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Die Gartenlaube (1875)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Das Capital.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


9.

Sie gingen der Bank zu, auf der sie sich niederließen. Rudolph nahm seinen Hut ab und wischte sich die von Schweiß perlende Stirn; aus seinen Zügen sprach dieselbe hastige Erregung, die in seiner stoßweisen Art zu reden lag.

„Was ich Ihnen zunächst zu erzählen habe, ist eine Geschichte, die sich vor mehreren Jahren abgespielt hat. Damals war ich Kaufmann, Commis in einem Hause der Residenz, das sehr große und sehr verschiedenartige Geschäfte, eigentlich Korn- und Oelhandel, aber auch Banquiergeschäfte betrieb. Meine Cousine Malwine glänzte als Stern am dortigen Theaterhimmel; sie sang erste Rollen auf der königlichen Hofbühne. Man schwärmte für ihre Stimme, bewunderte ihre Schönheit, und die, welche sie persönlich kannten, verehrten sie wegen ihres durchaus achtungswerthen Charakters, ihrer reservirten Haltung, ihrer von jeder Gefallsucht freien Natürlichkeit, die sie in einer Welt wie die, worin sie stand, zu einem Phönix machte. Wer sie am meisten verehrte, am meisten für sie schwärmte, war ein liebenswürdiger ältlicher Herr, ein unbeschäftigter Junggeselle, der seine Winter in der Hauptstadt verlebte und ein leidenschaftlicher Theaterfreund war, ein Herr von Haldenwang. Es war ihm leicht geworden, sie persönlich kennen zu lernen, da er aus derselben Gegend war, aus der Malwinens Vater stammte, da er ihren Oheim und Vormund, den Onkel Gottfried, sehr wohl kannte. Und dann verliebte er sich in sie, machte ihr Heirathsanträge, wurde abgewiesen, hielt sich damit doch nicht für geschlagen und – siegte endlich. Sie reichte ihm ihre Hand, und hat diesen Schritt auch nicht bereut; ihre aristokratische, oder wenn Sie lieber wollen, echte und solide Natur paßte besser in den Edelhof von Haldenwang hinein, als in die Leinwandlappen, welche die Pagode der Selika oder die Burg der Prinzessin Bertha in der ‚Undine‘ darstellen. Sie achtete und verehrte ihren Gatten. Wenn sie ihn nicht leidenschaftlich liebte – nun, ich glaube, das Bedürfniß zu lieben ist in Malwinen nie stark ausgebildet gewesen, und genug, sie willigte ein, Baronin Haldenwang zu werden.

Ich war um jene Zeit, wie gesagt, Commis in der Hauptstadt, verkehrte von Zeit zu Zeit mit Malwinen, erhielt durch sie freien Eintritt in’s Theater, so oft ich wünschte, fand sie überhaupt immer von der größten und treuherzigsten Liebenswürdigkeit für den armen, so tief unter ihr stehenden Vetter. Und da ich dazu die ganz besondere Gunst meines Principals genoß, so war ich ein glücklicher Mensch, so glücklich, wie je einer am Abend, wenn die Bureaustunden zu Ende, mit der feinen Havanna im Munde, den Hut schräg auf dem Ohre, die breiten Trottoirplatten der Hauptstraßen hinuntergeschritten ist oder gar vom Klange seiner Sporenrädchen hat wiederklingen machen, wie ich, wenn ich eine meiner zwei wöchentlichen Reitstunden zu nehmen ging. Selige Tage das! Das Vertrauen meines Principals gründete sich hauptsächlich darauf, daß ich der Neffe von Malwinens Vater war. Dieser, ein ausgezeichneter Arzt, hatte den alten Herrn einst in einer schweren Krankheit behandelt und ihm, wie er glaubte, das Leben gerettet. Er war deshalb voll Aufmerksamkeiten für die Tochter seines Lebensretters und glaubte für den Neffen desselben nicht genug thun zu können, um ihn in seiner Laufbahn zu fördern. Der gutmüthige Mann ahnte nicht, was aus seinem unglücklichen Vertrauen zu einem unberathenen leichtsinnigen jungen Menschen entstehen sollte. Das Unglück wollte, daß er sich von einem Cassirer betrogen sah, einem älteren Manne, dem er völlig vertraut hatte; in seinem Aerger machte er mich zum interimistischen Cassirer; einem, wenn auch noch nicht geschäftserfahrenen, aber ehrlichen Menschen aus so guter Familie, sagte er, wolle er sich vorläufig lieber anvertrauen, als einem alten, von der heutigen Verdorbenheit angesteckten Prakticus. So wurde ich verantwortlicher Hüter von Geldern, die sich an manchen Tagen auf zwanzig- oder dreißigtausend Thaler und mehr beliefen.

In dieser Zeit sitze ich eines Tages, während das übrige Personal zum Frühstücken gegangen ist, allein in meinem Cassenzimmer, da ich noch einzutragen und zu ordnen habe, als, ein wenig erregt und rascher in seinem Wesen und seinen Bewegungen wie gewöhnlich, Herr von Maiwand bei mir eintritt. Er war damals Officier, und als ein entfernter Vetter des Herrn von Haldenwang hatte er sich durch diesen bei Malwinen einführen lassen, wo ich ihn mehrmals gesehen hatte und mit vorzugsweiser Höflichkeit von ihm behandelt war; ein Gimpel, wie ich, der sich in seiner Commisrolle in Malwinens glänzendem Salon sehr demüthig und bescheiden fühlte, weiß so etwas zu würdigen. Herr von Maiwand also trat zu mir ein und eröffnete mir ohne Umschweife, ich habe ihm sofort und rasch neuntausendfünfhundert Thaler aus meiner Casse zu geben. Herr von Haldenwang, der Verlobte meiner Cousine, habe sie gestern Abend im Spiele verloren und sei durch sein Ehrenwort gebunden, sie im Laufe des Tages zu bezahlen; er habe an seinen Rentmeister telegraphirt, ihm die Summe sofort zu beschaffen, [90] aber sie könne vor dem morgigen Abende unter keinen Umständen ankommen; die Freunde, die, wie er gehofft, eine so große Summe ihm sogleich vorstrecken könnten, seien augenblicklich nicht in der Lage; also müsse meine Casse aushelfen bis zum Abend des folgenden, vielleicht auch bis zum Morgen des dritten Tages. Herr von Haldenwang sende ihn deshalb zu mir.

Ich fuhr stutzig zurück. ‚Woran denken Sie! Das darf ich nicht – daran ist nicht zu denken!‘ rief ich mit einem Tone aus, als wär’ ich über diese Zumuthung vollständig entrüstet. Aber ich war nichts weniger als das. Daß Herr von Haldenwang einen solchen Dienst von mir geleistet haben wollte, daß ich ihm so wesentlich nützen konnte, und dadurch auch Malwine verpflichten, die immer die Güte selbst für mich gewesen, hatte etwas Verführerisches für mich. Gefahr war ja auch nicht bei der Sache. Herr von Haldenwang war ein reicher Mann; Niemand wußte das besser als ich, sein nächster Landsmann, der als Junge so manchen Stecken in seinen Wäldern geschnitten, so manches Vogelnest in seinen Hecken ausgenommen – ich rief deshalb noch einmal: ‚ich kann und darf das nicht ohne den Principal, und der Principal ist auf zwei Tage verreist,‘ war aber schwach genug, auf die Suada zu horchen, womit Maiwand mich jetzt überschüttete, um mir zu beweisen, daß ich meinem demnächstigen Verwandten, dem Baron, einen solchen Dienst gar nicht abschlagen dürfe und könne, daß dies ja den Bräutigam Malwinens auf ganz gefährliche Gedanken bringen könne, ihn, der durch seine Verbindung mit einer so viel niedriger gestellten Familie diese in so hohem Grade ehre und nun nicht einmal bei einer kleinen Dienstleistung auf sie zählen könne, daß es ja alle seine Gefühle erkälten müsse, daß ich nicht die Naivetät haben werde, dem Baron Haldenwang in’s Gesicht sagen zu lassen, ich, der junge Kaufmannscommis, vertraue ihm, dem vornehmen, hochstehenden Manne, nicht ein mäßiges Capital auf zweimal vierundzwanzig Stunden an, und so weiter, und so weiter – kurz, ich war so schwach, ihn zu hören, und endlich so schwach, ihm nachzugeben; ich öffnete meine Casse und zahlte ihm in Gold und guten Banknoten neuntausendfünfhundert Thaler auf den Tisch, die er eilfertig in seiner Brusttasche barg. Und dann war ich obendrein noch solch ein Thor, ihm den Gefallen zu thun, zu schwören, daß ich von der Sache Niemand auf Erden ein Wort sagen würde, Niemand, denn, betheuerte er, der Baron Haldenwang sei in äußerster Sorge, daß Malwine von der Sache erfahre, diese würde dann sicherlich glauben, er sei ein Spieler, was er doch sonst gar nicht sei, und dann würde sie ihm ihre Hand wieder entziehen, und das würde er nicht überleben, sondern sich alsdann eine Kugel durch den Kopf jagen. Als ich Maiwand auch darüber beruhigt und Alles, was er verlangte, geschworen hatte, entfernte er sich eilig – mit seinem Raube, von dem ich nie einen Thaler wieder gesehen habe.“

„Ah,“ rief Landeck aus, „das ist ja ganz und völlig unglaublich!“

„Und doch ist es so – doch sage ich Ihnen die einfache Wahrheit … ich habe nie von Herrn von Maiwand diese Summe, noch auch den geringsten Theil davon zurückbekommen. Gleich nachdem Maiwand gegangen war, hatte ich wie eine innere Ahnung meines Verlustes. Eine große und stets wachsende Sorge überkam mich, die ich mir freilich als eine Thorheit vorwarf, die sich jedoch nicht beschwichtigen lassen wollte und die in eine wahre Verzweiflung überging, als am Morgen, am Vormittage, ja auch am Nachmittage des dritten Tages kein Herr von Maiwand in meinem Cassenlocal erschien. Als die Geschäftsstunden zu Ende waren, rannte ich zu ihm. Er war nicht zu Hause. Umsonst hielt ich auf der Straße vor seiner Wohnung Wacht. Er kam nicht. Ich hätte mich in den Fluß stürzen mögen, über dessen Brücke ich spät in der Nacht in mein Quartier heimkehren mußte. Auch am andern Tage erschien Maiwand nicht im Geschäftslocal und war am Abende nicht in seiner Wohnung zu finden. Nur einen Brief von ihm erhielt ich in der ersten Morgenstunde des folgenden Tages.

‚Der verwünschte Rentmeister,‘ lauteten diese Zeilen, ‚hat meinen Vetter im Stiche gelassen; er fordert drei Wochen Zeit, das Verlangte flüssig zu machen. Verfluchte Geschichte das! Ich laufe unterdeß beim Volke Israel umher, um meinem Vetter das Nöthige zur Deckung der Schuld aufzutreiben. Also nur ein wenig Geduld und keine Sorge! Ihr M.‘

Keine Sorge! Ich sollte keine Sorge haben! Welche Vorstellung hatte dieser Mensch von der Ordnung und Pünktlichkeit eines kaufmännischen Geschäfts, von der Möglichkeit, eine solche Zahlung, wie ich sie ihm gemacht, so lange dem Chef verborgen zu halten, bis er mit seinem ‚Volke Israel‘ zurecht gekommen! Am folgenden Tage war Samstag; an diesem Tage pflegte der Chef die Casse zu revidiren und mit dem Cassirer zu besprechen, wie viel man von den Baarbeständen auf die Bank senden, oder je nach den Bedürfnissen der nächsten Woche am Montag aus der Bank werde holen lassen müssen. Ich konnte nicht abwarten, daß man bei dieser Gelegenheit das Deficit entdecken werde; ich mußte, wenn ein Fünkchen Ehre in mir war, die Sache vorher meinem Chef ankündigen – und dazu hatte ich nun wieder die Stirn nicht. So lief ich denn in meiner Noth zu dem einzigen Menschen in der ganzen Stadt, auf dessen Theilnahme ich in dieser Sache rechnen konnte – zu Malwinen. Ich brach in meiner Noth den Schwur, den ich Maiwand geleistet; ich sagte Malwinen Alles.

Wie sehr sie erschrak, brauche ich Ihnen nicht zu schildern. Für sie hatte die Sache zwei fatale Seiten. Zu der Noth des Vetters, der ihr seine Verzweiflung ausschüttete und dabei so entschlossen schien, sich zu erschießen, kam für sie die Entdeckung, daß sie vielleicht die Braut eines Spielers sei, daß sich für sie das so häufige Schicksal berühmter Sängerinnen wiederholen zu sollen schien; sie hielt sich die Namen aller Derer vor, die, von einem aristokratischen Namen und der Aussicht auf eine glänzende Lebensstellung verlockt, sich einem Manne vermählten, der sie später durch seine Spielwuth ruinirte. Erst nach langer heftiger Erregung fand sie die Ruhe wieder, einen Entschluß in der Sache zu fassen.

‚Es thut uns große Vorsicht noth, Rudolph,‘ sagte sie. ‚Zuerst kommt es darauf an, Dich zu retten – vor der Entehrung, vor der gerichtlichen Bestrafung. Aus dieser Gefahr muß ich Dich retten; ich will sogleich zu Deinem Chef fahren und mit ihm reden. Ich werde ihm sagen, daß ich die fehlende Summe in kurzer Zeit mit meinem eigenen Vermögen ersetzen werde …‘ ‚ Aber mein Gott, wie könnte ich das zugeben!‘ fiel ich heftig ein.

‚Weißt Du das Geld auf anderem Wege zu beschaffen? Oder soll Dein Chef, dieser brave vertrauensvolle Mann, der so viel Güte für uns Beide hatte, durch uns um das Seinige kommen, durch uns? Da ist also nichts anderes zu thun. Ich schreibe noch heute an den Onkel Gottfried, meinen Vormund, daß ich die Auslieferung meines Vermögens verlange. Von mir vor einem Verlust gesichert, wird Dein Chef dann Nachsicht haben und sich damit begnügen, Dich im Stillen und ohne öffentliche Kränkung Deiner Ehre zu entlassen. Was aber Haldenwang angeht, so muß ich durchaus wissen, ob dieser Mann einmal und zufällig ein großes Spielunglück hatte, oder ob er überhaupt von der Leidenschaft des Spiels besessen ist. Ist das letztere der Fall, so breche ich mit ihm. Das steht unerschütterlich bei mir fest. Um der Sache auf den Grund zu kommen, muß ich ihn beobachten lassen. Die Werkzeuge dazu werde ich finden. Von dieser Angelegenheit werde ich ihm keine Silbe sagen. Es wäre thöricht, ihm zu verrathen, daß ich hinter diese Sache gekommen; er würde klug genug sein, sich alsdann zu beherrschen; es würde mir unmöglich gemacht werden, die Wahrheit zu entdecken. Also darüber tiefes Schweigen. Und nun zu Deinem Chef. Du fährst mit mir zu ihm und gehst dort in Dein Geschäftslocal, bis er Dich rufen läßt; sei guten Muths! Ich werde ihn beschwichtigen.‘

Malwinens Entschlossenheit und Klarheit aber das, was zu thun, hatte mir meinen Lebensmuth wiedergegeben. Ich habe sie nie mehr bewundert, als in jener Stunde. Ich weiß, welch tiefes Gemüth Malwine besitzt, und nie zeigte sich dies mir mehr, verehrungswürdiger, als jetzt, wo sie so ohne jedes Bedenken ihr ganzes Vermögen dahin gab, um mich vor dem Untergange zu retten, und ihrem Bräutigam ein solches Opfer verschweigen wollte. Wie erbärmlich und verächtlich kam ich mir vor, daß ich mich in die Lage gebracht, ihr Opfer annehmen zu müssen, daß sie dabei noch Alles that, mich aus meiner Zerschmetterung aufzurichten, indem sie mir wieder und wieder sagte, sie sei verpflichtet, so gegen mich zu handeln, weil ich ja doch das Geld nur ihr zu Gefallen hergegeben, weil es mir ja [91] doch nie im Traum eingefallen sein würde, so etwas für einen andern Menschen als ihren Bräutigam zu thun.

Wie sie es gesagt, geschah es. Sie verhandelte mit meinem Chef, und dieser ging in seiner Güte so weit, mir alle Vorwürfe, ja selbst eine auffällig rasche Entlassung zu ersparen. Er ließ am nächsten Montag Morgen einen älteren Gehülfen als Cassirer eintreten und mich in meiner früheren Geschäftsfunction bis zum nächsten Quartal weiter arbeiten. Dann trat ich aus. Ich selbst wünschte, diese Stellung zu verlassen; ich hatte nie große Lust zum Kaufmannsstande, und jetzt war er mir völlig verleidet. Die ganze Stadt, in der ich so schreckliche Stunden erlitten, war mir verhaßt; ich dankte Gott, daß ich sie hinter mir hatte und wieder bei meinem Vater war, um nichts zu sein, als ein tüchtiger Arbeiter. Ich lernte die Maschinenschlosserei und seitdem bin ich Werkmeister in der Fabrik, in der mein Vater thätig ist…“

„Aber Herr von Maiwand unterdeß?“ rief Landeck aus.

„Herr von Maiwand, freilich!“ fuhr Rudolph mit bitterem Tone fort. „Dieser Edle mußte es nicht möglich gefunden haben, mit dem ‚Volke Israel‘ fertig zu werden; er hat auch wohl seine desfallsigen Bemühungen sehr gewissenberuhigt eingestellt, da Malwine ihm einen Wink gegeben hatte, der ihm sagte, daß sie mich aus der Verlegenheit gezogen. Malwine hat mir nämlich wirklich ihr ganzes kleines Vermögen geopfert. Und dann hat sie ihren Vorsatz ausgeführt, sich zu überzeugen, ob Herr von Haldenwang ein Spieler sei oder nicht; sie hat ihn beobachten lassen und sich nach seiner Vergangenheit erkundigt; sie hat nicht die geringsten Thatsachen erfahren, welche diesen Verdacht bestätigen konnten; sie hat Haldenwang deshalb vertrauensvoll ihre Hand am Altare reichen können; sie ist bis auf diese Stunde überzeugt, daß ihr verstorbener Gatte damals ganz ausnahmsweise der Verlockung zu hohem Spiele erlegen und so ausgeplündert sei …“

„Und diese Ueberzeugung,“ nahm Landeck das Wort, „haben auch Sie, Herr Escher?“

„In jener Zeit, wo ich eine vertrauensvolle Seele war, wie es Malwine noch heute ist, ein so leicht zu täuschender Gimpel,“ versetzte Rudolph, „da hatte ich sie. Seitdem bin ich klüger geworden. Daß Herr von Maiwand wegen übermäßiger Schulden und unehrenhaften Betragens gegen seine Gläubiger ein halbes Jahr später den Dienst quittiren mußte, brachte mich auf den Verdacht, den ich ihm selber ausgesprochen habe, als er später, nach der Abreise Haldenwang’s und Malwinens nach Griechenland, hierher kam, um die Aufsicht über Haldenwang’s Besitzungen zu führen; es mochte das ein Posten sein, den der Letztere dem entfernten Verwandten aus Mitleid gab, weil er sonst nirgends ein Unterkommen hatte. Ich sagte ihm geradezu: ‚Damals haben Sie mich auf’s Schmählichste getäuscht, Herr von Maiwand. Sie waren es, der in der Klemme war, Sie selbst, dem ein Wucherer vielleicht mit der Wechselhaft drohte, und da mißbrauchten Sie den Namen Ihres reichen Vetters, um mir die Summe abzuschwindeln, deren Sie augenblicklich bedurften. Sie mochten die Hoffnung hegen, die Summe bei irgend einem andern Wucherer in den nächsten Tagen aufzutreiben und sie mir zurückzubringen – ich will das glauben, und es war ja natürlich, denn Sie konnten nicht wünschen, daß Ihr Vetter je den Betrug erfahre; aber leider kannten die sämmtlichen Wucherer der Stadt wohl Ihren Namen zu gut, und keiner that Ihnen mehr den Gefallen.‘“

„Und was antwortete er?“

„Mit einer beneidenswerthen Ruhe antwortete er: ‚ich sei ein mißtrauischer Geselle, aber lächerlich mit meinem Argwohne. Uebrigens mißgönne er mir das Privatvergnügen nicht, mir die Sache so auszulegen, müsse sich aber alle Erörterungen darüber verbitten, da es sich um eine alte längst abgethane Geschichte handle und durch Malwinen alles ausgeglichen sei; ob mein ehemaliger Chef sein Geld zurückerhalten von Haldenwang oder von Haldenwang’s Frau, das sei völlig dasselbe und darüber jetzt noch zu reden gänzlich überflüssig. Auch warne er mich vor solchen Reden, und namentlich, daß ich Malwinen einen solchen Verdacht einflöße; er werde mich dann als Verleumder dem Staatsanwalt anzeigen, und es werde mir schwerlich angenehm sein, von diesem über meine kurze Laufbahn als Cassirer in der Hauptstadt in’s Verhör genommen zu werden.‘“

„Der freche Schurke!“ rief Landeck aus.

„Daß dieses Wort nicht zu hart ist, habe ich leider noch so eben gesehen,“ versetzte Rudolph; „wäre eine Spur Gewissen und Scham in ihm, so würde er heute gethan haben, wozu ich ihn im Namen von Pflicht und Ehre aufforderte …“

„Und was verlangten Sie von ihm?“

„Auch das will ich Ihnen erklären. Ich sagte Ihnen, daß Malwine sich damals von ihrem Vormunde ihr ganzes Vermögen ausantworten ließ. Mein Vater weiß nun aus Haldenwang’s eigenem Munde, daß Malwine diesem kein Vermögen zubrachte. Zur Erklärung scheint sie ihm gesagt zu haben, sie habe es ihrem Vormunde zu seinem Etablissement gelassen – gewiß hat sie ihm die Beschämung ersparen wollen, ihm zu gestehen, daß sie seine angebliche Spielschuld, an welche sie selbst ja noch immer glaubt, gedeckt habe. Ich habe zu meiner unsäglichen Zerknirschung erfahren müssen, daß mein Vater meinen Oheim der Abscheulichkeit bezichtigt, seiner Mündel Vermögen unterschlagen, für sich selbst verwendet zu haben. Und nun – als ob die unseligen Folgen dieser entsetzlichen Geschichte gar kein Ende haben sollten, ist mir noch der schreckliche Verdacht gekommen, daß mein Oheim Gottfried wieder mich schuldig glaubt, durch eine tolle Verschwendung in der Hauptstadt und einen Griff in die mir anvertraute Casse Malwinen gezwungen zu haben, zu meiner Rettung ihr Vermögen hinzugeben. Was in der Welt sonst könnte ihn so hartnäckig, so unerbittlich gegen meine Bewerbung um Elisabeth’s Hand machen, die er mir ohne Angabe eines Grundes verweigert? Darum verlangte ich von Maiwand, daß er mit mir vor meinen Vater trete und diesem rund und offen heraus die Wahrheit erkläre: wohin Malwinens Vermögen gegangen; daß er dem Herrn Escher, meinem Oheim, sage, wodurch die Lücke in der Casse meines ehemaligen Chefs entstanden sei, die Malwinens Vermögen ausgefüllt habe.“

„Was er natürlich verweigert?“

„Sie selbst haben es gehört.“

„Aber ich sehe nicht ein,“ fuhr Landeck fort, „daß Sie deshalb zu verzweifeln haben. Klären Sie ganz einfach Frau von Haldenwang über Alles auf, und bitten Sie ebenso einfach Ihre Cousine, das zu thun, wozu Sie Maiwand nicht gewinnen können! Sie kennt ja dann den Zusammenhang der Dinge ganz ebenso gut, und kann Ihnen sowohl bei Ihrem Vater wie bei dem Oheim Escher als Zeugin dienen. …“

„Ah“ – rief Rudolph achselzuckend aus, „wenn ich auch Maiwand’s Drohungen trotzen wollte, glauben Sie, daß diese argwöhnischen Männer den bloßen Worten Malwinens irgend glauben, irgend etwas Anderes darin sehen würden, als ein kleines zwischen uns jungen Leuten geschmiedetes Complot?“

„Der Argwohn scheint freilich etwas wie eine Erbkrankheit in Ihrer Familie – aber ich meine doch …“

„Was Sie auch meinen,“ unterbrach ihn Rudolph, „Sie vergessen, daß Herr von Maiwand, der Edelmann, der ehemalige Officier, ihnen ein Ehrenmann scheint.“

Landeck schüttelte befremdet den Kopf.

„Ich werde niemals,“ fuhr Rudolph fort, „einen Glauben, ein Vorurtheil, das diese beiden Männer seit Jahren mit sich herumgetragen haben, und das so viel Zeit hatte, sich in ihnen festzusetzen, durch bloße Worte und ohne schlagende Beweise in Händen zu haben, umstoßen – es sei denn durch Maiwand’s eigenes Geständniß.“

„Und wie ihn dazu zwingen?“ rief Landeck jetzt aus. „Wenn wir auch den Doctor Iselt als Dritten im Bunde heranzögen, ich sehe dennoch kein Mittel, wie wir dieses Menschen Herr würden.“

„Den Doctor Iselt?“ fragte Rudolph. „Weshalb glauben Sie, daß er dabei ein Bundesgenosse für uns sein würde?“

„Er scheint eine besondere Abneigung gegen Maiwand zu haben; er hat vorhin in mir den Verdacht rege gemacht, daß dieser sich mit irgend einer bösen Absicht gegen Malwinens Eigenthum, mit einer betrügerischen Operation trägt, die sie gefährdete.“

Landeck erzählte Rudolph von dem Auftrage, den Malwine ihm gegeben, und dann den Inhalt seines Gesprächs mit dem Doctor.

„So wäre es ja eine wahre Wohlthat für die Welt, wenn Sie diesen Menschen im Duell erschössen, bevor er irgend eine [92] solche Spitzbüberei gegen Malwine ausführen könnte,“ rief Rudolph aus.

„Und doch für Sie schlimm,“ gab Landeck zur Antwort – „dann wäre es mit seiner Zeugenschaft zu Ihrer Rechtfertigung und zur Aufklärung Ihres Vaters und Ihres Oheims für immer aus.“

„Das freilich! Aber lassen Sie sich dadurch nicht abhalten,“ rief Rudolph zornig, „diesen bösen Menschen zu züchtigen – führen Sie Ihre Waffe mit fester Hand ihm gegenüber!“

„Verlassen Sie sich darauf,“ entgegnete Landeck mit sehr entschlossenem Tone. „Und geben Sie Ihre Sache nicht verloren! Ich werde mit Frau von Haldenwang reden. Sie wird mir ja glauben, daß sie sich, wenn Doctor Iselt’s Voraussetzungen irgend gegründet sind, in eine heillose Lage hat locken lassen, und daß nur schleuniges, energisches Handeln, offenes Vorgehen bei Gericht sie daraus rettet. Dadurch aber wird jenes Menschen Charakter der Welt enthüllt; er ist dann nicht mehr der Ehrenmann in den Augen Ihres Vaters und Ihres Oheims – diese werden Ihnen von jenem Augenblicke an glauben.“

Rudolph schien durch diese Aussicht nicht sehr getröstet. Aber was war für den Augenblick zu thun? Die beiden jungen Männer mußten sich, ohne zu einem weitern Entschlusse gekommen zu sein, endlich erheben und den weitern Heimweg antreten. Als ihre Pfade sich trennten, nahmen sie mit warmem Händedrucke Abschied von einander; Rudolph wollte noch am heutigen Abende den Doctor Iselt aufsuchen, dessen Beistand man bei dem bevorstehenden Duell bedurfte; er wollte versuchen, nähere und bestimmtere Andeutungen über den Grund seiner Beurtheilung Maiwand’s von ihm zu erhalten, und am morgigen Tage Landeck über den Erfolg dieses Versuchs Bericht erstatten.




10.

Eine halbe Stunde später stand Frau von Haldenwang, aus der Stadt heimgekehrt, in ihrem Salon mit hochwogender Brust und gerötheten Wangen vor Maiwand, der eben mit leidenschaftlicher Beredsamkeit auf sie einsprach; auch seine Wangen waren geröthet; auch ihn hatte die gewöhnlich zur Schau getragene überlegene Ruhe verlassen. Seine Augen blitzten; seine Lippen zitterten, während der Strom seiner Rede über sie fortging.

„O, mein Gott,“ fiel sie ihm endlich in’s Wort, „so halten Sie doch ein, verschonen Sie mich endlich einmal mit dieser Fluth von Anschuldigungen, Beschwörungen, Betheuerungen! Ich will ja Alles einräumen; ich will mich ja schuldig bekennen; ich will mich ja auf’s Tiefste demüthigen. Ich wiederhole es Ihnen, ja, ja, ja, ich mag sehr leichtsinnig, sehr unvorsichtig, sehr kopflos gehandelt haben. Ich mag durch das unbedingte Vertrauen und die unbefangene Freundschaft, die ich Ihnen zeigte, grenzenlos verbrecherisch geworden sein; ich mag dadurch Hoffnungen in Ihnen genährt haben, von denen ich nicht im Entferntesten dachte, daß Sie dieselben wirklich hegten. Aber wenn ich Ihnen nun erkläre, daß ich nicht wußte, daß eine Frau nicht voll offener, harmloser Freundlichkeit gegen einen Mann sein darf, und daß Sie sich getäuscht haben, Herr von Maiwand, völlig und gründlich getäuscht, so kann ja nun Alles zu Ende und wieder Frieden unter uns sein. Sie wissen nun für alle Zeit, daß ich nicht bin wie viele andere Frauen, die jede ihrer Bewegungen behutsam überwachen und, wenn ein Mann in ihrer Nähe ist, ihre Worte anders setzen, ihre Augen anders aufschlagen, ihren Arm anders ausstrecken – ich sehe, wenn ich mich ausspreche, den Menschen, das Menschengemüth und die Menschenseele vor mir und nicht, ob es Mann oder Weib ist, mit dem ich rede. Gewiß, es mag sehr verkehrt sein, sich so ohne Zwang gehen zu lassen, aber Sie kannten mich lange genug, um mich richtig beurtheilen zu können und mir diese Scene zu ersparen!“

„Scene zu ersparen – welch eine Grausamkeit, daß Sie von mir verlangen, ich solle nicht einmal reden, wie mir’s um’s Herz ist, während die Leidenschaft für Sie mich wahnsinnig macht, mich in den Tod treiben wird …“

„Ach, die Leidenschaft tödtet nicht gleich. Der Wahnsinn hindert Sie nicht an einer außerordentlich beredten Beweisführung, daß ich ganz furchtbar schuldig sei und dadurch Buße thun müsse, daß ich Ihr Weib werde. – Wenn Sie mir Ihre Leidenschaft beweisen wollen, so thun Sie es durch Gehorsam! Geben Sie mir, was ich von Ihnen verlange, den Revers, und dann, falls wirklich meine Nähe Ihren Seelenfrieden stört, verlassen Sie mich!“

„Sie sind wirklich abscheulich, so abscheulich in Ihrer erbarmungslosen Härte,“ rief Maiwand, während seine Augen die hellste Wuth sprühten und sein Mund eine eigenthümliche Verzerrung zeigte, „daß Sie mich ja vollständig selbst herausfordern zu jeder mir nur möglichen Rache. – Oder fürchten Sie etwa diese Rache nicht, haben Sie, um sich vor ihr sicher zu stellen, mir vielleicht Ihren griechischen Palikaren auf den Hals gesendet, um Händel mit mir zu beginnen, und mich unschädlich zu machen? – Der Mensch hat mich mit seiner Herausforderung so plötzlich und unmotivirt, so ganz sinnlos überfallen, daß ich es wirklich glauben muß …“

„Von wem reden Sie? Was sollen diese Worte bedeuten?“ unterbrach ihn Malwine betroffen.

„Von Ihrem athenischen Freunde rede ich, von diesem Landeck, der mich zum Duelle herausgefordert hat, ohne daß ich im Geringsten begreife, was ich diesem mir höchst gleichgültigen Schulmeister soll gethan haben, das nur durch Blut gesühnt werden könnte. Aber immerhin. Lassen Sie immerhin so Ihren ‚Klephten‘ gegen mich los, Malwine! Auf diese Art bringen Sie mich nicht zum Rückzuge.“

„Ich weiß von der Sache nicht das Mindeste,“ fiel Malwine ein, „und was Sie sprechen, enthält einen zu albernen Verdacht, als daß Sie selbst auch nur im Entferntesten daran glauben könnten!“

„Quälen Sie nicht auch mich, indem Sie mir einen albernen Verdacht zeigen … indem Sie auf’s Tödtlichste meine Ehre durch dieses stürmische Verlangen dessen, was Sie einen ‚Revers‘ nennen, kränken. Hören Sie auf, mir von diesem Revers zu reden, und ich will Ihnen versprechen, so lange Ihnen nicht von meiner Leidenschaft zu reden. Und ich denke, auf diese Bedingungen hin schließen wir Frieden, Malwine. Wahrhaftig, es wird mir schwerer werden, seine Bedingungen zu erfüllen, als Ihnen.“

Er wandte sich ab, und die Arme aber die Brust verschränkt, begann er langsam mit der Miene eines auf’s tiefste gekränkten Mannes, den ein namenloser Schmerz darnieder beugt, auf und ab zu gehen.

Malwine ließ sich wie gebrochen in einen Armsessel gleiten. Sie war wie vernichtet. Sie hätte, wenn nicht Maiwand gegenwärtig gewesen wäre, in lautes Weinen und Schluchzen ausbrechen mögen. Davon hielt ihr Stolz sie jetzt zurück. Sie war verzweifelt darüber, daß sie sich solche Worte von einem solchen Manne gefallen lassen mußte. Weshalb war sie nicht schroffer, kälter, verschlossener gegen ihn gewesen, weshalb hatte sie ihm in Allem und Jedem so völlig vertraut? – So war es gekommen, daß sie vor einigen Wochen auf seinen Vorschlag wegen des Scheinkaufs eingegangen war, um so die beschränkende Clausel im Testamente ihres Mannes zu umgehen. Sie müsse, hatte er dann eines Tages gesagt, mit ihm zum Justizrath fahren, um einen Kauf-Act wegen eines Wiesenstückes zu unterschreiben, dort werde sie gleich den bewußten Scheinkaufs-Act mit unterschreiben können; da hatte sie wohl geantwortet, daß sie ja ihre Einwilligung dazu noch gar nicht gegeben, aber sie hatte, als er nun drängend den ganzen Strom seiner Beredsamkeit über sie ergossen, endlich ‚Ja‘ gesagt, wenn sie aufrichtig gegen sich sein wollte, am meisten, um nur dem langen Geschwätz über die Sache ein Ende zu machen. Und so war es geschehen. Während die Männer im Arbeitszimmer verhandelt hatten, hatte Malwine sich im Empfangszimmer mit der Frau Justizräthin unterhalten; dann hatte man sie hereingerufen, um ihr das Geschriebene vorzulesen und es sie unterzeichnen zu lassen.

Und dann – was war es gewesen, was ihr sodann eine gewisse Sorge um das Geschehene eingeflößt? Zuerst eine merkbare Aenderung in Maiwand’s Wesen, eine unumwundene keckere Sprache, womit er ihr jetzt seine Huldigungen vortrug, etwas Herrisches, das sein Ton so unverkennbar annahm, daß es selbst ihrer Lini aufgefallen war und diese ein paar Bemerkungen darüber hatte fallen lassen. Ferner der Kaufact selbst, den ihr der Justizrath gesendet und der doch so erschreckend ernst und feierlich lautete – und dann eine sich steigernde Gereiztheit gegen Maiwand,

[93]

Robert Prutz’ Denkmal auf dem Friedhof von Stettin.
Nach einer photographischen Aufnahme.

die, seit Landeck in ihren Lebenskreis eingetreten, wuchs und wuchs. Je mehr Landeck alle ihre Gedanken an sich riß, desto unerträglicher wurde ihr, daß gerade in seiner Gegenwart Maiwand ein vertrauliches Wesen gegen sie annahm, als habe er irgend ein Recht auf sie, desto zorniger suchte sie Gründe zu Vorwürfen und zu Mißtrauen wider diesen Mann, der ihr lästig wurde – und endlich stellte sie Landeck jene Fragen, deren sie ahnen ließ, daß sie in einer Schlinge gefangen sei.

Und jetzt, jetzt ertrug sie diese Lage nicht mehr; sie sollte ein Ende finden, mit Güte oder mit Gewalt.

Am andern Morgen sandte sie in der Frühe schon einen Diener mit einem Billet zu Landeck. Sie bat ihn darin, möglichst bald zu ihr auf Haus Haldenwang zu kommen. Landeck konnte, als er die Botschaft bekam, ihr sogleich Folge leisten. Im Hause des Fabrikanten herrschte eine Aufregung, daß nicht daran zu denken war, Karl heute an einen ordentlichen Unterricht fesseln zu können. Der Strike war ausgebrochen; draußen um die Fabrikgebäude herum herrschte ein wilder Tumult – ein Theil der Arbeiter hatte sich in einer drohenden Haltung gegen die Gebäude aufgepflanzt und haderte und stritt mit einem anderen Theile, der sie abmahnte, die Beschädigungen an den Maschinen vorzunehmen, womit die ersteren drohten. So wäre es unmöglich gewesen, heute die Aufmerksamkeit des Knaben an seine Bücher und Aufgaben zu fesseln; dieser stand mit dem Hausdiener unten am Flusse und schaute dem wüsten Treiben aus der Ferne zu. Landeck machte sich also, doppelt erregt, durch das, was er hinter sich zurückließ, und das, was ihn bei Malwine erwarten konnte, auf den Weg nach Haldenwang. Als er hier ankam, wurde er sogleich zu Malwinen in ihr Wohnzimmer im ersten Stock geführt, einen höchst elegant und geschmackvoll eingerichteten Raum, in dessen Mitte ein prachtvoller Flügel stand. Landeck hatte bisher dieses Heiligthum noch nicht betreten, da die Dame des Hauses ihre Besuche im unteren Salon zu empfangen pflegte.

Aus einem Seitencabinet trat Frau von Haldenwang ihm lebhaft entgegen.

„Ich habe Sie herübergebeten und danke Ihnen, daß Sie so rasch kommen, Landeck,“ sagte sie. „Ich muß wissen, was gestern hier vorgegangen ist – zwischen Ihnen und Maiwand – daß auch Sie noch Streit mit Maiwand suchen und mir solch einen Verdruß bereiten müssen!“

„Ich – Ihnen Verdruß, gnädige Frau?“ rief Landeck bestürzt über diese Anrede aus, „das – ich versichere Sie – war meine Absicht nicht.“

„Absicht oder nicht,“ unterbrach, ihn Malwine, „aber setzen Sie sich! Ich will Ihnen Alles erzählen, damit Sie sehen, daß ich das Recht habe, Ihnen dieses Duell zu verbieten.“

Sie hatte, auf einem Divan Platz genommen und deutete für Landeck auf einen zur Seite stehenden Sessel.

„Ich mußte gestern von Herrn von Maiwand die bittersten Vorwürfe über Ihre Herausforderung hören,“ fuhr sie fort; „denn Sie müssen wissen, daß ich leider in ein Zerwürfniß mit diesem Manne, der sich bisher mit so großem Eifer aller meiner Interessen annahm, gerathen und daß ich sehr unglücklich darüber bin. Herr von Maiwand hat mich zu einem Schritte verleitet, den ich in hohem Grade bereue; ich war so leichtsinnig, wie ich unbedingt seinem Rathe in allen meinen Angelegenheiten, die geschäftlicher Natur waren, folgte, ihm auch in Dem zu folgen, dieses Gut Haldenwang zum Schein an ihn zu verkaufen.“

„Also es ist wirklich so – an ihn selbst!“ rief Landeck erschrocken aus.

„So ist es. Meine Sorge deswegen deutete ich Ihnen bereits vorgestern an, als ich Ihnen auftrug, sich zu erkundigen, welche Folgen ein solcher Schritt haben könne. Was Sie mir darauf sagten, steigerte in hohem Grade meine Unruhe über das, was ich gethan. Ich sprach mit Maiwand über einen Revers, dessen Ausstellung ich wünschen müsse, aber die Aufnahme, die mein Wunsch bei ihm fand, machte mich noch mehr bestürzt, und so entschloß ich mich gestern, zu dem Justizrath zu fahren, der als Notar den unglückseligen Act aufgenommen hatte. Der Justizrath sagte mir, wie er sofort überzeugt gewesen, daß es sich um ein Scheingeschäft gehandelt, da er aus einer Schuldklage, die bei Gericht wider Maiwand schon vor längerer Zeit eingelaufen, sehr wohl wisse, daß dieser ohne Vermögen sei, daß er sich jedoch nicht erlaubt habe, mir in der Sache einen Rath, eine Warnung aufzudrängen, da er eben in der Vornahme des Actes, den wir ihn aufnehmen lassen, auf ein Verhältniß zwischen Maiwand und mir geschlossen habe, welches jede Dazwischenkunft seinerseits so tactlos wie überflüssig gemacht haben würde.“

Malwinens Wangen zeigten einen Anflug zornigen Erröthens, als sie diese Worte sprach. Sie fuhr dann, ihre Schultern zurückwerfend und mit einer unnachahmlichen Bewegung von Stolz ihren Kopf aufrichtend, fort: „Wenn das nicht der Fall sei, meinte der Justizrath,

[94] und wenn ich, wie ich ihm eben gesagt, keine Vorsichtsmaßregeln gegen einen Mißbrauch dessen, was nun einmal geschehen, getroffen, und keinen Revers in Händen habe, dann könne ich in eine üble Lage gerathen. Er wolle durchaus nicht die Loyalität des Herrn von Maiwand in Zweifel ziehen; aber Herr von Maiwand könne sterben, und dann würden sich sicherlich Erben melden, die mein Gut als ihr Eigenthum betrachten würden. Er könne von Gläubigern – da deren vorhanden zu sein scheinen – gedrängt werden, und diese, wenn sie von dem Kaufe vernommen, auf Haldenwang Hand legen wollen; ich könne also unmöglich der Sache ruhig ihren weiteren Verlauf lassen; ich müssen mir von Maiwand einen Revers verschaffen, der entweder notariell oder doch mindestens durch Unterschrift von Zeugen bekräftigt sei. Weigere sich Herr von Maiwand, diesen auszustellen, so müsse ich sofort wider ihn klagen – ich habe dann das Mittel, ihm den Eid zuschieben zu können, und schlimmsten Falls ließen sich Beweise herbeischaffen, daß Maiwand gar nicht im Stande gewesen sei, etwas anderes als einen bloßen Scheinkauf abzuschließen. Mit dieser Auskunft kehrte ich vom Justizrathe heim – in welcher Aufregung können Sie sich denken. So fand ich Maiwand hier, und nach den ersten Worten über die Sache sah ich, daß er in der zornigsten Stimmung war, sah mich in einer Lage ihm gegenüber, die mich ganz außer mich bringt. Um das Uebel vollständig zu machen, waren Sie nun noch dagewesen und hatten ihn gefordert – ich bitte Sie um Gotteswillen, welcher Wahnsinn! Wollen Sie ihn erschießen und so das herbeiführen, was für mich am allerschlimmsten wäre, wie der Justizrath mir auseinandergesetzt hat? Was geht Sie überhaupt die Sache, was geht Sie Maiwand an?“

Ein wenig bestürzt versetzte Landeck:

„Ich bedaure tief, wenn ich etwas gethan haben sollte, was durchaus gegen Ihre Interessen ist, gnädige Frau, aber es ist leider geschehen, und dieses Duell muß ich ausfechten, jetzt, nachdem ich so übermüthig dabei als der Herausforderer aufgetreten.“

„Ich will es aber nicht – hören Sie, ich will es nicht, Landeck. Sie sollen mir Ihr Ehrenwort geben …“

„Ehe Sie das verlangen, gnädige Frau,“ fiel Landeck ein, „müssen Sie hören, wie Alles sich gemacht und geschickt hat – und dann urtheilen Sie! Ich will Ihnen rückhaltlos Alles erzählen. Aus der merkwürdigen Verschwiegenheit, die ich über alle Verhältnisse der Familie Escher hier waltend finde, ist ja ohnehin schon Unheil genug entstanden. Darum sage ich Ihnen erstens Alles, was ich gestern erfuhr, auch wenn es Ihre Angst um Ihr Verhältniß zu Maiwand nur vermehren kann, indem es Ihnen zeigt, welchen Charakter im Grunde dieser Mann hat, dem Sie so sehr vertrauten.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Triumph der Selbsthülfe.


Trotz aller schönfärberischen Redensarten ist es eine nicht wegzuleugnende Thatsache, daß der Schauspieler, der Bühnenkünstler überhaupt, innerhalb der Gesellschaft auch heutzutage noch vereinsamt und fast gemieden dasteht. Der Kern der Gesellschaft, das eigentliche Bürgerthum, hat im Großen und Ganzen außerhalb des Theaters wenig Sympathien für die Jünger Thaliens. Man wird mir den Vorwurf eines allzu pessimistischen Urtheils machen wollen, aber die Erfahrung läßt mich auf meinem Standpunkte beharren. Der geneigte Leser, welcher an der Wahrheit meiner Worte zweifelt, möge sich selbst auf das Gewissen fragen: ob er nicht in der Nähe eines Menschen, der sich ihm als Schauspieler zu erkennen gab, etwas von jenem achtungsvollen Grauen verspürt, welches uns bei der Berührung zweifelhafter Existenzen mit zwingender Gewalt zu überfallen pflegt? – Ich weiß sehr gut, daß diese Gefühle achtungsvoller Scheu jenen Bühnenkünstlern gegenüber nicht mehr Platz greifen, welche Talent und Glück zu Mitgliedern großer Hof- und Stadttheater machten. Diese Herren und Damen befinden sich in fester, reich dotirter Stellung und sind schon darum den bürgerlichen Verhältnissen näher gerückt. Sie bilden aber die Minderzahl des Standes. Die ungeheure Mehrzahl desselben unterliegt sicherlich noch den obengeschilderten Antipathien der Gesellschaft.

Und worin liegt das? –

Zuerst, glaube ich, liegt es in der eigenthümlichen Stellung, welche der Schauspieler als Staatsbürger innerhalb des Rechtsstaates einnimmt. Es ist ihm leider sehr schwer gemacht, sein gutes Recht ungeschmälert zu erhalten. Die Contracte, welche er unterschreiben muß – denn alle Verträge der Bühnen zweiten Ranges sind bezüglich ihrer Paragraphen von wahrhaft rührender Aehnlichkeit – sind meist so verclausulirt, daß der Richter in etwaigen Streitfällen nicht umhin kann, ihm Unrecht zu geben. Handelt es sich um technische Fragen, so ist der Richter größtentheils nicht befähigt, dieselben ihrem innersten Wesen nach zu verstehen. Im Rheinlande ist in dieser Beziehung der Code Napoléon für den Bühnenkünstler eine wahre Wohlthat, denn er hält streng auf Herbeiziehung von erfahrenen Sachverständigen. Im Allgemeinen übergeht der Richter gern die Zuziehung derselben. Die in seinen Augen geringen Klagobjecte dünken ihm dazu nicht wichtig genug. Werden sie aber herbeigezogen, so sind es gewöhnlich keine wahrhaft Sachverständigen, das heißt, es sind nicht Leute, welche das Theater auch wirklich genau kennen. Außerdem ist der Richter immer geneigt, der Autorität – dem Director – beizuspringen.

Ein überaus langsames Proceßverfahren, welches dem Bühnenmitgliede monatelanges Warten auferlegt, in Fällen, wo der Hunger schon vor der Thür steht, die Vertheuerung des gerichtlichen Einschreitens durch den Domicilwechsel – alle diese Uebelstände machen das Processiren für den Schauspieler fast aussichtslos. Er processirt also nicht und hilft sich selbst, so gut er kann. Das ist aber ein Verfahren, welches ihn der Gesellschaft eines Rechtsstaates entfremden muß. –

Der zweite und zwar der Hauptgrund für die Isolirtheit des Standes scheint mir in der großen Aussichtslosigkeit zu liegen, welche ihm von jeher als charakteristisches Merkmal anhaftete. Die Aussichten eines Bühnenkünstlers sind – namentlich für das hereinbrechende Alter – von sprüchwörtlicher Trostlosigkeit. Ist es aber möglich an eine Blüthezeit der deutschen Bühne zu glauben, so lange nicht ihre Jünger innerhalb der Gesellschaft eine durchaus geachtete Stellung einnehmen? Diese wird ihnen aber gewiß nicht fehlen, sobald der Fluch der Aussichtslosigkeit von ihnen genommen ist, sobald die Verhältnisse ihnen gestatten, sich als vollberechtigte Staatsbürger zu fühlen, sobald sie einer gesicherten Existenz im nicht mehr erwerbsfähigen Alter entgegensehen können.

Schon das Jahr 1857 sah einen Versuch, das Alter des Schauspielers zu sichern. Der Geheime Hofrath Louis Schneider in Berlin, der sich für die ehemals von ihm ausgeübte Kunst und ihre Jünger ein warmes Herz bewahrt hat, ergriff zu diesem Zwecke die Initiative. Er gründete die „Perseverantia“, eine Art Rentenversicherungsanstalt, und verband dieselbe mit einem Engagementsvermittelungsbureau. Die letztgenannte Institution sollte dem Unwesen der meisten Theateragenturen entgegentreten. Aber Gleichgültigkeit, Neid und Bosheit brachten die Perseverantia schon nach wenigen Jahren zu Falle und die deutschen Bühnenangehörigen waren wieder um eine Hoffnung ärmer.

Es kam das Jahr 1869. Dieses Jahr brachte dem deutschen Theater Neuerungen, die aber keine Verbesserungen waren. Diese Neuerungen aber gipfelten in dem zusammengesetzten Hauptworte „Theaterfreiheit“. Die bestehende Gesetzgebung wurde durch die Theaterfreiheit – namentlich bezüglich des Concessionswesens – in erheblicher Weise alterirt oder ganz über den Haufen geworfen und die modernen Gesetzgeber stellten – wenn nicht dem Worte, so doch dem Sinne nach – fest, daß das deutsche Theater nicht zu den Kunstanstalten zu rechnen sei, daß es viel mehr zu den Gewerben gehöre, und daß Directoren wie ausübende Mitglieder Gewerbtreibende seien.

Man braucht nicht gerade eine sentimentale Natur zu sein, um den Sieg dieser Ansicht für einen beklagenswerthen zu halten. Das Streben nach Selbstverwaltung, der Wunsch, der lästigen Bevormundung des Staates soviel wie möglich zu entgehen, das Sehnen nach möglichster Freiheit der Individuums innerhalb des Staatswesens – alles das ist ja vollberechtigt, nützlich und [95] heilsam für das Wohl des Ganzen. Die Theorien der Schule von Manchester dominiren segensvoll in der modernen Volkswirthschaft, und ihre Gegner sind noch in der Minorität. Aber Principienreiterei und Doctrinarismus sind böse Dinge. Eines schickt sich nicht für Alle, und einer Doctrin zu Liebe die Bühne vollständig zum Gewerbe herabzuwürdigen, das war jedenfalls – der Erfolg hat es gelehrt – eine recht schlimme Principien-Reiterei. Daß die Bühne dem Volke in ethischer und ästhetischer Beziehung viel zu sein vermag, dafür ist uns Schiller Bürge, und es ist noch Keiner aufgestanden mit dem Wagniß, den größten Verfechter ihrer Würde Lügen strafen zu wollen. Man darf den Gedanken verwerfen, daß der Staat dem Theater zur Erreichung seiner der Volkswohlfahrt dienenden Zwecke seine directe Hülfe gewähren und daß er die Bühne mit Strenge bevormunden müsse, aber man kann verlangen, daß er einer Institution, welche am letzten Ende volksbildend und volksveredelnd wirken kann und sollte, einen Schutz angedeihen lasse, wie er ihn Unterrichtsanstalten und Kunstakademien nicht versagt. Thun das Staat und Gesetzgebung nicht, so haben Beide die Hauptschuld zu tragen, wenn das deutsche Theater seinem eigentlichen Zwecke täglich fremder wird. In genauer Consequenz der staatlichen Ansicht ist das Theater nichts weiter als eine Vergnügungsanstalt niederen Ranges, ein Gewerbe, aber keine Kunst.

In Folge der Theaterfreiheit schossen die neuen Theater auf wie Pilze nach dem Regen. Die meisten dieser Institute waren indessen von sehr unsolider Natur. Es war so leicht Theaterdirector zu werden. Ging das „Geschäft“ nicht und waren Privatmittel beim Unternehmer – wie fast immer – nicht vorhanden, so „machte er die Bude zu“ und überließ es einer mehr oder minder großen Zahl von armen Mitgliedern aussichtslos zu processiren und einige Zeit am Hungertuche zu nagen. Nicht als ob die Gesetzgebung hierin nicht vorgebeugt hätte; die Paragraphen 32 und 53 der Reichs-Gewerbe-Ordnung enthalten diesbezügliche Bestimmungen zum Schutze gegen unfähige und unsolide Directoren; aber die betreffenden Behörden handhaben diese Paraphen durchaus ohne die nöthige Strenge.

Es ist nicht zu leugnen: die Errichtung so vieler neuer Theater steigerte die Nachfrage nach dem ausübenden Künstler ganz bedeutend und trieb die Gehalte zu noch nicht dagewesener Höhe. Ueber die großen Gagen hätten sich die deutschen Schauspieler freuen können, wenn man sie ihnen auch wirklich gezahlt hätte. Das Ungesunde des ganzen Zustandes zeigte sich indessen auch hier. Zahlungseinstellungen und Verkümmerungen des Gehaltes waren in allen möglichen Formen an der Tagesordnung. Außerdem schuf aber die Theaterfreiheit ein Schauspielerproletariat, wie es in solchem Umfange niemals vorhanden gewesen ist. Es kamen durch die gesteigerte Nachfrage nach ausübenden Künstlern und durch die Gewissenlosigkeit vieler Theateragenten Elemente zum Theater, die ihm geradezu zur Schande gereichten. Diese Leute suchten bei der Bühne nur das arbeitslose Bummelleben, brachten weder Bildung noch Talent mit und dienten nur dazu, den Stand innerhalb der Gesellschaft bloßzustellen und zu entwürdigen. Rauchtheater, Rechtsunsicherheit, ein neugeschaffenes Schauspielerproletariat und ein Virtuosenthum, wie es sich noch nie so schamlos geberdet hatte – das waren die directen Segnungen der Theaterfreiheit.

Man wird gestehen müssen, die Verhältnisse des deutschen Theaters und seiner Angehörigen lagen recht im Argen. Aber aus denselben Principien, die Beide so schwer geschädigt hatten, sollte auch eine Hülfe erwachsen, die Vieles wieder gut zu machen im Stande war. Die Theorien der Schule von Manchester enthielten das Besserungsmittel der bestehenden Zustände; sie selbst gaben die Mittel an die Hand, ihre irrige Anwendung zu bekämpfen.

Der Mann, der mit warmem Herzen und durchgreifender Energie zur rechten Zeit das Rechte recht zu thun verstand und dadurch die bedeutendsten Verdienste um die deutsche Bühne und ihre Angehörigen sich erwarb, ist der Schauspieler Ludwig Barnay. Schon seit Jahren waren seine Wünsche und Bestrebungen der guten Sache zugewandt, aber immer ohne Erfolg. Da, im Frühjahre 1871, kam der rechte Geist und die rechte Stunde zum guten Werke. Er selbst sagt in dieser Beziehung sehr treffend: „Da wehte in diesem Frühjahre Einheitsodem durch Deutschland. ‚Ein deutsches Reich ersteht wieder‘! schallte es durch die Lande, und höher schlug Jedem das Herz, uns Thalienjüngern wahrlich nicht weniger als jedem andern Bürger. Viele unserer Berufsgenossen verspritzten ihr Blut auf dem Schlachtfelde für das Vaterland und seine Ehre; Wenige von ihnen kämpften um den Besitz, denn wenige unter uns sind Besitzende, und doch kämpften sie auch für die speciellen Interessen unseres Standes, denn die Zerrissenheit unseres deutschen Vaterlandes trug die erste und größte Schuld an der Zerrissenheit unserer Theaterverhältnisse. Jetzt oder nie – klang es in mir – werden die deutschen Schauspieler, erwärmt von der Einheitssonne, die dem Vaterlande leuchtet, zusammentreten und ihre eigenen Interessen in’s Auge fassen; habe ich es nur erlebt, sie einmal und zum ersten Male in einen Saal zusammenzubekommen, um gemeinschaftliche Interessen selbstlos, gerecht und wohlwollend zu berathen, dann ist mir für das Gähren und Reifen des gesunden Urstoffs nicht bange.“

Der Initiative Barnay’s gelang es, ein provisorisches Comité zu gründen, welches die Einberufung eines „Allgemeinen deutschen Bühnen-Congresses“ veranstalten sollte. Dem begeisterten Agitator schlossen sich die Mitglieder dieses Comités, Dr. Krückl, Ulram, Gettke, ferner Bletzacher, Vollmer, Köller, Jacobi, Borchers, Siehr, Löwe, Dr. Hugo Müller, Salomon, Savits u. A. an. Barnay fand die Möglichkeit, ein Organ für die Sache in’s Lehen zu rufen. Gratis wurde es in Tausenden von Exemplaren an die Berufsgenossen in Deutschland versandt. Die darin ausgesprochenen Gedanken zündeten allerwärts. Die Idee war da, und die herzenswarme Hingabe Aller ermöglichte den „Ersten allgemeinen deutschen Bühnen-Congreß“ in Weimar am 17., 18. und 19. Juli 1871. – Wahrlich, diese Tage werden unvergeßlich bleiben in der Geschichte des deutschen Theaters. Es waren große Momente voll reinster Begeisterung, als die Vertreter der deutschen Schauspieler zum ersten Male vereinigt waren auf heiligem Boden, an den Särgen unserer Geistesheroen in der Fürstengruft, als sie in später Abendstunde huldigend zum Standbilde der Herrlichen zogen. Und als sie wieder hinausgingen in alle Welt, da brachten sie ihrem Stande das ersehnte Ergebniß einer gesegneten Arbeit mit: die Errichtung einer Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger und die sichere Aussicht auf eine Pensions- und Altersversorgungsanstalt.

Hatte der Congreß zu Weimar unter dem Präsidium des verdienstvollen Hugo Müller die Grundzüge des zu Erstrebenden festgestellt, so waren es wiederum die Delegirtenversammlungen in Kassel, Leipzig und Dresden, welche durch definitive Gründung der allgemeinen Pensionsanstalt deutscher Bühnenangehöriger, durch Berathung und Sanctionirung des Statuts und dessen Revision und Modification den Ausbau vollzogen. Von Wichtigkeit war die Annahme eines mit dem „Deutschen Bühnenvereine“ zu Stande gekommenen einheitlichen Contractsformulars. Diese Vorlage wurde, wenn nicht freudig, so doch achtungsvoll als ein Fortschritt zum Bessern begrüßt. Freudig konnte sie nicht begrüßt werden, denn es war nicht möglich gewesen, die Gegenseitigkeit des Kündigungsrechtes und der Conventionalstrafe für den Contractbruch zu erlangen. Das sind aber gewissermaßen naturrechtliche Forderungen der Bühnenangehörigen, und der schließliche Sieg dieser Forderungen dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

Ein nicht minder wichtiger Gegenstand fand ferner Erledigung. Die Mehrzahl der deutschen Bühnenangehörigen seufzt schwer unter dem Treiben der meisten Theateragenturen. Die Delegirtenversammlung beschloß deshalb die Errichtung einer „Genossenschafts-Theateragentur“ nur für Mitglieder der Genossenschaft. Die Ansicht, die Benutzung dieser Agentur obligatorisch zu machen, erhielt nicht die Mehrheit. Der Beginn der Emancipation hat sich indessen vollzogen, und es war weise, gerade diese Angelegenheit nicht zu überstürzen. Es wird an den Mitgliedern der Genossenschaft selbst liegen, durch Benutzung ihres Agenten jenen Theateragenturen, welche oft in geradezu gemeiner Weise arbeiten, den Garaus zu machen.

Das eingreifendste Ereigniß der Dresdener Decembertage war aber die Errichtung einer Wittwen- und Waisen-Pensionsanstalt. Schon in Leipzig hatte ein Statut zu diesem Zwecke vorgelegen. Man hatte aber dort den Entwurf zu nochmaliger Berathung einer Commission übergeben. Diese Commission wandte sich an den berühmten Versicherungstechniker Johannes [96] Karup in Gotha, und auf der Basis der von diesem bedeutenden Fachmanne angestellten Berechnungen hatte die Commission das nun vorliegende Statut ausgearbeitet. Der Entwurf wurde in eingehender Debatte modificirt und angenommen. Auch für die Wittwen und Waisen der deutschen Bühnenangehörigen wäre nunmehr durch Gründung dieser segensreichen Institution gesorgt. Die Anstalt hat ihre eigene, von der allgemeinen Pensionscasse getrennte Verwaltung. Der Sitz ihres Directoriums ist in Weimar. Die opferfreudigsten Verfechter der schönen Sache waren Intendant Baron von Cramm, Borchers, Otto Devrient, Savits, Dr. Krückl u. A.

Schließlich besprach und acceptirte die Dresdener Versammlung ein Localverbandsstatut, welches die Normen festsetzte, auf Grund welcher die einzelnen Localverbände thätig sein sollten.

Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger ist eine so eigenartige Erscheinung im Genossenschaftswesen, daß es mir hier vergönnt sein mag, ihre Organisation, sowie die Grundzüge ihrer Pensionsanstalt in aller Kürze etwas näher zu beleuchten. Der Paragraph 1 des Genossenschaftsstatuts mag hier vollständig Platz finden. Er lautet: „Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger hat die Fortentwickelung des deutschen Theaters, sowie die Sicherung und Hebung der geistigen und materiellen Interessen der deutschen Bühnenangehörigen zum Zwecke, namentlich den Mitgliedern nach den Bestimmungen des Pensionsstatuts eine Pension zu gewähren.“

Es ist wohl nothwendig, darauf hinzuweisen, daß die Genossenschaft mit nur geringen Ausnahmen in weiterem Sinne Alles umfaßt, was auf und an der Bühne thätig ist. Die Mitglieder haben das Recht der activen und passiven Wahl für die Verwaltung. Den weiblichen Mitgliedern stehen dieselben Rechte zu, nur können sie weder in die Genossenschaftsleitung, noch in die Localausschüsse gewählt werden.

Der erste Factor der Genossenschaft ist die Delegirtenversammlung, welche alljährlich im December stattfindet. Die Zahl der Delegirten richtet sich nach der Zahl der Wähler, welche demselben Lokalverbande angehören. Je fünfzig Mitglieder wählen aus ihrer Mitte einen Delegirten.

Die eigentliche Verwaltung während des Genossenschaftsjahres liegt in den Händen des „Centralausschusses“. Dieser besteht aus einem ersten Präsidenten, einem zweiten Präsidenten, einem Generalsecretär und einem Generalcassirer. Außerdem gehören zum Centralausschuß noch drei Mitglieder, deren Jedes die Verwaltung eines bestimmten Ressorts übernimmt. Es sei hier bemerkt, daß sämmtliche Aemter der Genossenschaft – mit Ausnahme der statutarisch zu bezahlenden Ressortämter – Ehrenämter sind, die unentgeltlich versehen werden müssen. Der Centralausschuß muß seine Protokolle, Abschlüsse etc. der Delegirtenversammlung zur Bestätigung vorlegen.

Der Verwaltungsrath der Pensionsanstalt untersteht dem Centralausschuß. Er besteht aus 1) dem ersten Präsidenten der Genossenschaft; 2) einem bezahlten, cautionspflichtigen Verwaltungsdirector; 3) einem bezahlten, cautionspflichtigen Cassirer; 4) einem Rechtskundigen und 5) aus drei resp. vier Mitgliedern der Genossenschaft. Die Redaction des Genossenschaftsblattes, dessen Abonnement mit einer Ausnahme für alle Mitglieder obligatorisch ist, und die Leitung der Theateragentur sind einem bezahlten Beamten übergeben.

Wir kommen nun zu der Institution der Localausschüsse. Dieselben sind für den glatten Geschäftsgang außerordentlich wichtig. Der Localausschuß ist das vermittelnde Glied zwischen dem Centralausschuß und den Genossenschaftern der einzelnen Localverbände. Er besteht aus drei resp. fünf Mitgliedern, und zwar aus einem Obmann, einem Cassirer, einem Schriftführer und, bei größeren Localverbänden, aus zwei Beisitzern.

Jede Bühne, an welcher sich wenigstens fünf Genossenschaftsmitglieder befinden, constituirt einen Localverband. Die Mitglieder des Localverbandes wählen den Localausschuß. Das ist der Verwaltungsapparat der Genossenschaft.

Die Allgemeine und die Wittwen- und Waisen-Pensions-Anstalt sind ja die greifbarsten Wohlthaten der so schön gelungenen Vereinigung. Da steht nun zunächst fest, daß nur ein Genossenschaftsmitglied Mitglied der Pensionsanstalt werden kann.

Die Beitragspflicht umfaßt: 1) das Eintrittsgeld, je nach Wahl der Pensionskategorie zu ein, drei, fünf und acht Thalern normirt, und 2) die Bezahlung der Pensionsbeiträge gemäß der gewählten Kategorie. – Die Höhe der einst zu beziehenden Pension ordnet sich in vier Kategorien. Die Wahl einer derselben ist völlig freigestellt. In der ersten Kategorie zahlt das Mitglied jährlich sechs Thaler Beitrag und erwirbt dadurch eine jährliche Pension von hundertfünfzig Thalern.

Die zweite Kategorie zahlt jährlich zehn Thaler und erhält eine jährliche Pension von zweihundert Thalern.

Die dritte Kategorie zahlt jährlich zwanzig Thaler und erhält eine jährliche Pension von dreihundertdreiunddreißig und ein Drittel Thalern.

Die vierte Kategorie endlich zahlt jährlich vierzig Thaler und erhält eine jährliche Pension von sechshundert Thalern. Uebertritte aus einer Classe in die andere sind unter gewissen, der Casse vortheilhaften Bedingungen gestattet. Die Casse hat, vom Tage ihrer Gründung – 1. December 1871 – gerechnet, zehn Sammeljahre, während welcher keine Pension gezahlt wird.

Die Bedingungen der Pensionsfähigkeit sind: 1) zehnjährige Mitgliedschaft, respective zehnjähriges Zahlen der Beiträge, 2) erwiesene Dienstuntauglichkeit und 3) das zurückgelegte sechszigste Lebensjahr. Wer dieses Jahr erreicht hat, muß seine Pension erhalten, sobald er es beantragt. Das Vermögen der Anstalt wird gebildet: durch den während der ersten zehn (Sammel-) Jahre angesammelten Grundstock und durch die nach den ersten zehn Jahren eingebrachten Werthe. Der Grundstock darf nach zehnjährigem Bestande der Anstalt nicht mehr erhöht werden. Die ständigen Einnahmequellen der Anstalt bestehen: 1) in den Zinsen des unantastbaren Grundstockes; 2) in den Zinsen der übrigen Capitalien; 3) in den Pensionsbeiträgen der Mitglieder; 4) in den Erträgen einer Abgabe von ein Procent derjenigen Gastspiele aller Mitglieder, die nicht auf Engagement stattfinden; 5) in dem Ertrage der freiwillig zum Vortheile der Anstalt gegebenen Vorstellungen, Concerte, Matineen etc.; 6) in den Geschenken an die Anstalt und 7) in dem Ertrage der Strafgelder, Freibilletsteuer etc.

Die außerordentlichen Einnahmen können selbstverständlich bei der Genossenschaft deutscher Bühnenmitglieder enorme Summen bringen. Den Genossenschaftern ist ja die Veranstaltung von Vorstellungen, Concerten etc. zu Gunsten ihrer Pensionscasse vermöge der von ihnen ausgeübten Kunst so leicht gemacht. Mit Dank und Anerkennung muß hier hervorgehoben werden, daß der deutsche Bühnenverein auf Anregung seines Präsidenten, des Generalintendanten der königlichen Schauspiele, Herrn von Hülsen, Excellenz, in Berlin beschlossen hat. an jeder Vereinsbühne alljährlich ein Benefiz zu Gunsten der Pensioncasse zu veranstalten. Auch Kaiser Wilhelm hat auf Antrag des Herrn von Hülsen huldvoll bewilligt, daß die kaiserlichen Theater in Berlin, Hannover, Cassel und Wiesbaden alljährlich eine Benefizvorstellung zum Besten der Casse geben. Schließlich mögen noch einige Notizen über den gegenwärtigen Status des Ganzen folgen. Die letzte Uebersicht des Vermögens der Genossenschaft wurde aufgestellt am 27. August 1874 und bringt folgende Zahlen:

Activa:
225,297 Thlr. 6 Gr. - Pf.
Passiva:
49,428 Thlr. 116 Gr. 4 Pf.
Vermögen:
175,868 Thlr. 24 Gr. 8 Pf.

Davon sind über 100,000 Thaler in sicheren ersten Hypotheken veranlagt; außerdem circa 30,000 Thaler in sicheren Papieren, als preußisch consolidirte Anleihe, Berliner Pfandbriefe etc. Die Mitgliederzahl reicht nahe an 7000, gewiß eine stattliche Summe. Das in Berlin in der Charlottenstraße 85 belegene Haus, welches Eigenthum der Genossenschaft ist und einen Werth von 61,000 Thalern hat, enthält die Kanzleien für alle Zweige der Verwaltung.

Die Genossenschaft darf hoffen, nach Ablauf ihrer zehn Sammeljahre ein Vermögen von einer Million zu besitzen. – Jeder, der noch Freude hat am Wohlergehen des Nächsten, wird mit angenehmen Gefühlen auf diese Vereinigung blicken. Und gar die Tausende, die dem deutschen Theater von Herzen zugethan sind, sie werden sich dieses Triumphes der Selbsthülfe herzlich freuen. Das Fundament eines schönen, monumentalen Baues ist mit ausdauernder Begeisterung gelegt worden, und die Mauern sind zu schon stattlicher Höhe emporgewachsen. [97]

Kaiser Wilhelm vor dem Beginn der Parade.
Aus den „Berliner Straßenbildern“ von H. Lüders.


Gottes Segen möge das Gebäude unter Dach und Fach bringen! Seine Vollendung bedeutet für Tausende Glück und Wiedergeburt, seine vorzeitige Zertrümmerung würde Niemand zum Segen gereichen. Es ist eine neue Institution, und sie wird der Erfahrung ihr Lehrgeld bezahlen müssen. Was auch die zünftigen Versicherungsmänner, die Feinde und Neider der Pensionsanstalt sagen mögen – Aehnliches war noch nicht da, und das hier Geschaffene kann also nicht nach den hergebrachten Maßstäben gemessen werden. Wenn auch nicht alle Hoffnungen, die in rosiger Glorie ausstrahlten, sich erfüllen sollten – aus einer Hoffnung ist schon eine Errungenschaft geworden: die deutschen Schauspieler haben sich endlich einmal selbst gefunden; das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist in ihnen wach geworden, und sie sind im Begriffe, innerhalb des deutschen Bürgerthums ohne Ausnahme selbst gleichberechtigte und tüchtige Staatsbürger zu werden. Daß ihnen diese Errungenschaft nicht wieder geraubt werde, dafür mögen sie selbst in erster Linie sorgen. Aber auch das wohlwollende Interesse aller Freunde der deutschen Bühne darf und wird ihnen dazu nicht fehlen. Für gute Dinge kann man immer ein Herz haben, und es ist fürwahr ein gutes Ding um die „Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger“. –

Arno Hempel.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.[1]
1. Im Elternhaus.

Ich könnte es heute noch zeichnen von den Kellerräumen an, in welchen der spärliche Wein für den Vater und der reichliche Most für die Kinder und Dienstboten lag, bis zum Taubenschlag, vor dessen Brettern wir Knaben stundenlang standen, um dem Treiben unserer Lieblinge durch die Ritzen und Spaltlöcher zuzuschauen, von der feuchten, lichtlosen Knechtekammer an, in welcher man nach den heutigen Begriffen von Humanität keinem Sträfling zumuthen würde, eine Nacht zuzubringen, bis zu dem lichten, aussichtreichen Studirzimmer des Vaters, in welchem wir Latein lernten – so lebhaft steht es mir nach dreißig, vierzig Jahren noch vor der Erinnerung, das alte Pfarrhaus in A., das längst vom Erdboden verschwunden ist, um einem moderneren und bequemeren Platz zu machen. Es lag so still und freundlich, so sonnig und idyllisch ein wenig abseits vom Dorfe, inmitten von Obst- und Blumengärten, nach drei Seiten offen gegen Wiesen und Felder, an deren Ende das Auge mit Behagen ausruhte auf dem nahen bewaldeten Höhenzug der schwäbischen Alb mit der weithin sichtbaren Capelle.

Das Dorf trug den einfach ländlichen Charakter einer fast ausschließlich mit Ackerbau beschäftigten Bevölkerung, erhielt aber doch einen etwas rascheren Puls durch den zahlreichen Fremdenverkehr, den es vermittelte. Zweimal am Tage hielt der Postwagen an und wechselte die Pferde. Wenn er des Nachts von der Schweiz herkam, unterließ es der Postillon selten, am Fuße der Steige, welche am Saume des Pfarrgartens vorbei auf die Höhe des Dorfes führte, sein Stücklein zu blasen, und die Töne drangen so heimelig durch die Stille der Nacht in’s Herz. Die nur eine Stunde entfernte Oberamtsstadt brachte vielfaches Leben. Alle Sonntage fuhren die „Honoratioren“ mit ihren Familien herüber, und ließen ihre Acten in der renommirten Küche „Zur Krone“ ausstäuben. Auch mochte das Bier, für welches zwei Brauereien im Orte bestanden, einen guten Ruf gehabt haben. Wenigstens konnte es der lustige und witzige Prälat Osiander nicht genug rühmen, wenn er auf seinen Kirchen- und Schulvisitationen in die Gegend kam und bei dem Vater, seinem Studiengenossen und intimen Freunde, jedes Mal für einige Tage abstieg. Es gehört zu meinen lebhaftesten Jugenderinnerungen, wie er eines Sonntag-Morgens, als eben die Glocken einläuteten und Papa schon im Kirchenrock stand, angefahren kam: „Was hast Du für einen Text? Gieb mir den Rock her! Ich will für Dich predigen.“ Er wollte nicht umsonst Professor der Eloquenz am Gymnasium in Stuttgart gewesen sein. Als er später als Visitator in die Lateinschule in S. kam, in welche ich unterdessen eingerückt war, gab er mir, weil ich mit der lateinischen Aufgabe früher fertig war, als die Andern, als Thema zu einem schriftlichen Aufsatz im Deutschen – „das Bier in A.“, worüber ich begreiflich wenig zu sagen wußte. Auch den katholischen Pfarrer des Nachbarortes sehe ich heute noch vor mir, wenn er an jenem Abend, an dem es das [98] Wetter erlaubte, in ruhigem Gange, die Zeitung im Gehen lesend, die Straße heraufkam, um sich am protestantischen Bier in ketzerischer Gesellschaft zu erlaben. Wie Viele würden das heute noch thun?

Einige Male wurden unsere kindlichen Augen in Staunen gesetzt durch seltsame, für uns unverständliche Menschen, welche das Dorf passirten: es waren Karawanen von frommen Pilgern, welche von der heiligen Dreifaltigkeitskapelle kamen. Ihre Gebete murmelnd, vom Gebet plötzlich zu Gesprächen über die gewöhnlichsten Dinge überspringend und sogleich den Gebetsfaden wieder aufnehmend an der Stelle, wo er abgebrochen worden war, so zogen sie meistens in großen Zügen, Männer und Weiber, durch das Dorf. Wir Kinder bettelten sie an um „Herrgöttli“, und mit großer Bereitwilligkeit gaben sie dem Einen ein aus Teig gebackenes Lämmlein, dem Andern einen Spruch, dem Dritten ein Kreuz, und vergnügt sprangen wir mit den Gaben nach Hause.

Ich glaube nicht, daß Jemand eine glücklichere Kindheit verlebt habe, als sie mir zu Theil geworden ist. Wenigstens liegt sie heute in meiner Erinnerung wie eine Landschaft voll Sonnenschein. Ich wollte, ich wäre ein Dichter und könnte all den Zauber in Worte fassen, der auf jenen Tagen der Vergangenheit lag, da, um mit den Worten des orientalischen Dichters zu sprechen, die Leuchte des Allmächtigen über dem väterlichen Dache stand, da die Schritte badeten in Sahne und Ströme Oeles neben mir der Fels ergoß. Ich spüre wohl einige Kügelchen von dem schweren Blute Schopenhauer's in meinen Adern, aber wenn ich mir die Freude an den Dingen, den Glauben an die Menschen, die frische Heiterkeit des Gemüthes unter allen Anfechtungen gerettet habe, so ist das zum größten Theil wohl ein Erbstück aus den Tagen der Kindheit. Auch giebt es ohne Zweifel nicht leicht eine gesundere Luft für die freie Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte, als die Luft eines protestantischen Landpfarrhauses: man wächst in den Sitten und Stimmungen der höheren Gesellschaft auf und bleibt doch der Natur so nahe, man erbt mit der Richtung des Geistes auf das Ideale den gesunden Menschenverstand und die natürliche Empfindung des schlichten Mannes.

Als ich in’s Elternhaus eintrat, waren schon drei Brüder und vier Schwestern da, der älteste Bruder war schon auf die Lateinschule fort und der zweite folgte ihm bald nach; so wuchs ich mit vier Schwestern und einem zwei Jahre älteren Bruder auf. Der Vater war eine ernste, einsame, meditirende Natur. Ursprünglich von einem nicht geringen geselligen Talent und mit einer vortrefflichen Unterhaltungsgabe ausgestattet, die er auch bei Gelegenheit noch spielen ließ, hatte er auf den drei Dorfpfarreien, die er, von geringeren zu höheren und besserbesoldeten aufsteigend, nacheinander bezogen hatte, beraubt aller geistansprechenden Gesellschaft, die Gewohnheit des einsamen, auf sich selbst gestellten Weisen angenommen. Wir sahen ihn selten anders als in Gedankenarbeit begriffen, die oft so lebhaft war, daß er die inneren Bewegungen, die Dialektik der Begriffe in seinem Geiste durch Gesticulationen der Hände und des Mundes anzeigte. Sei’s, daß er seinen täglichen Spaziergang weit über das Dorf hinaus machte oder Stunden lang im Schlafrock und mit der langen Tabakspfeife im Garten auf- und abging, oder des Abends beim Kruge Bier, den er sich regelmäßig aus dem Wirthshaus holen ließ – denn dahin ging er nur in Ausnahmefällen – am Fenster saß, wir sahen ihn fast immer lesen oder über etwas nachsinnen. Darin störte ihn auch der wildeste Kinderlärm nicht, und meistens hörte er nicht, was um ihn geredet wurde. Wenn wir Knaben, die einander immer neckten und plagten, uns etwa einmal an ihn wandten und klagten: „Der W. hat mich geschlagen, der H. hat mich ausgemacht (verhöhnt),“ da konnte er uns mit der Antwort entlassen: „Schlag Du ihn wieder, mach’ Du ihn ein!“ und man sah auf seinem Gesichte den unangenehmen Eindruck der Störung seiner Gedankenkreise.

Er hatte gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts seine theologischen Studien mit einem glänzendem Examen abgeschlossen, welches ihm die Anwartschaft auf die besten geistlichen Stellen des Landes verschaffte. Damals war Kant der König im Reiche der Geister, und auch die Theologie hatte nach einigem Widerstreben sich seinem Scepter gebeugt. Nach Kant war die Religion der Gehorsam gegen das Sittengesetz als gegen Gottes Gebot; ihr ausschließlicher Zweck war die moralische Besserung der Menschen; mit kühner Kritik hatte er in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ Alles, was diesem moralischen Zweck nicht diente, als Afterdienst aus dem Gebiete der Religion verwiesen. Das konnte sich eine protestantische Theologie und Kirche wohl gefallen lassen, wenn nur die Welt der kirchlichen Glaubensvorstellungen in ihren wesentlichen Grundlagen nicht angetastet wurde. Das schien auch durch die Philosophie Kant’s nicht zu geschehen.

Man erschrak wohl anfangs, als er erklärte, daß es keine Erkenntniß des Uebersinnlichen gebe, weil nach der Einrichtung des menschlichen Denkvermögens nur Gegenstände der Anschauung Gegenstände der Erkenntniß werden können. Aber Kant hatte den aus dem Gebiete der Wissenschaft verbannten übersinnlichen Dingen wieder eine moralische Hinterthür geöffnet: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, hieß es, sind zwar nicht erkennbar, und wenn sich die Vernunft in diese Welt des Uebersinnlichen versteigt, so geräth sie in’s Wolkentreten und verflicht sich in unauflösliche Widersprüche. Aber diese Dinge sind doch; denn das Gewissen fordert sie, unser moralisches Bewußtsein, die Welt unserer Sittlichkeit, die uns unmittelbar gewiß ist, wird nur möglich unter Voraussetzung jener übersinnlichen Wirklichkeiten. Damit war der Religion ihre Glaubenswelt wieder geschenkt, und Theologie und Kirche schien sich auf dem so geebneten Boden wieder von Neuem anbauen zu können. Und wie gut traf es sich doch – so fuhr diese Theologie weiter fort zu schließen – wenn Gott uns über dasjenige, was der Vernunft verschlossen ist, seine Offenbarung geschenkt im alten und neuen Testamente! Und was sollte denn die Vernunft dagegen einzuwenden haben, daß Gott in einem Zeitpunkte, da die Moralität unseres Geschlechts zu tief in den Sumpf gerathen war, um sich wieder herauszuhelfen, ein Außerordentliches that und durch ein wunderbares Einwirken, wie es in der Sendung Jesu vorliegt, die Moralität wiederherstellte? Wenn sich nur nachweisen läßt, daß diese außerordentlichen Vorrichtungen dem moralischen Zwecke dienen und darum vernünftig sind! Das war freilich bei vielen dieser alt- und neutestamentlichen Wundererzählungen sehr schwer nachzuweisen, aber was vermag man nicht, wenn man will und muß! Jedoch, woher wissen wir denn, daß diese Dinge wirklich geschehen sind, daß diese Aufschlüsse wirklich von Gott kommen? Das glaubte man durch ein sehr einfaches und vernünftiges Verfahren herauszubringen. „Die Apostel sagen’s, und die Apostel waren Augenzeugen, sie konnten also die Wahrheit sagen; und sie waren rechtschaffene und redliche Menschen – diesen Eindruck erhält Jeder von ihnen – folglich wollten sie auch die Wahrheit sagen.“

Mit diesen Anschauungen und Ueberzeugungen trat der Theologe von der Universität weg freudig in den Dienst der Kirche. Denn in dem Gegenstande des Glaubens war er einig mit dem Glauben seiner Gemeinde, und er war einig mit sich selbst, denn er hatte seinen Glauben vor seiner Vernunft gerechtfertigt, und der Zweck, Tugend und Frömmigkeit unter seinen Mitmenschen zu verbreiten, war so so rein und schön. Aber siehe da! während der Pfarrer mit Freudigkeit im Frieden seiner Gemeinde wirkte, gingen in der großen Welt des Geistes die eingreifendsten Umwandlungen vor sich. Klopstock. der noch die Jugend unserer Väter genährt hatte, gerieth in Vergessenheit, und auf der von Lessing eröffneten Bahn trat eine neue Nationalliteratur mit Stürmen und Brausen auf den Plan. Hegel nahm die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts auf und zugleich in die Zucht des strengen Gedankens und verkündigte sein Reich des absoluten Geistes. Schleiermacher grub nach den verschütteten Quellen der Religion und warf die christliche Glaubenslehre in den Schmelztiegel des frommen Selbstbewußtseins, aus welchem sie bei aller schonenden Vorsicht des Meisters doch grundsätzlich umgewandelt hervorging. Strauß sprach das Geheimniß der neuen Philosophie aus und legte die evangelischen Berichte unter das Messer der Kritik.

Diese neuen Ideen gründlich aus den Quellen studiren und sich mit ihnen auseinandersetzen, das hätte geheißen, alle seine bisherigen Waffen wegwerfen und seine ganze Bildung von Neuem anfangen, aber es hätte auch geheißen: jung und frisch und freudig bleiben bis in’s Alter. Das war zu viel für einen Mann, der sich auf die praktische Wirksamkeit unter einfachen [99] Menschen angewiesen sah und in diesem Berufe sich mit einer idyllischen Behaglichkeit eingerichtet hatte, wie sehr er auch das Bedürfniß einer denkenden Verarbeitung seines Glaubens in sich trug. Wohl drang das Getöse des großen Geisterkampfes auch in die stille Studirstube des Pfarrers, aber in sehr abgeschwächten Tönen durch die theologischen Zeitschriften, welche, von den geistlichen Capiteln gehalten, von Pfarrhaus zu Pfarrhaus gingen (so Tholuck’s „Theologischer Anzeiger“, Hengstenberg’s „Evangelische Kirchenzeitung“ etc.). Aber sie gaben die neuen Ideen verzerrt, entstellt, ihres Zusammenhanges beraubt und lieferten sogleich die theologische Widerlegung gratis dazu.

Auch war im ganzen Orte und in ziemlicher Entfernung keine Seele, mit der man seine Gedanken über diese Fragen der Theologie hätte austauschen können. Doch ja, im Dorfe war ein reicher Gutsbesitzer, der viel in Theologie machte. Er gab sein Haus zum Absteigequartier für Missionäre und fromme Colporteure her. Der kam in den langen Winterabenden etwa in’s Pfarrhaus. Aber da ging es dann laut und lebhaft her, denn der Vater war ein hitziger Disputator, wenn es einmal an ihn kam. Man stritt weniger wegen des Glaubens; er befand sich nirgends im Widerspruche mit der Kirchenlehre, aber um so weiter gingen sie auseinander in der praktischen Behandlung der Religion. Denn dem Vater war der Pietismus mit Allem, was drum und dran hing, zeitlebens in innerster Seele zuwider. Dieses Verhätscheln des lieben Heilandes, dieses stets bereite Reden vom Herrn, von Gnade und Bekehrung, diese sonderliche Sprache Canaans, dieses Zusammenbeten mit frommen Weibleins, dieses säuerlich-süße Richten und Absprechen widersprach ganz der kantisch verständigen und hellen Art der Religiosität meines Vaters und den Hochmuth haßte er unter allen Lastern am meisten auf allen Gebieten, besonders aber im geistlichen.

So hatte er sich gewöhnt, soweit das Amt ihn nicht in Anspruch nahm, ganz in sich hineinzuleben, und war auf dem besten Wege zur Hypochondrie, welcher er auch im höheren Alter völlig anheimfiel. Eine ganz andere Natur war die Mutter: bei einer Gesundheit des Körpers, die Schmerz und Krankheit nicht kannten, ein Frohmuth, welcher die Dinge von der besseren Seite nahm, eine Offenheit und Aufrichtigkeit, welche das Herz stets auf der Zunge hatte, ein Vertrauen, das alle Menschen für gut und redlich ansah, ein Herz voll Wohlwollen und Güte, leutselig und freundlich gegen Jedermann. An Bildung besaß sie kaum mehr, als was die Bürgermeisterstochter eines kleinen Landstädtchens im vorigen Jahrhundert in der Schule lernte. Einen Brief schrieb sie im äußersten Nothfall; ihre Hand war nicht an die Feder gewöhnt, und über Komma und Punktum hatte sie keine besonderen Studien gemacht. Den „Schwäbischen Merkur“ las sie regelmäßig von hinten, das heißt, sie war zuerst auf die Todesnachrichten und andere Personalien aus. Aus dem Gebiete der Politik interessirte sie nur, was den König und die Königin anging; sie hatte die ganze Familientafel des angestammten Königshauses im Kopfe, und auch über die Familienverhältnisse der übrigen europäischen Höfe hätte der „Gothaische Hofkalender“ sich bei ihr Raths erholen können. Aber in den Künsten der Haushaltung wurde sie nicht leicht von Jemand übertroffen. Man mußte sie sehen, wenn sie den Teig knetete und die Brodlaibe mit der langen hölzernen Schaufel in den Ofen schob und dabei selten unterließ, für die Kinder einige „Beerten“ (Rahmkuchen, Apfelkuchen etc.) oder einen winzigen, mit einem Apfel gefüllten Brodlaib mitzubacken, oder wenn sie zur Weihnachtszeit wochenlang an den Abenden die Orangen, Citronen, Mandeln, welche von den hausirenden Tirolern in’s Haus geliefert wurden, in kleine Stücke zerschnitt, den Zucker und Zimmt im Mörser zerstieß und die Lebkuchen und „Springerlein“ bereitete, oder wenn der Herr Special und die Frau Specialin bei Gelegenheit der Kirchen- und Schulvisitation erschienen und im Pfarrhause ein Ehrenessen veranstaltet wurde – das war der Mutter Element; da gab es kein Jagen und Drängen, keinen Ausdruck des Scheltens und der Ungeduld; da floß Alles so lustig von der Hand und fand natürlich und geordnet seinen Weg. Wie einfach sonst der Haushalt war, wenn Gäste kamen, wurde Nichts gespart. Da drangen wir Knaben wie ein Schrecken in den Taubenschlag, und die Gans nahm Abschied von ihren Schwestern.

Aber auch Garten und Feld war der Mutter ebenso vertraut, wie das Haus. Den Blumengarten, der sich so melancholisch an der Kirchhofmauer hinzog, mit der traulichen, von Haselnußbäumen umschatteten Ecke, verzierte sie mit dem reichsten Sortiment von Blumen; den großen Gemüsegarten, der durch den Hofraum vom anderen getrennt war, übernahm sie mit Hülfe der Dienstboten und Kinder allein, und der stets im Studiren begriffene Papa wurde nur herbeigerufen, wenn es galt, die mit der Schnur bezeichneten Wege durch das eben gerechelte Land kräftig abzutreten. Wie aufmerksam war sie hinter den Feinden des Gartens her! Oft stand sie lange Zeit mit der scharfen aufgehobenen Hacke und paßte dem Maulwurf auf, dessen Wege sie verfolgte, bis der sichere Streich ihn erlegte. Auch durch das Dorf zu ziehen, die Haue auf der Schulter, um ihren Hanf oder ihre Rüben auf dem vor dem Dorfe gelegenen Pfarracker zu besorgen, schämte sie sich nicht; sie dünkte sich für keine Arbeit zu vornehm, und alle diese Arbeit hinderte sie nicht, ihr Haus zu einem Muster der Ordnung und Reinlichkeit zu machen.

Vor einer solchen Pfarrerin hatten die Leute Respect, und es war gewiß im ganzen Dorfe kein Mensch, der etwas Böses über sie geredet hätte. Auch der Vater war als Prediger wie als Mensch sehr beliebt. Seine Predigten waren scharf logisch eingetheilt, wenn auch nie geschrieben, doch im Kopfe bis auf’s Wort ausgearbeitet und zielten auf’s Herz und auf den Willen; das Dogma stand im Hintergrunde; voran trat das Leben und die praktische Frömmigkeit. Ein besonderes Geschick hatte er für die Gelegenheitsreden; er war ein milder und billiger Beurtheiler der Menschen und der menschlichen Dinge. Lob, Tadel oder Mahnung wußte er so tactvoll einzuflechten, daß sie niemals verletzten. Am Menschen schätzte man neben dem Ernst des strengen und festen Charakters insbesondere, daß er keine Unterschiede machte. Er behandelte alle Menschen gleich und stellte sich ihnen gleich. Ich hörte ihn aussprechen, daß er die Zeit zu erleben wünschte, da alle Menschen einander mit „Du“ anredeten, und die Tiroler rühmte er gerne, weil sie selbst ihren Kaiser duzen. Es war etwas in ihm von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution, der er einst, als sie noch reiner gewesen war, mit Klopstock zugejauchzt hatte. Obwohl ihm der Weg offen stand, würde er nie eine Stelle in der Stadt angenommen haben. Die Vornehmheit und der Zwang der städtischen Verhältnisse widersprachen seiner republikanischen Einfachheit und Ungenirtheit.

Unter solchen Eltern ließ sich gut leben. Auch war die Erziehung die vortrefflichste von der Welt, wenigstens für gutgeartete Kinder. Man ließ uns wachsen wie die jungen Bäume, denen man etwa Pfähle giebt, damit sie gerade bleiben, und die üppigen Schosse abschneidet, damit sie fruchtbarer werden, an denen man aber nicht immer herummacht. Man modelte und dressirte uns nicht; man moralisirte nicht viel an uns hin. Man ließ uns springen wie die Füllen und gab der Individualität den freiesten Spielraum zu eigener Entfaltung unter Menschen, in Feld und Garten und Wald. Körperlicher Züchtigung enthielte sich der Vater grundsätzlich; von dem mahnenden Worte eindringender Herzlichkeit erwartete er Alles, und oft ist mir im späteren Leben seine ruhige Stimme wie ein sokratisches Dämonium auf meinem Wege an’s Ohr gedrungen, als eine Art Gehörsvision. Die Mutter dagegen, die keine Philosophin war, aber eine praktische Frau, besann sich nicht lange, dem jugendlichen Sünder – am häufigsten freilich, wenn er bei Regenwetter durch’s ganze Dorf gestampft war und Abends mit über und über bespritzten Kleidern nach Hause kam, was seine Lust war – mit der kräftigen Hand einige Merkzeichen zu geben. Auch das war gut. Sie vergaß den Apfel nicht neben der Ruthe. Es war schnell vorbei, wie die Regenwolke, und die Güte leuchtete wieder auf ihrem Gesicht. Wenn man den rechten Ton traf, konnte man sie, wie man sagt, um den Finger wickeln. Wenn sie unzufrieden war, suchte ich sie durch allerhand drollige Reden und kindliche Späße zum Lachen zu bringen und bat: „Mueter, mueß sie net bäus si“ (Mutter, sie muß nicht böse sein). Darauf brach sie hundert und hundertmal halb lachend, halb wehmüthig in den Ausruf aus: „Bübli, Bübli, wenn Du nur im Himmel wärest. Wie wird Dein Zünglein so froh sein, wenn Du schläfst!“

(Schluß folgt.)
[100]

Berliner Straßenbilder. Nach der Natur aufgenommen von H. Lüders.

[101] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [102]

Aus dem Wächterhäuschen des Straßburger Münsters.


Die byzantinischen Schriftsteller Damascius und Photius erzählen von einer Geisterschlacht, die zur Zeit der Völkerwanderung an den Thoren und über den Tempeln Roms geliefert wurde, und in welcher die Manen der Erschlagenen drei Tage und drei Nächte lang mit ungebeugtem Trotze den Riesenkampf fortsetzten. Noch dauert der stumme Krieg zwischen Deutschland und Rom auf dem Gebiete der Volksdichtung fort. Die elsässische oder vielmehr ultramontane Liga, deren Flug- und Fluchschriften so viel Unheil im Reichslande angerichtet haben, setzt neuerdings ein Büchlein in Umlauf, welches den bedeutsamen Titel führt: „Patrie. Elsässer Stimmen aus Deutschland. Sammlung verschiedener Gesänge zur Antwort auf Stöber’s Werk: ‚Deutsche Stimmen aus dem Elsaß.‘ Von einem echten Elsässer.“ Die coriolanische Verbissenheit unserer Optanten giebt sich gleich in der ersten Strophe des ersten Gesanges kund:

          „Die Elsässer Girondins.“

(Air des Girondins: Par la voix du canon d'alarme.)

Nur Geduld, ihr verdammte Preuße!
D’Zit isch do; es wird bol andersch geh’.
D’Zit isch do, wenn’s üwerall wird heiße:
’s kann a Jeder von is für si Mann steh’.
     Nit verzagt, und herzhaft schlaget d’ruf!
     Schlä’t se z’samme, schlä’t se todt!
     So komme mer us der große Noth.“

Wie ganz anders ist die Sprache und die Gesinnung der deutsch-alsatischen Dichter, die sich in Stöber's „Alsatia“, im „Pfeffel-Album“ und in den „Deutschen Stimmen aus dem Elsaß“ zusammengefunden haben! Ihr Symbol ist der Münsterthurm,

„Der so treu herniederblickt
Und der Eintracht stumme Grüße
Rings herum in’s Rheinthal schickt.“

Ihr Vorbild sind die Sabinerinnen, welche einer brudermörderischen Fehde ein Ende machten; ihr Wahlspruch ist Stöber’s Bitte:

„O Elsaß, Oberlin’s und Spener’s Land!
Zwei Völkern den Versöhnungsbund zu stiften,
Sei zwischen Beiden Du das Liebesband!“

Mit Recht konnten die reichsfreundlichen Sänger in den „Deutschen Stimmen aus dem Elsaß“ sagen: „Unsere Dichterschule hat weder Leier noch Schwert in die Wagschale des Krieges gelegt. Aber sie hat das Familienkleinod der Muttersprache erhalten, so daß die Elsässer beim Klange der deutschen Soldatenlieder sagen mußten: ‚Das ist doch Fleisch von unserem Fleische und Bein von unserem Beine!‘“

Als wir vor einigen Wochen im Wächterhäuschen des Straßburger Münsterthurms das große Fremdenbuch durchblätterten, bemerkten wir auf allen Seiten die Spuren dieser Geisterschlacht. Den Jubelruf eines deutschen Besuchers unterbricht ein Elsässer mit den herben Worten: „So mag wohl Thersites an Hector’s Leiche gefrohlockt haben.“ Ein Anderer stößt die dargebotene Bruderhand mit der Bemerkung zurück: „Ihr bombardirt uns jetzt mit Liebesgedichten, wie früher mit Brandgranaten.“ Während die deutschen Schriftsteller ihre Namen mit der flüchtigen Notiz: „Am Journalistentage“ eintrugen, nannten sich ihre französischen Collegen „rédacteurs de journaux anti-prussiens“ und verhießen den bedrängten Elsässern baldige Erlösung. Ein Capitain vom 51. französischen Infanterieregimente, ein geborener Straßburger, schreibt am 14. September 1874 die drohenden Worte nieder: „In sechs Jahren werden die Barbaren, welche unser Münster zerschmettert (foudroyé) haben, ebenfalls zerschmettert werden.“ Ein Deutscher beantwortet diese Herausforderung mit dem platonischen Wunsche: „Mögen diese Glocken den Frieden zwischen Frankreich und Deutschland einläuten!“ Mit Erstaunen sehen wir einen englischen Prediger seinen Stammesgenossen zur Seite treten und die Worte einzeichnen:

„Schönster Strom des Vaterlandes,
Ruhmgekrönter Vater Rhein!
Deines heil’gen Silberbandes
Treue Hüter laß uns sein!
Laß an deinen Ufern glänzen
Wahrheit, Freiheit, Licht und Recht!
Laß den goldnen Wein credenzen
Stets ein ritterlich Geschlecht!“

Als Dritter im Bunde gesellt sich ein Wiener zu seinen Stammesgenossen:

„Aus der Heimath bracht’ ich Grüße dir, du deutscher Dom!
Nach der Heimath send’ ich wieder sie zum Donaustrom.“

Auch die Frauen mischten sich in den patriotischen Streit. Eine Schleswigerin schreibt ihren Namen mit dem Ausrufe ein: „Gott sei Dank, der der deutschen Nation ihre Erblande zurückgegeben!“ Fräulein Palmyre hingegen erinnert am 4. October 1874 an den Sieg, welchen Turenne am 4. October 1674 beim benachbarten Dorfe Entzheim über die Brandenburger und die Kaiserlichen errungen, und begleitet diese gelehrte Reminiscenz mit dem Wunsche: „Möchten wir von diesen Mauern herab die Niederlage des preußischen Heeres sehen!“ Unterm 2. Juni 1874 lesen wir im gewaltigen Folianten den von zehn Mädchen unterschriebenen Schwur: „Amour, courage, espoir! Wir versprechen hier auf dem Münster, niemals einen Deutschen zu heirathen.“ Zu gleicher Zeit spenden unsere klugen Jungfrauen der französischen Nationalversammlung den wohlgemeinten Rath: „Eintracht macht stark.“ Wir möchten hier mit Shakespeare ausrufen: „O Weib, Dein Name ist Veränderlichkeit.“ „Keinem Wälschen Dich vermähle!“ klang es vor dreihundert Jahren in unseren Volksliedern, als Straßburg einen brandenburgischen Prinzen zum Schirmvogt erwählte. „Ja, wenn’s kein Wälscher wär'!“ läßt der vaterländische Dichter Arnold in seinen „Straßburger Volksgesprächen“ eine sittsame Jungfrau ausrufen, indem sie die Werbung eines französischen Unterofficiers zurückweist. Umsonst forderte Ludwig der Vierzehnte die Frauen Straßburgs unter Androhung schwerer Geldstrafen auf, die französische Sprache und Tracht anzunehmen. Weit galanter waren die Proconsuln der einen und untheilbaren Republik, welche unsere Patriciertöchter ermahnten, der Sprache der Sclaven zu entsagen. Der politische Conservatismus der Straßburgerinnen wird durch den Umstand angedeutet, daß die Heldin des „Pfingstmontags“ nicht dem französisch parlirenden Straßburger, sondern einem Bremer Stadtkinde Herz und Hand schenkt. Daß es mit jenem patriotischen Schwure auf dem Münsterthurme nicht so ernstlich gemeint war, zeigt das Straßburger Trauungsregister, welches im Laufe des Jahres 1874 etwa vierhundert zwischen Deutschen und Straßburgerinnen geschlossene Ehen erwähnt.

Die wälsche Politik verschmäht kein Mittel, um den unter der Asche glimmenden Funken wach zu erhalten. Neuerdings wurde den Landleuten in Elsaß-Lothringen und Südwestdeutschland folgende Spukgeschichte mitgetheilt: „In der Neujahrsnacht wurde ein starkes Rumoren in den Berghöhlen vernommen, in welchen der Sage gemäß Kaiser Karl mit seinen Rittern hausen soll.“ Die ultramontanen Blätter knüpfen an diesen Vorgang die freudigsten Hoffnungen. „Es soll schrecklich zugegangen sein,“ schreibt man mit einem verständlichen Seitenblicke auf Preußen. „Das Schießen ist wie in einer wirklichen großen Schlacht gewesen. Es schien, als wolle der Berg bersten und der alte Kaiser Karl seinen Ausritt halten, um der bedrängten Christenheit seine Hülfe zu bringen gegen ihre Feinde. Sei es ein gutes Omen für 1875!“

Den römischen Fetialen gegenüber möchten wir einen Vorfall erwähnen, der uns zur Zeit der heißen Kämpfe um Belfort mitgetheilt wurde. Ein preußischer bei Belfort verwundeter Officier, in einem Lazarethwaggon auf der Fahrt nach der Heimath befindlich, fragte einen badischen Arzt:

„Nun, sagen Sie mal, was war das für eine geheime Parole, welche sich Ihre Leute mit rollenden Augen und finsteren Mienen leise zuriefen? Ich konnte es um die Welt nicht verstehen. Was mag es wohl gewesen sein? Denn es lief ganze Fronten der auf dem Schnee im Anschlage liegenden Soldaten fort.“ Der Arzt erwiderte, er wisse von keiner geheimen Parole, dies müsse ein Irrthum sein. Doch dort liege ja ein badischer Soldat; er wolle ihn fragen. Dies geschah auch, aber der Soldat antwortete ebenfalls, er wisse von keiner geheimen Parole.

„Ihr habt Euch aber doch,“ sagte der Arzt, „als Ihr auf dem Bauche im Schnee laget, etwas zugeflüstert, was sich von einem Manne zum andern fortpflanzte.“

„Ah so,“ entgegnete der Schwarzwälder und lächelte verklärt, [103] ungeachtet seiner schweren Wunde: „jo warrle, mer hawn einander zug'rufe: Um's Verrecke lenn mer die Kerl' nett in unser schön badisch Ländle nei. Die solle unser bad'sche Maidle nett kriege.“

Ein französischer Schriftsteller, Edmond About, wagte es, die Turcos zur Berserkerwuth aufzustacheln, indem er ihnen die blonden Frauen Deutschlands als Siegesbeute anbot. Die Straßburger hingegen ließen in den Zeltreihen der afrikanischen Armee Tractate austheilen, in welchen die unbändigen Kriegsgesellen ermahnt wurden, im deutschen Quartiere an ihre Mütter und Schwestern zu denken. Nach den Kämpfen bei Belfort fragte ein elsässischer Prediger, Max Reinhard, in einem öffentlichen Vortrage: „Was wäre aus dem Elsaß geworden, wenn Bourbaki’s Horden gesiegt hätten?“ Unter dem Drucke des allgemeinen Unwillens fühlte sich der kecke Redner bewogen, Straßburg und das Elsaß zu verlassen, nicht weil er als ehemaliger Feldprediger seine französischen Waffenbrüder mit so herben Worten gekennzeichnet, sondern weil er es erst nach der Niederlage Frankreichs gethan. Die Straßburger selbst sagten im Hinblicke auf die Disciplin in der kaiserlich französischen Armee: „Alles mit Lumpen gefüttert!“ Die Zuaven und die Turcos nannte man geradezu Wakes (vagabonds), und der Straßburger Historiker August Schneegans schrieb beim Auszuge der französischen Garnison: „Nein, diese trunkenen Landsknechte sind nicht mehr die Franzosen von 1798.“ Nach der Rückkehr der Kriegsgefangenen hörten wir die Straßburger sagen: „Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen. Betrunken sind sie ausgezogen und betrunken kehren sie zurück.“ Welches das Loos der süddeutschen Nachbarstaaten im Falle einer feindlichen Invasion gewesen wäre, das zeigten uns die französischen Freischaaren, welche als Vortrab Bourbaki's über die „Schlucht“ hereinbrachen, die Stadt Münster mit dem Rufe „Vive Marie!“ durchzogen und sogleich die evangelischen Dörfer des Münsterthales anzünden wollten, weil sie glaubten, eine Provinz Deutschlands erobert zu haben.

Es liegt uns ein Theil eines Régistre des punitions vor, welches von der vierten Compagnie des ersten Bataillons des dreiundfünfzigsten französischen Infanterie-Regiments stammt und auf dem Schlachtfelde von einem als Mitglied eines Hülfscomités beschäftigten Engländer gefunden wurde. Dieses Buch oder, richtiger gesagt, dieser Theil desselben enthält die Namen von zweiundsiebenzig Soldaten und bildet einen ungemein lehrreichen und interessanten Beleg für die bei Mac Mahon’s Prätorianern waltende Disciplin. Wir begegnen in diesem Register vier Strafarten, nämlich Consigne, Salle de police, Prison und Cachot (Stubenarrest, – im deutschen Strafmaß unübersetzbar – Mittel-Arrest, strenger Arrest). Außer den Arreststrafen aber sind verschiedene Degradationen von Unterofficieren zu Gemeinen und auffallend viele Rückversetzungen von Soldaten aus der ersten in die zweite Classe angeführt. Unter den zweiundsiebenzig Mann sind nur sieben unbestraft; neunzehn Mann haben zwischen zwei bis zwanzig Tagen Arrest gehabt, zwanzig zwischen zwanzig und fünfzig, sechszehn zwischen fünfzig und hundert. Jetzt aber kommt die Elite des Falstaff’schen Corps, vermuthlich die Freude und der Stolz ihres Compagnieführers. Die würdigen zehn Söhne der grande nation, worunter sich drei Unterofficiere befinden, haben zusammen während ihrer Dienstzeit 2311, sage und schreibe zweitausenddreihundertundelf Tage Arrest gehabt. „Das ist ja ganz unmöglich,“ wird mancher Leser, namentlich ein Militär, der diese Zeilen liest, ausrufen. Und doch ist es die nackte Wahrheit, wir haben eine Thatsache schwarz auf weiß vor uns.

Wir würden die Namen dieser „letzten Zehn vom 53. Regimente“ der Nachwelt überliefern, wenn wir nicht fürchten müßten, unsere Leser durch ein solches Register zu langweilen. Als Ursachen der Bestrafungen werden vorwiegend Ungehorsam, unbotmäßige Antworten gegenüber den Vorgesetzten, Ausbleiben über die Retraite und Trunkenheit angegeben. Der Ausdruck „a été ramassé dans la boue, dans un état d'ivresse complète“ kommt sehr häufig vor.

Es sei noch Ihrem elsässischen Correspondenten erlaubt, die Thatsache hervorzuheben, daß unter den zweiundsiebenzig Mann sich sieben Elsaß-Lothringer befinden, von denen drei zu den oben angeführten sieben Unbestraften gehören; drei sind wenig bestraft worden und einer mit insgesammt vierundzwanzig Tagen. Es beweist dies auch hier, daß, was Fürst Bismarck in einer Parlamentsrede betonte, Elsaß-Lothringen die bestgeschulten Soldaten Frankreichs stellte. Aus ihnen rekrutirte sich hauptsächlich das Unterofficiercorps, schon weil sie viel besseren Schulunterricht genossen hatten. In den militärischen Kreisen Frankreichs und Algeriens hörten wir öfters die Bemerkung: „Die Elsässer, die Gascogner und die schwer zu drillenden Bretagner bilden den Kern der französischen Infanterie.“ Daß einst unsere Rekruten mit derselben Treue dem Kaiser und dem Reiche dienen werden, dafür bürgt die Ehrfurcht, mit welcher sie in ihren Privatbriefen von ihrem Fahneneide sprechen, wie die freudige Aeußerung unserer Freiwilligen und unserer Reservisten: „Wir haben unseren ‚congé‘ in Preußen gemacht, ohne ein einziges Mal gestraft zu werden.“




Blätter und Blüthen.


Zwei elende Steinchen. Ein lieber Freund war bei mir zu Besuch. Wir hatten uns seit zehn Jahren nicht gesehen, das letzte Mal an meinem Hochzeitstage. Dann war er in der Welt umhergereist; wir standen in regem Briefwechsel miteinander, und jeder Brief, den ich ihm sandte, enthielt eine herzliche Einladung mich zu besuchen, jeder Brief, den er mir sandte, ein Versprechen der Einladung zu folgen. Aber die Tage wuchsen zu Monaten heran; die Monate bündelten sich zu Dutzenden zusammen und nun lag schon ein Paket von zehn Dutzend hinter uns, ohne daß wir uns wiedergesehen hätten und ohne daß ich ihm eigentlich den Vorwurf der Vernachlässigung machen konnte. Das Geschäft, das leidige Geschäft erlaubte es nicht; o, dieses angebliche Geschäft, dem wir unseren ganzen Pflichteifer widmen und welches doch ebenso gut geht, wenn wir ihm einmal untreu werden!

Nun waren im Handumdrehen die zehn Jahre herumgegangen und mein letzter Brief lautete: „Ich habe Dir die traurige Mittheilung zu machen, daß meine arme Frau ihrem langjährigen Leiden endlich erlegen ist und daß sie mich allein gelassen hat auf dieser großen Welt. Ich bin recht allein und recht arm, denn ich habe nicht einmal ein Ohr, in das ich meinen Herzensjammer ausklagen konnte.“

Drei Tage darauf saß ich Hand in Hand mit meinem Freunde auf meinem Zimmer. Natürlich drehte sich unser Gespräch um Tod und Leben, um die sichere Aussicht auf ersteren, um die Nichtigkeit des letzteren, um das Ringen und Sorgen für Dinge, die wir hinter uns lassen, wenn der unvermeidliche Naturprocess uns kalt stellt. Und unsere Gedanken trieben weiter. Wir kamen auf die große Frage zu sprechen, die jetzt alle Kreise der gebildeten Menschheit bewegt, auf die Verbrennung der Leichen; wir wogen das Für und Wider. Mein Freund, hängend am Althergebrachten, erklärte sich entschieden dagegen, es erscheine ihm gegen alle Pietät, daß der Körper, das Gefäß alles dessen, was wir heiß geliebt haben, fast unmittelbar nach dem letzten Athemzuge vernichtet werden solle; es sei edler, den Proceß der Natur zu überlassen, als grausam und schnell ihr in die Hände zu arbeiten. Heilig und unantastbar müsse uns der Körper unserer lieben Angehörigen nach dem Tode sein.

Ich erwiderte ihm, daß er sich mit seiner Ansicht nicht nur gegen die Verbrennung, sondern auch gegen die Section entscheide, und er sagte:

„Ja, das thue ich auch; mir wäre es ein fürchterlicher Gedanke, den Körper eines theuren Angehörigen durch das Messer des Arztes verstümmeln zu lassen.“

„Wenn nun,“ sagte ich, „der Arzt Dich bittet, die Section vornehmen zu dürfen; wenn er, der jahrelang ein unerklärliches Leiden beobachtet hat, der rastlos, wenn auch ohne Erfolg, sich bemüht hat, dem armen Kranken Heilung zu schaffen, nun, wo es nicht mehr schadet, den Schleier zerreißen möchte: bist Du es nicht dem Arzte, bist Du es nicht der übrigen Menschheit schuldig, die Wahrheit erforschen zu lassen? Ich habe es gethan ohne Besinnen.“

„Du magst in Deinem kühlern Denken Recht haben; ich höre – mehr als billig kann wohl sein – auf die Sprache meines Herzens und möchte nicht zu wissenschaftlichen Experimenten meine lieben Todten hergeben. Ich würde es nur in einem Falle und auch dann nur mit Widerstreben thun, wenn nämlich der Angehörige es selbst gewünscht hat. Denn dessen Wille würde mir unter allen Umständen heilig sein.“

„Auch hier habe ich gegen Deine Ansicht gehandelt. Ich gab meine Zustimmung zur Untersuchung sogar gegen den oft ausgesprochenen Willen meiner Frau.“

Die Hand des Freundes, die in der meinen lag, zuckte merklich zurück.

„Sei ruhig und höre, was ich sage! Ich that's mit vollem Ueberlegen, und nicht eine Minute kam mein Herz – das auch mir warm schlägt – mit meiner Vernunft in Conflict. Ich würde es wieder thun im gleichen Falle, und nun es geschehen, bin ich glücklich darüber; ein Alp ist von mir genommen, und stände es in der Macht der lieben Todten, sie würde mir danken, daß ich ihren Willen nicht ehrte.“

Da sah mich mein Freund mit Kopfschütteln an, aber ich fuhr unbeirrt fort:

„Du wirst aus den kurzen Andeutungen meiner Briefe wohl schon geahnt haben, wie unsere Ehe verlief. Wenig zufriedenstellend vom Anfang an, allmählich sich zu großem Unbehagen steigernd, geradezu unglücklich in den letzten Jahren. Aeußerer Grund dazu war nicht vorhanden; des [104] Lebens gemeinste Sorgen konnten wir stets pariren – die Quelle des Uebels lag in uns selbst, oder schärfer ausgedrückt, in meiner Frau. Daß das keine Anklage ist gegen sie, die sich nicht mehr vertheidigen kann, wirst Du verstehen, wenn ich zu Ende bin. –

Was die Erde einem bescheidenen Sterblichen bieten kann, wurde uns zu Theil. Meine angenehme äußere Stellung, unser kleines, aber reizend gelegenes behagliches Heim, die treue Anhänglichkeit unsrer nächsten Verwandten, mit denen wir eine einzige große Familie bilden, Alles dies setzte uns in die Lage, es uns recht wohl sein zu lassen. So wähnten auch Alle, die uns nicht näher standen; sie beneideten uns wohl gar. Aber Jeder hat sein Kreuz zu tragen, und die das meinige von ferne sahen und es nur für ein schlichtes Marterholz hielten, wären wohl selbst unter seiner Wucht zusammengebrochen, wenn ich's ihnen zu schleppen hätte geben können. Meine arme Frau war stets in gereizter Stimmung. Nichts genügte ihr; über Nichts konnte sie sich von Herzen freuen. Nichts konnte ich mit ihr ruhig beplanen und berathen; Alles und Alle ärgerten sie. Wo ich den Himmel blau, wo ich die Morgenröthe rosenroth sah, da entdeckte sie schwarze Wolken, da prophezeite sie Sturm. Wenn ich die Freunde herzlich willkommen hieß in meinem Hause, da glaubte sie ein hämisches Augenzwinkern, ein spitzgemeintes Wort gegen sich selbst zu finden.

O Freund, es war eine traurige Zeit für mich, die Zeit der Ehe; kaum am Eingange blühten einige spärliche Rosen. Später wand sich der Pfad durch Dornengestrüppe, o sie rissen bis tief in's Herz hinein, die starren Dornen. Wirr, immer wirrer wurde mir im Gehirn und Herz. Oft bäumte ich mich auf in stiller Nacht gegen mein Schicksal: Womit, womit habe ich das verdient? Ein andrer, kalt rechnender Mensch hätte wohl an meiner Stelle anders gehandelt. Er hätte das Bleigewicht von seinen Füßen weggeschleudert und wäre lustig in der lachenden Fluth des Lebens weiter geschwommen. Ich bin kein solcher – ich hielt aus. Alles that ich, dem armen Weibe ihre sichtlichen körperlichen Schmerzen zu benehmen. In den zehn Jahren habe ich acht Aerzte consultirt, darunter die berühmtesten im Lande. Keiner erkannte ihr Uebel. Keiner konnte ihr auf die Dauer Linderung verschaffen. Da trat der Tod heran; ich hielt sie in meinen Armen, die alte Liebe gab mir Kraft dazu, aber er war mächtiger als ich; ich konnte Nichts thun als ihr nach dem letzten Athemzuge die Augen zuzudrücken, ach, die schönen braunen Augen! – Nun kam der Hausarzt und bat, das Blatt aufschlagen, das Räthsel lösen zu dürfen. Ich gab die Erlaubniß. Nach einer halben Stunde stand der Arzt vor mir und hatte zwei kleine graue Steine von der Größe eines Kirschkerns in der Hand.

'Das war,' sagte er, 'die Krankheit Ihrer armen Frau. Die Galle war vollständig vertrocknet; statt ihrer fanden sich die zwei als Gallensteine auffallend großen Verhärtungen. Daher ihre mangelhafte Verdauung, daher ihr schlechtes Gedeihen und ihre allgemeine Körperschwäche, daher natürlich auch die dürftige Ernährung des Gehirns und die oft sonderbaren Aeußerungen ihrer Verstandesthätigkeit.“

Freund, als mir das der Arzt sagte, da habe ich Thränen der Freude geweint, kühlend, stillend das bittere Weh; ich konnte ja nun mein todtes Weib wieder lieben. Sie hatte mich also nicht gequält, mit all ihren finstern Worten, aus Lust am Quälen; sie hatte keinen boshaften Sinn gegen ihre Umgebung; sie hatte nur dem unerbittlichen Naturgesetze unterstanden. Zwei elende Steine hatten ihr und mein Leben verbittert; die Functionen ihres Gehirns wurden durch die erbärmlichen zwei Steine gestört.

Nun kann ich mit Liebe meines Weibes gedenken; sie war gut wie je eins, und wenn der alte Wahnglaube sich bestätigen könnte, wenn sie zu mitternächtiger Stunde mir erscheinen könnte – danken würde sie mir, daß ich ihren Willen nicht geehrt habe.“
W.




Neue Kraftmaschinen. So wenig man die Heißluft-, Aether-, Gas- und Wasserdampfmaschinen entbehren möchte, ist man doch niemals ganz mit ihnen zufrieden gewesen, und hat beständig auf den Bau neuer Kraftproducenten – insbesondere für das Kleingewerbe gesonnen, die es besser machen sollen, und zwar zunächst in Betreff der Feuerung, die bei den hohen Kohlenpreisen der Gegenwart sehr unangenehm auf Theuerung reimt. Da die Erde an Petroleum unerschöpflich zu sein scheint, so hat man längst darauf gedacht, die Kessel mit diesem Material zu heizen. Aber wie das machen, ohne die Explosionsgefahr des Kessels auch noch nach dem Herdraume zu verpflanzen? Da haben sich nun die Amerikaner recht gut zu helfen gewußt, indem sie einen Herd aus Wasser einrichteten. Der Petroleumbehälter wird weit ab vom Kesselhause angelegt; ein unterirdisches Rohr bewirkt ganz allmähliches Zuströmen; in Blasen steigt das Petroleum durch das Wasser in die Höhe, um an dessen Oberfläche durch einen Gebläsestrom mit dem größtmöglichsten Heizeffect verbrannt zu werden. In der Hock'schen Petroleum-Maschine, wie eine solche in der Wiener k. k. Staatsdruckerei seit Februar 1874 im Betriebe ist und drei Schnellpressen mit einer Leistungsfähigkeit von zwölfhundert Druckbogen pro Stunde treibt, vermeidet man die große Explosionsgefahr gänzlich, indem man die Kraft, wie in den Gasmaschinen, durch lauter kleine Explosionen erzeugt. In dem Arbeitscylinder wird nämlich ein dünner Petroleumstrahl in regelmäßigen Zwischenpausen verbrannt und dadurch die Kraft gewonnen, welche pro Stunde und Pferdekraft anderthalb Pfund Petroleum verspeist. Die Maschine bietet den Vortheil, keines Anheizers zu bedürfen, kann also jeden Augenblick in oder außer Betrieb gesetzt werden.

Andere Erfinder beschäftigen sich besonders mit dem Ersatze des Wassers durch eine billigeren Dampf liefernde Flüssigkeit, und der Amerikaner Wells glaubt bei einer Füllung der Kessel mit Schwefelkohlenstoff, der schon bei dreiundvierzig Grad siedet und bei erhöhter Temperatur entsprechende Spannungssteigerungen ergiebt, Zweidrittel des bisher „vergeudeten“ Brennmaterials sparen zu können. Diese Flüssigkeit, welche immer wieder gewonnen wird, vereinigt aber mit ihren allerdings verlockenden Eigenschaften eine große Neigung, schon aus der Ferne Feuer zu fangen und zu explodiren. Da war es nun vor allen Dingen nöthig, jede Möglichkeit, mit dem Feuer in Berührung zu kommen, auszuschließen. Wie oben die Herd-Unterlage, stellte man deshalb hier die Kesselwandungen aus Wasser her. Der aufrechtstehende cylindrische Kessel ist nämlich in drei übereinanderliegende Abtheilungen geschieden, von denen nur die mittelste den eigentlichen (Schwefelkohlenstoff-)Dampfkessel bildet, die anderen Wasser enthalten. Der untere Wasserkessel, welcher die Herdhitze unmittelbar empfängt, steht durch weite Wasserröhren, welche die Schwefelkohlenstoffflüssigkeit durchbohren, mit dem oberen Wasserkessel in Verbindung, sodaß das heiße Wasser alle Wandungen des eigentlichen Dampfkessels umspült. Diese Wasserröhren werden wiederum von den Feuerzügen durchbohrt, welche die Verbrennungsgase des Herdes zum Schornstein führen und vorher deren Wärme, damit nichts verloren gehe, ihrem Wasserpanzer oder Futteral zur Weiterbeförderung übergeben. Die übrige Einrichtung ist derjenigen der andern Dampfmaschinen entsprechend.

Ganz abweichend ist dagegen der Gedanke der Seiboth'schen Kohlensäure-Maschine, welche die Kraft, die uns aus Champagnerflaschen entgegenknallt, zu verwerthen gedenkt. Sie braucht gar kein Feuer, sondern kann im Gegentheile noch eine ziemliche Kälte gratis liefern, was für manche Industriezweige, bei denen es sich um schleunige Abkühlung ihrer Producte handelt, höchlichst erwünscht sein kann. Die Kohlensäure, welche den Cylinderkolben auf- und abwärts treibt, wird in zwei mit Spatheisenstein und Schwefelsäure gespeisten Kesseln erzeugt, und das Merkwürdige ist, daß sowohl Asche wie Rauch – wenn ein solcher Vergleich gestattet ist – das heißt sowohl der in den Kesseln erzeugte Eisenvitriol wie die Kohlensäure nach ihrer Benutzung noch weiter nutzbar bleiben. Schon auf der Weltausstellung befand sich ein solcher Motor, der außer einer Leistung von vier Pferdekräften eine Kälte von – 12° zur Verfügung stellte.

Die neueste und sonderbarste Kraftquelle bietet die Oelmaschine des französischen Ingenieurs F. Tommasi, bei der nicht die Spannkraft von Dämpfen und Gasen. wie bei allen bisherigen Maschinen, sondern die Ausdehnung einer Flüssigkeit (Oel oder Glycerin) durch Wärme die Bewegung erzeugt. Tommasi hat gezeigt, daß Oel, in eine Metallröhre eingeschlossen, durch eine plötzliche Temperatursteigerung von nur sieben Grad die Kraft erzeugte, um einen dicken Bleiverschluß wie weiches Wachs aus der Mündung hervozupressen. Daß sich diese Kraft für Maschinen, die mehr Gewalt und Nachdruck als große Schnelligkeit beanspruchen, wie z. B. Pressen aller Art, recht passend verwenden lassen werde, scheint einzuleuchten, aber ob man eine Oelsäule durch abwechselndes Erhitzen und Abkühlen (durch heißes und kaltes Wasser, welches abwechselnd in ein den Oelcylinder durchziehendes Röhrensystem eintreten soll) zur schnellen Bewegung eines Stempels geeignet machen wird, das ist noch zu beweisen. Der Erfinder hofft mit seiner Oelmaschine alle Arten von Bewegung hervorzubringen.
C. St.




Ein Dichterdenkmal Stettins. (Mit Abbildung S. 93.) „Das Bild des Dichters, wie des Künstlers Meisterhand ihn geschaffen hat, in idealer Verklärung nach den höchsten Zielen schauend, gebe uns die Mahnung, muthig heranzutreten an die Aufgabe der neuen Zeit und unermüdlich nach dem Besten zu streben. Wie der verschiedene Dichter um der idealen Güter willen materielle Sorge für nichts geachtet hat, so lassen Sie in der Arbeit um das tägliche Leben, im Ringen nach Hab und Gut, im Wirken für den Reichthum und die Ausdehnung dieser Stadt uns niemals die Pflege der geistigen Güter versäumen. –

Robert Prutz war in dieser Stadt das Organ, durch welches bei jeder gemeinsamen Gelegenheit die Stimmung der ganzen Bevölkerung ihren Ausdruck gewann. Was Alle bewegte, dem gab er Leben und Form in jenen öffentlichen Reden, deren Wohlklang noch heute durch die Erinnerung Aller tönt. Gedenken Sie seiner machtvollen Worte am Erinnerungsfeste der Schlacht bei Leipzig, bei der Schiller-Feier, bei der Fichte- und bei der Humboldt-Feier! In all diesen Reden ist harmonisch erklungen der Ausdruck der Treue, der Vaterlandsliebe und des Geistes der Freiheit, die ihn, wie die Bürger seiner Vaterstadt, immer belebten. Er ist nicht müde geworden, auch in langer hoffnungsleerer Zeit das Banner der Freiheit hochzuhalten. – Diese Stätte sei darum fortan uns besonders geweiht. Dieses eherne Dichterbild leuchte fortan von der Höhe hernieder, ein Wahrzeichen, wie das Haupt der Pallas Athene dem Kommenden die Nähe einer Stadt der Bildung und Gesittung verkündigend.“

So lauten einige Sätze der Rede, mit welcher am achtzehnten October des vorigen Jahres Stadtrath Bock im Kreise der Hinterbliebenen und der zahllosen Verehrer des Dichters das Denkmal auf dem Friedhofe zu Stettin geweiht hat, dessen Abbildung wir heute unseren Lesern mittheilen.

Im Jahre 1870 im Frühling, einige Monate vor dem Ausbruche unseres „letzten Kriegs um den Rhein“, in dessen Triumphen auch sein Herz die Erfüllung alter patriotischer Wünsche freudig begrüßte, haben wir unseren Lesern Robert Prutz als „Wanderprofessor deutscher Literatur“ in Wort und Bild (Nr. 15) dargestellt. Schon damals konnten wir nicht verschweigen, daß sein körperliches Erscheinen auf den zu seinen Ehren geschmückten und von andächtigen und begeisterten Zuhörern umwogten Rednerbühnen die gebrochene Hülle eines noch so urkräftigen Geistes zeigte. Nicht viel über zwei Jahre trug er noch die immer schwerere Last des Lebens – er starb am 21. Juni 1872 als eines der vielen mit bitterem Ernste mahnenden Opfer jener in ihren Nachwehen noch heute nicht verwundenen Zeit, wo anmaßende Mittelmäßigkeit und hochgestellte Beschränktheit keine bessere Aufgabe kannte, als die Unterdrückung jedes höheren Strebens.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mit obigem Artikel eröffnen wir eine Reihe bedeutsamer Aufzeichnungen eines gefeierten Kanzelredners und Schriftstellers, der in den Kreisen des deutschen Protestantenvereins als einer der entschiedensten Vertreter der freisinnigen Richtung eine hervorragende Stellung einnimmt. Der Verfasser beabsichtigt, den großen Geisteskampf zwischen Autorität und Freiheit zu schildern, wie er in den Lebens- und Bildungsgängen eines Theologen der letzten Jahrzehnte sich ausgeprägt und widergespiegelt hat.
    D. Red.