen und wenn er [835] zu den Hottentotten gehört hätte! Aber nun grämt er sich Tag für Tag über das vermeintliche Unglück seines lieben Waldemar und bildet sich im vollen Ernste ein, dieser habe ein Herz wie andere Menschen, was ich entschieden nicht glaube.“

„Gretchen!“ sagte der Professor zum zweiten Male, diesmal mit einem Versuche streng auszusehen, der ihm aber vollständig mißglückte.

„Entschieden nicht!“ wiederholte die junge Frau. „Wenn Jemand Herzenskummer hat, so zeigt er das doch auf irgend eine Weise. Herr Nordeck wirthschaftet ja in Wilicza herum, daß ganz L. die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, und als er bei unserer Hochzeit meinen Brautführer machte, war ihm auch nicht das Geringste anzusehen.“

„Ich habe es Dir schon einmal gesagt, daß die Verschlossenheit ein Hauptzug in Waldemar’s Charakter ist,“ erklärte Fabian. „Er könnte zu Grunde gehen an dieser Leidenschaft; fremden Augen würde er sie nie zeigen.“

„Ein Mensch, dem man die unglückliche Liebe nicht einmal ansieht, hat kein tiefes Gefühl,“ beharrte Gretchen. „Dir sah man sie auf zehn Schritte an. Du gingst in den letzten Wochen vor unserer Verlobung, als Du noch glaubtest, daß ich den Assessor heirathen würde, mit einem Jammergesichte umher. Ich hatte tiefes Mitleid mit Dir, aber Du warst in Deiner Schüchternheit ja zu keiner Erklärung zu bringen.“

Der Administrator hatte sich an dem letzten Gespräche gar nicht betheiligt, sondern angelegentlich auf die Bäume am Wege geblickt. Der Weg, der eine kurze Strecke am Rande des Flusses hinführte, begann hier sehr schlecht zu werden. Die Beschädigungen, welche das jüngste Hochwasser angerichtet, waren noch nicht wieder ausgebessert, und die Fahrt über den halb zerrissenen und unterwühlten Uferdamm konnte immerhin für bedenklich gelten. Frank behauptete zwar, die Sache habe keine Gefahr, er habe die Stelle erst auf der Hinfahrt passirt, aber Gretchen traute der Versicherung nicht recht. Sie zog es vor, auszusteigen und die kurze Strecke bis zur nahegelegenen Brücke zu Fuß zu gehen. Die beiden Herren folgten ihrem Beispiele; alle Drei schlugen den höher gelegenen Fußpfad ein, während der Wagen unten auf dem Uferdamme langsam nachfuhr.

Sie waren nicht die einzigen Bedenklichen; von der Brücke her kam ein anderer Wagen, dessen Insasse die gleichen Befürchtungen zu hegen schien. Er ließ halten und stieg ebenfalls aus, gerade in dem Augenblicke, wo Frank mit den Seinigen anlangte, und diese fanden sich urplötzlich dem Herrn Assessor Hubert gegenüber.

Die unerwartete Begegnung rief auf beiden Seiten eine peinliche Verlegenheit hervor. Man hatte sich nicht wieder gesprochen seit jenem Tage, wo der Assessor, wüthend über die eben geschlossene Verlobung, aus dem Hause stürzte, und der Administrator ihm, in der Meinung, er habe den Verstand verloren, seinen Inspector nachschickte. Man war aber doch zu lange befreundet gewesen, um jetzt so völlig fremd an einander vorüber zu gehen – das fühlten beide Theile. Frank war der Erste, der sich faßte und das beste Auskunftsmittel ergriff; er trat, als sei nichts geschehen, auf den Assessor zu, bot ihm in der alten freundschaftlichen Weise die Hand und sprach sein Vergnügen aus, ihn endlich einmal wieder zu sehen.

Der Assessor stand in steifer Haltung da, schwarz gekleidet vom Kopfe bis zu den Füßen. Er trug einen schwarzen Kreppflor um den Hut, einen zweiten um den Arm. Die Berühmtheit der Familie wurde gebührend betrauert, aber die Erbschaft schien doch einigen Balsam in das Herz des trauernden Neffen geträufelt zu haben, denn er sah nichts weniger als verzweifelt aus. Es lag heute überhaupt ein eigener Ausdruck in seinem Gesichte, eine erhabene Selbstzufriedenheit, eine stille Größe; er schien in der Stimmung, aller Welt zu verzeihen, mit aller Welt Frieden zu machen, und so ergriff er denn auch nach kurzem Zögern die dargebotene Hand und erwiderte einige höfliche Worte.

Der Professor und Gretchen traten jetzt auch heran. Hubert warf einen Blick düsteren Vorwurfs auf die junge Frau, die in ihrem Reisehütchen mit dem wehenden Schleier allerdings reizend genug aussah, um in dem Herzen ihres früheren Anbeters ein schmerzliches Gefühl zu wecken, und verneigte sich vor ihr, dann aber wandte er sich zu Fabian.

„Herr Professor,“ sagte er feierlich, „Sie haben den großen Verlust mitempfunden, den unsere Familie und mit ihr die gesammte Wissenschaft erlitten hat. Der Brief, den Sie meinem Onkel schrieben, überzeugte ihn freilich längst, daß Sie unschuldig waren an der gegen ihn in’s Werk gesetzten Intrigue, daß Sie wenigstens seine großen Verdienste neidlos anerkannten. Er hat mir selbst diese Ueberzeugung ausgesprochen und Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der schöne Nachruf, den Sie ihm widmeten, giebt Ihnen das ehrenvollste Zeugniß und ist den Hinterbliebenen ein Trost gewesen. Ich danke Ihnen im Namen der Familie.“

Fabian drückte herzlich die aus freien Stücken dargebotene Hand des Sprechenden. Die Feindschaft seines Vorgängers und der Groll des Assessors hatten schwer auf seiner Seele gelegen, so unschuldig er auch an der Beiden widerfahrenen Kränkung gewesen war. Er condolirte dem betrübten Neffen mit aufrichtiger Theilnahme.

„Ja, wir haben auf der Universität den Verlust des Professor Schwarz auch tief beklagt,“ sagte Gretchen, und war gewissenlos genug, eine ausführliche Beileidsbezeigung über den Tod des Mannes hinzuzufügen, denn sie gründlich verabscheut hatte, ohne ihn zu kennen, und dem sie seine Kritik der „Geschichte des Germanenthums“ noch im Grabe nicht vergeben konnte.

„Und Sie haben wirklich Ihre Entlassung genommen?“ fragte jetzt der Administrator, zu einem anderen Thema übergehend. „Sie verlassen den Staatsdienst, Herr Assessor?“

„In acht Tagen,“ bestätigte Hubert. „Aber hinsichtlich des Titels, den Sie mir geben, Herr Frank, möchte ich mir doch eine kleine Correctur erlauben. Ich –“ er machte wieder eine Kunstpause, weit länger, als sie damals seiner Liebeserklärung voranging, und sah die Anwesenden der Reihe nach an, als wolle er sie auf etwas Großes vorbereiten, dann athmete er tief auf und vollendete, während ein Lächeln unendlicher Wonne sein Antlitz verklärte – „ich bin seit gestern Regierungsrath.“

„Gott sei Dank, endlich!“ sagte Gretchen halblaut, während ihr Gatte sie erschrocken am Arme zupfte, um sie von weiteren Unvorsichtigkeiten abzuhalten. Zum Glücke hatte Hubert den Ausruf nicht gehört; er empfing mit einer Würde, welche der Größe des Momentes entsprach, die Gratulation Frank’s und gleich darauf die Glückwünsche des Ehepaares. Jetzt freilich war seine versöhnliche Stimmung erklärt. Der neue Regierungsrath stand hoch über allen Beleidigungen, die der ehemalige Assessor erfahren. Er verzieh Allen, sogar dem Staate, der ihn so lange verkannt hatte.

„Die Beförderung ändert freilich nichts an meinem Entschlusse,“ nahm er wieder das Wort, und es fiel ihm nicht entfernt ein, daß er sie einzig und allein diesem Entschlusse verdankte. „Der Staat erkennt es bisweilen zu spät, was er an seinen Dienern hat, aber der Würfel ist jetzt einmal gefallen. Ich versehe natürlich noch die Functionen meiner früheren Stellung, und man hat mir noch in der letzten Woche meiner Amtsthätigkeit einen wichtigen Auftrag anvertraut. Ich bin im Begriffe nach W. zu reisen.“

„Ueber die Grenze?“ fragte Fabian erstaunt.

„Allerdings! Ich habe Rücksprache mit den dortigen Behörden zu nehmen wegen Ergreifung und Auslieferung eines Hochverräthers.“

Gretchen warf ihrem Manne einen Blick zu, der deutlich sagte: da fängt er schon wieder an! Auch der Regierungrath hilft nicht dagegen. Frank aber war auf einmal aufmerksam geworden, verbarg das jedoch unter dem gleichgültigsten Tone, mit dem er die Worte hinwarf:

„Ich denke, der Aufstand ist zu Ende.“

„Aber die Verschwörungen dauern fort,“ rief Hubert eifrig. „Davon haben wir jetzt wieder ein eclatantes Beispiel. Sie wissen es wohl noch nicht, daß der Führer, die Seele der ganzen Revolution, Graf Morynski, entkommen ist?“

Fabian und seine Frau fuhren in lebhaftester Ueberraschung auf, während der Administrator ruhig sagte. „Es ist wohl nicht möglich.“

Der neue Regierungsrath zuckte die Achseln. „Es ist leider kein Geheimniß mehr; man spricht bereits in L. davon. Wilicza [836] und Rakowicz bilden ja dort nach wie vor das Hauptinteresse. Wilicza freilich steht außer Frage, seit Herr Nordeck es so energisch regiert, aber in Rakowicz residirt die Fürstin Baratowska, und ich bleibe dabei, diese Frau ist eine Gefahr für die ganze Provinz; es wird nicht Ruhe, so lange sie auf unserem Boden lebt. Gott weiß, wen sie jetzt wieder zur Befreiung ihres Bruders angestiftet hat! Ein Tollkopf ohne Gleichen ist es gewesen, der sein Leben für nichts achtete. Die zur Deportation verurtheilten Gefangenen werden auf’s Schärfste bewacht. Trotzdem hat der oder haben die Helfershelfer sich mit dem Grafen in Verbindung gesetzt und ihm die sämmtlichen Mittel zur Flucht in die Hände gespielt. Sie sind bis in das Innere der Festung, bis an die Mauer des Gefängnisses selbst vorgedrungen; man hat sichere Spuren gefunden, daß der Flüchtling dort erwartet wurde, und dann haben sie ihn mitten durch die Posten und Wachen hindurch, mitten durch all’ die Wälle und Ringmauern entführt, wie – das ist noch heute ein Räthsel. Das halbe Wächterpersonal muß bestochen gewesen sein; die ganze Festung ist in Aufruhr über die unglaubliche Tollkühnheit des Unternehmens. Seit zwei Tagen wird die ganze Umgegend durchstreift, aber noch hat man nicht die geringste Spur entdeckt.“

Fabian hatte anfangs nur mit lebhafter Theilnahme zugehört, als aber wiederholt von der Kühnheit des Unternehmens die Rede war, begann er unruhig zu werden. Eine unbestimmte Ahnung tauchte in ihm auf; er wollte eine hastige Frage thun, begegnete aber noch zu rechter Zeit den warnenden Augen seines Schwiegervaters. Es stand ein entschiedenes Verbot in dem Blicke. Der Professor schwieg, aber er erschrak bis in das innerste Herz hinein.

Gretchen hatte die stumme Verständigung zwischen den Beiden nicht bemerkt und folgte unbefangen der Erzählung Hubert’s, der jetzt fortfuhr:

„Weit können die Flüchtlinge nicht gelangt sein, denn die Flucht wurde entdeckt, fast unmittelbar nachdem der Graf fort war. Die Grenze hat er noch nicht passirt – das steht fest, aber eben so unzweifelhaft ist es, daß er versuchen wird, deutsches Gebiet zu erreichen weil hier die Gefahr minder groß ist. Wahrscheinlich wendet er sich zuerst nach Rakowicz. Wilicza ist ja jetzt, Gott sei Dank, solchen verrätherischen Umtrieben verschlossen, obgleich Herr Nordeck im Augenblick nicht dort ist.“

„Nein,“ sagte der Administrator mit großer Bestimmtheit, „er ist in Altenhof.“

„Ich weiß es; er theilte es dem Herrn Präsidenten selbst mit, als er sich von ihm verabschiedete. Diese Abwesenheit erspart ihm viel – es würde doch sehr peinlich für ihn sein, seinen Oheim ergriffen und ausgeliefert zu sehen, wie es ohne Zweifel geschieht.“

„Wie, Sie werden ihn ausliefern?“ rief Gretchen heftig.

Hubert sah sie erstaunt an. „Natürlich! Er ist ja ein Verbrecher, ein Hochverräther. Die befreundete Regierung wird darauf bestehen.“

Die junge Frau sah erst ihren Gatten und dann den Vater an; sie begriff es nicht, daß keiner von Beiden in ihre Entrüstung einstimmte, aber der Administrator sah gleichgültig vor sich hin, und Fabian sprach keine Silbe. Doch das tapfere Gretchen ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie erging sich in einer nicht besonders schmeichelhaften Beurtheilung der „befreundeten Regierung“ und auch die eigene mußte sich einige sehr anzügliche Bemerkungen gefallen lassen. Hubert hörte ganz entsetzt zu. Er dankte zum ersten Male Gott, daß er die junge Dame nicht zur Regierungsräthin gemacht hatte; sie zeigte ihm soeben, daß sie ganz und gar nicht zur Frau eines loyalen Beamten paßte; sie trug auch so eine hochverrätherische Ader in sich.

„Ich an Ihrer Stelle hätte den Auftrag abgelehnt,“ schloß sie endlich. „So kurz vor Ihrem Scheiden konnten Sie das ja. Ich würde meine Amtsthätigkeit nicht damit schließen, einen armen, halb todt gehetzten Gefangenen seinen Peinigern wieder in die Hände zu liefern.“

„Ich bin Regierungsrath,“ versetzte Hubert, den Titel feierlichst betonend, „und kenne meine Pflicht. Mein Staat befiehlt – ich gehorche. – Aber ich sehe, daß mein Wagen glücklich die bedenkliche Stelle passirt hat. Leben Sie wohl, meine Herrschaften! Mich ruft die Pflicht.“ Er grüßte und entfernte sich.

„Hast Du es gehört, Emil?“ fragte die junge Frau, als sie wieder im Wagen saßen. „Er ist Regierungsrath geworden, acht Tage vor seiner Entlassung, damit er in der neuen Stellung nicht etwa noch eine neue Albernheit begeht. Nun, mit dem bloßen Titel kann er ja doch in Zukunft keinen Schaden mehr anrichten.“

Sie verbreitete sich noch ausführlich darüber und über die Neuigkeit von der Flucht des Grafen Morynski, erhielt aber nur kurze und zerstreute Antworten. Vater und Gatte waren seit jener Begegnung auffallend einsilbig geworden, und es war ein Glück, daß man bereits das Gebiet von Wilicza erreicht hatte, denn die Unterhaltung wollte nicht wieder in Gang kommen.

Die Frau Professorin fand im Laufe des Tages noch manche Gelegenheit, sich zu wundern und auch zu ärgern. Vor allen Dingen begriff sie ihren Vater nicht. Er freute sich doch zweifellos über die Ankunft seiner Kinder; er hatte sie beim Willkommen mit solcher Herzlichkeit in die Arme geschlossen, und doch schien es ihr, als sei ihm diese Ankunft, die sie ihm gestern erst durch ein Telegramm angezeigt hatten, nicht ganz recht, als hätte er gewünscht, sie aufgeschoben zu sehen. Er behauptete, mit Geschäften überhäuft zu sein, und hatte in der That fortwährend zu thun. Gleich nach der Ankunft nahm er seinen Schwiegersohn mit sich in sein Zimmer und blieb fast eine Stunde dort mit ihm allein.

Gretchen’s Indignation wuchs, als sie weder zu dieser geheimen Conferenz zugezogen wurde, noch von ihrem Manne etwas darüber erfahren konnte. Sie fing an, sich auf’s Beobachten zu legen, und da fiel ihr denn allerdings Manches auf. Einzelne Wahrnehmungen, die sie schon während der Fahrt gemacht, tauchten wieder auf; sie combinirte äußerst geschickt und kam endlich zu einem Resultate, das für sie ganz unzweifelhaft war.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Führer in das Gebiet der Kunst.


Seitdem die Eisenbahnen den Massen ermöglichen, was sonst nur einzelnen Glücklichen vergönnt war, die zahlreichen Kunststätten Europas zu besuchen und dort Aug’ und Herz zu erfreuen, seitdem Weltausstellungen selbst solche erleichterte Touren in ferne Länder unnöthig gemacht haben, indem sie die Kunstschätze der verschiedenen Länder an einzelnen Punkten zur Schau stellen, seitdem der verbesserte Holzschnitt und die dadurch entstandenen illustrirten Zeitungen und Bilderwerke eine instructive Vorstellung der Kunst selbst bis in die Hütte tragen und die Photographie, der Menge den theuren Kupferstich ersetzend, auch demjenigen, der jene Reisemittel nicht benutzen kann, die Möglichkeit giebt, sich an den Meisterwerken der Kunst aller Länder am häuslichen Herde zu erfreuen, seitdem hat sich auch der Sinn für Kunst, die Freude am Kunstwerk in immer weiteren Wellen verbreitet. Eben dadurch ist aber auch in uns Allen das Bedürfniß entstanden und gewachsen, an der Hand eines bewährten Führers in die Kunst eingeführt zu werden, auch wenn wir nicht durch streng künstlerische oder kunstwissenschaftliche Vorbildung für ein richtiges Verständniß der Kunstwerke vorbereitet sind. Unter den Männern, welche, zu dieser schönen Mission berufen, sie in ebenso umfassender als gediegener Weise erfüllt haben und erfüllen, ist in erster Linie Wilhelm von Lübke zu nennen.

Ein Kind der rothen Erde, welche schon so manchen bedeutenden Mann hervorgebracht hat, ist Lübke am 17. Januar 1826 zu Dortmund geboren. Als der Sohn des Lehrers und Organisten der dortigen katholischen Gemeinde fühlte er sich zunächst zur Musik hingezogen und erwarb sich in ihrer Ausübung bald eine solche Fertigkeit, daß er schon in seinem zwölften Jahre in der Kirche die Orgel spielte. Zugleich erhielt er am Gymnasium [837] von Dortmund unter Bernh. Thiersch, dem Verfasser des Preußenliedes und Bruder des Archäologen, eine solide classische Vorbildung. Wenn Lübke daneben Generalbaß und Compositionslehre studirte und anfangs die Idee hatte, die Musik zum Lebensberuf zu wählen, so wurde er doch, als er 1845 die Hochschule in Bonn bezog – wo er unter Ritschl und Welcker Philologie, unter Loebell und Diez, dem Meister romanischer Sprachforschung, Literaturgeschichte studirte – durch Gottfried Kinkels Vorträge über Kunstgeschichte und den Anblick der großartigen und interessanten Bauwerke, welche ihm in Bonn und Köln, an Rhein und Mosel, vor Augen traten, allmählich zu den Tönen und Harmonien der Schwesterkunst hinübergeführt, für die ihn eine am Schlusse seiner Bonner Studien (1846) ausgeführte Reise nach dem bilder- und denkmalreichen schönen Belgien vollends gewann. So mußten ihn in Berlin, wo er zunächst seine philologischen Studien unter Boeckh und Lachmann fortsetzte,


Wilhelm von Lübke.
Nach einer Photographie.


besonders die mannigfaltigen Sammlungen des Museums fesseln, für die er in Waagen und Gerhard bewährte Führer fand, während die dortigen geselligen und kunstwissenschaftlichen Kreise ihm weitere unmittelbare Anregung brachten. Hier begann er Entdeckungsreisen nach alten Denkmälern romanischen und germanischen Stils an Elbe und Weser, an welchen er zeichnend und messend sein künstlerisches Auge übte, während der Philologe, diese Arbeit ergänzend, die Inschriften zu deuten suchte.

Im Jahre 1849 sich das Recht der Lehrtätigkeit erwerbend, machte er am Werder’schen Gymnasium sein Probejahr als Lehramtscandidat durch, um sich hierdurch die Möglichkeit einer spätern akademischen Laufbahn zu sichern. Dann aber gab er sich ganz seinem Lieblingsstudium hin, bereicherte und befestigte seine Anschauungen auf Reisen in Mecklenburg, Schlesien, Sachsen, Ostpreußen und legte die Früchte seiner Studien zunächst in dem 1852 unter Eggers’ Redaction in Berlin erscheinenden „Deutschen Kunstblatte“ in einer Reihe von Aufsätzen und Kritiken nieder, welche die volle Anerkennung der bewährten Kunstforscher, in deren Kreise er sich bewegte, eines Kugler, Schnaase, Waagen etc., gewannen.

Eine Wanderung durch die engere Heimath gab ihm 1853 den Stoff zu seinem ersten größeren Werke, „Die mittelalterliche Kunst in Westphalen“, das er durch einen Atlas mit dreißig selbstgezeichneten Tafeln illustrirte. Diese Arbeit, welche die vollste Beherrschung des Gegenstandes und ein treffendes kritisches Urtheil bekundete und deshalb auch von Schnaase als das Muster einer Kunstmonographie bezeichnet wurde, brach für Lübke die Bahn, auf welcher er nun mit rastloser Thätigkeit weiter schritt. Sein nächstes Werk, „Die Vorschule zum Studiren der Kirchenbaukunst“, verfolgte den praktischen Zweck, die Laien, und zwar vornehmlich die Geistlichen, welche bei Erhaltung kirchlicher Kunstdenkmäler eine so schwerwiegende Rolle zu spielen berufen sind, für die mittelalterliche Kirchenbaukunst zu interessiren. Wie sehr er damit das Richtige getroffen, beweist der Umstand am besten, daß im Jahre 1873 bereits die sechste Auflage dieses Buches erscheinen mußte, dessen Bedeutung und Nutzen doch an den Auflagen allein weitaus nicht zu ermessen ist. – Vom Theil zum Ganzen aufsteigend, beschenkte Lübke im Jahre 1855 das Publicum mit seiner „Geschichte der Architectur“, welche, 1875 die fünfte Auflage erlebend und in’s Englische, Russische, Schwedische und Dänische übersetzt, dadurch auf’s Glänzendste bewies, daß ihr Erscheinen nicht nur ein Bedürfniß gewesen war, sondern auch, daß sie dasselbe in anregendster Weise zu befriedigen verstanden hatte.

Zunächst ward ihm nun die Aufgabe, die zweite Auflage von Kugler’s „Denkmälern der Kunst“ vorzubereiten, welche er durch eine neue Abtheilung über die Kunst der Gegenwart nach eigener Anschauung vervollständigte. Im Jahre 1857 ward Lübke berufen, seinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen fortan nicht nur durch die Schrift, sondern auch durch das lebendige Wort Ausdruck zu geben, indem er an der Bauakademie den bekannten Architekten W. Stier als Lehrer zu ersetzen bestimmt ward. Doch hielt ihn dieses Lehramt von neuen Studien, Forschungen und Werken nicht ab.

In diese Zeit fällt auch seine wissenschaftliche Bereisung des Elsasses mit dem Architekten Lasius, deren Frucht, in Förster’s „Bauzeitung (Jahrgang 1860) niedergelegt, das Publicum mit den Denkmälern dieses schönen Strichs deutscher Erde und dem wesentlich deutschen Charakter derselben bekannt machte. Eine Reise nach Italien (1860) brachte den „Grundriß der Kunstgeschichte“ zur Reife, der, recht eigentlich bestimmt, weitere Laienkreise mit den Grenzen der kunstgeschichtlichen Entwickelung vertraut zu machen, diese schöne Bestimmung nun schon in sieben Auflagen (die letzte 1876) weiter und weiter verfolgt.

Hieran schlossen sich kunstgeschichtliche Texte zu photographischen Albums, welche Tizian’s, Paul Veronese’s und Michel Angelo’s Meisterwerke, sowie die Madonnen zum Gegenstande haben und in gleicher Weise bestimmt sind, der Kunst neue Freunde zu erobern wie die alten zu erfreuen. – Im Jahre 1861 gewann ihn Zürich als Lehrer für das eidgenössische Polytechnicum, an welchem er über die gesammte Kunstgeschichte zu lesen hatte. Hier ward er durch die besonderen localen Anregungen veranlaßt, die Glasmalerei in der Schweiz und die dortigen gemalten Oefen in den Bereich seiner Studien zu ziehen und Abhandlungen hierüber zu verfassen, in welchen er den Zusammenhang dieser Kleinkünste mit der großen Kunst erörterte und damit der zeitgemäßen Frage der Hebung des Kunstgewerbes näher trat.

Als ein neuer gewaltiger Schritt auf der Bahn seines Apostelthums auf dem Gebiete der Kunst erscheint aber die „Geschichte der Plastik“, welche sich würdig an seine „Geschichte der Architectur“ anreiht und 1871 in zweiter Auflage erschien. Hierher gehört der Zeitfolge nach ferner die Herausgabe des „Italienischen Tagebuchs“ von Max Nohl, sowie der „Geschichte der italienischen Renaissance“ von seinem Freunde Jac. Burckhardt.

Im Jahre 1866 erhielt Lübke den Ruf als Professor der Kunstgeschichte an das Polytechnicum und die Kunstschule in Stuttgart, wo er nun nicht nur vor dem zahlreichen Auditorium dieser Lehranstalten, sondern auch durch seine Vorlesungen für [838] die gebildeten Kreise der Residenz in vielseitiger Weise thätig ist. Mit seiner „Geschichte der französischen Renaissance“ (1868), welcher (1873) die „Geschichte der deutschen Renaissance“ folgte, betrat er in richtiger Erkenntniß dessen, was noth that, das Gebiet einer gerade unserer Zeit besonders sympathischen, unseren heutigen Anschauungen und Bedürfnissen sich besonders gut anschmiegenden Kunstepoche – eine That, deren praktische Bedeutung deshalb augenscheinlich ist.

Indem wir noch der Sammlung „Kunsthistorischer Studien“ Lübke’s (1869), seiner Bearbeitung der fünften Auflage von Kugler’s „Handbuch der Kunstgeschichte“, seines Textes zu dem photographischen Prachtwerke über P. Vischer und zu den Lichtdruckfacsimiles der Dürer’schen Kupferstiche gedenken, freuen wir uns beifügen zu können, daß seiner bewährten Feder neuerdings die Herausgabe des durch den Tod des Verfassers unvollendet gebliebenen Schlußbandes von Schnaase’s „Geschichte der bildenden Künste“ übertragen worden ist.

Einem so rastlosen, umfassenden und nutzbringenden Wirken konnte eine allseitige Würdigung nicht fehlen. Wenn wir daher anführen, daß Lübke neben Ordensauszeichnungen zum Mitgliede der königlich baierischen Akademie der Wissenschaften, der kaiserlichen Akademie der bildenden Künste in Wien, der Académie Royale de Belgique, zum Ehrenmitgliede des amerikanischen Institute of Architecture in New-York und zum correspondirenden Mitgliede des Istituto archeologico in Rom ernannt worden ist, so haben wir damit nur einzelne Momente jener allgemeinen Anerkennung und Werthschätzung genannt, deren sich Lübke im engeren und weiteren Kreise erfreut und die sich durch solche Titel und Auszeichnungen weder vollständig ausdrücken noch verstärken läßt.
t.


Flußleben in der Kuilu-Niederung.

Von Dr. Pechuel-Loesche,
Mitglied der ehemaligen, von der deutschen Gesellschaft zur Erforschung Aequatorial-Afrikas nach der Westküste (Nieder-Guinea) ausgesandten Loango-Expedition.

Wer von Chinchoxo, der Küste folgend, sich nach Norden begiebt und endlich über die Bai von Loango hinausgelangt, sieht sich staunend in ein neues Gebiet versetzt, das, reicher und mannigfaltiger in Flora und Fauna als Chinchoxo und die eben durchmessenen Landstrecken, ungleich großartiger in seinem Charakter, sich als das vielbegünstigte Gebiet eines mächtigen Stromes ankündet. Die Savane mit ihren bald feinen und niedrigen, bald schilfähnlichen und bis zu vier Meter hoch aufschießenden dichten Grasbeständen, deren Einförmigkeit malerisch unterbrochen wird von parkartig vertheilten Gebüschen, Bäumen und Gehölzen, geht zu Ende mit den flachen sandigen Erhebungen jener Küstenstrecke. Die oft groteske Gestalt des riesigen Affenbrodbaumes, der schöne dunkle Blätterdom eines seltneren banyanenähnlichen Ficus, verschwinden aus den gewohnten Formen der Landschaft. Das Reich des Kuilu (Hauptfluß des alten Königreiches Loango, Nord vom Congo) beginnt mit dem Auftreten der charakteristischen Typen der Pandaneen, am Fuße der in warmem Roth herüberschimmernden Steilabfälle des thonigen Plateau von Boala und in dessen wunderbaren Erosionsschluchten und Circusthälern. Nur die vertrauten steifen Gestalten der meerliebenden Fächerpalmen (Deleb-Palme, Borassus Aethiopum), die bald in einförmigen Reihen, bald in dichten Beständen den von sich unaufhörlich überstürzenden Wellenkämmen bespülten Strand einsäumen, geleiten noch den Reisenden.

Endlich ist der breite Strom erreicht. Nach Südwesten hin durch eine von der Brandung angehäufte, vielfach wieder in ihrer Form veränderte Landzunge gehindert, biegt er jetzt in kurzem Bogen nordwärts ab und findet dort, den jenseitigen öden Sandgürtel unterwaschend, einen Ausweg in den Ocean. An diesem Orte kämpfen die Wellen des Meeres mit den aus dem Inneren des Continentes kommenden Gewässern um die Herrschaft und werfen sich ihnen in langen schäumenden Wogen über der hierdurch bedingten Barre entgegen, die Einfahrt in die Mündung verbietend. In der trockenen Jahreszeit werden Fluth und Ebbe eine große Strecke landein, sogar bis in das Gebirge fühlbar, in regelmäßigen Perioden den Lauf des Wassers hemmend, oder umkehrend und ihn dann wieder um so mehr beschleunigend, gleichzeitig auch die faulen Seitengewässer der Niederung und deren weite Sümpfe theilweise füllend und leerend. In der Regenzeit aber behauptet der stolze Strom sein Recht und erzwingt für seine aus dem Gebirge herabbrausenden, die niederen Gelände überschwemmenden Fluthen, mit ihrer Bürde von Sand und Schlamm und riesigen Pflanzenleichen, einen ununterbrochenen Abzug in das Meer.

Von der einkommenden Fluth während der trockenen Jahreszeit begünstigt, gleitet das schwerfällige Canoe des Reisenden stromauf. An den Ufern, auch verschiedene kleine Inseln unfern der Mündung fast gänzlich beherrschend, ziehen die dichtverwachsenen Mangroven sich ununterbrochen entlang: hell[r]indige, meist schlanke, oft bis zu dreißig Meter aufstrebende Hochstämme, getragen von dem wunderlichen Gewirr ihrer bald steifen und knorrigen, bald schön gebogenen und weitgespannten Haltwurzeln, eigenartig behangen mit saftigen geraden Luftwurzeln, die oft noch von den höchsten Zweigen, und zwar von diesen selbst, nicht von den cylindrischen Früchten herniederwachsen. Wo, weiter stromauf, das Salzwasser des Meeres mit dem des Flusses sich nicht mehr willig vermischt, sondern nur auf dem Grunde des Bettes noch einfließt, da werden diese an brakisches Wasser gebundenen Rhizophoren spärlicher. Zwischen ihnen erscheinen anmuthige Gruppen wilder Dattelpalmen (Phoenix spinosa), auf schlanken, schön gebogenen Schäften zierliche Wedelkronen und langgestielte, gelbroth schimmernde Fruchttrauben tragend, – auch, wie auf Stelzen ruhend, die niedrigeren gedrungenen und mehrarmigen Stämme des Pandanus, mit ihren stolzen Endbüscheln von schwertähnlichen Blättern, erst einzeln und in Familien, bald aber in dichten Massen geschaart, bis auch diese endlich wieder verschwinden in den ausgedehnten dichten Beständen der schönen stammlosen Weinpalme (Bambus-Palme, Raphia), deren kraftstrotzende Garbe von zwölf bis achtzehn Meter langen Wedeln sich leise im Winde wiegt. Undurchdringliches Gebüsch, kraus und dornig, schiebt sich an höheren Uferbänken mit seinen einförmigen Umrissen zwischen jene auffallenderen Pflanzentypen ein. Aus dieser noch niederen Vegetation erheben sich, erst einzeln, schnell aber zahlreicher und höher werdend, stattliche Laubbäume, und endlich umgiebt den staunenden Reisenden der Hochwald des Kuilu in seiner ganzen Schönheit. Eine ununterbrochene Blättermasse, reich an Formen und Farben, zieht sich an beiden Ufern entlang; aufstrebende Stämme und Gezweig, niederhängende, oft mit herrlichen Blüthen übersäete Ranken, zwischen welchen hier und dort der anmuthige Wedelstrauß der nutzbringenden Oelpalme hervorlugt, flechten sich zu dem Urwalde zusammen, welcher, undurchdringlich scheinend, wie ein zweites Ufer die weite Wasserfläche begrenzt. Ueber ihn hinaus ragen die weitästigen Kronen einzelner mächtiger Bombax (Baumwollenbaum, Silk-cotton-tree: Eriodendron anfractuosum), und, ungleich zahlreicher und charakteristischer, die feinverzweigten Wipfel mehrerer Baumarten, fast den Typus unserer Buchen repräsentirend.

Tritt man an diese Stämme hinan, die, vom Flusse aus gesehen, so schlank und luftig noch über den Wald emporstreben, so staunt man über die gewaltige Dicke dieser Säulen und erhält nun erst eine Vorstellung von ihrer Höhe. An ihrem Wurzelende zeigen sie fast ausnahmslos eine Neigung zur Flügelbildung, in bestimmterer und regelmäßigerer Form, als der stachelrindige Bombax und die kleineren Urwaldsbäume. Drei bis sechs Meter vom Boden treten aus dem Stamme allmählich tafelähnliche Strebepfeiler wie Wände hervor, nach unten weiter und weiter ausstrahlend, bis zu einer Entfernung von drei und vier Meter. Fest in der Erde wurzelnd, geben sie Halt dem bis sechszig Meter hoch aufstrebenden Schafte. In einer Anzahl von drei bis acht bilden sie auf diese Weise um denselben Nischen und offene dreieckige Kammern, zuweilen so geräumig, daß eine Familie darin hausen könnte. Sie stehen auch nicht immer radiär ab, sondern ordnen sich häufig in einer leichten Spirale, [839] als wären sie mit ihrem fernsten Ende stationär geblieben, während der Stamm ein wenig um seine Längsachse gedreht wurde. Die hohen Wipfel sind unerreichbar für die nach Licht ringenden, den übrigen Wald sich erobernden Lianen, deren Netzwerk von Fäden, vielgewundenen und verwachsenen Stricken und Tauen bis zu mannsdicken Kabeln, auf und ab, von Baum zu Baum, von Ast zu Ast sich spannt und schlingt, oder, verderblich geworden durch seine Last für die einstigen Träger und Erhalter, in wirren Massen niederhängt.

Eine Schicht trockenen Laubes lagert auf dem mit offenem Unterholze bestandenen Boden; eingebettet in dieselbe modern die niedergebrochenen Hölzer, welche dort zu einem wüsten Haufwerke vereint liegen, wo einer der Riesenstämme im gewaltigen Sturze den ganzen Wald unter sich niedergeschmettert hat. Sie bieten willkommene Ansiedelungspunkte für niedere Pflanzenformen und für geschäftige Insecten, deren fremdartige, oft kunstvolle Bauten uns zum Untersuchen und Skizziren einladen. Geheimnißvolle Dämmerung, nirgends zur Dunkelheit sich steigernd, herrscht unter dem dichten Blätterdome, nur unterbrochen, wo durch eine Lücke im Laubdache das Tageslicht hereinströmt und in wunderbaren Reflexen spielt.

An solchen Orten gaukeln mit Vorliebe die Tagfalter des Waldes, welche auf dunklem Grunde vorwiegend mit schönem Blau oder mattem Gelb gezeichnet sind. Feuchter Dunst, beängstigend für den Menschen, zieht über dem Boden entlang, Modergeruch mit sich tragend, oft vermischt mit betäubendem Blumendufte. Dann fesseln wohl den suchenden Blick große und farbenreiche, phantastisch gestaltete Blüthen, welche einzeln oder in Trauben an einem der unscheinbaren „Buschtaue“ hervorgebrochen sind. Von ihnen gleitet das Auge zu dem glänzenden Grün einer Familie behaglicher Blattpflanzen und wird dann vielleicht wieder angezogen durch eine Colonie bescheidener, zierlicher Blumen, die man inmitten solcher verwirrender und grandioser Formen freudig, wie eine Erinnerung an die Heimath, begrüßt.

Das ist der Gallerie-Wald des Kuilu, der gleichmäßig die Uferleisten des Stromes und seine Inseln schmückt und an seinen Nebengewässern sich hinzieht, nur an letzteren unterbrochen, wo auf Lichtungen Scitamineen und Farne üppig wuchern, oder trostlose Papyrus-Sümpfe mit ihren typischen Vegetationsformen sich dehnen.

Und dieser Hochwald ist nicht so undurchdringlich und arm an Thierleben wie die verfilzten Gehölze der Savanen und die Buschwälder in den feuchten Thalsohlen um Chinchoxo. Im Gegensatze zu diesen und auch zu den durch viel größere Fülle und Mannigfaltigkeit der Pflanzenarten ausgezeichneten Tropenwäldern Amerikas und der Südsee-Inseln, gesellt sich im Galerie-Walde des Kuilu das Gleichartige mit Vorliebe zu einander und giebt ihm durch Raumvertheilung der Stämme, durch lichtes Unterholz annähernd den Charakter des deutschen Forstes. Der Sammler findet Raum zum Hindurchschlüpfen, zwar nicht immer mühelos, doch genügend für seine Zwecke. Dichte Bestände einer rankenden Blattpflanze, welche üppig wuchernd hier und dort das Buschwerk durchzieht oder gänzlich verdrängt, zwingen ihn, sich mit dem Messer Bahn zu schneiden; nicht immer gelingt es ihm, das Rascheln der harten Blätter, das Zurückschnellen der zähen Ranken zu vermeiden, und so verscheucht er nur zu häufig das gesuchte Wild. Gleich hinderlich für seine Jagdlust ist das grüne Gewölbe über ihm, welches das beschlichene Thier, das deutlich genug zu hören ist, doch hartnäckig verbirgt und, wenn es endlich einen Durchblick gestattet, ihn dasselbe vielleicht hoch oben auf einem der Alles überragenden Wipfel entdecken läßt, erreichbar höchstens für die Kugel, nicht aber für den Schrotschuß, der für solche Höhen machtlos ist – eine Thatsache, welche der Schütze, durch die ungewöhnlichen Formen um sich in seiner Schätzung beirrt, nur ungern und erst nach längerer Erfahrung würdigen lernt. Und wie schwierig ist es, ein herabgeschossenes Thier zu erlangen! Wie oft fällt dasselbe in dichtes Gezweig und ist, unerreichbar hoch hängen bleibend, für den Jäger verloren oder es entschlüpft, zählebig, wie das afrikanische Wild ist, selbst wenn es glücklich zur Erde niederfiel, noch unter der zugreifenden Hand.

Lohnender und müheloser ist die Jagd vom Wasser aus, im leise am Waldrande hingleitenden Canoe. An den selten mehr als mannshohen unterwaschenen Uferstrecken bieten Wurzeln, umgestürzte Bäume, einen brauchbaren Ausstieg[WS 1]; an flachen Rändern dagegen haben die Hippopotamus mit ihren massigen Leibern niedrige Tunnel durch den allzu dichten Saum des hier heckenähnlich auftretenden Ufergebüsches gebrochen, und ihre mehr oder minder tief in den Boden eingestampften Fährten zeigen, wo trügerischer Schlamm, wo fester Grund sich findet.

Das Rauschen der Zweige, das Brechen eines dürren Astes, auch Töne des Wohlbehagens, oft unterbrochen von Gezänk, verrathen dem Eingeweihten die Nähe einer der häufigen Affenschaaren, deren Angehörige, lustig kletternd und springend, zuweilen in den gewagtesten Stellungen an den dünnsten Zweigen hängend, sich an leckern Früchten laben. Es verlangt viel Uebung, daß das Auge geschickt wird, zwischen den Laubmassen die schmausenden Langschwänze zu erkennen, und nur zu oft künden halb ängstliche, halb zornige Warnungsrufe an, daß die scheuen, sehr aufmerksamen Thiere ihren Feind schon entdeckt haben und sich mit hurtigen Sprüngen aus dem Bereiche der Feuerwaffe bringen, oder sich zwischen schützenden Blättern ganz still verbergen. Höchst drollig erscheint eine solche Flucht, wenn ein größerer Affenschwarm überrascht wird, welcher sich auf einem isolirt stehenden, gewöhnlich auch noch blätterlosen Baume zu irgend einem dem Menschen unverständlichen Zwecke versammelt hat. Pfeifend und zeternd springen die entsetzten Kletterer durcheinander; finden sie nicht genug rettende Zweige, von denen sie schnell zu benachbarten gelangen, auch keine Liane, an welcher sie in langer Reihe niedergleiten können, so werfen sie sich in höchster Noth, platt ausgestreckt, auf gut Glück von der Höhe hinunter. Die Fliehenden schauen, trotz ihrer Angst, von Ranken und Gezweig oft possierlich zurück und fallen, bei einem raschen Schützen, noch ihrer Neugier zum Opfer, eine willkommene Zugabe für die Speisekammer des Lagers bildend. Freudiger noch ist die Aufregung im Lager, wenn ein größeres Stück des selteneren Wildes, eine Antilope, ein Schwein, ein Büffel der sichern Kugel erlegen ist, und der Lärm wächst im directen Verhältniß zur Masse, wenn ein Hippopotamus eingebracht wird. Zwar ist die Aufgabe keine leichte, und es erfordert große Anstrengung, die riesige Beute, wie es meistens nothwedig ist, aus dem Wasser auf das Trockene zu schaffen, aber die Schwarzen arbeiten mit fröhlichem Eifer; häuft sich doch nun wieder für sie ein Fleischberg an, welcher, auf primitiven Holzrosten geräuchert, nicht nur für viele Tage ein unbeschränktes Kochen und Braten in Aussicht stellt, sondern auch durch klugen Tauschhandel mit aus oft entlegenen Dörfern herbeieilenden Negern das Erwerben vieler begehrter Dinge ermöglicht.

Wer die Hippopotamus, trotz aller Warnungen, trotz der allgemein verbürgten Gefährlichkeit eines solchen Beginnens, nach echter Jägerart ausnahmslos zu Wasser, und häufig nur in kleinen, morschen Canoes mit Erfolg angegriffen hat, wo immer er sie angetroffen, ohne umgeworfen und zerbissen zu werden, der erkennt wohl, daß sie nur selten so grimmig und böswillig sind, wie die phantastische Fama sie schildert. Er kann sich bald auf seine anfangs ängstlichen Leute verlassen. Diese haben Vertrauen und Zuversicht gewonnen, und vertrauter geworden mit der Führung des Canoes in Momenten der Gefahr, spähen sie scharf aus und rudern furchtlos hinan, wo immer die mächtigen Häupter der wasserliebenden riesigen Grasfresser sich emporheben. In ihrer ungeschlachten Form, auf der weiten Wasserfläche emportauchend, verschwindend, wieder erscheinend, immer kluge Umschau haltend, schnaufend und grunzend die kleinen Ohren schüttelnd, bilden letztere eine charakteristische, fast „fossil“ zu nennende Staffage vieler afrikanischer Gewässer. Wem das Glück geworden ist, am hellen Tage Gruppen dieser Thiere mit halbem Leibe über Wasser auf den Sandbänken des Stromes in ihren ungestümen Spielen und wüthenden Kämpfen zu beobachten, der muß glauben, eine Episode aus der Vorzeit der Erde geschaut zu haben. Mehr noch als der Wal, dem sie in ihren Bewegungen ähneln, als Elephant und Rhinoceros, erscheinen diese Kolosse als die auf wunderbare Weise lebend erhaltenen Reste einer längst vergangenen Periode, von deren Fauna und Flora nur der Schooß der Erde noch stille Zeugen birgt.

Ein anderes eigenartiges Thier, eine Seekuh (Manatus), hält sich fern der Mündung und vom Meere in den Nebengewässern [840] und Sümpfen des Kuilu, an den Uferrändern das vom Wasser aus erreichbare Gras abweidend. Sehr scheu, umfangreich und eine Leibeslänge von vielleicht drei Meter erreichend, vermag es durch schnelle Flucht das Wasser bei geringer Tiefe in so heftige Bewegung zu versetzen, daß kleine, schwanke Canoes davon wohl umschlagen können. Auf flachen Sandhorsten sich sonnend, oder auf angetriebenen Baumstämmen und mühsam erstiegenen Uferbänken zwischen dem Gebüsche ruhend, finden sich mehrere Arten Krokodile in großer Anzahl. Leider sind dieselben so scheu und wachsam, daß sie sehr schwer zu beschleichen sind, meist schon in ziemlicher Entfernung mehr oder minder geräuschvoll in ihr eigentliches Element gleiten und, selbst tödtlich getroffen, spurlos versinken. Letzteres gilt auch für die Hippopotamus. Nicht immer gelangt ein selbst unter Feuer verendetes Thier – dies läßt sich mit den gewöhnlichen Jagdwaffen und den gebräuchlichen Ladungen nur erreichen, wenn die Kugel in’s Auge oder den inneren Augenwinkel geschossen wird – nach seinem innerhalb einiger Stunden erfolgenden Aufsteigen in den Besitz des glücklichen Schützen, welcher erwartungsvoll den Ort überwacht; die vielleicht einbrechende Dunkelheit, der Lauf des Wassers, entziehen ihm unbemerkt die Beute, welche dann nur zu oft von den vielen, in ihren Canoes zeitweise nomadisirenden Negern gefunden und geraubt wird.

Zahlreicher an Arten und Individuen als das Reich der Vierfüßler und Wasserthiere ist die Vogelwelt vertreten. Von überall her klingen die Stimmen der gefiederten Waldbewohner, obgleich man diese selbst viel seltener erblickt, so lange man nicht eine entsprechende Lehrzeit überstanden hat. Wunderschön ist die Strophe eines kleinen Sängers, welcher in abgemessenen Pausen je zwei lang gehaltene Töne erklingen läßt, die anschwellend und ersterbend, im Intervall einer Quart abwärts auf einander folgen, so machtvoll und glockenrein, daß man andächtig lauscht. Der Genuß ist selten, da der nicht häufige Vogel nur für kurze Zeit bei Sonnenaufgang aus dem Ufergebüsch seine köstliche Stimme hören läßt. Nuni mkissi (verzauberter Vogel) nennen ihn die Neger und erzählen von ihm mancherlei Märchen, wie, daß ihn noch Niemand erblickt habe, auch, daß er niemals sterbe. Ein anderer kleiner, aber nicht so seltener Waldbewohner flötet rein und zart die größere Hälfte einer chromatischen Tonleiter abwärts, den letzten Ton länger und leiser, wie nachsinnend, wiederholend und dann verstummend, als hätte er den Rest vergessen. Wie frisch und fröhlich klingt dazwischen, rhythmisch scharf und klar wie ein Signal, die Strophe einer Drosselart, während der Gesang einer anderen dem Schlage unserer Nachtigall an Wohllaut nicht nachsteht. Weniger melodisch, aber sehr anheimelnd, erschallt von fern und nah der „kurrende“ oft wiederholte Ruf des farbenreichen Corythaix, und noch lauter, charakteristischer, bei den größeren Arten fast in ein Heulen übergehend, das kurze dumpfe, viele Male schnell wiederholte „ku! ku[WS 2]! ku!“ verschiedener Kukuke, erst auf einem Ton sich haltend, dann drei bis sechs Noten abwärts folgend und nun gehaltener verklingend, oder in umgekehrter Reihe wieder aufsteigend, nochmals beginnend. Besonders auffallend und aus sehr großer Entfernung hörbar ist der gellende, eigenthümlich modulirende Schrei eines stolzen Adlers (Haliaëtos vocifer), noch mehr aber der weithin schallende bald harmonische, bald einförmig laute Ruf stattlicher, schön gefärbter Baumhühner (Turacus), oder das mißtönige Jammergeschrei der großen Nashornvögel, welchen der unförmliche Schnabel eine ganz besondere Resonanz verleiht. Diese sonderbaren, gewöhnlich paarweise fliegenden Thiere sieht man häufig mit außerordentlich rauschenden Flügelschlägen quer über den Strom vom einen Ufer dem anderen zusteuern.

Gegen Abend, wenn die wahrhaft zahllosen Flüge der wohlbekannten grauen Papageien, dem Stromlaufe folgend, über dem Walde landeinwärts ziehen, übertäubt ihr unaufhörliches Kreischen, ihr lustiges Plappern und Pfeifen fast gänzlich alle übrigen Thierstimmen; nur das rauhe, heisere Trompeten einer Ibisart (I. hagedash) durchdringt noch dieses Tongewirre. Wenn endlich diese lärmenden Schaaren sich verflogen haben, wird es für kurze Zeit überraschend still. Von hier und dort schallt noch ein einzelner Ruf; ein verspäteter Vogel eilt vorüber; eine aufgescheuchte Affenheerde wird noch einmal laut – dann, mit herabsinkender Nacht erfüllt das Zirpen und Schwirren der Insecten den ganzen Wald. Bald klingt aber von der Savane jenseit desselben das durchdringende gedehnte Kläffen der Schakale herüber. Wie aus weiter Ferne tönt dazwischen das Klagen der Wildkatze; vorsichtiger schon lauscht man auf das kurz absetzende Grollen des gefährlichen, am Kuilu seltenen Leoparden und mag wohl erschrocken auffahren bei dem plötzlich losbrechenden abscheulichen Geschrei vielleicht naher Chimpansen.

Ein heller Dunstschleier lagert sich allmählich über dem Wasserspiegel und zieht erkältend unter den Bäumen hin – ebenso wie die heiße Sonne das gefürchtete Fieber bringend für manchen Reisenden. Bald rollt man sich in die wollenen Schlafdecken ein und streckt sich, die treue Jagdwaffe zur Seite, auf das Lager von grünem, mit geschmeidiger Matte überdecktem Laube. Traumbefangen vernimmt man vielleicht noch vom Strome her ein seltsames Rauschen und Plätschern; die schwatzend um die Feuerstätten hockenden Neger verstummen und flüstern: „Simvubu“, und endlich belehrt ein mächtiges Grunzen, mit welchem ein alter Bulle den fremdartigen Schein der verglühenden Lagerfeuer begrüßt, auch den noch Uneingeweihten, daß eine Hippopotamus-Familie eben vorüberschwimmt und zur nächtlichen Weide zieht.


Deutscher Kuli-Handel 1874 und 1876.

Das königlich sächsische Oberappellationsgericht hat durch Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerde ein freisprechendes Urtheil des königlichen Bezirksgerichts zu Leipzig in einem wider die „Gartenlaube“ angestrengten Processe bestätigt, welches nicht blos für unsere Zeitschrift, sondern für die deutsche Presse überhaupt und für die Interessen des gesammten deutschen Volkes von ungewöhnlicher Wichtigkeit ist. Man hat zuweilen der Presse den Vorwurf gemacht, daß sie über offenkundige Uebelstände Schweigen beobachte oder sich begnüge darauf hinzudeuten, ohne der Sache näher auf den Grund zu gehen und in eindringlicher Weise vor Unternehmungen zu warnen, die eine große Anzahl vertrauensvoller Menschen in Schaden, selbst in tiefes Unglück locken. Man bedachte bei diesem Vorwurfe nicht, daß die Presse sich einem zweischneidigen Schwerte gegenüber befindet, welches den Schutz, den das Gesetz dem Rechte und der Freiheit zu gewähren berufen ist, zu einem Angriffe verkehren kann, indem die gute Absicht einer Enthüllung als Beleidigung, die Verteidigung der gefährdeten Wohlfahrt zahlreicher Mitbürger als böswillige Schädigung Anderer erklärt und die strafende Gerechtigkeit angerufen wird, um den wohlmeinenden Warner mundtodt zu machen, ja ihn mit dem Brandmale eines Verleumders zu zeichnen. Das Goethe’sche Wort: „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort; Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage,“ möchten einzelne geschäftsgewandte Köpfe von veralteten Zuständen auf die jüngste Gesetzgebung übertragen, indem sie die Strafbestimmungen, welche den bösen Willen, die übertünchte Absicht der Schädigung an Ehre und Gut aus der öffentlichen Besprechung schädlicher Vorkommnisse verbannen sollen, mit spitzfindiger Auslegekunst anrufen, um für den rügenden Warner eine Verurtheilung zu erzielen und damit einen beschönigenden Mantel um ihre von dem Buchstaben des Gesetzes nicht erreichbaren Handlungen zu breiten. Solche Fälle sind häufiger, als man im Publicum denkt, und die Presse muß zu ihrem innigsten Leidwesen oftmals schweigen, wo sie Reden für eine gebieterische Pflicht erachtet, wenn es sich nicht vermeiden läßt, Sache und Namen von einander zu trennen; sie muß schweigen, nicht blos um sich vor Nachtheilen zu behüten, sondern damit sie den Uebeln, die sie beseitigen möchte, nicht eine gewisse Verklärung bereite, welche dieselben verlockender und gefährlicher macht. Die Gesetzgebung kann deshalb nicht getadelt werden, denn sie faßt die Fälle nur in ihrer Allgemeinheit auf und überläßt es der Einsicht der Richter, die Umstände zu prüfen, in deren Zusammenhange eine That geschah.

Daß unsere Richter diese Einsicht bei ihren Entscheidungen [841] bewähren, ist eine freudige Beruhigung für das öffentliche Bewußtsein, und um diese zu fördern, geben wir das erwähnte Urtheil kund.

In Nr. 22 des Jahrgangs 1874 brachte nämlich die „Gartenlaube“ unter der Ueberschrift, welche diese Zeilen führen, einige Nachrichten über die jammervollen Schicksale, von denen Landleute aus der Gegend von Stargardt in Westpreußen heimgesucht worden sind. Prospekte mit glänzenden Schilderungen und Verheißungen, die von einem Hamburger Hause (Louis Knorr u. Comp.) und einer Antwerpener Firma (L. Hermes) ausgingen, hatten dieselben mit Sehnsucht nach Brasilien erfüllt, wo ein glückliches Klima herrsche, die besten Früchte und Getreidearten in Ueberfluß vorhanden, dazu wohlversorgte Kirchen und Schulen und was noch Alles! Die brasilianische Regierung unterstütze die Einwanderer drei Vierteljahre lang und ertheile umsonst oder doch für wenige Silbergroschen bebautes und in unbeschränkter Menge unbebautes Land. „Und alle diese Herrlichkeiten sind zu haben, wenn man für den Kopf siebenzehn Thaler Passagiergeld zahlt.“ Ja, man erklärte sich mit fünf, selbst mit dritthalb Thaler für den Kopf oder fünf Thaler für die Familie zufrieden.

Was die bethörten Menschen dort finden, ist seitdem mehrfach zu haarsträubendem Entsetzen berichtet worden; jener Artikel der „Gartenlaube“ begnügte sich, das Elend, welches die Auswanderer unterwegs und in Brasilien heimsuchte, kurz anzudeuten, rein sachlich und ohne Erwähnung von Namen. „All dieses Elend“, hieß es zum Schlusse, „dem die Einwanderer schließlich“ (das heißt nachdem gegen hundertdreißig von etwa zweitausend Colonisten erlegen waren) „durch das Dazwischentreten des deutschen Consuls in Rio de Janeiro entronnen sind, haben jene Unglücklichen neben ihrer eigenen Leichtgläubigkeit zunächst dem speculativen Geschicke einiger deutschen Auswanderungsagenten zu verdanken. – Wollte man selbst den kaum denkbaren Fall annehmen, daß diese Expedienten von den eigentlichen Zuständen jener Colonien keine der Wahrheit gleichkommende Vorstellung gehabt hätten, so verdient wenigstens die Gewissenlosigkeit gebrandmarkt zu werden, mit der sie in’s Ungewisse hinein Versprechungen gaben, die zu erfüllen sie gar nicht versuchten.“

In diesen Worten wurde die Begründung einer strafgerichtlichen Verfolgung gesucht, welche Karl August Mathei, in Firma Louis Knorr und Comp., eines der Häuser, von denen die Auswanderungs-Prospecte ausgegangen waren, gegen den Verfasser des Artikels und gegen den Herausgeber der „Gartenlaube“ wegen Beleidigung und Geschäftsstörung erhob, indem er eine Entschädigungssumme von dreitausend Mark forderte.

Abgewiesen mit seiner Klage, betrat der Kläger den Weg der Berufung und, da auch das königliche Bezirksgericht zu Leipzig freisprechend entschied, den der Nichtigkeitsbeschwerde beim königlich sächsischen Oberappellationsgerichte, der für ihn gleichfalls erfolglos war.

Dieser höchsten Entscheidung, die wir im Hinblicke auf die große Bedeutung der Sache mittheilen, schicken wir einen kurzen Auszug der Gründe vorauf, aus denen das königliche Bezirksgericht die Berufung gegen das freisprechende Urtheil der ersten Instanz verwarf.

Das königliche Bezirksgericht tritt dem freisprechenden Erkenntnisse bei, weil sowohl dem Verfasser des Artikels wie dem Redacteur der „Gartenlaube“ es nur darum zu thun war, durch Veröffentlichung der gerügten Vorgänge eine Warnung vor Auswanderung nach Brasilien in weitesten Kreisen ergehen zu lassen. Wenn klägerischerseits bestritten wird, daß die Privatangeklagten aus irgend welchem Grunde zur Vertretung der Interessen unbekannter Mitmenschen berufen waren, so sei es allerdings in der Praxis anerkannt, daß eine allgemeine Befugniß, die Rechte Dritter zu beschützen, nicht existire, die Presse also nicht unbedingt unter dem Schutze des Paragraphen 193 des Reichsstrafgesetzbuches stehe; unter Umständen sei jedoch die Besprechung öffentlicher Angelegenheiten in der Presse als zur Wahrnehmung berechtigter Interessen geschehen zu betrachten. Der klägerische Einwand, daß die von einer größeren Anzahl von Auswanderern gemachten Aussagen den Wahrheitsbeweis, namentlich für den gesammten Inhalt des fraglichen Artikels nicht liefern können, sei hinfällig. Auch könne füglich dahingestellt bleiben, ob die beregten Zeugenaussagen den vollen Beweis für die in dem Artikel der „Gartenlaube“ erzählten Vorgänge liefern, denn sie reichen völlig aus, um den guten Glauben des Verfassers jenes Aufsatzes über jeden Zweifel zu erheben; insbesondere für den Herausgeber der „Gartenlaube“ sei dieser gute Glaube durch den Briefwechsel mit dem Verfasser erwiesen; endlich gehe aus der Form des Artikels und den begleitenden Umständen das Vorhandensein einer Beleidigung nicht hervor; der Verfasser hatte hinreichenden Grund, die gelegentlich amtlicher Handlungen gemachten Aussagen von Auswanderern für wahr zu halten, und sein Zweck war lediglich, durch Mittheilung der Schicksale jener Auswanderer vor der Auswanderung nach Brasilien zu warnen.

Auf die hiergegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ist nun das Erkenntniß ergangen, daß dieselbe zu verwerfen sei und der Privat-Ankläger auch die durch das Rechtsmittel verursachten Kosten zu erstatten habe.

Hier die Entscheidungsgründe, die wir im Auszuge mittheilen. „Wollte man auch die von dem Privat-Ankläger gegen das Erkenntniß erhobene Nichtigkeitsbeschwerde dem Verfasser des Artikels gegenüber durch den unangefochten gebliebenen Ausspruch der zweiten Instanz, daß bezüglich dieses Angeklagten eine Strafverfolgung wegen eingetretener Verjährung ausgeschlossen sei, nicht ohne Weiteres für erledigt ansehen, so erscheint doch das erwähnte Rechtsmittel beiden Angeklagten gegenüber unbegründet. Das angefochtene Erkenntniß stellt fest:

a) daß der Beweis der Wahrheit der in dem gerügten Aufsatze der „Gartenlaube“ behaupteten Thatsachen im Wesentlichen erbracht;
b) daß die Abfassung und Veröffentlichung des erwähnten Aufsatzes zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erfolgt sei und
c) daß das Vorhandensein einer Beleidigung weder aus der Form des Aufsatzes, noch aus den Umständen, unter welchen derselbe veröffentlicht wurde, hervorgeht.

Alle diese Aussprüche, der unter c) wenigstens insoweit, als die Absicht, zu beleidigen, verneint wird, besitzen den Charakter thatsächlicher Feststellungen, und es bleibt unter den Voraussetzungen, auf welchen die erkannte Straffreisprechung beruht, für die Cassations-Instanz nur die Frage offen, ob das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form des gerügten Aufsatzes hervorgehe. Allein auch diese Frage ist zu verneinen, da keine der in dieser Richtung hervorgehoben Stellen Ausdrücke enthält, welche nach allgemeiner Auffassung schon an sich und unter allen Umständen, ohne daß es erst des Beweises beleidigender Absicht bedarf, als Beleidigung empfunden werden.

Hiernach und auf Grund der obenerwähnten bindenden Beweisannahmen erscheint die erkannte Straffreisprechung durchaus gerechtfertigt. Die eingewendete Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen und in Folge dessen der Privat-Ankläger auch in Abstattung der durch dieselbe verursachten Gerichtskosten zu verurtheilen.“

Diese Urtheile, welche die Presse vor dem Knebel, der ihre Stimme zu ersticken drohte, glücklicher Weise bewahren, ergingen zu gelegener Zeit, denn ein durch zahlreiche belgische Journale bestätigtes Privatschreiben an die „Gartenlaube“ aus Antwerpen, 27. November 1876, erhebt die Warnung, daß wiederum eine Auswanderung nach Brasilien und Venezuela in Gang gesetzt worden ist, welche alle früheren an Bedeutung übertrifft, und fügt die Namen dreier Dampferlinien bei, welche in den Monaten Januar bis October dieses Jahres 3604 Auswanderer, meist deutsche und österreichische Polen neben wenigen Russen und Italienern, nach Südamerika beförderten. „Durch Circular,“ heißt es in dem Schreiben weiter, „wurde der Ueberfahrtspreis auf zweiundzwanzig Thaler bestimmt; in Antwerpen angekommen, sollen die Auswanderer fünfundfünfzig Thaler bezahlen. Oder die Leute treffen nicht zur Abfahrt des Dampfers ein, dann müssen sie liegen bleiben und gerathen in die bitterste Noth; augenblicklich liegen hier nicht weniger als siebenhundert preußische Polen, die am 20. November abfahren sollten; ein großer Theil ist ohne Mittel zum Leben und zur Ueberfahrt, sodaß die Antwerpener Behörden und die deutsche Gesandtschaft in Brüssel eingeschritten sind.“

Die Antwerpener „Gazette“ giebt nähere Mittheilungen darüber, welche von der dortigen „Opinion“ und anderen Blättern bestätigt werden. „Schon im vorigen Jahre,“ schreibt [842] die „Gazette“, „kamen Hunderte von Auswanderern durch unsere Stadt; dieselben redeten nur polnisch. Zur Verständigung mit ihnen zogen die Auswanderungsagenten einen polnischen Geistlichen herbei, der an einer Kirche der Stadt angestellt ist. Dieser ließ sich von den Auswanderern Adressen von polnischen Preußen geben, welche ebenfalls auszuwandern dächten. Gestützt auf diese Adressen, bot der Geistliche, der in dem erwähnten Briefe Grochowski oder Jarowski, in Journalen Gerowski oder Jurowski benannt wird, dem brasilianischen Generalkonsul die Lieferung von dreitausend polnischen Colonisten an und zu gleicher Zeit wandte er sich an das Haus Lobedanz u. Cie. in Antwerpen, welches im Auftrage der brasilianischen Regierung auf deren Kosten Auswanderer zu ermäßigten Preisen nach Brasilien befördert, mit dem Antrage eines Compagniegeschäfts, wobei er polnische Auswanderungsprospecte unter seinen Landsleuten verbreiten wollte. Der Generalconsul und das genannte Haus antworteten ihm ablehnend, worauf er williges Ohr bei einem anderen Hause zu Antwerpen fand, nur mit der Abänderung, daß statt nach Brasilien die Einladung zur Auswanderung nach Venezuela, unter Verheißung der Beförderung auf Kosten der dortigen Regierung, gemacht wurde. Diese Versprechungen lockten die armen Menschen nach Antwerpen, aber da die Regierung von Venezuela keine Gelder zu ihrer Beförderung geschickt hatte, so half es ihnen nichts, daß sie bereitwillig waren, sich nach diesem Lande einschiffen zu lassen, wo sie ebenso wenig Unterkommen, Arbeit oder wohlfeiles Land antreffen, wie in Brasilien.“

Die gräßliche Noth dieser Leute brachte ganz Antwerpen in Aufregung; indem man für augenblickliche Abhülfe der Noth sorgte, schritt die Polizei und das Gericht ein, um die Angabe des polnischen Geistlichen und des mit ihm verbündeten Hauses, daß sie einen ihnen verheißenen Dampfer des Hauses Colombier von Bordeaux erwartet hätten, zu untersuchen.

Nach dem Antwerpener „Précurseur“ wurden die nothleidenden Menschen in öffentlichen Gebäuden untergebracht und Sammlungen für sie veranstaltet; einige erhielten Beschäftigung als Cigarrenmacher, Schuhmacher und dergleichen und Mädchen als Dienerinnen; andere konnten durch die Vermittlung des deutschen Generalconsuls die Rückkehr in die Heimath antreten. Späteren Mittheilungen zufolge wurden die in Antwerpen verbliebenen Auswanderer durch ein französisches Schiff nach Venezuela befördert.

Ob es begründet ist, daß die preußischen Polen durch die Vorspiegelung ihrer Geistlichen, die katholischen Pfarrer würden in Preußen wegen ihrer Glaubenstreue verfolgt und es sei darauf abgesehen, sie alle protestantisch zu machen, zum Verlassen der Heimath angefeuert worden seien, können wir nicht entscheiden, auffallend ist es jedoch, daß eine so massenhafte Auswanderung aus katholischen Landstrichen erfolgte, deren Bewohner schon wegen ihrer Sprache nur wenigen einflußreichen Personen ihr Ohr leihen können; da schon einmal ultramontane Bemühungen für die Organisirung einer ausgedehnten Auswanderung nach Nordamerika zur Sprache gebracht worden sind und jetzt wieder ein polnischer Geistlicher thätig erscheint, so wird der Glaube an die Wahrheit der Aussagen der Auswanderer in Antwerpen schwer zu erschüttern sein.

Hoffen wir, daß die Bemühungen der belgischen Behörden Kern genug in dem Antwerpener Vorfalle entdecken, um auch der preußischen Regierung, der man die Begünstigung der Auswanderung nicht vorwerfen kann, Anhalt zum wirksamen Vorgehen zu verschaffen. Seit mehr als dreißig Jahren hat die Presse vor der Auswanderung nach Südamerika, namentlich nach Brasilien gewarnt, wo es in der Zeit eines Vierteljahrhunderts nur zwei oder drei kleinen Colonien in abgelegener Gebirgsgegend durch günstige Umstände gelungen ist, sich in bescheidener Dauer – denn eine nachhaltige Blüthe läßt sich auch bei diesen nicht hoffen – zu erhalten, und immer wieder wird der Versuch unternommen, leichtgläubige Leute in ein Land zu verlocken, dessen Klima und dessen romanische Bevölkerung nicht für das germanische Element taugen; denn nicht blos die deutschen Colonisten gehen dort zu Grunde, sondern auch die englischen, wie man aus einer Warnung der englischen Regierung vor der Auswanderung nach Brasilien (siehe „Shipping and Mercantile Gazette“ vom 21. November dieses Jahres) entnehmen kann.

Der britische Gesandte zu Rio de Janeiro, heißt es in dieser ministeriellen Kundgabe, warnt vor der noch immer vorkommenden Auswanderung nach der Niederlassung Kittoland in der Provinz Parana in Südbrasilien, da dieselbe sich nach eidlichen Berichten glaubwürdiger Personen in dem jammervollsten Zustande befindet; dieselbe besitzt äußerst wenig baufähiges Land, ist vielmehr mit dichtem Walde bedeckt und, mit einem Worte, unbewohnbar. Nicht ein einziges Haus war im Juni dieses Jahres errichtet; keine Straße im Umkreise von zwanzig englischen Meilen; drei Engländer, die in der Colonie waren, lebten unter Zelten. Ein Engländer, der acht Jahre in Curitiba lebte, bestätigte diese Aussagen. Die englische Auswanderungs-Commission räth deshalb von der Auswanderung nach Kittoland und irgend einer andern Niederlassung in Brasilien ab; jeder, der es wagen will, sich nach diesem Lande zur Ansiedelung zu begeben, hat wohl zu prüfen, ob ihm genügende Sicherheiten für sein Fortkommen geboten werden, denn er muß es auf seine eigene Gefahr versuchen.

Diese Aufkündigung des Schutzes, den Großbritannien seinen Angehörigen sonst in ausgedehntestem Maße angedeihen läßt, ist wahrlich die beredteste Widerlegung der Vorspiegelungen, womit man, gleichviel wer, schlichte Landleute ohne Urtheil über solche Angelegenheiten nach dem „gesegneten Lande“ Brasilien zu locken sucht, und da die Vertretung der deutschen Nation noch zu jung ist, als daß sie in fernen Ländern überall helfend zur Hand sein könnte, so ist es gut, daß die deutsche Presse ungehindert im Vaterlande ihre Stimme erheben darf; dieser oder jener, der sich zu dem thörichten Schritte der Auswanderung nach Südamerika schon halb verleiten ließ, vernimmt doch wohl ihren Mahnruf und bleibt im Lande, statt schon unterwegs zu verderben oder in der Fremde in Noth und Elend zu verkommen. Also nicht nach Brasilien!




Aus dem Beamtenleben.
Nr. 7. Die schlimme Hand.


Am 22. Mai 1875 stand ich in unserem Büreau hinter dem Pulte und trug Journalnummern ein, als der Chef mit einem Briefe in der Hand eintrat und auf mich zukam. „Herr College,“ sagte er, „Sie können wieder den Polizisten spielen; hier empfange ich die Nachricht, daß in T. zweihundertfünfundfünfzigtausend Mark gestohlen worden sind und die dortige Polizei den Thäter nicht ermitteln kann. Man ersucht uns, einen Criminalbeamten dorthin zu senden. Ich will wieder Ihnen die Vollmacht geben, aber ich bitte mir aus, daß Sie nicht so viel Zeit brauchen wie das letzte Mal. Unser Ruf leidet darunter, und die Diäten werden zu hoch.“

Ich verbeugte mich hocherfreut, und nachdem ich meine Deputirungs-Verfügung in Ausfertigung erhalten hatte, reiste ich voll Spannung nach T. ab. Dort angekommen, meldete ich mich unter Vorzeigung meiner Legitimationen sofort bei dem Polizeiverwalter, dem Bürgermeister, und erfuhr nun folgenden höchst einfachen Thatbestand.

Vor dem Thore des Städtchens, das ungefähr viertausend Einwohner zählt, wohnte in einer kleinen Villa die Wittwe eines Rentiers Friedow. Frau Friedow besaß ein sehr ansehnliches Vermögen und hatte den Hauptstamm desselben, bestehend aus Prioritäten, Coupons und einigem baaren Gelde, im Ganzen fünfundachtzig- bis neunzigtausend Thaler, bisher stets in einer in ihrem Schlafzimmer stehenden Commode aufgehoben. Das Schlafzimmer lag im ersten Stocke und hatte nur ein Fenster, welches auf den Hof hinausging. Obwohl ihr vertraute Freunde öfter gerathen hatten, das Geld an einem sichereren Orte zu verwahren, war sie diesen Rathschlägen doch nie gefolgt. Einem Banquier wollte sie das Geld nicht anvertrauen. Den Mangel eines Geldschranks hatte sie mit der [843] Behauptung entschuldigt, wenn einmal Diebe bei ihr einbrächen, hätte der Geldschrank nur zur Folge, daß die Herren etwas mehr Arbeit haben würden; wenn ihr treuer Friedrich und ihr Hund nicht Acht gäben, könne ein Schrank auch nichts helfen. Friedrich war ihr Factotum und die einzige männliche Person im Hause.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai war die Wittwe Friedow etwa gegen zwölf Uhr plötzlich erwacht. In ihrem Schlafzimmer war es hell, und vor ihrem Bette stand ein schmächtiger kleiner Mann, der in der linken Hand eine Laterne, in der rechten ein Beil trug und der zum Tode erschrockenen Frau mit verstellter Stimme zurief, wenn sie auch nur einen einzigen Laut von sich gebe, werde er ihr sofort die Hirnschale einschlagen. Frau Friedow war so außer sich vor Entsetzen, daß es ihr unmöglich war, auch nur ein Wort hervorzustoßen, und so ließ sie denn in den nächsten Secunden ihre Augen mit Todesangst im Zimmer umherwandern. Sie sah, daß der vor ihr stehende Mensch eine schwarze Hose und eine blaue Blouse trug, daß er eine Maske vor dem Gesichte hatte und daß zwei Männer, deren Gestalt und Kleidung die Ueberfallene nicht genau unterscheiden konnte, im Hintergrunde des Zimmers damit beschäftigt waren, ihre Commode aufzubrechen. In der hintersten Schieblade derselben stand, bedeckt von Strümpfen, Garn und Leinen, ein rundes blechernes Kästchen, das ihre Papiere enthielt. Als sie wieder soweit zu sich gekommen war, um den Entschluß fassen zu können, zu schreien, ertönte draußen das merkwürdig heiser klingende Gebell des Hundes. Jetzt aber hatten schon die beiden Diebe das Blechkistchen gefunden, sprangen mit demselben zum Fenster, dessen einer Flügel offen stand, hinaus und kletterten eine an das Fenster gelehnte Leiter im Nu hinunter, während der maskirte Mann ruhig vor ihrem Bette stehen blieb. Sie stieß dann den lauten Ruf: „Zu Hülfe! zu Hülfe!“ aus; der Mann vor ihrem Bette brummte etwas wie: „Jetzt kannst Du schreien!“ wandte sich um und folgte den Anderen.

Darauf kam Friedrich herbei, der durch Geräusch aufgeweckt worden war, stürzte zur Leiter und fand unten nichts mehr vor, als den offenbar mit einer Schlinge eingefangenen und an seine Hütte gefesselten, halb erdrosselten Hund. Die Verfolgung der Diebe durch Friedrich und die Nachbarn blieb völlig resultatlos. Auch die späteren Tage, in denen die eifrigsten Nachforschungen gehalten wurden, ergaben nicht das Mindeste über Herkunft und Person der Einbrecher. Die ganze Polizei von T., ja sogar die Pfahlbürger und die Straßenjugend hatte sich die verzweifeltste Mühe gegeben, irgend eine Spur zu finden, aber umsonst.

So standen die Sachen, als ich in T. ankam. Mein zweiter Besuch galt selbstverständlich der Frau Friedow. Ich suchte am Orte der That nach Indicien, aber was ich fand, war verzweifelt wenig. Zunächst constatirte ich, was übrigens auch schon Andere gethan hatten, daß der Diebstahl von Leuten ausgeführt sein mußte, welche mit der Localität vertraut waren, denn die Diebe waren durch ein kleines Hofthor eingedrungen, dessen Existenz nicht einmal alle Nachbarn kannten; die Leiter, die man an das Fenster gelehnt hatte, war ferner von einem Orte entnommen, der ziemlich versteckt lag. In das Schlafzimmer war man gekommen, indem eine Scheibe eingedrückt und dann der Fensterriegel zurückgeschoben worden war. Fußspuren hatte man nur einzelne gefunden, und diese hatten ein besonderes Kennzeichen nicht gehabt; sie verliefen auf dem Wege, den man gewöhnlich einzuschlagen pflegte, wenn man vom Hof auf die Landstraße kommen wollte. Die Einbrecher waren also unter den vier bekannten Kategorien: Nachbarn, Dienstleuten, Freunden oder Verwandten zu suchen. Auf Dienstleute konnte kein Verdacht fallen – das lehrte der erste Anblick des alten Friedrich, ebensowenig auf die Nachbarn. Es blieben also die Freunde oder Verwandten, die das Haus öfter betreten hatten, übrig. Ich ließ mir von der untröstlichen Bestohlenen, die auf das Bestimmteste versicherte, daß sie auch nicht den leisesten Verdacht gegen irgend eine ihr bekannte Person hegen könne, ein Verzeichniß aller Freunde und Verwandten geben und fing nun meinen Dienst an. Aber alle Mühe schien umsonst. Ich arbeitete im Schweiße meines Angesichts; ich lief umher wie ein hungriger Hund; ich telegraphirte ganze Bogen in die Welt hinaus, aber – nichts, nichts, nichts! Ich hatte bisher noch in keiner Sache solch ein elendes Resultat erzielt.

Am vierten Tage nach meiner Ankunft begab ich mich abermals zu der Bestohlenen, die mich erwartungsvoll empfing. „Frau Friedow,“ sagte ich, „es ist gar nicht möglich, daß Sie keinen bestimmten Verdacht gegen Jemand haben; es muß Ihnen der Verdacht auf irgend eine Person durch den Kopf gegangen sein.“

„Ich versichere Ihnen,“ erwiderte sie, „daß ich auch nicht den Schatten einer Ahnung von der Person des Thäters habe.“

„Ist Ihnen denn gar nichts bei den Einbrechern aufgefallen, außer dem, was Sie mir bereits erzählten, nichts an der Stimme derselben, an der Art zu stehen, an den Händen? Haben Sie nicht etwa einen Ring gesehen? Wie war die Haut der Hand des Mannes, der das Beil hielt?“

„Ach ja,“ entgegnete sie, „ich habe Etwas wahrgenommen, was ich Ihnen schon längst erzählt haben würde, wenn ich es nicht für zu geringfügig gehalten hätte.“

„Und das war?“

„Als die beiden Diebe, die das Kästchen aus der Commode genommen hatten, durch das Fenster kletterten und die Leiter hinunter rutschten, schlug der Flügel zu, in welchem sich die Glasscheibe befunden hatte, die zum Oeffnen des Fensters von außen her zerbrochen worden war. Der schmächtige Mann, der bis zuletzt vor meinem Bett stehen blieb und dann den beiden Andern nacheilte, ergriff den Rahmen des Flügels, um den letzteren aufzuklappen, dabei muß er aber wohl gerade in die zersplitterte Fensterscheibe gegriffen haben – bei seiner Eile fortzukommen, wäre das erklärlich – denn sowie er an den Rahmen gefaßt hatte, stieß er ein halblautes ‚Au, verdammt!‘ im Tone großen Schmerzes aus.“

„Haben Sie kurz nachher Blutspuren gesehen?“

„Nein.“

Nachdem die Thatsache der verwundeten Hand hinzugekommen, begann ich meine Thätigkeit von Neuem. Nun tauchte nach langem vergeblichem Bemühen ein Schimmer zur Lichtung des Dunkels auf. Der alte Sanitätsrath Meiling, mit dem ich mich gelegentlich in ein medicinisches Gespräch über Handwunden und namentlich solche, die durch Glassplitter verursacht seien, eingelassen hatte, erzählte, er sei vor etwa drei Wochen auf seinem frommen Klepper über Land geritten. Da sei ein fremder Mensch plötzlich auf den Weg gesprungen und auf ihn zugegangen. Der Fremde habe ihn auf das Dringendste gebeten, ihm doch einige Glassplitter aus der rechten Hand zu ziehen, da er es vor Schmerzen gar nicht mehr aushalten könne. Er, der Sanitätsrath, habe auf das dringende Bitten des Menschen die Verbandtasche herausgezogen und ihm vielleicht fünf Glassplitter aus der Hand genommen, die sehr tief in derselben gesessen hätten. Der Fremde habe dabei wie ein altes Weib gewimmert und angegeben, er sei unterwegs in Glasscherben gefallen.

„Welche Kleidung trug der Mensch?“ frug ich mit athemloser Spannung.

„Eine blaue Blouse und eine schwarze Hose.“

„Und Sie erinnern sich dessen genau?“

„Allerdings; denn der Mensch fiel mir wegen seines Gesichtes auf, das zu der Blouse gar nicht paßte.“

„Und wie war denn sein Gesicht?“

„Nun, so wie Sie es in jedem Steckbriefe beschrieben finden: Stirn gewöhnlich, Nase gewöhnlich und Mund gewöhnlich. Der Gesammteindruck war aber der eines ziemlich feinen Kopfes, wie ihn Tagelöhner oder sonst Leute, die in einer Blouse gehen, nicht auf den Schultern zu tragen pflegen. Aber warum erkundigen Sie sich so angelegentlich danach?“

„Haben Sie die Erscheinung dieses Menschen denn nicht mit einer Thatsache in Verbindung gebracht, die hier allgemeines Interesse erregte?“

„Nein, wie sollte ich dazu kommen?“

„Können Sie mir nicht sagen, wo der Fremde geblieben ist, nachdem Sie ihm die Splitter aus der Hand gezogen hatten?“

„Ich glaube, er ging in der Richtung auf die Emsfähre weiter.“

Der nächste Morgen fand mich an der Ems. Ein alter Stamm, der sich oben gabelte und in der Gabel eine Glocke trug, stand auf einer Höhe am Ufer und bezeichnete so die Stelle, auf welcher man läuten mußte, um den Fährmann herbeizurufen,

[844]

Beladung und Aufbruch einer afrikanischen Thier-Expedition. Originalzeichnung von H. Leutemann.
Illustrationsprobe aus dem nächsten Jahrgange der Zeitschrift „Die Natur“.

[845] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] der abseits in seinem unter Weiden versteckten Häuschen wohnte. Ich ging gerades Weges in das Häuschen hinein und traf dort nur eine hünenhafte Person an, welche erklärte, sie sei die Tochter des Fährmanns und setze die Reisenden über, wenn ihr Vater, wie heute, abwesend wäre. Ich suchte ihr Vertrauen zu gewinnen, brachte das Gespräch auf den Verkehr über die Fähre und fragte sie, ob in der letzten Zeit nicht ein guter Freund von mir die Fähre passirt hätte. Er sei sehr eilig gewesen, nach Holland zu kommen, um nicht Soldat werden zu müssen. Die Antipathie, die dort in der Gegend in Beziehung auf das Soldatwerden herrscht, löste ihr sofort die Zunge.

„Ja, ja,“ sagte sie, „da war wohl neulich einer, der es sehr eilig zu haben schien.“

„Er trug eine blaue Blouse und schwarze Hosen – nicht wahr?“

„Das kann wohl sein, aber – jetzt fällt es mir wieder ein – er muß mit mehreren zusammen durchgebrannt sein.“

„Ja wohl, mit zwei Anderen.“

„Ganz recht, erst kam der Eine, schon in der Morgendämmerung und ließ sich übersetzen. Dann, vielleicht eine Stunde nachher, kam der Zweite, forderte sich einen Schnaps und fragte ängstlich, ob ein Anderer nicht schon hinüber wäre. Als ich dies bejahte, ließ auch er sich nach drüben fahren. Dann wieder eine Stunde später kam der Dritte, Ihr Freund, der mit der Blouse, fragte, ob er der Erste sei, und nachdem ich ihm gesagt hatte, ich hätte schon zwei hinübergefahren, schien er sehr beruhigt und setzte sich auch in’s Schiff.“

„Einer von den Dreien hatte ein Blechkistchen bei sich – nicht wahr?“

„Das habe ich nicht gesehen; ich habe nur bemerkt, daß der Letzte von den Dreien etwas Rundes unter dem Arme trug, das in ein rothes Schnupftuch gewickelt war.“

„Ja, ja,“ sagte ich, „das werden seine Haarbürsten und Pommaden gewesen sein; er ist ein eitler Bursche. Sah er nicht sehr fein aus?“

„Ja wohl, er sah sehr nobel aus.“

„Das muß er gewesen sein,“ rief ich im Tone ungeheuchelter Freude. „Es freut mich, daß er entkommen ist. Aber, um ganz sicher zu gehen – wieviel Fährgeld hat er Ihnen gegeben?“

„Zehn Pfennige, wie Jeder.“

„Mit der rechten Hand?“

„Warum denn nicht?“

„War seine rechte Hand nicht verbunden?“

„Eine verbundene Hand habe ich nicht gesehen; ich weiß nur, daß er die eine Hand immer in der Tasche hielt, ob das aber die linke oder die rechte war, das weiß ich nicht mehr.“

Ich hätte die dicke Person trotz ihrer vierzig Sommer und obwohl sie in ihrer Dummheit irgend eine weitere Beschreibung ihrer Fahrgäste nicht zu liefern vermochte, herzlich umarmen mögen. Es war ja gar kein Zweifel – die drei Spitzbuben hatten sich getrennt, damit sie im schlimmsten Falle nicht zusammen getroffen werden konnten, und der letzte war der Rädelsführer und Hauptmann, da er das Kästchen getragen hatte. Während seines Gespräches mit dem Arzte mochte er es hinter eine Hecke gestellt haben. Ich war auf der Fährte, und auf was für einer prachtvollen Fährte! Nun weiter auf der Jagd! Bald mußte ich ja das Hallali blasen können. –

Aber welche Täuschung! Jenseits der Ems war die Spur verloren. Ich lief landein, landaus; ich belagerte jedes Kötterhaus am Wege und suchte zu erfahren, ob man nicht mein Wild gesehen habe. Ich schloß Freundschaft mit allen Leuten, die viel auf die Landstraße kommen, mit Briefträgern, Botengängern und Chausseewärtern, aber wieder nichts, nichts! Und dennoch – ich mußte sie erreichen. Ich dehnte meine Forschungen zuletzt sogar bis in die kleine Stadt V. aus, die etwa sechs Meilen von jener Fährstelle entfernt liegt, aber hier fand ich erst recht nichts.

Doch endlich sollte meine Mühe belohnt werden. Müde und matt – es war etwa der neunte Tag nach meiner Ankunft in T. – ging ich in V. des Abends in eine Bierwirthschaft, welche vorzugsweise, wie mir gesagt war, von den Honoratioren des Ortes besucht wurde. Im Garten derselben befand sich eine Kegelbahn, die hell erleuchtet war und in welcher augenblicklich etwa zehn Herren kegelten. Ich nahm einen Stuhl, setzte ihn außen ungefähr in der Mitte der Bahn hin, sodaß ich im Dunkeln war, stützte den Kopf in die Hand und dachte in sehr gedrückter Stimmung darüber nach, in welches Licht mich meine Resultate dem Chef und den Collegen gegenüber bringen würden. Plötzlich sprang eine ungeschickt aufgesetzte Kugel von der Bahn ab und rollte so dicht an mir vorbei, daß sie fast meinen Fuß berührte.

„Sandhase, Sandhase!“ riefen mehrere Stimmen laut durcheinander, und eine setzte näselnd hinzu:

„Na, Böttcher, Deine Hand ist wohl noch nicht zurecht?“

„Ach,“ sagte da eine andere Stimme, „die muß längst geheilt sein, Du wimmerst ja gar nicht mehr.“

Man befindet sich auf der Jagd; man weiß, der Fuchs ist im Walde; man hört ihn ab und zu im dürren Laube rascheln, aber im Augenblicke ist er wieder fort und muß nach einer andern Seite gelaufen sein. Da – horch! – da raschelt es wieder im Laube; es ist, als ob sich zwischen den Blättern etwas bewegt. Man späht, ohne auch nur ein Glied zu rühren, die Flinte an der Wange, und siehe da, Freund Reinecke steckt, vorsichtig lugend, seinen Kopf über den Graben. Ein Schuß – da liegt er.

Ja wohl, ich sollte noch lange nicht zu Schuß kommen. Obwohl ich instinctiv überzeugt war, daß ich den Fuchs endlich vor mir hatte, galt es doch, für diese innere Gewißheit einen vernünftigen Anhalt zu finden. Ich erkundigte mich daher vorsichtig nach dem Namen des Herrn mit der schlimm gewesenen Hand, erfuhr, daß es der Kaufmann Böttcher sei, und sah dann in die Personenliste der Frau Friedow. Herr Böttcher figurirte dort als der Fünfte unter ihren Verwandten, der auch öfter in ihr Haus gekommen war. Dann, am andern Tage, holte ich mir meinen Doctor, der damals jenem Manne in der Blouse die Hand verbunden hatte. Ich brachte ihn im Wirthshause an einen Ort, wo er Herrn Böttcher sehen konnte, ohne von diesem gesehen zu werden, und bat ihn hoch und theuer, er möge den Kaufmann doch scharf und genau betrachten, ob dieser nicht derselbe Mann sei, dem er die Glassplitter aus der Hand gezogen habe. Der Doctor that sein Möglichstes in dem Studium des Kaufmanns, aber seine Prüfung war resultatlos. Er schwor Stein und Bein, er könne ihn nicht recognosciren, es sei wohl ungefähr dieselbe Gestalt, aber das Gesicht erkenne er nicht wieder. Wenn der Arzt ihn nicht wieder erkannte, dann brauchte ich die Fährmagd gar nicht zu holen. Ich war also auf mich allein angewiesen.

Wir Criminalbeamten haben zwei Grundsätze bei unserer Verfolgung, die wir nach der Art des Falles bald einzeln, bald abwechselnd anwenden. Den einen nennen wir die „lange Leine“, den andern die „kurze“. Die lange Leine besteht darin, daß man den Verfolgten nichts merken läßt, daß man im Gegentheil ihn zu der Annahme zu verführen sucht, er sei dem Verfolger höchst gleichgültig, daß man Alles vermeidet, was ihn stutzig machen könnte, daß man die Miene der größten Harmlosigkeit annimmt, sich möglichst weit von ihm entfernt hält und Alles, was man gegen ihn in’s Werk setzt, mit der größten Heimlichkeit vornimmt. Die kurze Leine dagegen besteht darin, daß man den Verfolgten ahnen läßt, man sei hinter ihm, daß man ihn in Schrecken setzt, ihm auf dem Nacken bleibt und ihn so zu Handlungen treibt, die ihn verrathen. Ich brachte zuerst die „lange Leine“ in Anwendung.

Um Böttcher vertraulich zu machen, ging ich zunächst zu dem Wirthe des Gasthofes, in welchem ich wohnte, und stellte mich ihm vor, aber nicht als Denjenigen, der ich war, sondern als einen Hamburger Agenten, welcher Loose verbotener Lotterien hier abzusetzen wünsche. Der Wirth zog ob meiner Eröffnungen ein ziemlich schiefes Gesicht, und als ich ihn um strengste Geheimhaltung bat, sicherte er mir dieselbe mit einer Miene zu, aus der ich deutlich entnahm, wie wenig Mühe er sich um sie geben würde. In der That sah ich schon am nächsten Morgen zu meinem großen Vergnügen, daß mich mein lieber College, der städtische Polizeisergeant, mit äußerst feindseligen Blicken beobachtete und daß, wenn ich in eine anständige Wirthshausgesellschaft kam, die Herren meine Fragen ziemlich kurz beantworteten. Traf ich in einer solchen den Gegenstand meiner Gedanken, so nahm ich an seiner Miene Gott sei Dank wahr, daß er seinen Argwohn aufgegeben hatte und, wie die Uebrigen, mich für ein „schäbiges“ Individuum hielt.

Inzwischen war ich rastlos thätig. Aber was ich erfuhr, war wieder verteufelt wenig. Ich hörte wohl, Herr Böttcher lebe in schlechten Verhältnissen jedoch ich entdeckte nicht, [847] daß er in der letzten Zeit irgend eine bedeutende Zahlung gemacht oder Verbindlichkeiten getilgt hätte. Ich hörte wohl, daß er vor etwa drei Wochen eine kurze Reise gemacht habe, aber ich konnte nicht herausbekommen, wohin. Eine Thatsache jedoch, die mir anfänglich von großem Werth schien, kam mir zu Ohren, nämlich die, daß Herr Böttcher in der letzten Zeit öfter des Nachts wegen Schlaflosigkeit aufstehe und in seinem Garten spazieren gehe.

Die Folge davon war, daß ich zwei Nächte im Garten hinter dem Böttcher’schen Hause auf der Lauer lag. Es befand sich viel Gebüsch in demselben, und ich versteckte mich derart, daß Niemand, der in der Nacht in den Garten kam, mich hätte finden können. Aber wer in der Nacht nicht in den Garten kam, war Herr Böttcher, und im Garten selbst war auch keine Spur davon zu sehen, daß dort irgend Etwas vergraben war. Ich befand mich in reiner Verzweiflung. Was sollte ich thun? Auf der einen Seite die feste Gewißheit, daß ich den Schurken entdeckt hatte, auf der anderen kein Anhaltspunkt, der sicher genug gewesen wäre, um zu einer Verurtheilung zu führen! Hatte ich doch nicht einmal die nöthigen Indicien erbracht, um bei diesem bisher ganz unbescholtenen Manne eine Haussuchung vornehmen zu können.

Eines Nachmittags ging ich in meinem Zimmer mit langen Schritten auf und ab. Plötzlich klopfte es, und auf mein „Herein!“ trat der Postbote ein. Er brachte eine Depesche von meinem Chef, welche lautete: „Sofort zurückkehren; wenn noch nicht genug ermittelt, aufgeben; Ihre Anwesenheit hier nothwendig. Z.“

Das Telegramm traf mich wie ein Donnerschlag. Der Chef war offenbar mißmuthig über mein langes Ausbleiben. Sollte ich einfach abreisen oder noch einen Wurf wagen? Ich beschloß das Letztere. Heute Abend mußte noch ein entscheidender Schritt gethan werden, damit ich am andern Morgen abreisen könnte.

Im Club des Städtchens saßen etwa zwölf Herren hinter dem Schoppen. Ich gesellte mich zu ihnen, setzte mich neben meinen Verbrecher, der über diese Ehre ziemlich erstaunt schien, und begann mit ihm Gleichgültiges zu reden. Als diejenigen, welche dicht neben Böttcher gesessen hatten, zu meiner großen Freude aufgestanden und nach Hause gegangen waren, rückte ich an ihn heran und flüsterte ihm in’s Ohr:

„Herr Böttcher, ich habe Ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen.“

„Das wäre?“ fragte er sehr ruhig.

„Sie glauben, ich sei Jemand, der hier Lotterielose vertreiben will. Das bin ich nicht. Ich bin Beamter der preußischen Criminalpolizei.“

Herr Böttcher nahm diese Eröffnung mit einer für mich höchst bedeutsamen Miene auf. Er wußte offenbar im Augenblicke nicht, welchen Ausdruck er seinen Zügen geben sollte. Es zuckte in seinem Gesichte, als wolle er erstaunt aussehen, und dann zog er Falten um seinen Mund, als sollten sie die größte Gleichgültigkeit zur Schau tragen. Nach einer Secunde, während welcher ich ihn wie die Schlange das Kaninchen studirt hatte, sagte er in sehr gezwungenem Tone:

„Ja, was geht mich denn das an, lieber Herr?“

„Hören Sie! In T. lebt eine Wittwe Friedow, die um ihr ganzes Vermögen bestohlen worden ist. Die Spuren des Diebstahls zeigen hierhin. Wie ich weiß, sind Sie Verwandter der Wittwe Friedow und an der künftigen Erbschaft betheiligt.“

Während ich diese Worte sprach, hatte ich ihm starr in die Augen gesehen; sie funkelten, wie die einer gehetzten Katze, und als er jetzt mit heiserem Tone ausstieß: „Und darauf hin wollen Sie mich verhaften?“ wäre ich ihm am liebsten sogleich an die Gurgel gesprungen und hätte mein „Im Namen des Gesetzes“ gerufen. Aber ich bezwang mich und mit einer Harmlosigkeit, über die ich heute noch verwundert bin, sagte ich blos:

„Wie können Sie solches Zeug reden? Weil Sie an der Erbschaft betheiligt sind, haben Sie das größte Interesse, mir bei der Entdeckung des Thäters zu helfen.“

„Mit dem größten Vergnügen,“ unterbrach er mich – er hatte sich ganz merkwürdig schnell wieder gefaßt – „so viel in meinen schwachen Kräften steht, bin ich natürlich dabei, aber wenn ich Sie unterstützen soll – was wünschen Sie zunächst von mir?“

„Zunächst möchte ich zu Ihnen kommen, womöglich morgen früh; ich setze Ihnen die Sache auseinander und operire auf Grund Ihrer Kenntniß der hiesigen Personen.“

„So so,“ sagte er mühsam nach Athem ringend. „Jedoch, ich – ich – es thut mir von Herzen leid, aber ich habe eine Depesche bekommen, die mich zwingt, morgen in der frühesten Dämmerung von hier abzufahren; vielleicht finde ich zu Hause ein zweites Telegramm vor, das mich diese Nacht schon fortzugehen veranlaßt. Es handelt sich um einen Schuldner, der seine Zahlungen einstellen will; vielleicht kann ich eine größere Forderung noch beitreiben, wenn ich früh genug zu ihm komme. Sie wissen: Zeit ist Geld.“ Bei diesen Worten hatte er ängstlich bald mein Gesicht, bald meine Uhrkette betrachtet. Mir kostete es die größte Mühe, meine Freude zu unterdrücken. Der Lasso, den ich auf ihn geworfen hatte, war ihm auf das Schönste um den Hals geflogen, und ich wußte, daß es nur noch eines Ruckes bedurfte, um die Schlinge zuzuziehen.

„Geniren Sie sich um Gotteswillen nicht, Herr Böttcher!“ erwiderte ich möglichst gleichgültig auf seine Lüge. „Ich habe sehr viel Zeit; ich brauche erst in acht Tagen wieder in T. zu sein, und wenn Sie innerhalb dieser acht Tage wieder zurückkommen, kann ich immer noch mit Ihnen über die Sache sprechen.“

„Ja, ja,“ erwiderte er eifrig, „ich werde hoffentlich schon übermorgen zurück sein und stehe Ihnen dann vollständig zu Diensten, aber beantworten Sie mir vorher gütigst die Frage: Steht der Doctor Meiling in Beziehung zu der That?“

„Kennen Sie den?“

„Von Ansehen.“

„Er sollte mir helfen,“ sagte ich, ihm offen in’s Gesicht blickend, das jetzt entsetzlich alt, spitz und verstört aussah, „er sollte mir helfen, den Verbrecher zu recogcosciren.“

„Und ist ihm das gelungen?“

„Vollständig; er hat in einem hiesigen Arbeiter einen Mann wieder erkannt, den er am Tage nach der That in der Nähe des Wohnortes der Bestohlenen gesehen hat.“

„Wie heißt der Arbeiter?“ fragte Böttcher in athemloser Spannung.

„Ebbing.“

„Den kenne ich nicht,“ sagte er aufathmend.

„Das glaube ich wohl; er hält sich hier auch nur vorübergehend auf.“ Dann brach ich das Gespräch ab, stand auf, schüttelte ihm auf das Herzlichste die Hand und ging, anscheinend höchst ruhig, um mich in die Nähe seines Hauses zu schleichen.

Ich mußte hier eine starke Viertelstunde in der Dunkelheit harren, dann fuhr richtig ein Einspänner vor. Böttcher sprang heraus, eilte in’s Haus und kam nach einigen Minuten, irgend einen Gegenstand unter dem linken Brusttheil seines Rockes festhaltend, wieder heraus. Es mochte etwa um neun Uhr sein.

Kaum war er von der einen Seite in die Droschke gestiegen, als ich auch schon von der andern hineinsprang, ihn am Arm ergriff und dem Kutscher zurief: „Fort!“ Der Gefaßte schien plötzlich stumm geworden; er machte nicht die geringsten Widerstandsversuche und saß wie eine Bildsäule da. Als ich ihm jetzt leise sagte: „Sind das die Papiere der Wittwe Friedow, die Sie da unter dem Rock haben?“ entgegnete er gepreßt: „Ja, sie sind es.“ Ich ließ den Kutscher halten und brachte den Arrestanten in sicheren Gewahrsam. Keine Dummheit ist so groß, daß sie nicht von dem Verbrecher, der plötzlich entdeckt, daß man ihn verfolgt, ausgeführt werden könnte. Auf diese Dummheit hatte ich gerechnet, und wie richtig ich gerechnet, das zeigte die Thatsache, daß mein Opfer mir geradezu in die Hände lief. – Die Geschworenen verurtheilten Böttcher zu sechs Jahren Zuchthaus. Seine Helfershelfer sind nie ermittelt worden.
Lothar S.



[848]
Blätter und Blüthen.


Ein Jubiläum der „Natur“. (Mit Abbildung S. 844 und 845.) Die Gründung einer freisinnigen, der Bildung und dem Fortschritte auf neuen Bahnen dienenden Zeitschrift ist immer ein gewagtes Unternehmen, doppelt gewagt aber, wenn dieselbe in einer politisch-trübseligen Zeit geschehen muß. Um so freudiger wendet sich unsere Theilnahme einem Blatte zu, das alle Bitterkeiten und Hemmnisse einer Reactionsperiode glücklich überstanden und redlich mitgeholfen hat, durch Verbreitung bildenden Wissens und klarer Anschauungen im Volke eine bessere Zeit herbeizuführen. Ein solches Blatt ist „Die Natur“, eine populär-naturwissenschaftliche Zeitung, die sich in kurzer Zeit und sowohl in wie außer Deutschland zu einem vielgerühmten Muster ihrer Art aufgeschwungen hat. Unsere jüngere Generation hat kaum eine Ahnung davon, welcherlei Gegner vor vierundzwanzig Jahren, kurz nach der Niederwerfung der großen Bewegung von Achtundvierzig, sich dem Unterfangen jeder Popularisirung der Wissenschaft entgegenstemmten. In erster Reihe waren es die Fachgelehrten selbst, die in dem Bestreben, die Resultate der wissenschaftlichen Forschungen endlich dem Volke zu Gute kommen, seiner Bildung förderlich werden zu lassen, in ihrem Pferchhochmuthe eine Entweihung ihres Heiligthums bekämpften und abwehrten. Am erbittertsten wurde aber dieser Kampf von der schwarzen Flanke der Theologie her geführt, als gerade die Lehren und Aufklärungen der Naturwissenschaften gewählt wurden, um den Blick des Volks für den ungeheuren Unterschied zwischen den Gesetzes-Machwerken der Willkür und den unwandelbaren Gesetzen der Natur zu schärfen. Wie die gleichalterige „Gartenlaube“ erwarb auch „Die Natur“ sich sehr bald den Titel eines „Teufelsblattes“ im Pfaffenmunde, eine Anerkennung, welche das Volk durch immer wärmere Theilnahme für das Blatt zu ehren wußte.

Allerdings ging der Ruf der Gründer gleich mit auf ihre Zeitung über. Karl Müller, der mit dem Verleger (und bekannten geistreichen Dichter) Dr. G. Schwetschke in Halle den Anstoß zur Gründung einer populär-naturwissenschaftlichen Zeitschrift gab, fand in den damals ohne Zweifel bedeutendsten Kräften auf diesem Gebiete, Otto Ule und E. A. Roßmäßler, Mitbegründer, deren wissenschaftliche Tüchtigkeit auch von den Gegnern alles Populararisirens der hoch über allem Volke und doch auf dessen Kosten thronenden Gelahrtheit anerkannt werden mußte. Braucht man nicht zu verschweigen, daß die politische Vergangenheit der beiden Zuletztgenannten nicht wenig zur Belebung der Theilnahme für das neue Blatt beigetragen, so wurde diese doch erhalten und noch vermehrt durch die auf diesem wissenschaftlichen Gebiet neue, auch künstlerisch vollendete Form der Darstellung, die durch Klarheit und Anmuth Geist und Gemüth zugleich befriedigte, und durch die Mannigfaltigkeit der auch der Illustration nicht entbehrenden Artikel. Es ist also ein mit Ehren errungenes Glück, welches der „Natur“ seit ihrem Erscheinen treu blieb. Roßmäßler schied wohl nach einem Jahre aus der Redaction, aber Ule widmete ihr durch fast vierundzwanzig Jahre hindurch sein reiches Wissen und seine erstaunliche Thätigkeit, bis der Tod ihn, ein Opfer seines menschenfreundlichsten Berufes, in diesem Jahre uns entriß.

Karl Müller führt die Redaction fort, und unter seiner Leitung beginnt nun „Die Natur“ (zugleich mit der „Gartenlaube“) ihren fünfundzwanzigsten Jahrgang und geht somit ihrem Vierteljahrhundert-Jubiläum entgegen. Blicken wir auf ihre vierundzwanzig vor uns liegenden Jahrgänge zurück, so müssen wir anerkennen, daß sie ihre Aufgabe: „allen Freunden der Naturkunde die fast täglich neuen Erscheinungen oder Veränderungen, Entdeckungen und Beobachtungen auf allen Gebieten des naturwissenschaftlichen Forschens (sei es Zoologie, Botanik, Mineralogie, Astronomie, Physik, Chemie, Ethnographie, Geographie etc.) in klar, faßlich, mannigfaltig und anregend geschriebenen Aufsätzen, Mittheilungen und Literaturberichten darzubieten“, in vollstem Maße erfüllt hat und daß wir hoffen dürfen, daß die Redaction auch für die Zukunft dieser ihrer Aufgabe treu bleiben wird.

Die erste Nummer des fünfundzwanzigsten Jahrganges bringt ihren Lesern eine von R. Hartmann mit einem trefflichen Text begleitete Illustration von unserm Leutemann; es gereicht uns zur Freude, dieselbe in unserem Blatte mittheilen und damit den neuen Jahrgang der „Natur“ empfehlen zu können.

Die Leutemann’sche Illustration stellt als Karavanenbild eine Scene aus dem alltäglichen afrikanischen Reiseleben der Hagenbeck’schen Expeditionen zum Ankauf fremdländischer Thiere dar, die unseren Lesern aus den Jahrgängen 1869 der „Gartenlaube“ (Artikel „Casanova und Hagenbeck“) und 1874 (Artikel „Ausladung fremdländischer Thiere“) bereits bekannt sind. Im Hintergrunde unseres Bildes ragen einige Hauptvertreter der afrikanischen Flora, die Schirmakazie, Tamarisken und der gigantische Affenbrodbaum mit seinen in der trockenen Jahreszeit kahlen Aesten, und im Vordergrunde sitzt der Agent des Thierhandelsherrn (Hagenbeck) in leichtem Reisekleide auf dem hageren, eckigen Reitkameele (oder Hedjîn). In nicht geringem Grade ziehen die wohlgebildeten Menschen aus jener Heimath der wilden Thiere unsere Aufmerksamkeit auf sich: die sogenannten Homrân, ein mächtiger Stamm im ägyptischen Sudan, der westlich von Basen und nördlich vom Setit wohnt und aus dessen Mitte jene kühnen und gewandten „Schwertjäger“ hervorgehen, welche das von ihnen verfolgte Wild dadurch überwältigen, daß sie ihm mit einem Hiebe ihres scharfen Schwertes die Hinterbeinsehnen zerhauen. Auf unserem Bilde mühen diese „Homrân“ im Dienste Hagenbeck’s sich ab, die oft sehr störrischen wilden Geschöpfe an ihren Zäumen und Stricken von der Stelle zu zerren, während der schwarze mit der buntseidenen Kufîeh geschmückte Kammerdiener, auf kleinem Eselein reitend, die Befehle seines weißen Herrn entgegennimmt. So gewährt das Leutemann’sche gestaltenreiche Bild uns den Anblick einer solchen Expeditions-Karavane kurz vor ihrem Aufbruch, der sie endlich zu uns führen soll zur Erweiterung unserer Kenntniß über die fremde Thierwelt, und so ist dieses Bild zugleich eine sinnige Einführung in den neuen Jahrgang der „Natur“.


Die Luft- oder Vacuum-Bremse. Im Jahrgange 1875 der „Gartenlaube“ sprachen wir über pneumatischen Dienst, speciell über die projectirte Leichenbeförderung nach dem Wiener Central-Friedhofe mittelst Luftdrucks. Bei dieser Gelegenheit fühlten wir uns damals berechtigt, die Voraussetzung auszusprechen: daß dem Drucke der atmosphärischen Luft im Dienste der Menschheit künftig ein bedeutendes Feld der Benutzung vorbehalten sein dürfte – eine Prophezeiung, welche in jüngster Zeit auf dem Gebiete der Eisenbahntechnik in Erfüllung gegangen ist. Wir meinen die von dem englischen Ingenieur Smith erfundene und auf einigen continentalen Gebirgseisenbahnen mit dem außerordentlichsten Erfolge erprobte Vacuum-Eisenbahnbremse, die in ihren Leistungen Alles überbietet, was an Hemmvorrichtungen bis zu dieser Stunde bekannt gewesen ist. Für Gebirgsländer, wie die Schweiz und Oesterreich es sind, auf welchen lang ausgedehnte jäh ansteigende Steigerungen, respective abstürzende Gefälle befahren werden müssen, dürfte diese Erfindung ganz besonders von hervorragendem Interesse sein. – Demzufolge fand sich die österreichische Südbahn-Gesellschaft zu Anfang December d. J. veranlaßt, auf der weltbekannten Gebirgsbahnstrecke des Semmering mit der Vacuum-Bremse Versuche anzustellen, und die damit erzielten Resultate sind in der That erstaunenswerth ausgefallen. Ein mit der Schnelligkeit von vierundachtzig Kilometer (gleich elf deutschen Meilen) in der Zeitstunde dahinbrausender Zug wurde unter der Anwendung dieses Apparates in vierzig Sekunden ohne bemerkbaren Ruck zum Stillstande gebracht; auf einer andern Stelle bei gleich rasender Eile hielt der Zug in dreißig Secunden man könnte sagen mauerfest, ohne daß die Passagiere auch nur die geringste Erschütterung empfunden hätten. Am glänzendsten aber gestalteten sich die Leistungen des Vacuum-Apparates auf der eigentlichen Gebirgsstrecke selbst, zwischen Payerbach und Spital, wo Steigerung und Gefälle sich auf lange Strecken wie 1 : 42 verhalten.

Die Smith’sche Luftbremse, äußerst einfach, wird von der Locomotive aus durch einen Dampfstrahl in Bewegung gesetzt. Längs dem Tender und jedem Wagen befinden sich horizontal liegende Kautschuk-Cylinder, und aus diesen wird die Luft von der Lokomotive ab ausgesaugt. Die nächst hieraus folgende Wirkung ist, daß diese Cylinder zusammengezogen und dadurch die Bremshölzer auf die Räder gepreßt werden. Hat der Locomotivführer das entsprechende Dampfventil geöffnet, so erfolgt momentan die Aufsaugung und die Pressung der Klötze auf die Räder mit der Kraft von beiläufig zwei Drittel Atmosphären oder zehn Pfund auf den Kreiszoll. Soll die Bremse zurückgestellt werden, so wird das Dampfventil geschlossen und eine mit der Rohrleitung in Verbindung stehende Klappe geöffnet; das Vacuum hört auf, und die Hölzer kehren in ihre ursprüngliche Lage zurück.

Die großen Vortheile der Sicherheit, Schnelligkeit und der elastischen Wirkung, welche die Luftbremse bietet, sind so in die Augen springend, daß sie nicht allein von den Eisenbahntechnikern, sondern von Jedermann anerkannt werden dürften. Eine momentane Handbewegung des Zugführers schützt vor vielen jetzt noch möglichen Eisenbahngefahren, und es kann außerdem durch die Anwendung dieser Erfindung die Schnelligkeit jedes Zuges, insbesondere auf Gefällen, in der präcisesten Weise geregelt werden. Wie viele Unglücksfälle werden uns im Laufe eines Jahres durch Ueberfahren von Menschen berichtet, in denen beim Gebrauch der jetzt in Verwendung stehenden Hemmmittel die Tödtung von Personen eine nicht zu vermeidende Misère blieb! Danken wir dem Genie, welches die treueste Begleiterin unserer Erde, die Luft, uns erneut dienstbar gemacht hat!
Z.




Kleiner Briefkasten.

D. H. P. in Düsseldorf und A. St. in H.-Münden. Wir müssen Ihnen Recht geben: es ist in der That nicht länger zu verantworten daß, wenn im Namen des Gesetzes menschliches Irren das größte Unglück über einen Unschuldigen gebracht hat, der Staat sich gleichsam um die Ecke drücken und den in’s Elend Gestoßenen seinem Schicksal und der Barmherzigkeit der Mitmenschen überlassen kann. Das letzte, in jüngster Zeit bekannt gewordene derartige Beispiel von dem Müller Friedrich Schrader in Kroppenstedt, einem durchaus unbescholtenen Manne, der, auf die Anklage eines bereits anrüchigen Menschen hin als Brandstifter zu fünfzehnjährigem Zuchthaus verurtheilt, trotz der begründetsten Begnadigungsversuche nicht begnadigt wurde und achthalb Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, während Haus, Geschäft und Familie zu Grunde gingen, und der nun, wo der Ankläger sich selbst als Verbrecher vor Gericht stellt, gebrochen an Leib und Seele und bettelarm dasteht – dieses Beispiel sollte das letzte dieser Art sein. Es wäre der Rechtsmänner des Reichstages würdig, diesen das Rechtsgefühl des Volkes so schwer verletzenden Fall nicht unbenutzt für die neue Reichsgesetzgebung zu lassen. – Für den unglücklichen Schrader haben die Berliner Volks-, die Magdeburger und andere liberale Zeitungen zu Sammlungen aufgefordert, und da auch bei uns, ohne Aufforderung, bereits Gaben für den Unglücklichen eingegangen sind, so erklären wir gern unsere Bereitwilligkeit, Beisteuern zum möglichsten Wiederaufbau eines durch einen irrigen Rechtsspruch zertrümmerten Familienglücks anzunehmen. Wenn wir den Mann auch noch so reich machen, die im Zuchthause verjammerten Jahre der schönsten Manneskraft und die im Elend gestorbene Gattin geben wir ihm nicht wieder!


Als erste Gaben für den unglücklichen Schrader sind eingegangen: H. P. in Düsseldorf 3 Mk.; A. St. in Münden 10 Mk.; Redaction der Gartenlaube 30 Mk.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Aussteig
  2. Vorlage: kn