Die Gartenlaube (1875)/Heft 25
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No. 25. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
„Komm einmal hier neben mich, Oberlandjägermeister!“ fuhr der Graf fort. „Will Dir etwas im Vertrauen sagen. Nicht wahr, wenn man mit dem Landesherrn reitet, so zieht man eigentlich seine besten Kleider an?“
„Errrlaucht befehlen?“ stotterte der Oberlandjägermeister verlegen, da er den nahe liegenden Sinn der Rede gleichwohl nicht zu verstehen schien.
„Befehle jetzt gar nichts, meine aber, daß Du heute wohl Deine bessere Uniform hättest anziehen können.“
„Aberrr halten zu Gnaden, Errrlaucht, das ist meine allerrrbeste Uniform, und wenn sie jetzt nicht mehrrr gut ist, so ist nurr das letzte Gewitterrr daran schuld, Errrlaucht.“
„Bah, mach’ mir nichts weis, Holderbusch! Echtes Gold leidet vom Regen nicht.“
„Aberrr vom Blitze, Errrlaucht. Verrrgangenen Donnerrrstag errrwischt mich das Gewitterrr rrrichtig im Forrrste. Errrlaucht, das warrr ein Rrregen, als ob die Fische und Frrrösche darrrin nach den Wolken hinauf schwimmen sollten, und Hagelkörrrner gab’s, wahrrrhaftig fast wie die Kegelkugeln, Errrlaucht, und ein Sturrrm blies, daß er die Felsblöcke wie die Kegel überreinanderrr herrrumkollerrte.“
„Und dieser schauderhafte Orkan hat Dich nicht fortgeweht, Holderbusch?“ fragte der Graf mit erzwungenem Ernste.
„Ja, wie das zugegangen ist, weiß ich selbst nicht. Wenn ich den Chrrristian rufen dürfte, Errrlaucht. Vielleicht besinnt errr sich besserr.“
„Nein, laß’ den Christian in Ruh, sag ich, und erzähle mir weiter von dem schrecklichen Wetter und namentlich von dem bewußten Blitze!“
„Ein Blitz, Errrlaucht? Zehn warrren es mindestens immerrr auf einmal; natürrrlich fuhren sie stets nach dem guten Golde an meinerrr Uniform. Ich fühlte, wie sie um meinen Hals herrumliefen, wie eine Schlange, und so zog ich denn selbstverständlich sogleich den Rock aus. Ich dachte, besserrr das Gold verrrlorrren, als das Leben. Habe ich nicht Rrrecht, Errrlaucht?“
„Natürlich, lieber Holderbusch,“ bestätigte der Graf. „Es wäre ja jammerschade, wenn ein solches Original, wie Du bist, zu Grunde ginge, wenn auch die wunderbare Weise solchen Untergangs Deiner ganz würdig wäre.“
„Errrlaucht sind allzugnädig.“
„Gnädiger noch, als Du denkst, denn – diesen Weg mache ich nur um Deines Sohnes willen.“
„Um meines Kurt willen, Errrlaucht?“
„Ja wohl. Er hat, wie ich höre, ein zartes Verhältniß mit der Tochter des Domänenrath Hartmann. So will ich denn das Meine thun, um ihn zum glücklichen Ehemanne zu machen.“
„Welche Gnade, Errrlaucht, aberrr, aberrr –“
Der Oberlandjägerineister kraute sich, ohne den Satz zu vollenden, verlegen hinter dem Ohre.
„Nun, was erregt noch Dein Bedenken, Holderbusch?“ fragte der Graf, dem die Verlegenheit des Oberlandjägermeisters nicht entgehen konnte. „Ist es noch nicht genug, wenn ich so für den Kurt sorge?“
„Ach Errrlaucht, was mich betrifft, so bin ich ja natürlich sehrrr zufrieden damit, aberrr, aberrr, meine Frau, ja, ja, meine Frau –“
„Wer ist denn eigentlich von Euch Beiden der Mann? Mir scheint fast, als ob Frau Hildegard Adelgunde von Holderbusch, geborene Freiin von Moosgrund, Dich trotz Deiner sonstigen Heldenthaten gewaltig unter dem Pantoffel hätte.“
„Meine Frrrau? Mich?“ rief Holderbusch, indem er sich in die Brust warf. „Das denken Errrlaucht nicht im Ernste, denn das wärrre auf Ehrrre sehrr krrränkend fürr mich.“
„Laß’ gut sein, Holderbusch!“ sagte der Graf einlenkend, da er in seiner Gutmüthigkeit fürchtete, dem Oberlandjägermeister wirklich weh gethan zu haben. „Ich selbst will ein vernünftiges Wort mit Deiner Gestrengen reden, und sie wird ja dann wohl nachgeben, besonders wenn etwa noch nebenbei ein hübsches Sümmchen abfiele, das man brauchen kann, um den Stand würdig zu repräsentiren. Soll mir auch nicht auf ein Stück hochadliges Pergament und ein schön gemaltes Wappenschild für die bürgerliche Schwiegertochter ankommen. Verstanden?“
Weder der Graf noch sein Oberlandjägermeister hatten bemerkt, daß während ihres wichtigen Gesprächs der Präsident von Straff, der anfangs neben ihnen geritten war, allmählich immer mehr zurückblieb, bis er sich endlich an der Seite seines Dieners befand.
„Johann,“ sagte er dann leise, „hier bereiten sich wichtige Dinge vor. Ich habe mit diesen meinen Ohren gehört, daß der Graf nicht nach dem hiesigen Schlosse reitet, sondern wahrscheinlich zum Domänenrath.“
„So?“ warf Johann ein. „Dann hat sicherlich die Comtesse unseren gnädigsten Herrn für ihre Pläne gewonnen.“
„Das muß unter allen Umständen vereitelt werden, Johann, und sollte es das Aeußerste kosten.“
[410] „Hm, wird aber schwer halten, Herr Präsident. Wer soll den gnädigsten Herrn jetzt noch von dem Plane abbringen?“
„Nun freilich, der Graf giebt ihn nicht auf – das ist sicher. Ich dachte deshalb an ein probates Mittel. Wenn nun die beiden Hitzköpfe aneinander geriethen? Was meint Er, Johann? Der Weg macht dort am Garten eine scharfe Biegung. Wie nun, wenn Ihr vom Trosse, um die Ecke abzuschneiden, quer durch dieses prächtige Weizenfeld des Domänenrathes rittet, um uns einzuholen? Wenn Hartmann darüber nicht wüthend wird, so wird er’s nie.“
„Hm, hm, schön, ganz schön, Herr Kammerpräsident. Aber am Ende werden die Herren dennoch darin einig, daß wir allein die Schuldigen sind, und dann wehe uns! Mir fällt, mit Verlaub zu melden, etwas Besseres ein. Sehen Sie einmal dort über den Zaun hinüber! Was ist das Braune, Herr Kammerpräsident?“
„Zwei Rehe. Aber was denkt Er?“
„Ich denke, daß sie der besagten Jungfer Hartmann gehören, und daß es für den Tyras eine königliche Freude wäre, die beiden netten Thierchen zu jagen und wenn möglich ein bischen zu zerfleischen.“
Die grauen Augen des Präsidenten leuchteten hell auf.
„Vortrefflich, ganz vortrefflich, Johann! Wir müssen also sehen, daß der Tyras loskommt. Wie machen wir das am besten?“
„Ganz einfach, Herr Kammerpräsident,“ lachte Johann in seiner höhnischen Weise. „Der Oberlandjägermeister muß wieder einmal lügen und dann wie gewöhnlich den Christian zum Beistand rufen. Ich halte inzwischen die Hunde, und wenn dann der Tyras nicht gut angekoppelt ist und loskommt, so ist dies natürlich nur die Schuld des braven Christian Blümchen.“
„Vortrefflich!“ wiederholte der Präsident. „Wenn dem Hunde ein Leid geschieht, so vergißt es der Graf niemals. Johann, dafür werde ich Ihm dankbar sein.“
„Hm, ich habe jetzt Röcke genug, gehorsamst zu bemerken.“
„Verstehe. Er soll ganz zufrieden sein.“
Der Präsident gab nach diesem leise und abseits geführten Gespräche seinem Pferde die Sporen und sprengte wieder an die Spitze des Zuges.
„Wo waren Sie so lange, Herr Präsident?“ fragte der Graf.
„Ich revidirte den Troß ein wenig,“ entgegnete der Präsident. „Sind Erlaucht nicht damit einverstanden? Und bin ich um meines Eifers willen vielleicht um ein neues wunderbares Abenteuer unseres Freundes Holderbusch gekommen?“ fragte der Präsident, der seinen Zweck im Auge behielt, weiter.
„Der Herr Oberlandjägermeister hat uns heute etwas von einem kaum glaublichen Sturme erzählt,“ bemerkte der Major der gräflichen Garde lächelnd. „Es war ein Sturm, der Felsen übereinander würfelte, und der doch unseren Holderbusch nicht fortwehte.“
„Wie, Holderbusch? Das glaube ich nimmermehr,“ erklärte der Präsident.
„Das glauben Sie nicht? – Chrrristian!“
„Blümchen bleibt bei den Hunden,“ befahl der Graf.
Der Präsident aber neigte sich dem Ohre seines Herrn zu und flüsterte ihm leise die Bitte zu, um des Spaßes willen den Christian von seinem Dienste für einen Augenblick zu entbinden. Johann werde inzwischen die Hunde bewahren können.
„Gut, es mag sein!“ entschied der Graf, bei dem ein Wort des Präsidenten viel wog. „Laß’ den Christian kommen!“
Wenige Augenblicke später sprengte Blümchen bereits heran, nachdem er vorher noch rasch dem glatten Johann die äußerste Sorgfalt bezüglich des Hundes dringend empfohlen hatte.
„Nun, wie also ging es mit dem Wunder zu?“ fragte der Graf, sobald Christian über den Streitgegenstand unterrichtet war. „Hat Dein Herr gescherzt oder nicht?“
„Nein, es war wirklich so,“ erklärte Christian, der seinen Herrn nie im Stiche ließ. „Wir wären beide verloren gewesen, wenn der Herr Oberlandjägermeister uns nicht geholfen hätte. Er riß den Hirschfänger aus der Scheide, stieß ihn bis an das Heft in die Erde und dann klammerten wir uns beide am Gefäße fest. Das half. Aber der Wind drehte uns doch wie eine Wetterfahne um den Griff herum.“
„Bravo, Christian!“ sagte der Graf lachend. „So glaube ich das Ding schon eher.“
„Na, da hörrren es Errrlaucht selbst,“ fügte der Oberlandjägermeister triumphirend hinzu und wollte in seinen Renommagen fortfahren, da –
„Aber, was ist das?“ rief plötzlich Christian. „Hölle und Teufel! Hat der Lump den Tyras losgelassen! Na, ich dachte es mir gleich. Tyras! Tyras! Willst du her!“
„Tyras! Tyras!“ riefen auch der Graf und sein Gefolge.
Aber der riesige Hund hatte jetzt kein Ohr für die Stimme des Herrn. Am Zaune des Gartens in gewaltigen Sätzen entlang jagend, verfolgte er im blinden Jagdeifer die verlockende Spur der Rehe, auf die ihn Johann absichtlich aufmerksam gemacht hatte. Offenbar suchte er nach einer Lücke im Zaune, um zu seiner Beute zu gelangen, und endlich schien er sie gefunden zu haben. An den Boden niedergeschmiegt, wand er sich durch eine für menschliche Augen kaum entdeckbare Oeffnung des Zaunes. Gleich darauf ertönte im Garten zugleich ein heiseres Gebell und der Schreckensruf einer weiblichen Stimme.
„Vater! Hülfe – Hülfe! der Hund!“
Es war Anna, die ihre Lieblinge schon glücklich bis dicht an ihren Stall gescheucht hatte und nun im letzten Augenblicke das beutegierige Thier hinter sich hörte und in großen Sätzen auf sich zueilen sah.
Mit einem Sprunge war der Domänenrath, der sich bereits von seiner Tochter getrennt hatte, um nach dem Hofe zu gehen, wieder an ihrer Seite. Zugleich erfaßte er, rasch entschlossen, ein Grabscheit, das, an die Wand des Stalles gelehnt, in der Nähe stand. Schon war indessen Tyras bis an den Domänenrath herangekommen. Sein Athem keuchte vor Aufregung, und seine feurig blitzenden Augen maßen den Gegner, der sich ihm drohend entgegen zu stellen wagte.
„Zurück!“ rief der muthige Mann mit Donnerstimme.
Aber auch das Herz des gewaltigen Hundes blieb für Furcht unzugänglich, selbst als Hartmann schon seine Waffe über das Haupt emporschwang. Knurrend und die Zähne fletschend, machte sich Tyras zum Sprunge bereit, um den Gegner an der Brust zu packen. Aber der Domänenrath behielt jede seiner Bewegungen scharf im Auge. Jetzt schnellte der Hund mit der ganzen elastischen Kraft seiner schlanken und kräftigen Glieder vorwärts und doch nicht rasch genug, um den Feind zu überrumpeln. Das Grabscheit blitzte einen Augenblick in der Luft und sauste dann auf das Haupt des edlen Thieres hernieder, das mit einem wilden Klagelaute jählings zusammenbrach.
In diesem Augenblicke erschien der Graf, der in stürmischer Eile durch den Hof geritten war, im Garten. Ein Blick genügte, um ihn seinen schweren Verlust erkennen zu lassen. Da lag der Treue auf dem Rasen, den sein Blut färbte, und kein Glied des gewaltigen Leibes zuckte noch. Die braunen, klugen Augen hatten keinen Blick treuer Anhänglichkeit mehr für den geliebten Herrn.
„Verzeihung, Herr Graf! Es geschah bei Gott nur in der Nothwehr,“ stammelte Hartmann, der sich bei dem aus jeder Miene des Grafen redenden jähen Schmerze plötzlich wie ein schwerer Verbrecher vorkam. „Können Erlaucht mir jemals vergeben?“
Der Graf aber hatte kein Wort der Erwiderung. Seine Hand glitt über die hohe Stirn langsam nach den Augen herab, als gälte es dort Etwas zu verwischen. Dann wandte er sein Roß und schritt schweigend Schritt für Schritt zu seinem Gefolge zurück.
Etwa eine Woche nach den letzterzählten Vorgängen saß Christian Blümchen im Reiseanzug der Kammerfrau Weiß gegenüber in deren kleiner, aber recht behaglich eingerichteter Stube. Zwischen den beiden, mit großblättrigen Geranien und blühenden Balsaminen dicht besetzten Fenstern und unter dem schwarzumrahmten Spiegel stand ein kleiner, halbrunder Tisch, auf diesem aber eine hohe und weitbauchige Kaffeekanne nebst zwei um so schmächtigeren Tassen. Frau Weiß hatte den labenden Abschiedstrunk mit gramerfülltem Herzen zurecht gebraut, aber er war trotz der Trauer aromatischer als jemals gerathen.
„Zum Davonlaufen ist es,“ sagte die behäbige kleine Frau, indem sie ihrem Gaste die vierte und dann sich selbst die siebente Tasse voll goß.
„Nein, Frau Weiß, d’rein schlagen möchte man,“ entgegnete [411] Christian. „Und dazu kommt es auch noch in Betreff eines gewissen windigen Jemand. Wenn ich ihn nur einmal unter vier Augen fasse, so wahr ich Christian Blümchen heiße –“
„Der Oberlandjägermeister hat Sie also wirklich entlassen?“
„Was? Mein Herr? Dummes Zeug! Die gnädige Frau macht bei uns Alles, und sie hat mich auch fortgeschickt. Der arme, gnädige Herr, sehen Sie, der thut mir in der Seele leid. Das Lügen kann er nun einmal nicht lassen, und wer soll ihm nun helfen, wenn der Christian nicht mehr da ist? Es ist meiner Seel’ zum Erbarmen.“
„Ich verstehe nur nicht, wo Oberlandjägermeisters das Geld hergenommen haben, um Sie abzulohnen.“
„Das geht auch im Grunde uns Beide nichts an, Frau Weiß. Genug, die Gnädige hat mir meinen ganzen Lohn für die letzten fünfzehn Jahre bei Heller und Pfennig auf einem Brette hingezählt.“ Der Alte schlug an die vollen Taschen, daß es hell darin klirrte.
„Wunderbar, höchst wunderbar!“ bemerkte Frau Weiß kopfschüttelnd. „Was gedenken Sie jetzt zu thun, Herr Blümchen?“
„Ich geh’ nach Brandenfels. Da bin ich geboren, und dort kaufe ich mir nun für mein Geld ein Häuschen. Der Domänenrath Hartmann hat mir auch schon die schönsten Anerbietungen gemacht, wenn ich in seine Dienste treten will, und das thu’ ich noch heute.“
„Dann darf man Ihnen also gratuliren. Wir freilich kommen dabei am schlechtesten weg; denn wir verlieren hier eine treue Seele, auf die wir Alle große Stücke gehalten haben. Wir haben uns immer gut vertragen. Nicht wahr, Herr Blümchen?“
„Na ob! Sehen Sie, Frau Weiß, wahrhaftig, wenn Sie nur ein klein Bissel jünger wären, dann heirathete ich Sie noch jetzt auf der Stelle.“
„Ei, was Sie da sagen!“ lachte die Kammerfrau munter und ohne die mindeste Empfindlichkeit über Christian’s Naivetät zu verrathen. „Also ich bin Ihnen schon zu alt? Sie sind aber doch wohl mindestens zwanzig bis dreißig Jährchen älter als ich?“
„Das ist bei uns Mannsleuten ganz ein ander Ding,“ entgegnete Christian mit würdevoller Entschiedenheit. „Sehen Sie, ich habe mir die Sache ganz genau überlegt, Frau Weiß, aber es geht eben nicht, nein, es geht durchaus nicht.“
„Dann werden Sie freilich diese gute Idee aufgeben müssen,“ erklärte die Kammerfrau mit einem schelmischen Lächeln, das ihr recht gut stand. „Aber wir sind von unserem Gespräche abgekommen. Wie war das Unglück nur möglich? O, mein Himmel, was hat uns dieser unerwartete Vorgang für üble Folgen gebracht! Alles war so gut eingefädelt; es war die beste kleine Intrigue im Gange, die ich jemals in diesem langweiligen Schlosse erlebt habe. Und nun? Der Faden, den wir schon in der Hand hatten, ist zerrissen. Der Graf kann den Hund nicht vergessen und zürnt mehr als je auf den Domänenrath, ja, was das Schlimmste ist, er grollt auch meiner Comtesse, weil sie ihm den Rath gegeben hat, nach Brandenfels zu reiten. Sagen Sie mir, liebster, bester Herr Blümchen, wie war es möglich, daß der unselige Tyras sich losriß?“
Der Alte schüttelte den kurzgeschorenen Graukopf mit einem überlegenen Lächeln.
„Losgerissen? Na, Sie glauben doch das dumme Zeug nicht?“ fragte er dann.
Frau Weiß sah ihren Gast mit großen Augen an.
„Ob ich es glaube?“ wiederholte sie dann. „Aber, du lieber Himmel, was soll ich denn sonst glauben?“
Der Alte zeigte mit seinem massiven Zeigefinger nach der tiefbraunen Stirn.
„Na, aber Frau Weiß!“ rief er dann. „Können Sie sich denn gar nicht denken, daß der Hund sich gar nicht losreißen konnte?“
Frau Weiß blickte noch erstaunter drein.
„Sie machen Einen durch Ihre Redensarten ganz confus,“ rief sie. „Tyras ist doch nun einmal losgekommen –“
„Ja, losgekommen, das ist ein ander Ding. Aber er hat die Leine nicht zerrissen, sondern –“ Der Alte unterbrach sich selbst, um aus seiner Tasche das Ende eines derben Strickes hervorzuziehen, das er der Kammerfrau vorhielt. „Sieht die Leine wie abgenutzt aus, Frau Weiß? he?“
„Nein, sie scheint mir in ganz gutem Stande zu sein.“
„Sehen Sie sonst nichts?“
„Ich gestehe, daß ich weiter nichts Bemerkenswerthes finde.“
„Natürlich. Sie haben eben keinen Hundeverstand, wie Unsereiner. Solch eine Leine zerreißen zwei Hunde, wie der Tyras, nicht.“
„Aber – „Er ist doch losgekommen, meinen Sie. Na, ich setze den Fall, ich nehme mein scharfes Taschenmesser heraus und feile und schabe damit tüchtig an der Leine herum, etwa so, auf und ab, so zerreißt sie natürlich an derselben Stelle, wenn dann der Hund einen plötzlichen Ruck thut.“
„Wäre es möglich? So hätte Johann den Tyras absichtlich losgelassen?“
„Natürlich, Frau Weiß. Er hat es geschickt genug angefangen, der Sappermenter, aber ich sah es doch sogleich. Bis hierher hat der Schurke geschabt.“
„Und Sie theilten diese Entdeckung Niemand mit?“
„Wem denn? Der Graf war ja so zornig, wie ein Puthahn, wenn gepfiffen wird. Ich hätte meine tüchtige Tracht Schläge weggehabt, ehe ich mich nur mit ihm auseinandersetzen konnte, und ging ihm deshalb aus dem Wege. Oder etwa meinem Herrn, der an nichts weiter denkt als an seine Lügengeschichten? Oder dem Präsidenten? Da wäre ich vollends an den Rechten gekommen; denn der gerade hat mit dem Johann diese ganze Suppe eingebrockt.“
Die Kammerfrau schlug die kleinen rundlichen Hände zusammen. „Nein, das muß ich meiner Comtesse erzählen. Aber warum haben Sie nicht wenigstens an den Domänenrath geschrieben?“
Der Alte lachte hell auf. „Das möchte etwas Schönes geworden sein. Meinen Sie, ich hätte seit dreißig Jahren eine Feder angefaßt? Aber jetzt gehe ich hinüber, und dann soll der Domänenrath Alles wissen, wenn er’s nicht schon an dem anderen Ende des Stricks erkannt hat. Schönen Dank für die Bewirthung, Frau Weiß, und behüte Sie der liebe Gott derweil!“
Der Alte erhob sich, nahm Mütze und Rock und schritt nach der Thür.
„Nun, so gehen Sie mit Gott und viel Glück auf den Weg!“ sagte Frau Weiß in herzlichem Tone. „Apropos, ließe sich denn nicht eine Besprechung zwischen meiner Erlaucht und dem Domänenrath ermöglichen?“
„Warum nicht, wenn die Comtesse nach Brandenfels käme?“
„Das schickt sich nicht für sie. Hartmann muß hierher kommen.“
„Daß er ein Narr wäre! Er soll sich wohl einstecken lassen? Haben Sie denn noch gar nicht gehört, daß der Domänenrath seit dem Unglückstage Tag und Nacht durch Spione des Präsidenten bewacht wird? Sobald er über die Grenze kommt, nehmen sie ihn fest.“
„Gerechter Himmel! Auch das noch! Was nur meine Comtesse zu allen diesen bösen Nachrichten sagen wird.“
Da der Kammerfrau die wichtigen Neuigkeiten wie glühende Kohlen auf der Seele brannten, so hielt sie ihren Gast jetzt nicht länger auf, sondern entließ ihn rasch mit einem freundschaftlichen Händedruck, um dann sofort zur Comtesse zu eilen. Christian aber ging mit festen selbstbewußten Schritten über den Schloßplatz und dann den Burgweg hinab, um von dort seine Wanderung nach Brandenfels anzutreten. Er bog rasch entschlossen um den Garten des Präsidenten herum in den geraden und schattenlosen Feldweg nach Brandenfels ein und hatte bereits eine kurze Strecke desselben zurückgelegt, als er plötzlich nahe vor sich aus dem Graben ein bäuerlich gekleidetes Menschenkind auftauchen sah, das dort in aller Gemüthlichkeit geruht hatte und nun den letzten Streifen Speck auf einem handhohen Stücke Schwarzbrod in den Mund schob.
Die so unerwartet erschienene Figur des Bauern muthete den Alten alsbald heimathlich an. Ja, solche hellblaue Röcke mit kurzen Taillen und blanken Knöpfen, mit Bauschärmeln und langen baumelnden Schößen, solche runde breitkrämpige Hüte und hohe braune Gamaschen trug man nur in Brandenfels. Beim Näherkommen erkannte denn Christian auch in dem langsam und bedächtig daherschreitenden Wanderer einen alten Bekannten.
„Ei schönen guten Tag, Hannehendrich!“ grüßte er den Bauer freundlich.
[412] „Schönen Dank, Herr Blümchen!“ erwiderte der Begrüßte höflich, indem er den Hut bis zur Erde herabriß.
„Na, woher kommt Ihr schon so früh?“ knüpfte der Alte weiter an.
„Iche? Wu ich här kumme? Nu, vun Brannfäls kumm ich.“
„Und wohin wollt Ihr, Hannehendrich?“
„Iche? Wu ich hen well? Nu, nach Schwalbenstein well ich.“
„I sieh da, nach Schwalbenstein also,“ rief Christian verwundert aus, als hätte er von dieser so naheliegenden Absicht des Hannehendrich bisher nicht die entfernteste Ahnung gehabt. „Und mit Verlaub, was führt Euch nach Schwalbenstein?“
„Wos ich do well, mein’n Se? Bi den Harrn Bedienten des Kammerpräsidenten well ich. Gucken Se, Härr Blümchen, Unsereins hat immer nur müß’ge Wäge und Stäge vun allen Dingen. Da ha’ ich neilich bi den Walde von Brannfäls en olles Mässer gefunden, das gehert dem nämlichen Härrn Bedienten, un nu muß ich dieserwägen den weiten Wäg vor nischt mache.“
„Ein Messer? Im Walde von Brandenfels?“ fragte Christian, der bei dieser Erklärung hoch aufhorchte. „Aber Hannehendrich, wißt Ihr denn auch gewiß, daß es dem Johann gehört?“
„Ob ich’s weiß? Nu, natürlich weiß ich’s. Ich un mi Schwoger Kaspar, mi honn’s ja sälbst gesinn, wie he’s verlur. ’s war neulich, wie unser Härr Graf nach Brannfäls kam. Ich wullte mit mi Schwoger in den Wald gih’ –“
„Um ein Bissel Holz zu mausen?“ ergänzte Christian lachend. „Nicht wahr?“
„Nee, nee, jo nich, bei Leib un Läben nich!“ wehrte der Alte eifrig ab. „Sagen Se so was nich, Härr Blümchen! Ich ging minner Seele mant zum Pläsire dorthen. Uf einmal kamb der Härr Graf. Heren Se, ich denke mich rihrt der Schlog vor Schräcken. Unn so kroch ich mit mi Schwoger hinger’n grußen Durnbusch. Do ho’ ich’s sälbst gesinn, wie der Härr Bediente mit dem Mässer an den Hunne sine Stricke rüm arbeit’te, weil wos nich in Ordnung wor, heren Se. Un nf einmol thot der Hund en Ruck, un do riß der Strick, un do log das Mässer in’n Wäge.“
„Zeigt mir’s doch einmal, Hannehendrich!“
Der Alte zog das Verlangte aus der Tasche und reichte es unserm Christian hin. Dann fuhr er fort:
„Der Härr Bediente ist deshalb schunt zweimal in Brannfäls gewäst, ich wor aber immer nich derheime; unn do hat he mich fer heite hiehär beställt. Gucken Se, do is he inn Gartenhause vun den Präsidenten. Nun winkt he schunt met den Tuche. Gäben Se mich das Mässer nu wedder, Herr Blümchen!“
„Das Messer? Nicht für eine Million!“ erklärte Christian sehr entschieden. „Laßt mir’s nur immerhin, Hannehendrich! Ich selbst will es dahin besorgen, wo es hingehört.“
Dann wendete sich der Alte nach dem Gartenhause zurück, und indem er mit der einen Hand das Messer, mit der andern die hervorgezogene Hundeleine hoch emporhielt, rief er mit Stentorstimme hinüber:
„Spazieren Sie doch näher, Herr Johann Schnabel! Hier steht ein prächtiger Baum zum Aufhängen, und da ist auch ein Strick dazu. Wenn Sie ihn auch ein Bissel durchgefeilt haben, einen Windbeutel trägt er immer noch. Unbesorgt, ich schneide Sie nicht etwa mit Ihrem Messer ab.“
Dann machte der Alte rasch kehrt und schritt, ohne sich um die Verblüfftheit Hannehendrich’s und das Winken und Händeringen des unglücklichen Johann im Mindesten zu kümmern, rüstig auf dem Wege nach Brandenfels weiter.
So sah er auch nicht, wie hinter Johann am Fenster des Gartenhauses die breitschulterige Figur des Präsidenten auftauchte und wie sich dann dessen schwere Hand auf die Schulter des tödtlich erschrockenen Dieners legte.
„Was bedeutet die Komödie dort?“ fragte Herr von Straff mit dem ehernsten Tone seiner harten Stimme. „Was sollte der Strick?“
„Der Strick? Welcher Strick, gnädiger Herr?“ stotterte Johann, dem augenblicklich selbst nicht die ärmste Nothlüge einfallen wollte.
„Ich will Ihm auf die Sprünge helfen. War das etwa ein Stück Hundeleine?“
„Gnädiger Herr –“
„Ich habe neulich wohl gesehen, daß Tyras ein Stück seiner Leine nachschleifte. Ich sah daraus schon, daß Er seine Sache ungeschickt angefangen, daß er, statt die Koppel zu lösen, den Strick auf irgend eine Weise zerrissen oder zerschnitten hat.“
„Es war mir allerdings nicht möglich, in der Eile den Verschluß zum Oeffnen zu bringen,“ erklärte Johann endlich. „Christian hatte den Tyras auf eine ganz eigenthümliche Weise gefesselt.“
„Wenn man ein Tölpel ist, so drängt man sich nicht zu solchen Dingen,“ fuhr der Präsident unbarmherzig fort. „Seinen albernen Rath habe ich ohnehin schon tausendmal verwünscht?“
„Aber es gab doch augenblicklich keinen andern Ausweg, gnädiger Herr,“ wendete Johann ein. „Wie sonst hätten wir die Zusammenkunft des erlauchten Herrn mit dem Domänenrath verhindern sollen?“
„Bah, statt dessen hätten sich wohl nachträglich Mittel gefunden, um das Unvermeidliche auf listige Weise wenigstens unschädlich zu machen. Es war ein allzu roher Gewaltstreich, der mir nur Schaden gebracht hat. Denn nun sitzt der Graf seit diesen acht Tagen zu Hause, mag ohne den vermaledeiten Hund nicht mehr ausreiten und beschäftigt sich dafür mit tausend anderen Dingen. Aus Langeweile hat er schon die Rechnungen unserer Kammer einsehen und die Acten über die Hainröder Erbschaft durchstudiren wollen. Doch das Alles kommt jetzt nicht einmal in Frage. Ich will nur wissen, ob Er auch zu allem Ueberflusse noch so entsetzlich albern und ungeschickt gewesen ist, den Rest der Leine in die Hände unserer Feinde fallen zu lassen. He? Wie steht es in dem Punkte?“
Die Augen des Dieners hatten ängstlich die unheimlichen Bewegungen verfolgt, welche der Präsident während dieser letzten Worte mit seinem starken Rohrstocke ausführte. Erst als der alte Herr sich wieder, scheinbar etwas beruhigt, auf das Rohr stützte, fand Johann den Muth zu einer Antwort.
„Ich bitte unterthänigst um Verzeihung, aber ich dachte –“
„Was dachte Er?“
„Daß das Fehlen der Leine Verdacht erregen könne. Ich hatte das Ding so geschickt angefangen, daß –“
„Die verdammte Leine bleibt stets ein Corpus delicti, an dem sich wohl dies oder jenes Verdachtsmoment wird entdecken lassen, zumal der Graf bis jetzt nicht völlig an das Zerreißen glauben mag.“
„Ich konnte mich aber doch unmöglich dem Christian widersetzen, als er die Leine von mir forderte? Er ist weit stärker als ich und hätte mich zwischen seinen groben Fäusten zermalmt.“
„Bah, ein guter Diener fürchtet sich auch vor solchen Dingen nicht, und ich wäre Ihm wohl zu rechter Zeit zu Hülfe gekommen. Ich an Seiner Stelle hätte den Strick lieber verschluckt als ihn ausgeliefert. Er ist ein alberner und feiger Mensch, den ich nächstens ohne Lohn zum Teufel jagen werde.“
„Das werden Sie wohl vorher noch überlegen, gnädiger Herr,“ entgegnete Johann, nun auch gereizt.
Die Augen des Präsidenten öffneten sich weit. Auf den Rohrstock gestützt, starrte er den frechen Burschen an, als ob derselbe zu seinem Staunen plötzlich kalmückisch oder chinesisch gesprochen hätte.
„Was sagt Er da? Ich verstehe Ihn nicht.“
Johann wurde durch die scheinbare Ruhe des Präsidenten diesmal völlig getäuscht und fuhr deshalb, um die Wirkung zu verstärken, in gleichem Tone fort.
„Ich meine, daß sich der gnädige Herr manches besonderen Dienstes erinnern wird, für den mir der Dank noch aussteht.“
„In der That. dessen entsinne ich mich jetzt,“ rief der Präsident, vor kochender Wuth kirschbraun im Gesicht. „Aber ich will Ihm diesen Dank gleich abstatten.“
Und ehe Johann sich dessen versah, hatte ihn die breite Hand des Herrn am Kragen gefaßt und zu Boden gedrückt, und nun sausten die Schläge des gefürchteten Rohrs hageldicht auf seinen Rücken nieder.
„Da hat Er meinen Dank!“ stöhnte der Präsident endlich athemlos, indem er den Gezüchtigten mit einem letzten Stoße gegen die Wand des Gartenhauses schleuderte. „Wenn Er noch mehr verlangt, so melde Er sich bei mir!“
„Hund! Hund! Das sollst Du büßen,“ zischte Johann, [413] während noch die Schritte des Gefürchteten auf der Treppe hallten. „Glaubst Du, ich sei wehrlos? Meinst Du, ich sei vergeblich so lange in Deinem Hause gewesen? Narr, armer hochmüthiger Narr! Gut, daß Du selbst mich an die Hainröder Erbschaft erinnerst. Ja, der Graf, er soll Alles –“ Die Wuth erstickte seine Stimme.
Der Präsident schritt inzwischen auf dem breiten Mittelwege seines Gartens dem Wohnhause zu, und die armen am Wege stehenden Blumen erfuhren dabei zu ihrem Schaden, wie heftig es noch immer in der Brust dieses gewaltigen Mannes wallte und kochte.
Der Präsident hatte indessen noch nicht den mittleren Querweg des Gartens erreicht, als sich die auf der Hofseite belegene Gatterthür öffnete und durch dieselbe ein hochgewachsener Mann in der Kleidung der gräflichen Forstbeamten eintrat. Beim Anblicke seines höchsten Vorgesetzten zog der Förster demüthig die Mütze und trat dann in höflich gebeugter Haltung näher.
„Was bringen Sie, Förster?“ rief ihm der Präsident entgegen.
„Der Herr Präsident entsinnen sich wohl des Befehls, den Domänenrath Hartmann sorglich zu überwachen?“ sagte der Förster. „Diesem hohen Befehle unterthänigst zu Folge –“
„Zur Sache! zur Sache!“ unterbrach ihn der Präsident ungeduldig. „Was haben Sie ermittelt?“
„Daß der besagte Domänenrath morgen früh sechs Uhr sein Gut verlassen und den Flecken Brandenfels betreten wird.“
„Sind Sie nur herübergekommen, um mir dies zu melden?“ fragte der Präsident in ungnädigem Tone. „Sie haben für diesen Fall meine Weisungen bereits in Händen und wissen, daß Hartmann durch alle Mannschaften der gräflichen Polizei, welche zur Stelle sind einschließlich der Forstleute, sofort verhaftet und hierher geliefert werden soll.“
Weiß wohl, Herr Präsident,“ entgegnete der Förster bedenklich. „Es ist nur – – ich meine – –. Der Domänenrath kommt nach Brandenfels, um in unserer Kirche zu communiciren.“
„Nun was thut das zur Sache?“ fragte der Präsident verwundert.
Ich meine, der Herr Präsident kennen die Brandenfelser,“ fuhr der Forstbeamte in gleich bedenklichem Tone fort. „Sie sind von grober, ungehorsamer Art und ich fürchte deshalb fast, daß unsere polizeiliche Macht nicht ausreichen wird, wenn es dem Volke darum zu thun ist, den Domänenrath zu befreien. Hartmann ist sehr beliebt, und die Gelegenheit, bei der wir ihn verhaften sollen, könnte die Gemüther besonders leicht reizen.“
Der Präsident schwieg mit gesenktem Haupte eine kurze Zeit.
„Ich werde dafür sorgen,“ fuhr er dann fort, „daß den Brandenfelsern diese ungehorsamen Gedanken gründlich ausgetrieben werden. Kehren Sie ruhig nach Hause zurück, sammeln Sie dort morgen früh Ihre Leute und erwarten Sie das Weitere! Adieu!“
Der Förster verneigte sich tief und verließ dann den Garten.
„Soll ich ihn morgen schon verhaften lassen, oder noch eine günstigere Gelegenheit abwarten?“ fragte sich der Präsident in halblautem Selbstgespäch, sobald die Gatterthür knarrend zugefallen war. „Bedenklich bleibt das Ding immerhin. Vor den Brandenfelsern freilich fürchte ich mich nicht im Geringsten. Im Gegentheil, ein kleiner Aufstand käme mir recht erwünscht. Aber der Graf? Wie wird er die Verhaftung beurtheilen, wenn sie bei einer solchen Veranlassung erfolgt? Erreiche ich am Ende etwas [414] Anderes, als ich durch den Gewaltact erreichen möchte. – Was willst Du? Was führt Dich jetzt hierher?“
Die letzten Fragen richtete der Präsident an seine Tochter, welche unerwartet aus dem Seitenwege an ihn herangetreten war.
„Ich habe in der Laube gesessen und Dein Gespräch mit dem Förster gehört,“ erklärte Hulda in einem Tone, der noch um einige Grade eisiger klang als gewöhnlich.
„Das heißt, Du hast gehorcht.“
Das Fräulein antwortete auf diesen Vorwurf durch einen Blick, der Alles, nur nicht kindliche Ehrerbietung ausdrückte.
„Ich wollte im Gegentheil, ich wäre heute etwas schwerhöriger,“ sagte sie dann mit einer leisen Neigung des schönen Hauptes nach dem Gartenhause hinüber. „Aber Du behandelst heute alle Fragen so ungewöhnlich öffentlich –“
„Was soll das Geschwätz? Was willst Du?“
„Dich nochmals warnen. Du betrittst eine gefährliche Bahn.“
„Ich habe schon einmal Deinen gütigen Rath höflich dankend ablehnen müssen,“ erwiderte Herr von Straff mit kaltem Hohne. „Auch ich bin ein Arzt meiner Ehre und liebe kräftige Mittel. Der Graf, die Comtesse, der ganze Hof glauben nun einmal, daß Dir der Junker zu Gunsten dieser Mamsell Hartmann das Wort gebrochen hat. Bist Du ein solcher Eisball, um die Nothwendigkeit einer genügenden Rache nicht zu empfinden, so will ich an Deiner Stelle –“
Die junge Dame unterbrach ihren Vater.
„Halt ein!“ rief sie. „Du wirst mir erlauben, an dieses Possenspiel nicht mehr zu glauben. Du verschwendest nunmehr vergeblich Deine Worte.“
„Was soll das heißen?“
Hulda zog aus ihrer Tasche den bewußten rosenrothen Briefbogen. „Kennst Du diesen Brief?“ fragte sie dann. „Willst Du noch bestreiten, daß alle diese Ränke aus einem ganz anderen Grunde angesponnen werden, als Du angiebst? Willst Du leugnen, daß Du nicht um meinetwillen, sondern aus Eifersucht Rache brütest?“
Der Präsident schwieg nur einen Augenblick betroffen.
„Woher hast Du diesen Brief?“ rief er dann. „Durchwühlt man auch meine Papiere? Her das Papier, sag’ ich!“
Hulda reichte den Brief gelassen ihrem Vater hin, der ihn sofort zerriß.
„Wozu die Leidenschaft?“ bemerkte das Fräulein. „Daß wenigstens ich ruhig bin, siehst Du wohl klar daraus, daß ich dieses Schriftstück, das ich übrigens ganz zufällig unter Deinen Zeitungen fand, seit einer Woche in der Tasche trage, ohne es Dir gegenüber zu benutzen. Nun hat es seinen Zweck erfüllt und –“
„Welchen Zweck?“
„Mich über Deine rücksichtsvolle väterliche Zärtlichkeit vollends aufzuklären.“
„Wenn ich Dir nun aber sage, daß dieses Papier nur einen Scherz, gewissermaßen nur eine Stylprobe enthalte, daß nie ein Brief dieses Inhalts an diese Adresse abgegangen sei?“
„Das wirst Du nicht sagen wollen, denn ich weiß auch ganz zufällig, aber völlig sicher von der Comtesse selbst das Gegentheil, und ihr glaube ich in diesem Punkte mehr als Dir.“
Der Präsident stampfte ingrimmig mit dem Fuße und wandte sich dann schweigend dem Ausgange des Gartens zu.
„Noch ein Wort,“ rief ihm Hulda nach. „Ich möchte Dir sagen, daß ich fest entschlossen bin, keine weiteren Beeinträchtigungen meiner Ehre zu dulden. Es soll Niemand glauben, daß diese abscheulichen Ränke gesponnen werden, weil ich das Glück der Mamsell Hartmann eifersüchtig beneide. Ich bin fest entschlossen, Vater. Täusche Dich nicht!“
„Was heißt das?“
„Wenn Du mir nicht hier auf der Stelle versprichst, jede feindselige Maßnahme gegen den Domänenrath und seine Tochter sofort einzustellen, so schwöre ich Dir bei meiner Ehre, daß ich noch in dieser Stunde die Comtesse und dann den Grafen selbst über die ganze Sachlage aufklären werde.“
In den Augen des Präsidenten leuchtete ein gefährliches Feuer auf, aber er bezwang gewaltsam seinen Grimm.
„Hier ist wohl nicht der Platz, diese wichtige Frage zu behandeln,“ sagte er dann scheinbar ruhig. „Wir haben vielleicht auch feinhörige Nachbarn, die ich nicht zu Zeugen unseres Gesprächs machen möchte. Ist es Dir also gefällig, so besprechen wir das Weitere oben im Zimmer.“
Hulda verneigte sich zustimmend und verließ mit ihrem Vater den Garten. Schweigend gingen beide durch den Hausflur und die Treppe hinauf. Dort öffnete der Präsident die Thür eines kleinen Hinterzimmers und lud seine Tochter durch eine Bewegung ein, näher zu treten.
„Warum hier?“ fragte die junge Dame kurz.
„Weil ich diesen Platz für den sichersten halte,“ entgegnete der Alte bestimmt.
Hätte das Fräulein ihren Vater bei diesen Worten angesehen, so würde der tückische Blick seiner grau-grünen Augen sie vielleicht gewarnt haben. Aber sie dachte an keine Gefahr und merkte daher erst, als die Thür hinter ihr zugeschlagen und verschlossen wurde, daß sie eine Gefangene sei.
„Nun gehe zur Comtesse und zum Grafen!“ rief ihr der Alte höhnisch zu. „Merkst Du nun, daß man meine Pläne nicht ungestraft durchkreuzt? Nur fein ruhig, meine Tochter! Ich werde sorgen, daß Du Deiner Haft entlassen wirst, sobald Du mir nicht mehr schaden kannst. Adieu!“
Der Präsident zog den Schlüssel des Zimmers ab und stieg dann die Treppe wieder hinab, um in seinem Zimmer Toilette zu machen und das Haus zu verlassen.
Daß Victor Emanuel in Rom noch gar manche Schwierigkeiten zu überwinden hat, vermag man leicht zu erkennen, und wenn auch die vielen und umfassenden Neubauten auf dem Terrain des Quirinals den höchst erfreulichen Beweis davon ablegen, wie der König von hier aus seine Wohnung gewiß nicht mehr zu verlassen gedenke, sondern sich vielmehr in derselben so häuslich wie möglich einzurichten bestrebt sei, so mag er doch auch – wie sein Volk – nicht wenig unter den Bitterkeiten und Verdrießlichkeiten leiden, mit welchen ein Uebergangsstadium noch immer verknüpft gewesen ist.
Der römische Adel, die römischen „Fürsten“ sind zum größten Theile päpstlich gesinnt und halten sich vom königlichen Hofe und seinen Festen mit nur wenigen Ausnahmen fern. Einige haben sich sogar von ihrer Abneigung gegen den neuen Zustand der Dinge so weit hinreißen lassen, daß sie, seit die Buzurri, wie der Römer spottweise die Piemontesen nennt, in Rom sind, ihre Paläste und selbst ihre Gärten geschlossen haben, die sonst dem Fremden wie dem Einheimischen zum Besuche und Genusse gleich bereitwillig geöffnet waren. Eine ergötzliche Geschichte erzählt man sich dabei von dem Fürsten Borghese, der sich seiner Zeit gleichfalls ganz unwiderstehlich von der Lust angewandelt fühlte, eine ähnliche papstfreundliche Demonstration in Scene zu setzen und seine berühmte Galerie, nach dem Vatican die bedeutendste in Rom, sowie die nach ihm benannte Villa vor der Porta del Popolo fortan geschlossen zu halten. Die italienische Regierung aber bekam zur rechten Zeit Wind davon und erinnerte sich auch ebenso rasch daran, auf welche eigenthümliche Weise, wie männiglich bekannt, das Haus Borghese seiner Zeit in den Besitz eben dieser Kostbarkeiten, um die es sich hier handelte und deren Genuß fortan dem Publicum neidvoll entzogen werden sollte, gekommen sei.
Das vor dem Thore del Popolo gelegene, über eine [415] Quadratmeile große Grundstück, dessen Terrain gegenwärtig von den herrlichsten Parkanlagen bedeckt ist, gehörte nämlich früher jener Familie Cenci, die durch den tragischen Tod der von Guido Reni mit vollendeter Meisterschaft gemalten Beatrice eine so traurige Berühmtheit erlangt hat. Clemens der Achte war es gewesen, der die des Vatermordes fälschlich angeklagte Jungfrau zugleich mit ihrer Mutter enthaupten ließ; ihr Bruder ward mit einer Keule erschlagen. Ein Proceß aber, den die überlebenden Glieder der Familie einige Jahre später bei dem Papste Paul dem Fünften anstrengten, um eine nachträgliche Unschuldserklärung zu erlangen, wurde abgewiesen; denn Paul der Fünfte hatte die Besitzungen der Familie Cenci bereits in die Hände seines Nepoten, des Cardinals Scipio Borghese, gegeben und war nicht Willens, dieselben, wie er nach einer nachträglichen Unschuldserklärung der Cenci hätte thun müssen, wieder auszuliefern. Auf diese Weise blieb der Besitz thatsächlich bei den Borghese, wenngleich die Nachkommen der Familie Cenci auch späterhin die Rechtmäßigkeit desselben so wenig anerkennen wollten, daß, wie man erzählt, ein in Paris lebender Marchese Cenci noch bis in die letzten Jahre durch seinen Advocaten an jedem ersten Januar eine feierliche Protesterklärung gegen das Eigenthumsrecht des Fürsten Borghese bei diesem in Rom überreichen ließ.
Wie dem nun sei, die Regierung soll sich dieses Zusammenhanges der Dinge zur rechten Zeit erinnert und dem Fürsten Borghese angedeutet haben, daß sie bei der von ihm angedrohten Schließung der Galerie und der Gärten vielleicht Anlaß haben werde, auf denselben eingehender zurückzukommen. Der Fürst aber soll darauf seine feindliche Absicht sofort aufgegeben haben, wie denn die Thüren seines herrlichen Palastes und die Thore seines großartigen Parkes auch heute noch zum Nutzen und Frommen aller Derer weit offen stehen, denen Kunst und Natur immer neue Quellen höchsten Genusses und reichster Freude sind.
Zeigt der römische Adel sich dem neuen Könige gegenüber zurückhaltend und spröde, so jammert ein großer Theil des Volkes um die Fleischtöpfe der päpstlichen Regierung, die ihm verloren gegangen sind, und klagt über die Steuern, die sich dagegen um das Fünffache gesteigert haben. Zu dem idealen Troste, daß dafür Italia una hergestellt sei, vermag sich der Bettler in Lumpen nur schwer aufzuschwingen, und er denkt voll Sehnsucht an die vielen Klöster zurück, deren Thore sich um die Mittagszeit einst gastlich öffneten, ihn mit hundert Anderen für den Tag reichlich zu speisen und zu sättigen, und die nun geschlossen sind für immer. Wozu brauchte er damals zu arbeiten? Niemand verlangte das von ihm. Am Tage leuchtete ihm die Sonne, in der er sich so faul wie behaglich auf den Steinen der nächsten Treppe ausstreckte; für die Stillung des Hungers sorgten die freundlichen guten Mönche, für den Durst die paar Soldi, die er sich von den Vorübergehenden gelegentlich in seinen alten Hut hatte werfen lassen; ein Nachtquartier bot das Portal der benachbarten Kirche, und wenn er ja den unglücklichen Einfall gehabt haben sollte, sich in einer leichtsinnigen Stunde Familie anzuschaffen, so lag es noch immer im Bereiche der Möglichkeit, den einen oder den andern der überflüssigen, umherlungernden Rangen in eben demselben Kloster unterzubringen, das schon so oft in der Noth geholfen hatte und das demselben als Bruder oder gar als wirklichem Priester ein behagliches Dasein verhieß. Körperlich oder gar geistig brauchte er sich weder für den einen, noch für den andern Fall anzustrengen – o, die schönen, guten alten Zeiten!
Die Bettelei, schon von jeher für den Reisenden eine der größten Plagen in Italien, hat in den letzten Jahren bedeutend zugenommen: Männer, Frauen, Kinder, in einer Weise zerlumpt und zerfetzt, die man in Deutschland kaum für möglich hält, wenden sich unausgesetzt mit klagender Stimme und mit erhobenen Händen an die Mildthätigkeit der Vorübergehenden, und dabei deuten die elenden, erbärmlichen, ausgehungerten Gesichter auf einen wirklichen Nothstand hin. Man wird leicht beobachten können, daß der Fremde viel weniger giebt und viel schwieriger in die Tasche langt, als der Einheimische. Er freilich, in welchem der Bedürftige immer einen reichen Engländer vermuthet, ist der Zudringlichkeit des Bettelnden vor Allen ausgesetzt, und daß schon die kleinste Kupfermünze genüge, der lästigen, jammernden widrigen Begleitung sofort loszuwerden und dabei noch in der Regel ein sehr freundliches mille grazie zu erhalten, daran denkt er nicht. Am ersten denkt er noch an seinen Bädecker oder Murray, die ihn bereits eindringlich vor der Unverschämtheit der römischen Bettler gewarnt haben, oder er eilt, überhaupt aus der Nähe solcher Menschen zu kommen, deren Anblick lebhafter und schneller noch den Ekel erregt, als das Mitleid, und Einem in der That leicht genug die Laune oder doch den Appetit für den ganzen Tag verderben kann. Der Römer selbst giebt um so rascher, und diese Thatsache fällt darum schwer in’s Gewicht, weil doch gerade er am besten wissen muß, ob der Bettelnde der Gabe wirklich bedürftig ist oder nicht.
Die Quästur Roms erkennt, daß die Bettlerfrage für sie eine brennende geworden ist, und kündigt die strengsten Maßregeln mit der Bemerkung an, sie beabsichtige die nicht römischen Bettler in ihre Heimath zu schicken; von den einheimischen solle eine Liste angefertigt und ihre Unterbringung in die Hospizien veranlaßt werden. Die Zeitungen antworten achselzuckend mit der Frage: in welche Hospizien?
Auch die Wohnungsfrage giebt dem Municipium der Stadt ein Räthsel um das andere auf. Obwohl sich die Stadt in den letzten Jahren gewaltig gereckt und gestreckt hat, namentlich in der Richtung nach dem Macao, nach dem alten Prätorianerlager hin, wo ganze Quartiere, freilich vom langweiligsten Aussehen, neu entstanden sind, scheint man doch nicht genug auf einen so bedeutenden Zuwachs der Bevölkerung gefaßt gewesen zu sein, wie er in Wirklichkeit eingetreten ist. Dazu kommt, daß der geborene Römer an den geschaffenen neuen Quartieren kein Gefallen findet; er selbst verläßt nur ungern oder gar nicht die finstern Häuser und engen, krummen Straßen, in denen er geboren ist und die den Kern der Stadt bilden, und überläßt es den Buzurri, die neuen Häuser auf dem Viminal trocken zu wohnen.
Kurzum, die Bevölkerung hat sich vermehrt, die Abgaben haben sich vermehrt, nicht aber die Hülfsquellen und die Hülfsmittel. Es ist eben eine alte Wahrheit, daß Rom viel verzehrt, aber nichts producirt. Dieses System war erträglich, so lange die geistlichen Sporteln, die Annaten, die Dispens- und Palliengelder, die Almosen der gesammten Welt nach Rom flossen und der gesammten Bevölkerung ohne Weiteres zu Gute kamen. Jetzt, da sie sich allein und nur in den unersättlichen Cassen des Vaticans und des Papstes concentriren, tritt der wirkliche Nothstand immer leibhaftiger zu Tage und wird sich, bis wirkliche und energische Abhülfe geboten werden kann, beständig vermehren. Ja, die schönen, guten alten Zeiten!
Es braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden, wie materiell die Gründe sind, aus denen der Römer sich von dem neuen Stand der Dinge abwendet und nach dem Regimente des päpstlichen Krummstabes bis Dato sich noch zurücksehnt. Das ist nicht Anhänglichkeit an Pio den Neunten oder gar religiöser Trieb, was ihn das neue Regiment mit scheelen Augen betrachten läßt, sondern das ist einfach das Gefallen am behaglichen Wohlleben, das man ihm vergällt hat und dessen freundliche Erinnerung ihn noch fortwährend begleitet. Der religiöse Trieb spielt so gut wie gar keine Rolle dabei. Ich selbst habe bis jetzt wenigstens noch in keiner katholischen Stadt die Feier der Charwoche und das Fest der Ostern von Seiten der Bevölkerung mit solcher Theilnahmlosigkeit begangen gesehen, wie gerade in Rom. Was sich in den Kirchen umherdrängte, waren fast ausschließlich Fremde, die um jeden Preis etwas Neues sehen oder hören wollten, und allein bei den Predigten in der früheren Jesuitenkirche del Gesù habe ich wirkliche Massen römischen Volkes versammelt gesehen.
Ich war, um aus Vielem nur Eines hervorzuheben, während der Charwoche auch in San Maria Maggiore, bekanntlich eine der ersten und prächtigsten Kirchen Roms. Ich fand dieselbe fast ganz leer; nur vor der Seitencapelle dicht neben dem imposanten Marmorbau mit Sixtus des Fünften Grabmal, in welcher die Bretter der Jesuskrippe aufbewahrt sind, die an diesem Tage zur öffentlichen Verehrung ausgestellt sein sollten, knieete eine Schaar frommer Beter, merkwürdiger Weise lauter Männer. Als ich näher kam, fand ich, daß in diesem Häuflein Gläubiger offenbar die Bauernflora der römischen Campagna vertreten und dargestellt sei – Kerle, wie die Banditen, schwarzbärtig, wettergebräunt, zerlumpt, schmutzig, mit trotzigen Blicken und nur
[416] in die Stadt gekommen, um hier, umwirbelt vom Weihrauchqualm, den Krippenbretter ihre Hochachtung zu bezeigen.
Ich weiß nicht, auf welches Zeugniß und Beweismittel sich die hochwürdigen Herren von San Maria Maggiore stützen, wenn sie behaupten, daß dies die echten und wahrhaftigen Bretter der Jesuskrippe seien. Wenn sie es aber sind und wenn der Tisch echt ist, der im Lateran gezeigt wird und an welchem Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl genommen haben soll, und wenn alle die anderen heiligen Dinge echt sind, welche in diesen Tagen der Charwoche in all den verschiedenen Kirchen Roms, deren jede sich ihres besonderen Schatzes rühmt, zum Heranlocken der Gläubigen ausgestellt werden: müßte das Volk dann nicht zu vielen Tausenden herbeieilen, müßte es dann an dem Tage, da der Stifter der christlichen Religion, da der leibhaftige Sohn Gottes zum Heile der in Sünde untergegangenen Menschheit den furchtbaren Tod des Kreuzes auf sich nahm, müßte das Volk dann nicht an diesem Tage zu Tausenden wehklagend und mit zerrissenen Kleidern zu den heiligen Stätten eilen? müßte es nicht, ganz von Zerknirschung erfüllt, Trank und Speise vergessend, jede Minute in der Nähe dieser kostbaren, seltenen, einzigen Gegenstände zuzubringen suchen, so lange sie von den Priestern dem verlangenden Blicke der Menge dargeboten sind? Müßte es nicht –? Aber freilich, es ist ein altes Wort: Je näher an Rom, desto schlechtere Christen, und da kann denn beispielsweise selbst der beharrliche Götzendienst, mit welchem Andere bemüht sind, den schon längst platt geküßten Fuß der Erzstatue Petri in Sanct Peter durch ihre eigenen Küsse noch unförmlicher zu machen, kaum in’s Gegengewicht fallen. Man weiß nicht, ob dieses wahnwitzige Gebahren mehr Abscheu oder mehr Mitleid erregt; ein bischen Komik war aber für mich auch immer dabei, wenn ich sah, wie jeder Herantretende vor Allem aus seinem Sacke wohlbedacht ein äußerst schmutziges Taschentuch zog, mit demselben erst den Kuß seines Vorgängers von Sanct Petri Fuß fein säuberlich abputzte und dann seinen eigenen feierlichst darauf drückte. In demselben Augenblick hatte aber auch der nach ihm Kommende seinerseits schon wieder sein schmutziges Taschentuch in der Hand und so nahm das Putzen und Küssen, Küssen und Putzen immer in ungestörter Reihe seinen schönen Fortgang.
Ob der Römer durch die Noth der Zeit lernen wird, zu arbeiten? Ein gutes Beispiel würde er jetzt an den Piemontesen, überhaupt an den Oberitalienern haben, die ein thätiges, arbeitsames Volk sind und deren Frauen selbst in Rom gern gepriesen werden, ob des tüchtigen Wesens, mit welchem sie in ihrem Hause schalten und walten. Aber vor Allem: der Römer mußte zuerst einsehen lernen, daß die Arbeit Ehre giebt. Statt dessen besitzt er eine unendliche Verachtung der Arbeit, sieht, wenn auch in Lumpen gehüllt, auf diese vornehm herab und fühlt sich, auf den Straßen und Plätzen umherlungernd und seine so sehr geringen Bedürfnisse mit Wenigem befriedigend, ein freier Mann. Aber auch sonst besitzt der Römer – von dem Neapolitaner, der ihn hierin womöglich noch übertrifft, will ich gar nicht reden – einen ausgeprägten Hang zu dem, was man in Deutschland „Bummeln“ nennt. Es ist ganz unglaublich, was die Bevölkerung Roms hierin leistet und wie unermüdlich sie darin ist, den ganzen Tag unthätig durch die Straßen zu flaniren oder sich in süßem Nichtsthun in holdem Sonnenscheine stundenlang an die nächste Straßenecke, an den ersten besten Thürpfosten zu lehnen oder wenigstens zum Fenster hinauszuschauen.
Die Piazza della Colonna ist der Mittelpunkt dieses müßigen Treibens. Dort stehen die Römer von früh bis zum späten Abend in hellen Haufen umher, schwatzend, lachend, schreiend, rauchend, Zeitungen lesend und alles Vorüberkommende mit dem größten Interesse musternd. Kein Stand, der nicht vertreten wäre, vom feinen Elegant bis zum schmutzigen Campagnolen, friedlich durcheinander gemacht und nur von dem einen gemeinsamen Triebe erfüllt, die Zeit möglichst nutzlos todtzuschlagen. Die Officiere müssen hier als Feldherren geboren sein. Denn wenn sie es nicht wären, müßten sie doch etwas zu lernen suchen, um es zu werden. Auf der Piazza della Colonna ist aber wahrhaftig keine Gelegenheit zu strategischem Studien. Dazwischendurch rasseln Equipagen und Droschken, schieben Orangenverkäufer mit lautem Geschrei ihre duftende Frucht auf langen Karren, schleppen kreischende Fischweiber und Austernhändler in schmalen Körben ihre Waare, rennen mit gellendem Rufe die Zeitungsverkäufer, drängen sich mit ihren Brettern die unvermeidlichen Ceriniverkäufer, die Händler mit Antiquitäten, mit Büffelhörnern mit Photographien, mit Regenschirmen, mit Blumensträußen u. s. w. Leicht genug wird man sich freilich bei all diesem bunten Spectakel und bei dem täglichen Anblick so vieler Müßiggänger daran erinnern, daß zurückgezogenes Leben im eigenen Hause oder gar in einem Geschäftslocale schon den alten Römern etwas durchaus Fremdes war. Man lebte schon damals fast so viel, oft noch mehr außer, als in dem Hause. Diese Gewohnheiten sind offenbar heute noch die nämlichen geblieben; nur sind an die Stelle des tempelreichen Forums und der leuchtenden Säulenhallen die schmucklosere Piazza della Colonna oder Piazza Sciarra getreten und die marmorstrahlenden, statuengeschmückten Bäder, in denen sich früher der römische Bürger auf der Jagd nach Neuigkeiten ganze Tage lang müßig umhertrieb, hat das heutige Geschlecht durch kahle Barbierstuben und nicht viel schönere Caféhäuser ersetzt.
Der Römer ist im gewöhnlicher Leben von gefälligem Wesen, freundlichem Sinne, artigen Manieren; seine rasche Auffassungsgabe, sein Verstand sind schon oft gepriesen worden. Aber mit beiden geht es ihm, wie mit seinen Campagnagründen, die öde, brach und nur als Weideland benützt daliegen, während sie bei einigem Fleiße den besten Ackerboden geben würden. Freilich haben auch an diesem letzteren Uebelstande die staatlichen Verhältnisse bisher die meiste Schuld getragen, und eine Veränderung zum Besseren ist unter der neuen Gesetzgebung des Landes auch hier zweifellos zu erwarten. Der Römer ist auch gutmüthig, nur kann er den Spott nicht vertragen der sofort die ganze Heftigkeit des südlichen Temperamentes entfesselt. Die Haltung des Römers, seine Bewegungen sind voll Anstand, und ich habe manchen Strolch bewundert, den ich faul an ein Haus in der Via Sistina oder auf der Piazza Barberini gelehnt fand, den spitzen Hut keck auf dem kraushaarigen Kopfe, den schwarzen Mantel um die Schulter geschlagen, daß das grüne Futter hervorleuchtete, und den rechten Arm gegen die linke Schulter soweit emporgehoben, daß die Hand offen auf dem Saume des Mantels ruhte. In dieser Haltung, ja schon im bloßen Faltenwurfe des Mantels lag oft gar viel Vornehmes und Selbstbewußtes und es war nicht schwer, selbst in solch’ einem nichtsnutzigen Tagedieb aus der Hefe des Volkes noch eine echt classische Reminiscenz zu finden.
Und da mag es denn gleich hier bemerkt sein, daß gerade dieser eminente Hang zum Schlendern und Nichtsthun, der im römischen Volke steckt, daß gerade er dem öffentlichen Leben jene Behaglichkeit und Sorglosigkeit giebt, die auf den Fremden so äußerst wohlthätig wirken. In den anderen Hauptstädten Europas werden die Nerven allein schon durch den Anblick dieses ewigen, ruhelosen, rastlosen Hetzens, Jagens und Rennens nach Geld und Gewinn aufgerieben; in Rom rollt das Leben in schönem Gleichmaße hin, farbenreich, bilderreich, aber voll Ruhe und voll glücklichen Behagens. Nichts erinnert hier an die moderne „Jagd nach dem Glücke“, und wenn nur des Himmels wunderbares Blau freundlich niederstrahlt auf die Paläste und Kuppeln der ewigen Stadt, wenn nur die goldene Sonne verklärend auf den gigantischen Trümmerresten des alten Rom liegt und auf den immergrünen Gärten mit ihren Palmen, mit ihren Lorbeerwäldern und Orangenhainen – dann sind für den Römer und für den Fremden die besten und vornehmsten Wünsche schon erfüllt.
Ich las neulich in einer französischen Zeitung, „Le courrier de la Meurthe“, eine abenteuerliche Lebensbeschreibung des Mr. Gerstequé, eines „célèbre voyageur allemand“. Ueber seine bewegte Vergangenheit wurde zunächst mit, so scheint es, freier Umdichtung eines unlängst in deutschen Blättern erschienenen Artikels etwa Folgendes berichtet: Gerstäcker – denn der war unter jenem Namen Gerstequé unbedingt gemeint – sei als geborener Hamburger mit Leib und Seele Republikaner
[417] gewesen und habe deshalb den preußischen Druck, wie derselbe seit Olim’s Zeiten von dem ganzen Norden Deutschlands nur mit Widerwillen ertragen worden, vor Allem unleidlich gefunden. Früh schon in politische Verbindungen hineingeraten, sei er zu wiederholten Malen bei kleinen Aufständen betheiligt gewesen, und da er seit den Freikugelzeiten Max’ und Caspar’s für den letzten Bewahrer jenes Kugelspruchs gegolten habe, der durch Weber mit so viel Glück in Musik gesetzt worden sei, so könne es nicht befremden, daß die Könige von Preußen den Namen Gerstequé nie nennen hörten, ohne zu zittern. Glücklicher Weise „für diese argen Verbrecher“ habe der kühne Republikaner eine große Leidenschaft für die Jagd gehabt. Diese Leidenschaft zu befriedigen sei ihm ein dringenderes Bedürfniß gewesen, als nach Art Wilhelm Tell’s sein Volk vom Tyrannen zu befreien und so habe er denn dem geknechteten Vaterlande den Rücken gekehrt und sei nach dem Lande der Freiheit ausgewandert.
Was er dort Alles getrieben habe, wird nun mit schöner Farbengebung erzählt. Dann erfahren wir, daß Bonn-San-San, der König der Fidschi-Inseln, ihn mit dreien seiner zierlichen Töchter vermählt, – französische Romantiker malen bekanntlich nicht mit dem Pinsel, sondern gleich mit dem Spachtel – daß die Leidenschaft der Fidschi-Insulanerinnen aber die Eifersucht sei, und daß ein häuslicher Conflict der verworrensten Art den Schwiegersohn des Fidschi-Königs eines Tages vor die furchtbare Wahl gestellt habe, seiner besonders eifersüchtigen jüngsten Gattin zu Gefallen ihre Schwestern, seine beiden älteren Gattinnen, mittelst Freikugeln zu beseitigen, oder aber sich scalpiren zu lassen. Unfähig, sich jener Schändlichkeit schuldig zu machen, habe er, von den Anhängern seiner jüngsten Gattin übermannt, sich bereits dem Scalpmesser preisgegeben, als unverhofft der Eintritt einer Sonnenfinsterniß plötzlich die scheußliche Ceremonie unterbrochen und dem Opfer Gelegenheit gegeben habe, sich mit einem beträchtlichen Reste von Stirnhaut zu retten. Seine „fameuse“ hohe Stirn und der Mangel an Haaren auf dem oberen Theile seines Kopfes wurden als Folge dieser Mißhandlung bezeichnet.
In dieser Weise ging die Erzählung fort, nicht ohne immer den Faden wieder nach der Seite des preußischer Thrones hinüber zu spinnen und die Anstrengungen zu schildern, welche von den Hütern desselben gemacht worden seien, um den letzten Bewahrer des Freikugelspruchs in der Tropenwelt oder doch jenseits der Linie zurück zu halten. In Bezug hierauf hören wir von Anschlägen, welche an die Abenteuerlichkeiten des Theaters der Porte St. Martin gemahnen, so z. B. von einem Versuche, ihn in Botany Bay zu interniren, vorgeblich als Missethäter, da ein ihm äußerlich ähnliches Subject ausfindig gemacht worden sei, das man hatte verschwinden lassen und dessen man nun wieder in der Person des Mr. Gerstequé habhaft geworden sein wollte.
Die ganze australische Reise Gerstäcker’s wird bei dieser Gelegenheit kurz skizzirt, doch statt Jagd zu machen, wird er gejagt, nämlich von preußischen Spionen, welche den vermeintlichen Missethäter einfangen sollen, da die achtbare Polizei der Colonie zu dieser Unthat die Hand zu leihen nicht zu bewegen gewesen sei.
Endlich wird das Netz, in welchem man den Unerreichbaren zu fangen hoffte, zur Schlinge für seine Verfolger. Mit den Bodenverhältnissen Australiens genau vertraut und durch eine lange Gewöhnung mit einem kameelartigen Magen ausgestattet, lockt Mr. Gerstequé jene Spione tiefer und immer tiefer in das wasserarme Innere des Landes, und als sie zuguterletzt dem Durste erliegen, macht er selbst von einer Geheimkunst Gebrauch, welche ihm ein Weiser im Lande der Azteken verrieth: durch Ueberschlucken der Zunge nämlich sich in eine Art von Siebenschlaf zu versetzen, während welches der Körper, wie derjenige der Thiere zur Zeit ihres Winterschlafs, mit seinen sämmtlichen Functionen feiert.
Natürlich erwacht er solcher Art erst wieder, als der Eintritt der Regenzeit seinen Schlummer stört. Sofort bemächtigt er sich der Papiere, welche sich in den Taschen der inzwischen zu förmlichen Mumien eingetrockneten Spione befinden, und begiebt sich, mit diesen wichtigen Documenten bewaffnet, auf die Heimreise nach Europa.
Dort ist inzwischen der Krieg mit Frankreich ausgebrochen. Das schöne Frankreich ringt auf Tod und Leben mit den Barbarenhorden, die ihm Alles nehmen, was es an Pendeluhren besaß, und die selbst die heilige Republik, zu welcher man zurückkehrte, nicht als eine genügende Lösung gelten lassen wollen.
Daß Monsieur Gerstequé als Republikaner sich jetzt auf Seite des schönen Frankreich stellt, ist selbstverständlich. Aber vor Allem muß er die Krone Preußens in seiner persönlichen Angelegenheit zur Rechenschaft ziehen. Wo sind die Verantwortlichen zu finden? Berlin ist so leer, wie ein Bienenkorb zur Schwarmzeit. Also auf nach Versailles!
Wieder wird hier nach deutschen Quellen mit einiger Genauigkeit die Spur Gerstäcker’s zur Zeit seiner Reise um Paris verfolgt. Natürlich hat er seine Büchse bei sich, nicht minder seine Tasche mit Bleikugeln. Gehüllt ist er in ein „australisches Löwenfell“, vermuthlich ein Beutestück aus den Träumen seines Siebenschlafs, da in Wirklichkeit Australien ja von reißenden Thieren frei ist. Als er Versailles in diesem „republikanischen Costüm“ erreicht, beginnt die Polizei sich seiner erst wieder zu erinnern. Große Aufregung in der Rue des Réservoirs und an allen Enden. Er besucht einen deutschen Herzog, der nun seinerseits unter polizeiliche Aufsicht gestellt wird. Dann wird in dem Quartiere des Löwenritters Haussuchung gehalten; Büchse und Kugeltasche werden conficirt; nach den Documenten sucht man jedoch vergebens. Diese trägt der Verfolgte nämlich immer bei sich, und da die allgemeine Furcht vor ihm jedes Handanlegen unmöglich macht, sind die Papiere solcher Art auch am sichersten geborgen. Dennoch begreift es Gerstequé, daß sie dort nicht bleiben können, daß ihr Zweck ein anderer ist als zwischen Büffel-Koller und Känguru-Camisol unthätig auf dem Posten zu liegen. Sie müssen an die Oeffentlichkeit gebracht werden, an die große, an die ganz große Oeffentlichkeit. Diese verleiht nur ein Punkt des Weltalls, das Gestirn der Welt – Paris. Dort in’s volle Licht gestellt, wird die Wahrheit die weiteste Verbreitung finden. Also hinein nach Paris und zwar zum Exherzoge von Braunschweig, auch einem alten Freunde Monsieur Gerstequé’s.
Von diesen Punkte an hüllt sich der Erzähler in den Mantel des zwar Eingeweihten, aber Verschwiegenen. Mit einigen Seitenblicken auf den Proceß Arnim wird geheimnißvoll angedeutet, daß die Zeit, um den weitern Verlauf jener andern Angelegenheit zu enthüllen, noch nicht gekommen sei. Der plötzliche Tod Monsieur Gerstequé’s in Braunschweig – eine zum Erzherzogthume Hannover gehörige Stadt – und derjenige des Exherzogs von Braunschweig in Genf beschließen die unsinnige Farce. – Ob sie nicht der Vorläufer eines Mysterienbuches zu sein bestimmt war, vermag ich nicht zu sagen. Daß der Stoff für französische Leser nicht leicht günstiger zur Benutzung fertig daliegen kann, bedarf keines Nachweises. Der „Freischütz“ ist den Franzosen seit Langem ein guter Bekannter. Seitdem die Franctireurs sich nach ihm betitelt haben, lebt er erst recht im Glorienscheine französischer Popularität. Möglich auch, daß ein Spectakelstück aus der Sache wird. Es müßte zweifellos großen Erfolg haben. Früher oder später werden die Pariser Correspondenten unserer deutschen Zeitungen wohl etwas darüber zu melden bekommen.
Mir brachte die hirnlose Geschichte, soweit sie thatsächlich Richtiges enthält, Gerstäcker’s Bild aus den Tagen lebhaft in’s Gedächtniß, wo er „in Paris einzudringen“ suchte. Nicht freilich um den Exherzog von Braunschweig aufzufinden, bemühte er sich um Einlaß in die damals noch ziemlich streng abgesperrte Stadt. Er hatte vielmehr als Tourist für die Gartenlaube Briefe zu schreiben übernommen, welche mit Straßburg begannen und im weitern Verlaufe seiner Reise alles irgend erreichbare Besprechenswerthe auf dem Gebiete des Kriegs mit in’s Auge fassen sollten. Auf dem Wege nach Versailles, dem Hauptschlüssel für die belagerte Stadt, machte er einige Rasttage im sächsischen Hauptquartiere, wo außer mir an Berichterstattern nur der Times-Correspondent, Master Kelly, weilte und wo der vielgereiste und vielgenannte Mann die beste Aufnahme fand.
Das sächsische Hauptquartier befand sich bekanntlich in Vert Galant. Ein kleines Schloß mit Garten, Park und Fasanenwäldchen diente dem Höchstcommandirenden, dem Prinzen Georg von Sachsen, zur Residenz und beherbergte gleichzeitig einen großen Theil seines Generalstabes. Wie wir Anderen ein- für [418] allemal unsern Platz an der prinzlichen Tafel hatten, so wurde auch Monsieur Gerstequé in gastlicher Weise aufgenommen und zur Tafel gezogen, ja es ward ihm sogar die Ehre zu Theil, neben dem Prinzen seinen Platz angewiesen zu erhalten. Natürlich waren wir Civilisten in Bezug auf unsere Kleidung für gewöhnlich von allen Etiquette-Rücksichten dispensirt, und auch Gerstäcker’s steirische Joppe rangirte für voll zwischen den Umformen der übrigen Tafelrunde. Seine ganze Art und Weise war freilich mit diesem feinem Reise- und Jagdcostüme so völlig verwachsen, daß man ihn füglich sich nicht anders als in dieser Stereotyp-Ausgabe hätte denken können. Nur in ein Löwen- oder Lamafell gekleidet, wäre er vielleicht noch willkommener gewesen, denn Jedermann wollte ein Stück lebendigen Robinson Crusoe in ihm vor Augen haben und hätte es ihm nicht vergeben, wenn er von allen Reminiscenzen an sein Weltfahrerthum frei gewesen wäre. Glücklicher Weise hatte er für diesen Zweck in seinem Quartiere wenigstens das Fell eines natürlich von ihm selbst, ich weiß nicht in welcher Prairie erlegten Büffels zur Verfügung, seinen steten, langjährigen Reisebegleiter und, wie er versicherte, seinen stummen Ueberreder zu immer neuen Wanderwagnissen.
Gerstäcker war gewöhnt, sich in allen Arten von Gesellschafts-Sphären zurecht zu finden. Er schrieb zwar besser, als er sprach, und seine Unterhaltung enttäuschte nicht selten Diejenigen, welche jede seiner Schriften mit lebendigem Interesse gelesen hatten. Dafür wollte er aber auch nichts aus sich gemacht wissen. Bücher und wissenschaftliche Gespräche zogen ihn wenig an. Sehen, mitmachen, selbst erleben, das war seine Leidenschaft. Nicht geringes Gaudium fand er daher an den Späßen, mit denen im engern Kreise nach Tisch sich unsere kleine Gesellschaft wohl hin und wieder zu vergnügen pflegte. Zu den Gegenständen, welche beim Ausbruch des Kriegs von dem Inhaber des Schlößchens vermauert worden waren, hatte auch ein hübsches kleines Pianino gehört. Natürlich hatte man dasselbe längst aus seiner Gefangenschaft erlöst, und seine verstimmten Saiten, von den vielen Musikkundigen des Kreises fleißig bearbeitet, gaben sich geduldig dazu her, bald Gutes und bald Mäßiges zu Gehör zu bringen. Nie ist es während der ganzen langen Belagerungszeit mit einem Stimmhammer in Berührung gekommen. Einen solchen aus Deutschland kommen zu lassen, zumal dann wohl auch noch immer der Stimmer gefehlt haben würde, schien nicht der Mühe werth, da man ja täglich vor Paris fertig zu sein hoffte. Aus Paris wäre wohl der Hammer noch am raschesten zu erhalten gewesen, denn die sächsischen Vorposten hatten das Zeitungs-Schmuggeln eine ganze Zeit lang vortrefflich in Gang gebracht, so daß wir oft sechs bis acht Pariser Zeitungen auf einmal erhielten, und die Zeitungs-Schmuggler hätten uns natürlich auch mit andern Pariser Artikeln versehen können. Selbstverständlich wurde aber inmitten der allgemeinen Entbehrungen auf jene verstimmte Laune unserer Musik kein Werth gelegt, und da der musikalisch sehr begabte Prinz Georg selbst sich mit den Schwächen des vielgepflegten Instruments genugsam abfand, so konnte auch die muntere kleine Nachtisch-Genossenschaft zufrieden sein, zu ihren ohnehin willig auf künstlerische Abrundung verzichtenden Einfällen eine Tonbegleitung zu haben, die ihren komischen Beitrag aus eigenen Mitteln spendete.
Auf dem Heimwege aus einer dieser improvisirten Soiréen wußte Gerstäcker nicht lebhaft genug zu beklagen, daß er einige dieser Kunstfertigkeiten nicht früher zu erlernen Gelegenheit gehabt habe. Man hatte eine Scene aus der Wolfsschlucht aufgeführt gehabt (welch ein verwerthbarer Stoff für die Geschichte Mr. Gerstequé’s!) und der Spectakel war allerdings von einer Wirkung gewesen, wie er den Wilden aller Länder zu hohem Genuß gereicht haben würde. Dies war aber nicht, was Gerstäcker so ausnehmend gefallen hatte. Auch die mit wirklich täuschender Nachahmung des Wasserplätscherns – durch Papierreiben an der Tapete – und des Mühlengeklappers – durch vieltactiges Messerklopfen auf einer Tischplatte – illustrirte Vorführung des Volksliedes: „in einem kühlen Grunde“ schien ihm keineswegs die Krone der Leistungen. Dagegen erklärte er für geradezu unübertrefflich diejenige Leistung eines Mitgliedes des Cirkels, welche das Gebrumme und Geknurre eines Haufens wilder Thiere nachzuahmen bezweckte. Der Künstler, ein gigantischer Cavallerieofficier, hatte sich dazu außer seinem Munde einzig eines Lampencylinders bedient und auf diese Weise in der That ein Concert von Mißtönen erreicht, das dem Durcheinander von Stimmen, wie es der Fütterung in einem Löwen- und Tigerzwinger voraus zu gehen pflegt, in erschreckender Weise ähnlich war.
„Bedenken Sie nur,“ rief Gerstäcker, als ich ihn heimbegleitete, damit er bei dem Parole-Anrufen der Wachposten nicht etwa Unannehmlichkeiten haben möge, „bedenken Sie nur, wie das meiner alten Freundin, der guten Königin Pomare, imponirt haben würde! Was will dagegen die Cither sagen, die ich ihr vorspielte! Ich muß noch einmal wieder über’s Meer. Dies Instrument soll kein Andrer drüben produciren als ich selbst.“
Daß dem Manne, der erst kurz zuvor die Belagerungsarbeiten um Straßburg so weiten Kreisen anschaulich zu machen gewußt hatte, Gelegenheit gegeben werden mußte, sich in einer oder der andern unserer Schanzen von den Pariser Granaten begrüßen zu lassen, versteht sich von selbst. Er selbst wünschte es und ihrerseits sind Militärs ja immer gern bei der Hand, wenn es den Civilisten zu einer Gänsehaut zu verhelfen gilt. Auch erhielt Gerstäcker zu dem Ritt in die Schanzenlinie ein Pferd, auf dem nicht Jeder sich wohl gefühlt hätte, ein kurzbeiniges Berberroß, wie deren während der Campagne sich manche aus französischer in deutsche Fütterung herüber gefunden hatten. Das war ihm aber gerade recht. Wenn er als Reiter etwas absonderlich aussah, so hielt er sich dafür um so fester im Sattel, und so verlief dann nicht nur der Ritt ganz nach Wunsch, auch die Beschießung der Schanze traf man gerade in lebhaftem Stadium, so daß jeder bei dem Ritt betheiligt Gewesene in höchster Befriedigung heimkehrte, da ja trotz dem Lärm und dem ganz nahen Crepiren der unliebsamen Pariser Sendlinge kein Unglück geschehen war.
Als ich wenige Tage darauf mit dem „Times“-Correspondenten auf einige Tage nach Versailles hinüber fuhr – St. Denis war eben von den deutschen Truppen besetzt worden und man hoffte täglich auch auf das Zugänglichwerden von Paris –, da fand ich im Speisesaale des „Hôtel de France“ zu Versailles, mißmüthig an einem Seitentische sitzend, den Mann in der bairischen Joppe.
„Diese verwünschten Franzosen!“ rief er mir zu, „jedes Gericht, das ich bestelle, wollen sie nicht kennen. Werd’ ich denn am Ende, diesen Narren zu Gefallen, noch französisch plappern sollen? Fällt nur nicht ein. Aber das Gallenfieber ärgert man sich an den Hals.“
„Und in welcher Weise.“ fragte ich, „haben Sie Ihre Bestellungen denn gemacht? Auf Deutsch?“
„Nicht einmal.“
„Auf Französisch?“
„Bei Leibe nicht. Werde ich Denen zu Liebe so viele Umstände machen! In der Fingersprache.“
„Wie so?“
„Hier.“ Und er zeigte mit dem Finger auf diejenige Partie der Speisekarte, die er zu bestellen wünschte. Als erfahrener Reisender hatte er dabei sich durchaus keines Irrthums schuldig gemacht. Der Kellner hatte nur nicht Lust gehabt die Pantomime zu verstehen, und ich mußte viele Worte verschwenden, um den tückischen Burschen gefügig zu machen.
Es war in der That, auch wenn man die französische Sprache fließender sprach, als Gerstäcker dies that, mit den Versaillern schwer auszukommen. Obschon allenthalben die deutschen Officiere unter den Gästen der Hôtels und Restaurants in starker Mehrheit waren, wurde jeder Deutschredende doch mit sichtlichem Widerwillen bedient, und die Kellner machten sich einen Spaß daraus, ihre Landsleute immer früher abzufertigen, als die Nicht-Franzosen. Warum nicht hin und wieder einmal ein Exempel statuirt wurde, das ist ein Geheimniß geblieben. Vielleicht war von oben herab die Parole ausgegebenen, jede Reibung sorglich zu vermeiden. Im Wesentlichen verstimmte unsern Gerstäcker übrigens während dieser Tage vornehmlich die Ungewißheit, ob er nach Paris hineinkommen werde oder nicht. Pariser erhielten täglich in großer Anzahl Erlaubnißscheine zum Besuchen von Versailles, und wenn dem Deutschen auch mit gutem Grunde nicht gestattet war, den Besuch zu erwidern, so konnte man dieses Verbot doch recht gut umgehen. Aber die Unberechenbarkeit des Empfangs, dessen man sich drinnen zu gewärtigen hatte! Selbst Engländer waren ihres [419] Lebens nicht sicher. Täglich hörten wir von Mißhandlungen der brutalsten Art. Noch heute sind Fälle dieser Art ja in Aller Gedächtniß. So die Schleifung und gefährliche Verwundung unseres sächsischen Johanniters, des Herrn von Lüttichau. So auch die Katastrophe, in welche der Correspondent der „Daily News“, Colonel Formes, gerieth, als er beim Einzuge unserer Truppen in Paris den Zorn der Straßenbevölkerung dadurch auf sich gelenkt hatte, daß der Kronprinz von Sachsen einige Worte mit ihm sprach.
Unter solchen Umständen war auch die geläufige englische Redeweise Gerstäcker’s ihm kaum nachhaltig zu Statten gekommen. Und wie, wenn ihn gar Einer erkannte! Und sein Aeußeres war ja oft genug Gegenstand von Darstellungen gewesen. Ich rieth ihm daher sehr nachdrücklich, von dem Vorhaben abzustehen und so sehr er fühlte, welch’ einen lesenswerthen Bericht seiner Feder er drinnen im Stiche ließ, war er doch selber ohne alles Vertrauen zu der Sache und stand also davon ab.
Als ich ihn einige Tage darauf wiedersah, beschlossen wir, Versailles zu verlassen und deshalb auf einen Privatwagen, der uns wenigstens bis Lagny bringen könne, Jagd zu machen.
Dieser war bald gefunden und schon am nächsten Morgen wurde die gemeinsame Fahrt angetreten.
Natürlich hielt es schwer, sich während der Fahrt zu beköstigen, und wo sich dies machen ließ, verdarb es Gerstäcker wieder durch seinen Widerwillen gegen das Völkchen, auf dessen guten Willen man angewiesen war. So verweigerte ihm eine schöne, heftig blickende Person, welche in einem Orte des bairischen Belagerungskreistheils ein Café-Stübchen hielt, die Ablassung einer Tasse Kaffee, nachdem er sie, wie sie behauptete, auf höchst schnöde Weise der Unsauberkeit bezichtigt habe. „Ich gab dem Monsieur,“ sagte sie, „auf sein Verlangen ein Glas zum Weintrinken und er wies es zurück, weil ich’s nur in Wasser ausgespült, nicht aber abgetrocknet habe. Kann man Unsinnigeres verlangen? Ist ein öfter gebrauchtes Tuch je so sauber wie klares Wasser? Und jetzt will er sich herbeilassen aus meinen Tassen Kaffee zu trinken? Nimmermehr!“
Da diese sehr bestimmt redende Schöne die einzige Vertreterin ihres Geschlechts in jenem Bezirke war, so herrschten ihre Launen natürlich unumschränkt wie Lili in ihrem Thierparke, und Gerstäcker mußte sich mit dem Troste beruhigen, daß der ihm versagte Kaffee stark nach Brasil duftete.
Wir haben dann Abends Lagny erreicht, und da auch hier für Geld und gute Worte so gut wie nichts zu erlangen war, vor Allem kein Bett, so ist es endlich dahin gekommen daß von dem Rathe eines pommerischen Schaffners Gebrauch gemacht wurde: man möge sich’s die Nacht über nur, ohne weiter Jemanden um Erlaubniß zu fragen, in einem der Coupés des im Bahnhofe stehenden Zuges bequem machen; der gehe am nächsten Morgen nach Deutschland, und wer einmal d’rin sitze, den werfe man schon nicht so leicht hinaus.
Ich selbst hatte noch keine Eile, heim zu kommen. Gerstäcker war aber herzlich froh, dem Winke des ehrlichen Pommers folgen zu können, und verkroch sich sogleich mit seinem Reisesacke oder seinem Büffelfelle in die finsterste Ecke eines der leeren Coupés, in welchem er denn auch, wie ich Tags darauf ermittelte, unbemerkt aus Lagny herausgekommen ist. Einmal im Zuge, konnte er sich dann so ziemlich für reiselegitimirt betrachten und so ist er mit seinen Wandernotizen im Kopfe und in der Tasche nach Deutschland heimkutschirt, rüstig und unermüdlich – Niemand hat wohl geahnt, daß diese Reise seine letzte sein sollte.
Bei Erwähnung des Namens Afrika formt sich dem Unkundigen gewöhnlich ein Bild starrer Wüstennatur. Nirgends Leben, nur „einsam und trauernd“ steht die Palme; vielleicht
daß der nächste Gluthwind auch ihr freudloses Dasein vernichtet. Allerdings ist der Charakter des nordafrikanischen Wüstengürtels, der sich von West nach Ost über den Continent verbreitet und durch Arabien sogar bis tief in’s Innere Asiens als Schamo hinzieht, wenig besser. Aber wie der Ocean seine Gestade hat, die er vergebens anbraust, so sind auch dem Sandmeere seine Grenzen vorgezeichnet. Als mächtige, vielzerklüftete Insel steigt die abessinische Bergmasse aus ihm empor. Weder die sudanesischen Steppenwüsten von Nord, noch die Sanddünen des Rothen Meerstrandes von Ost, noch die Dürre der Somâli-Plateaux von Süd vermögen den ewig jugendlich frischen Bergriesen Habesch zu bezwingen. Stolz erhebt er sein waldumkränztes Haupt in die Wolken, die, aus der Verdunstung des Indischen Oceans gebildet, sich an seiner kalten Felsstirn niederschlagen, um als Quellen und Wildbäche, hinabrieselnd in die Thäler, deren Verlauf sie folgen, nordöstlich und östlich in’s Rothe Meer und das Salzbassin des Uferlandes zu fließen, südlich in weitem Laufe als Dschub zum Indischen Ocean zu strömen, südwestlich und westlich endlich ihren Tribut dem Urvater Nil zu bringen, dieser Aorta im nordafrikanischen Flußgeäder, die so recht eigentlich aus dem Herzen Afrikas, den großen Binnenseen, hervorquillt.
Das südliche Gestade des Sandmeeres wird theilweise vom Tschadsee und seinem Flußsysteme gebildet.
Wie das Blut dem thierischen Körper Leben und Wachsthum vermittelt, so führen diese Stromadern das befruchtende Element, das Wasser, weithin durch die Wüste und zaubern die überschwengliche Pracht tropischen Pflanzenwuchses inmitten trostloser Einöden.
Südafrika bis zum Wendekreis des Steinbocks zeigt in seinen Steppen und Wüsten ein dem eben entworfenen ähnliches Bild. Die mittlere Zone unseres Continentes jedoch, vom Senegal bis Benguëla einerseits, von Sansibar bis Mosambik andererseits, und die weite Mulde im Herzen desselben, das Seengebiet, ist von der Mutter Natur in wunderbarer Weise begünstigt. Hier, wo Passat- und Monsûnwinde die von der senkrechten Tropensonne aufgesogenen Wasserdämpfe des Atlantischen und Indischen Oceans über das Land breiten und durch ihre von der Erdoberfläche verschiedene Temperatur sich als Nebel und Regen niederlagern, sind die Bedingungen zu luxuriösestem Pflanzen- und Thierleben gegeben, Bedingungen, wie sie in der Jugend unseres Planeten geherrscht haben, was das Museum der Natur in Steinkohle, lithographischen Abdrücken und plastischen Darstellungen durch Versteinerung mächtiger Knochengerüste, die einst von Fleisch und Blut belebt waren, bezeugt. Ist auch in anderen Erdstrichen dieses jugendliche Feuer längst erloschen, in unserem Gebiete hat sich die productive Urkraft erhalten. Liebliches Parkland, aus majestätischen Palmenhainen und vielerlei fremdartigen Bäumen gebildet, die wie von künstlerischer Hand in stets grünem Krautteppiche gewoben, auf dem die Giraffe – die Scherifa der Araber, das heißt die Liebliche – und seltsam gehörnte Antilopen weiden, scharf ausspähend nach dem allgewaltigen Löwen und dem listig schleichenden Leoparden, wechselt in den Niederungen mit für den Menschen undurchdringlichen Gras- und Schilfwäldern – Wäldern, denn baumartig und übermanneshoch wuchert der Graswuchs. – Aus ihnen erhebt sich die Riesengestalt des Baobab, dieses „Dickhäuters unter den Bäumen“. Sein Alter reicht weit hinaus über die Periode, in die der kurzsichtige Mensch das Geburtsjahr der Welt setzt. Mächtige säulenstämmige Palmen mit klafterbreiten Fächer- oder, wie die Weinpalme, mit oft bis zwanzig Fuß langen Fiederblättern, wetteifern mit ihm an Höhe. Hier haust der Elephant, das Nashorn und der trotzige breithörnige Büffel.
Da endlich, wo das Wasser sich in tiefliegenden Gründen sammelt, sei es, um stagnirend Sümpfe zu bilden oder in Flußbetten hinzuziehen, da erwächst der Urwald in seiner ganzen [420] Pracht und Herrlichkeit. Wie in einem tausendsäuligen Tempel reiht sich Stamm an Stamm; dicht in einander verwoben bilden die Baumkronen die Wölbung. Kein Sonnenstrahl dringt in dieses Heiligthum der Natur; selbst der Schall wird gedämpft durch die mächtigen Laubmassen; dumpfe Schwüle lagert über dem weich-schwammigen Morast, in den der Wanderer knietief einsinkt. Oft versperren riesige, halbvermoderte Baumleichen, die das Alter oder die Wuth des Orkans gestürzt, seinen Weg; knorrige Wurzeln überziehen wie riesige Schlangen den Boden, während seltsam verflochtene Lianenstämme wie Glockenstränge von der Wölbung herabhängen. Plötzlich wird die bange Stille, die diesem Dome eigen, durch ein furchtbares Gebrüll gebrochen; wie der mächtige Ton der sechszehnfüßigen Orgelpfeife dröhnt es, erst langgezogen, dann in kurzen Stößen, endlich in gedehntem Schlußton: es ist das Flußpferd, das sein Weib ruft. Staunend steht der Wanderer still; das Getöse brechenden morschen Holzwerks sagt ihm, daß das Unthier sich naht. Dort erscheint es. Mit den kurzen stämmigen Beinen im Schlamme knetend, der zur Seite aufquillt und spritzt, auf dem breiten Bauch gleitend, bewegt sich das Ungethüm dahin, den unförmlich breiten Kopf gesenkt, mit den großen, trüben „Fischaugen“ dumm vor sich hinglotzend, mit den weitgeöffneten Nüstern schnaubend wie ein Dampfpflug, zieht es eine tiefe Furche im Morast. Es watet dem nahen Flusse zu. Der mächtige, tonnenförmige, braunschwarze Körper verschwindet im dichten Ufergehölz; ein Aufbrausen des Wassers, als wäre ein Schiff vom Stapel gelassen, erschallt; dann ist’s wieder still im Urwald.
Folgt der Beobachter dem Pfade, den der Koloß gebahnt, so eröffnet sich ihm, nachdem er den Vorhang, der, aus lianendurchwebtem Laubwerke gebildet, den Urwaldtempel gegen die vom Flusse geschlagene Lichtung verschließt, gelüftet, ein wunderbares Bild. In trägem Laufe wälzt sich die trübe Fluth dahin; hier von einem gigantischen, vollkronigen Baume, der, vom Strome unterwaschen, quer in’s Flußbett fiel, halb abgedämmt, dort über schwarze Schlamm- oder gelbe Sandbänke fließend, an anderer Stelle wieder von steilen Uferwänden eingeengt, schneller und wirbelnd ziehend. Während im Innern des Urwaldes aus Mangel an Licht und freier Luft wenig Unterholz auftritt und aus dem Gewirr der Laubkronen die einzelne Schönheit sich nicht sondert, entfaltet sich hier, am Rande der Lichtung, frei und ungezügelt der Pflanzenwuchs. Es ersprießt, neben vielen andern Bäumen, die zierliche, vielstämmige wilde Dattelpalme (Phoenix silvestris), deren bohnengroße längliche Frucht den Affen eine gesuchte Speise bietet.
Himmelanstrebende Bäume mit weit ausladenden Aesten erheben sich hier und dort und unterbrechen die gerade Horizontale der Mittelwaldkronen; zierliche Schlingpflanzen spannen sich guirlandengleich von Baum zu Baum, schwebende Affenbrücken bildend; ihre Enden hängen herab und schaukeln, graziös vom Winde bewegt; mancherlei Büsche mit meist feurigroth- oder gelbleuchtenden Blüthen, oft auch mit einem zart lila Blumenflor, wachsen auf dem Rande der Flußböschung; dicht am Wasser jedoch, im schwarzen, zähen Schlamme, entfaltet die kopfgroße Zwiebel eines lilienartigen Crinum seine schneeweißen, von rosa Adern durchzogenen Kelche aus hellgrüner Rosette breitschwertförmiger Blätter. An Farbe jener Blume täuschend ähnlich, steht unbeweglich der Silberreiher. Er harrt der Krabben und Fische, die sich ihm unachtsam nähern. Andere Stellen des Ufers sind von weiten Schilfhorsten bestanden, die oft in das seichte Flußbett hineinwuchern und in ihren wogenden Massen dem Wasser gleichen, in dem sie sich spiegeln. So ist der Palast des Flußpferdes beschaffen. Laßt uns sehen, wie es darin haust!
In Familien von oft zwanzig Gliedern – die Weiber und die heranwachsende Jugend sind dem Familienhaupte unterthan – behaupten sie ein bestimmtes Revier im Flusse, Sumpfe oder Meere, in welch letzteres sie oft meilenweit hinausziehen. Ein einzelnes Thier hielt sich sogar lange Zeit am Nordende Sansibars auf, muß also wohl den breiten Meerarm zwischen dieser Insel und dem Festlande überschwommen haben. Uebrigens saufen die Flußpferde das Meerwasser nicht, finden auch wohl schwerlich in Algen oder anderen Seepflanzen Nahrung, sondern begeben sich jede Nacht an’s Land, um ihre Vorrathskammer, den geräumigen Magen, zu füllen. Auch die, welche das Brack- und Süßwasser zu ihrem Aufenthalte bei Tage gewählt – und letztere sind bei Weitem die meisten – fressen wohl nur bei Nacht; wenigstens gewahrte ich nie ein Thier auf der Weide, so lange die Sonne am Himmel stand. Sie kehren vielmehr nach nächtlichem Mahle mit dem ersten Morgenroth in ihr nasses Versteck zurück.
Eine solche schwimmende Heerde gewährt dem „stillen Beobachter“ ein höchst anziehendes Bild: bald taucht der Kopf des einen, bald der des andern aus dem trüben Wasser auf, schnaubt einen feinen Wasserstaub, der in der Sonne Regenbogenfarben bildet, aus und schleudert mit schneller, fast zitternder Bewegung das Wasser aus den kleinen Ohren. Von der Seite betrachtet ähnelt er in diesem Augenblicke einigermaßen einem Pferdekopfe (besonders da der unförmliche, massige Unterkiefer bis zum geschlossenen Maule im Wasser verbleibt), weshalb das Thier wohl seinen in jeder andern Beziehung so schlecht passenden Namena „Hippopotamus“ (Flußpferd) erhalten. Es schaut und horcht umher, grunzt befriedigt vor sich hin oder macht seinem Herzen in einem tiefen Liebesseufzer Luft, dem eine seiner Ehehälften antwortet, schwimmt träge eine kurze Strecke stromauf oder stromab, holt tief Athem, schließt die klappigen Nasenlöcher und sinkt wie Blei unter, um nach ungefähr einer halben Minute abermals zu erscheinen, entweder (wie in stehendem Wasser) an derselben Stelle, oder (wie im Flusse) etwas abwärts getrieben.
Die heranwachsenden Jungen halten sich stets in der Nähe der Mutter und ahmen, wenn auch anfangs etwas ungeschickt, deren Bewegungen nach. In der allerfrühesten Jugend jedoch, wenn die Beinchen noch zu schwach, um ihre Pflicht zu thun, liegen sie wie in einer Wiege auf Kopf und Hals der Mama, sich mit den Füßen vor und hinter den Ohren derselben festklammernd. So sind sie zugleich gegen jede Gefahr geschützt. Wehe dem Krokodil, wenn es sich, lüstern auf das zarte Fleisch des Säuglings, heranschleicht; das nahe, furchtbar bewehrte Maul der Mutter würde das „Teufelsvieh“ zweitheilen wie eine Sardelle. Zeigt sich in der Entfernung ein Kahn der badenden Heerde, oder erschallt irgend ein ungewohntes Geräusch, so entsteht große Unruhe. Höher und öfter erheben sich die Köpfe aus dem Wasser, ängstlich und doch zugleich wüthend geschüttelt, mit starkem Stoße, begleitet von grimmigem Knurren, spritzt das Wasser in hohem Strahle aus den Nüstern, die Jungen drängen sich an ihre Mütter, welche, wie die andern, die tiefsten Stellen des Flusses aufsuchen. Ist die Gefahr festgestellt und nähert sie sich, so werden übrigens die Unthiere sehr kleinlaut; immer seltener erscheint eines, zuletzt nur noch der Alte, bis auch ihm schließlich ungemüthlich zu Muthe wird. Unter dem Wasser, auf der Sohle des Flußbettes im Schlamme watend, fliehen die Thiere; aber nur langsam bringen sie den gewaltigen Tonnenleib von der Stelle. Da die vor dem Untertauchen eingenommene Luft nun nicht lange[2] vorhält, so sind die Thiere wohl oder übel gezwungen, sich dem Wasserspiegel zu nähern und wenigstens ihre Nase der Gefahr auszusetzen. Mit erstaunlicher Schnelligkeit ziehen sie dieselbe nach eiligem Luftschnappen aber wieder hinter die Wassercoulisse zurück.
Da die Unthiere im schlammgetrübten Elemente nicht genau zu sehen vermögen, so will zuweilen der böse Zufall, daß gerade über der Stelle, an der sie auftauchen, der schmale Baumkahn des Negers gleitet, der dann auch gewöhnlich an diesem Fleischriff scheitert, das heißt von ihm umgestürzt wird. Nicht weniger erschreckt aber, als der Schwarze, der eilig durch Wasser und Schlamm dem Ufer zuzappelt, ist dann auch gewöhnlich das Flußpferd; augenblicklich verschwindet es und nur ein kräuselnder Wellenstreif zeigt, wie es sich spornstreichs davon macht. Es giebt übrigens alte griesgrämliche Flußpferde, die, durch eine „jüngere Kraft“ verdrängt, von ihrer Familie verstoßen und einem Lear gleich, einsam umherirren, ihrem Groll nachhängen, alle Manier außer Acht lassen und Jeden, der ihren Weg kreuzt, grimmig anschnaufen. So begegnete es uns, als wir mit Herrn Hagenbeck aus Hamburg, von Juni bis September 1873 in den Gebieten des Kingani- und Wámiflusses reisten und uns in einem vierrudrigen Boote befanden, in dem eine große Provisionskiste stand, deren Höhe das Bord überragte und auf deren Deckel unsere verschiedenen Gewehre lagen, daß ein solcher Junggesell,
[421][422] der wohl durch den Gesang unserer schwarzen Ruderer im Schlafe, den er im dichten Uferschilfe gehalten, gestört worden, sich in’s Wasser stürzte und gegen uns anbrauste. Ich saß, nur eine leichte Vogelflinte in der Hand – denn ich war eben daran, uns ein Reiherbraten-Frühstück zu besorgen – im Schnabel des Bootes; Hagenbeck nahm den Platz am Steuer ein, ergriff aber sofort vom erwähnten Kistendeckel unsere Elephantenbüchse (Kaliber acht mit Sprengkugel), um dem „alten Knaben“ guten Morgen zu sagen. Dieser aber tauchte, wie um einen Anlauf zu nehmen, unter und rannte wie ein Sturmbock dem Boote in den Bauch, so daß ein Plankenstück von doppelter Handlänge ausbrach und unser Schifflein an der gegenüberliegenden Seite Wasser schöpfte.
Aber die Geistesgegenwart verließ uns nicht. Hagenbeck warf einen neben ihm sitzenden Negerdiener über die Flinten, die bereits angefangen zu rutschen und, einmal im Wasser liegend, sicher für immer verloren gegangen wären; ich packte einen der Ruderer, drückte ihn auf den Leck, aus dem ein Wasserstrahl einquoll, und stopfte diesen mit der nackten Seite des Entsetzten zu, ihm bedeutend, sich nicht zu rühren. Dies Alles war das Werk eines kaum bestimmbaren Zeitraumes. Unserm Angreifer schien übrigens die Nuß, die er zu knacken versucht, denn doch etwas gar hart und er fand es gerathen, im wahren Sinne des Wortes „Hals über Kopf“ auszukneifen. Dabei legte er aber sein ungeheures Hintertheil bloß, und Hagenbeck fand eben noch Zeit, an ihm mit Pulver und Blei eine gewisse Operation vorzunehmen, die in Europa gewöhnlich der Barbier verrichtet; der Patient schied, in der Eile selbst den Dank vergessend, auf Nimmerwiedersehen. Wir aber fuhren zu Land, flickten das Boot aus und zogen, noch lange lachend, weiter.
Gegen zehn Uhr Vormittags verlassen die Flußpferdheerden das Wasser und lagern auf den Schlamm- und Sandbänken, die sich in diesen von keinem Strombaumeister regulirten Flüssen allenthalben finden. Hier entwickelt sich ein liebliches Stillleben: die Alten liegen, im weichen Schlamm und Sand gebettet, in den gemüthlichsten Stellungen „dickfellig“ hier und dort und befinden sich so recht „sauwohl“, die Jungen krabbeln um ihre mächtigen Leiber herum, liegen auch saugend oder im Saugen eingeschlafen neben der Mutter oder spielen und „fechten“ mit den schon ganz respectablen Mäulchen, ihre noch nicht „gebrochenen“ Stimmen übend. Dazwischen schnarcht der tiefe Baßton des ernsten schlafenden Vaters.
Plötzlich kracht aus dem Röhricht in nächster Nähe ein Schuß. Jäher Schreck durchfährt die Heerde; einer über den andern stürzen sich die Kolosse in’s nahe Wasser, das hochaufbrausend sich über ihnen schließt. Nur eins, von einer Kugel in’s Hirn getroffen bleibt zurück. In furchtbarem Todesringen wühlt der mächtige Körper tief in dem schwarzen Schlamme; der gräuliche Rachen öffnet und schließt sich krachend; ein dumpfes Todesröcheln, ein letztes Zucken, dann liegt es verendet da, einem gestürzten Eichstamme gleich. Wenn die Flußpferdfamilie ungestört bleibt, so verweilt sie bis nahe vier Uhr Nachmittags auf der Bank, nur daß eins oder das andere einmal zum Bade geht, um die durch Trockenheit der Luft oder Sonne eingeschrumpfte „Dickhaut“ wieder etwas aufzuweichen, kehrt aber dann meist bald wieder zum weichen Schlammbette zurück. Gegen Vier nun betreten sie wieder allesammt ihren nassen Lebenspfad und wiederholen dieselben Wasserspiele wie Morgens, deren Schilderung ich oben bereits versucht habe.
Wenn die Tropensonne ihren „feurigen Ritt“ vollendet, sei es, um magischem Mondlichte oder schnell eintretender Finsterniß zu weichen, dann tritt, nachdem kaum das leise Abendzwitschern der Vögel verklungen, ein Nachtleben in seine Rechte, welches in seiner mächtigen Entfaltung zeugt von der nie ermüdenden Naturkraft in äquinoctialen Gebieten: der Aeolsharfenklang tanzender Moskitos, das Schnurren großer Grillen, das scharfe Zirpen geisterhaft segelnder Flederthiere aus der Nähe, das Kläffen der Schakale, das schaurige Grabesgeheul der Hyäne von der entfernteren Steppe, das gierige Gähnen des Leoparden und, Alles übertönend, das Commandowort des Löwen, des Königs im Reiche der Tropennacht, wirkt überwältigend und lehrt den Menschen erkennen, welch ein Schwächling er ist. Jetzt erwacht auch das Flußpferd aus dem Hinbrüten, dem es bei Tage sich ergeben. Wie Dämonen entsteigen sie dem Wasser und dem grauen, schwülen Nebel, der darauf lagert. Posaunengleich dröhnt das Brüllen, mit dem der Alte zum Sammeln ruft, durch die Finsterniß; aus Ufergebüsch, aus dichtem Schilfhorste, begleitet vom Knacken brechender Rohre, schallt ihm die Antwort der Weibchen. Geräuschlos entfernt sich die Heerde, vom Wasser durch Sumpflachen, Urwald und Grasdickicht; voran schreitet der Alte mit dem breiten Maule und der gewaltigen Brust, den Weg durch den Dschungel für die ihm folgenden Seinen bahnend. Da aber, wo das Terrain freier, bewegt sich der Troß durcheinander, das Junge zur Seite der sorgsam umherblickenden Mutter. Wo mögen sie hinziehen, die Unholde?
Ein gar seltsamer Ton schlägt mir, der ich den nächtlichen Wanderern folge, an’s staunende Ohr; stammt er aus dem Kuhhorne eines heimathlichen Hirten, oder hat ein grauses Geschick einen deutschen Nachtwächter in diese unwirthlichen Gefilde geschleudert und ihn verdammt, aus geborstenem Horne sein Leid ewig den Sternen zu klagen? Diesem Getöne schreiten die Flußpferde zu; schon klingt es ganz aus der Nähe – da verstummt’s. Die Thiere drängen vorwärts; ich folge schleichend und erreiche bald den Rand einer Lichtung, wo ich mich verstecke. Vor mir liegt, vom eben aufgehenden Monde beleuchtet, das Reisfeld eines Negers; die heuschoberähnliche Hütte scheint verlassen; denn kein Gesang, kein Klang der Handtrommel läßt sich aus ihr vernehmen. Stille ringsumher. Was aber gewahre ich dort? Aus dem Wasserspiegel, der hier und da zwischen den noch jungen Reispflanzen hervorblickt, erhebt sich auf vier wohl zehn Fuß hohen schwankenden Stöcken ein flaches, kaum quadratmetergroßes nestähnliches Dach aus Astwerk und Stroh, auf dem, wie ein brütender Vogel, die schwarze Gestalt eines Negers kauert. Er war der Musikant, der das Horn seines Vaters und Vorvaters ergriffen, um durch dessen Schreckruf die Verwüster seiner Saaten fernzuhalten. Mögen nun auch die Väter und Vorväter der Thiere, die ich begleitete, diesen dem „Organe“ des Herrn der Schöpfung ähnlichen Tone gewichen sein, die jetzige Hippopotamus-Generation, da es nie gefährlich sich zeigte, hat die frühere Achtung vor ihm in Liebe verwandelt und folgt, wie das Vieh der Schalmei, freudig seinem Rufe; führt es sie doch zur saftigen Reisweide. Als wären es Sicheln, mähen die breiten Schneidezähne der Ungethüme die köstliche Saat, die gewaltige Zunge führt sie zum Schlunde und Magen; lange währt es, bis dieser gefüllt ist; was den Weg zu ihm nicht gefunden, haben die ungeschlachten Beine in den Schlamm geknetet.
Und der Musikant? War ihm schon beim ersten Gewahren der Unthiere das „Gebläs“ ausgegangen, so mußte ihn jetzt wohl, da dieselben sich dicht unter seinem klapperigen Gestell herumwälzten, kalter Graus erfassen. Wenn einer der Giganten mit der Schulter anstieße, aus Versehen oder Muthwillen, so würde der leichte Pfahlbau unzweifelhaft zusammengebrochen sein, und wahrscheinlich hätte er dann, wie seine Pflanzung eingeknetet im Morast, das Grab gefunden. Wenn nun die Flußpferde ihren Hunger gestillt – und dazu gebrauchen sie fast die ganze Nacht – so kehren sie, hier und dort auch wohl noch etwas junges Gras[3] abweidend, zum Wasser zurück.
Pariser literarische Falschmünzerei. Mit Recht rühmt man der deutschen Uebersetzungsliteratur nach, daß sie die Geistesproducte fremder Literaturen mit der nöthigen Ehrfurcht vor der Unantastbarkeit des geistigen Inhalts, sowie mit seltener Treue der Nachdichtung sich aneignet. Unserm Nachbarvolk jenseits des Rheines kann man diese beiden Haupttugenden eines Uebersetzers leider nicht beimessen. Als ich jüngst Marlitt’s „Blaubart“ in französischem Costüme zu Gesicht bekam und darin blätterte, wirkte manches Einzelne erheiternd; allein als ich weiter und weiter las, ward mir ernster und ernster zu Muthe, und als ich das Buch am Schlusse aus der Hand warf, geschah es mit einem Unmuthe, als hätte mir Jemand eine Beleidigung in das Gesicht geschleudert. Das sollte Marlitt’s „Blaubart“ sein, diese liebliche Erzählung, mit den urthüringischen Gestalten? Unmöglich! Das sind zwar deutsche Gestalten, aber es sind Caricaturen von deutschen Gestalten, und das alles zu Liebe verletzter fränkischer Eitelkeit, die
[423] im Uebermaße ihrer geifernden Wuth allen Anstand und jegliche Würde hintansetzt. Wie konnte das geschehen? Haben Marlitt und ihr Verleger etwa die deutsche Dichtung, an Händen und Füßen gebunden, einer französischen Uebersetzungshyäne preisgegeben? Gewiß nicht, sondern in gutem Glauben ist auch für „Blaubart“ das Uebersetzungsrecht einer Pariser Firma überlassen worden, wie es bislang für alle Werke Marlitt’s in fast alle lebende Sprachen vergeben worden ist. Möchten doch immerhin die Franzosen ihren Gefühlen freien Lauf und sich von ihren literarischen Freibeutern derartige Zerrbilder vorführen lassen – allein es giebt zahlreiche Deutsche jenseits des Rheines, denen Marlitt’s Werke vielleicht nur in diesem Gewande in die Hände fallen, und da meinen wir, es sei eine Pflicht, die Dichterin vor einer Abscheulichkeit in Schutz zu nehmen, mit welcher die Uebersetzerin, Madame Emmeline Raymond, die dreiste Stirn hat, einer deutschen Frau zu nahe zu treten.
Man gestatte mir, einige Excursionen mitzutheilen, welche die Französin auf eigne Faust unternimmt, und von denen selbstverständlich im Originale kein einziges Wort steht, noch stehen kann. Auf Seite 49 bis 50 legt sie Tante Bärbchen Folgendes in den Mund:
„Der junge Mann da drüben hatte sich ohne Zweifel eingebildet, daß, weil er den schleswig-holsteinischen Krieg mitgemacht hat, die erzwungene oder sogenannte freiwillige Annexion hinfort das oberste Gesetz sei, welches die Beziehungen ebenso vieler Souveräne wie Privaten regeln müßte. Irgend etwas, z. B. eine Provinz, paßt, und man annectirt sie eben, das ist so einfach wie etwa: ‚Wünsche guten Morgen!‘ Auch begreife ich durchaus nicht, wie man in demselben Lande, wo das Annexionssystem gehandhabt wird, die Spitzbuben zu richten und zu verurtheilen wagen kann, und daß diese im Falle ihrer Verurtheilung nicht nach dem Beispiele ihres Souveräns und selbst des Volkes, welches ihm auf diesem Wege in seinem Werke geholfen und ihn ermuthigt hat, an den Rechtsspruch appelliren. Was würden sie zu antworten haben – die Souveräne und die tugendhaften Völker – wenn der Spitzbube ausriefe: ‚Ich habe allerdings die Uhr dieses Reisenden annectirt; allein es ist nur geschehen, um ihn von einem schlimmen Gebrauche derselben abzuhalten. Ebenso wahr ist es, das ich sein Portemonnaie annectirt habe; allein wer mich verurtheilt, darf nicht vergessen, daß ich ein tugendhafter Mann bin, ein guter Familienvater; er darf nicht vergessen, daß ich dieses Geld zum Wohle meiner Familie anzuwenden gedenke, und daß ich also seinen Eigentümer nur verhindert habe, einen schlimmen Gebrauch davon zu machen.‘“
An einer andern Stelle läßt sie die Tante sagen: „Das sind so Leute ohne Rechtschaffenheit, die da nicht wissen, was die Ehre erheischt, wenn sie einen lange vorbereiteten Krieg anzetteln, von welchem sie einen größern oder kleinern Gewinn erwarten. Sie thun, als ob sie provocirt wären, und nehmen Gott zum Zeugen, daß sie nicht anders konnten. Dummköpfe und Ihresgleichen mögen sie wohl täuschen, nicht aber Gott, der sie früher oder später züchtigen wird, so wenig wie Diejenigen, welche, wie ich – ich wage es zu sagen –, ein wenig Verstand und Ehrlichkeit haben.“
Auf einer spätern Seite folgen erneute Schamlosigkeiten, wie wir sie von der feuerschnaubenden Wuth und der giftigen Galle der damaligen verlogenen fränkischen Tagespresse unseren siegreich heimkehrenden Kriegern gegenüber hinreichend gewohnt sind, über durchspähete Schubkästen und Silberspinde, über geraubte Sammetroben und andere Albernheiten mehr. Dann kommt ein Passus, in welchem die Französin den letzten Trumpf ihrer wüthenden Entrüstung ausspielt: „Aber tödten und riskiren sich tödten zu lassen, um die Cassen eines abscheulichen Wucherers zu füllen, der da Geld schlägt aus dem Leben von Seinesgleichen und Gott dafür dankt, daß er ihm gestattet, viel Geld aus Tod, Plünderung und Brand zu ziehen – das ist keine tröstliche Erinnerung für Die, welche einiges Gewissen in sich tragen.“
Arme Marlitt! Die klare, durchsichtige deutsche Novelle von so viel fränkischem Schmutze und Geifer getrübt sehen zu müssen! Was weiß die ästhetisch nicht gebildete Uebersetzerin von Einheit der Idee und Form? Ihr kommt es augenscheinlich nur darauf an, den Gaumen ihrer Landsleute zu kitzeln und auf so manches schmerzlich Empfundene an derberer Stelle in ihrer Weise ein Heilpflaster zu legen.
Wie weit übrigens der Galgenhumor von der Uebersetzerin getrieben wird, mag folgende Stelle beweisen. Der junge, Tante Bärbchen verwandte Kaufmann, welcher im Originale von einer Reise von Paris zurückkehrt, hat diese Reise natürlich nicht nach Paris, sondern nach Berlin gemacht, und nun dichtet die Uebersetzerin in brutaler Selbstständigkeit weiter: „Er präsentirte sich in der Laube mit dem militärischen Anstande, den er bei seinem Studium des preußischen Adels gewonnen hatte, bei welchem, wie man annehmen kann, Uebermuth und Steifheit die Oberhand haben. Er trug eine Brille, obwohl sein Auge gut war, und leimte seine Arme bis zu den Ellenbogen an den Körper; von da bewegten sich seine Vorderarme nach Art dressirter Hunde beim ‚Schönmachen‘ und zeigten Hände, die sich schier wunderten, so gut behandschuht zu sein. Es gab nichts Komischeres als die Zierereien und Verrenkungen, welchen sich der arme Mensch hingab, einzig um zu beweisen, wie sehr er sich den traurigen Originalen anbequemte, deren Lächerlichkeiten er so treu copirte.“ Wenige Seiten später, da wo Blaubart Lili’s Hand ergreift und an seine Lippen führt, erweitert sie die Stelle in boshafter Weise folgendermaßen: „Er ergriff ihre Hand, nahm ganz genau die in Berlin übliche Stellung an, das heißt er schlug die Absätze an einander, dann führte er diese Hand an seine Lippen und küßte sie.“
Gott mag wissen, welcher griesgrämliche alte Haudegen der französischen Dame zu ihren verschrobenen Zeichnungen gesessen haben mag. Unsere jüngeren Cavaliere können es unmöglich gewesen sein, und wenn dennoch – nun, so liegt es nahe, daß Schönheit und Jugend eben nicht die ganze deutsche ritterliche Liebenswürdigkeit unserer jüngeren Krieger provocirt haben. Nur so läßt sich dieser widerwärtige Angriff einer Dame psychologisch erklären.
Es bleibt nur noch eine Stelle anzuführen übrig, in welcher allem bisher Geleisteten gleichsam das französische Siegel aufgedrückt wird. Blaubart sagt im Originale zu Lili: „Ja ja, ich hatte heute Morgen einen unbezahlbaren Anblick; er riß mich dergestalt hin, daß ich die Entfernung und jedes Hinderniß übersah und meinte, mit einem Faustschlage das widerliche Insect fortschleudern zu können, das meine Blume berührte“ etc. Die Französin beschreibt dieses Insect als ein Berliner, häßliches, groteskes und unreines, und „meine Blume“ übersetzt sie: „eine schöne und reine Blume“, womit sie ohne Zweifel ihre „grande nation“ meint.
Damit könnte ich den Bericht über diese literarischen Vergewaltigungen schließen; allein es liegt mir zugleich eine Nummer der in demselben Verlage erscheinenden Wochenschrift „La Mode illustrée“ vor, in welcher die Uebersetzung des Romanes „Die zweite Frau“ von E. Marlitt beginnt und von derselben Uebersetzerin mit einer Einleitung versehen worden ist, die alle Begriffe von Unerlaubtem übersteigt und den mißhandelten „Blaubart“ noch als Schooßkind erscheinen läßt. Man steht geradezu starr vor so viel Hohn, mit welchem die bisher noch nicht zur Rechenschaft gezogene und deshalb in ihrem Gefühle der Sicherheit bis zum Ausbund keck gewordene literarische Piratin allem Anstand in das Gesicht schlägt. Nicht eigentlich als Uebersetzung kündigt sie „Die zweite Frau“ ihrem Publicum an, sondern als Nachbildung (imité), weil, wie sie ganz naiv sagt, eine wörtliche Uebersetzung dem Geschmacke, oder wenn man will, den Vorurtheilen jenseits des Rheines nicht behagt hätte. Nun ist aber der Roman zunächst durchaus nicht für Franzosen geschrieben, so wenig wie für jene von der ultramontanen Partei am Gängelbande geführte Minorität echauffirter Römlinge in Deutschland, und die Pariser Verlagshandlung hat mit dem käuflich erworbenen Uebersetzungsrecht nicht zugleich das Recht erlangt, das deutsche Werk in unverantwortlicher Weise durch Madame Emmeline Raymond verstümmeln zu lassen. Ich werde mir erlauben, nach Vollendung der französischen Uebersetzung an dieser Stelle darauf zurückzukommen.
Sanct Petrus in Elsaß-Lothringen. Anunas der Fromme und Sanct Petrus haben in grauer Vorzeit das Rheinthal in Besitz genommen und auch unserem schönen Ländchen den Stempel der römischen Weltherrschaft aufgedrückt. So will’s die ultramontane Ueberlieferung, die noch immer in Elsaß-Lothringen ein Vorland deutscher Zunge unter römischem Scepter, sieht. Mit gierigem Griffe erfaßten unsere Ultramontanen Alles, was zur Herstellung der römischen Herrschaft tauglich erschien. Man trifft im Elsaß zahlreiche Kirchen, Abteien und Ortschaften an, die dem Andenken des Apostelfürsten geweiht sind. Die Vornamen Peter und Jean-Pierre gehören zu den beliebtesten in Deutsch-Lothringen. Viele Familiennamen, wie Mattern, Matter, Mattel, Matt erinnern an den heiligen Maternus, welchem Petrus die Leitung der elsässischen Kirche anvertraut hatte. Im Munde des Volkes aber spielt Petrus eine ganz andere Rolle, als in der kirchlichen Ueberlieferung.
August Stöber, der treue Eckart unseres alemannischen Volksstammes, erzählt uns in seinem elsässischen Sagenbuche eine komische Legende, die er in der Umgegend von Buchsweiler aufgezeichnet und die weit mehr mit der Passionsgeschichte als mit den Beschlüssen des vaticanischen Concils übereinstimmt: Christus und Petrus kommen in der Erntezeit zu einem reichen Pächter und lassen sich von ihm als Drescher anwerben. Für die Nacht wird ihnen zusammen ein Bett angewiesen, wie es jetzt noch den armen lothringischen Schnittern gegenüber Sitte ist. Aber müde von der Reise, verschlafen sie am andern Morgen die Arbeitsstunde. Der erboste Pächter – die Grobheit der hanauischen Bauern ist sprüchwörtlich – kommt mit einem Stocke und prügelt den vorn im Bette liegenden Petrus tüchtig durch. Auf Grund dieser Beobachtung bittet Petrus am folgenden Abend, sich an die Wand legen zu dürfen, und der Heiland hat nichts dagegen. Am nächsten Morgen verschlafen sie abermals die Arbeitsstunde, und wieder erscheint der Pächter mit dem Prügel. „Gestern,“ sagt er, „hat der da vorne Schläge bekommen, heute ist die Reihe am Andern!“ und Petrus erhält auch die zweite Bescheerung.
Diese Sage stammt aus einer vorwiegend protestantischen Gegend, doch hörte der Verfasser auch katholische Dienstboten erzählen, wie Petrus sich bald als Wandersmann, bald als Himmelspförtner überlisten ließ. Im katholischen Oberelsaß zeichnet August Stöber einen Schwank auf, der den Unfehlbaren in die mißlichste Lage gerathen läßt. Einmal treibt den frommen Pilger das Gelüste, in einer Schenke elsässischer Bergknappen neuen Wein zu trinken, und der Herr entläßt ihn mit wohlmeinender Warnung. In der Schenke geht es lustig her und einer der Gäste sagt zu Petrus: „Du mit Deinem langen Barte, mach’ uns doch eins auf, damit wir tanzen können!“ Petrus, der gerade seinen witzigen Ton hat, erwidert: „Wartet, ich will Euch eins aufmachen!“ – und macht die Thür auf, findet aber bei den Bergknappen so wenig Verständniß für seine geselligen Talente, daß sie ihn durchprügeln und hinauswerfen. Wir Elsässer schreiben es dem feurigeren oberrheinischen Weine zu, daß unsere Landsleute im Sundgau, die sogenannten „Hü bi Gott“ noch gröber und streitsüchtiger sind, als die Bauern im hanauischen Ländchen. Petrus kommt übel zugerichtet zum Herrn und fordert Strafe für die groben Gesellen. „Nun,“ sagt der milde Herr, „bis sie höflicher werden, soll ihre Strafe sein, Sonntags zu vertrinken, was sie in der Woche mit saurem Schweiße verdient haben.“ Daß die Strafe noch im Jahre der Gnade 1875 für die Bergknappen fortwirkt, kann der Verfasser als Augenzeuge und Abonnent des „Bergmannsfreunds“ bestätigen.
Ein drittes Mal ziehen die himmlischen Wanderer als Musikanten durch’s oberelsässische Land und werden von Zimmerleuten, denen sie am Sonntage nicht zum Tanze geigen wollen, unbarmherzig geschlagen. Der ergrimmte Petrus verlangt’, daß der Herr den Zimmerleuten alles Holz in Bein verwandle, Christus aber willfahrt ihm nur theilweise. Seit jener Zeit werden die Zimmerleute im Wasgauthale durch beinharte Aeste im Holze für ihre Grobheit gestraft.
[424] Der elsässische Volkswitz handhabt die Geschichte des Apostels Petrus mit demselben Freimuthe, mit welchem die „Edelsasser Chronick“ die Legende vom Kaiser Barbarossa bespricht. „Der gemein Mann ist beredt worden, diser Keyser Fridericus sey zu Hagenaw in der Burg lebendig verzucket worden, das ist aber Fabelwerck, dann wie es mit disem frommen Keyser (welcher nit allerdings des Bapst’s und der geystlichen liedlin singen wollen) ein ende genommen, bezeugen die Chronicken und Historien, so von ihme beschriben seyndt.“ Petrus, der ein zerbrochenes Hufeisen verschmäht, während sein Herr und Meister die übrigen Brocken sorgfältig sammeln läßt, der wie ein Landsknecht mit dem Schwerte dreinschlägt, wo der Heiland duldet und verzeiht, entspricht in der elsässischen Volksdichtung weit mehr seinem wahren geschichtlichen Bilde, als man nach der kirchlichen Ueberlieferung sich den Apostelfürsten denken mußte.
Eine mittelalterliche Sage erzählt, daß ein Papst einem kaiserlichen Gesandten die Schätze des Vaticans zeigte mit der Bemerkung: „Wir sagen nicht mehr, wie Petrus zu dem Lahmen vor der Thür des Tempels sagen mußte: Gold und Silber habe ich nicht.“ Mit großer Geistesgegenwart erwiderte der kühne Ghibelline: „Darum können Sie auch nicht fortfahren wie Petrus: Aber was ich habe, das gebe ich dir. Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle!“ An diese Sage erinnerten unsere katholischen Bauern, als man sie aufforderte, sich bald an der päpstlichen Anleihe, bald am Peterspfennige zu betheiligen.
In den letzten Jahrzehnten wurde öfters in Predigten und Flugschriften behauptet, der Papst müsse eine weltliche Herrschaft und eine mächtige Armee zur Verfügung haben. Einzelne Elsaß-Lothringer traten in die Reihen der päpstlichen Zuaven ein; die Väter der Gemeinden aber erinnerten an die Frage, die ein elsässischer Fröhner beim edlen Waidwerke an den Bischof von Straßburg richtete: „Mein Gnadherr, Ihr seid heute als Landgraf, nicht als Bischof, ausgeritten. Wenn aber der Teufel einst den Landgrafen holt, wo wird der Bischof bleiben?“ Ein Bauer, der zur Zeit der Option im Namen der Kirche aufgefordert wurde, seinen Sohn in die französische Armee eintreten zu lassen, deutete auf den goldenen Hahn, der den Kirchthurm schmückte, und sprach: „Dieses Warnzeichen soll uns den Hahnenschrei und den großen Fehler in’s Gedächtniß zurückrufen, den Petrus begangen hat, als er das Schwert gegen die Obrigkeit zog. Mein Sohn soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist.“ Den tiefsten Eindruck aber machten die Worte des Apostels Petrus am 4. Mai 1873. An jenem Sonntage sollte der Sturm losbrechen, den die Madonna im Bitscher Ländchen angekündigt, und bereits hatten die Bürgermeister der Saarstädte Hülfsmannschaft begehrt. Wie eine Friedensbotschaft vernahm man die Worte der Sonntagsepistel: „Seid unterthan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem Könige, als dem Obersten, oder den Hauptleuten, als den Gesandten von ihm!“ An jenem Sonntage ging das Volk aus den Gotteshäusern mit dem Bewußtsein, daß Petrus das Schwert in die Scheide gesteckt hatte und aus den Reihen der elsässischen Liga getreten war.
Die elsässische Dorfsage erzählt vom goldenen Bilde eines Heidengottes, das bei Benfelden im Kiese der Ill verborgen liegt. Aehnliches berichtet man im Saarthale vom goldenen Sarge eines römischen Kaisers. Von Jahr zu Jahr sinken die Kleinodien tiefer hinab. Es sind die Wahrzeichen der römischen Weltherrschaft, die immer mehr aus dem Gedächtnisse unseres Volksstammes entschwinden.
(Mit Illustration, Seite 413.)
Es trommelt zum Krieg, und das Scheiden thut weh.
„Ade, Weib und Kinder, lieb Mutterl, ade!
Und trifft mich die Kugel, die feindliche, dort,
Ist der König Euch Vater, und der König hält Wort.“
– Wohl steigt in die Berge mit Briefen der Bot’,
Und wie leicht ist die Noth, sind die Siegel noch roth!
Verwunden wird viel, hat das Herz noch sein Ziel:
Um die Lieb’ und das Leben erträgt man gar viel.
Doch bringt Dir der Bote ein Brieflein daher,
Und das Siegel ist schwarz: wird die Noth so schwer.
Da schreit sie zum Himmel, da tobet der Schmerz;
Da trifft sein Blei auch die Lieben in’s Herz.
Und hat sich die Zeit auf die Schmerzen gesenkt
Und vom Grabe den Blick in die Zukunft gelenkt,
Dann fehlt erst der Vater, dann wird erst der Tod
Der wahre Verkünder von Elend und Noth.
Wohl ist auf den Bergen der Himmel nicht fern
Und so nahe der schönste, der herrlichste Stern:
Das Gottvertrau’n, das die Macht nicht verlor,
Ob das Elend schauet aus Fenster und Thor.
Und siehe! da eilt mit dem Briefe der Bot’:
Fünf Siegel verkünden das Ende der Noth.
Des Vaters Trost erfüllte sich dort
Für Wittwen und Waisen; ja, der König hält Wort.
Zur Geschichte eines Nationalwerks. Wenn man auf die Reihe der wissenschaftlichen und schriftstellerischen Leistungen zurückweist, die im Laufe dieses Jahrhunderts durch Verbreitung einer tieferen politischen Bildung das politische Werden unserer Nation sehr wesentlich gefördert haben, so wird unzweifelhaft auch jener Sammlung historischer Darstellungen gedacht werden, die unter dem Gesammttitel „Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von Heeren und Uckert“ allen gebildeten Kreisen Deutschlands bekannt sind. Dieses bewährte Unternehmen hat nicht blos thatsächlich nach der bezeichneten Richtung hin gewirkt, es ist auch von vornherein mit der Absicht begründet worden, einen solchen Einfluß zu üben. Als der Freiherr von Stein zu weiterer Kräftigung des mit den Franzosenkriegen erwachten geschichtlichen Sinnes die seitdem unter dem Namen „Monumenta Germaniae“ wissenschaftlich so bedeutsam gewordene vollständige Ausgabe der Quellen für die ältere deutsche Geschichte in’s Leben rufen wollte, gehörte der Buchhändler Friedrich Perthes in Hamburg zu den Ersten, mit denen er seinen umfassenden Plan besprach. Perthes, bekanntlich einer der besten deutschen Männer, ein Patriot von tiefer Gemüths- und Geistesbildung, erfaßte den Gedanken des großen Staatsmannes mit wärmster Theilnahme, aber als ein dem Volksleben näher stehender Beobachter verhehlte er sich nicht, daß es doch noch eines frischeren Eingreifens, daß es noch anderer Mittel als der bloßen Quellensammlung und gelehrten Geschichtsforschung bedürfe, wenn der Nation wirklich das geschichtliche Verständniß erschlossen, ihr Bedürfniß nach demselben befriedigt und jede der heilsamen Wirkungen erreicht werden sollte, welche man damals mit Recht von dem Einflusse der geschichtlichen Studien auf die Gegenwart zu erwarten begann.
„Die harten Jahrzehnte, welche die Deutschen durchleben mußten“, so schrieb der großsinnige Buchhändler in jenen Tagen, „sowie die Seelenerhebung des Jahres 1813 haben, was man früher nur als Sagen und Märchen gehört, zu Fleisch und Blut werden lassen. Die großen Erfahrungen, die Keinem erspart worden sind, haben Allen einen weiteren Blick, einen höheren Standpunkt für die Betrachtung des Geschicks der Völker gegeben; größere Fragen, andere und tiefere als früher, werden an die Geschichte gethan, und eine Antwort darf nicht ausbleiben. Mein Beruf nun soll es werden, die Männer, welche solche Antwort geben können, suchen zu helfen, sie zu drängen und zu treiben, das, was sie können, auch wirklich zu thun, und ihnen in allen Dingen, die dem Buchhändler näher liegen als dem Gelehrten, förderlich und behülflich zu sein.“ Das sind die Grundgedanken, aus denen die „Geschichte der europäischen Staaten“ erwachsen ist, aber der Ausführung stellten sich außerordentliche Schwierigkeiten entgegen. Als Perthes 1822 von Hamburg nach Gotha übergesiedelt war, begann er mit dem Suchen nach den rechten Männern für seinen Plan, aber erst 1827 konnte er die buchhändlerische Ankündigung verbreiten, erst 1828 die Einladung zur Subscription dem Prospekte folgen lassen und erst 1829 erschien die erste Lieferung des Werkes, den ersten Band von Pfister’s „Geschichte der Teutschen“ und zwei Bände von H. Leo’s „Geschichte der italienischen Staaten“ umfassend. Der Erfolg aber zeigte sich sofort als ein überaus günstiger und steigerte sich bei jedem neu erscheinenden Bande.
Mit sicherem Blicke hatte also Perthes ein tiefes und durchaus edles Bedürfniß seiner Zeit erspäht und einem Fortschritte die Wege gebahnt, der einen nothwendigen und ungemein wohlthätigen Umschwung in der geistigen Entwickelung des Publicums hervorrief. Während eine erdrückende Censurgewalt jede directe politische Erörterung so gut wie unmöglich machte, wurde die Geschichte, der keine Gewalt den Mund verschließen konnte, ihrem hohen Berufe als Bildnerin und Lehrmeisterin des Volkes zurückgegeben, wurde die trockene und schwerfällig sich bewegende Geschichtschreibung ermuntert, den Staub der Schule abzuschütteln, sich in das öffentliche Leben zu wagen und in anziehendem Tone, in gemeinverständlicher Sprache jedem Gebildeten sich darzulegen. Wenn jetzt den Darstellungen unserer Historiker mit Recht eine von trockenem Gelehrtenkrame sich abwendende, stylvoll in das Leben greifende Frische nachgerühmt wird, so wissen unsere Zeitgenossen die Kraft des Anstoßes zu würdigen, welcher von der Gothaischen Staatengeschichte für die Erreichung dieses Zieles gegeben wurde. War aber schon die Gründung des Unternehmens mit großen Schwierigkeiten verbunden, so gestaltete sich die Fortführung noch sorgenvoller und mühseliger. Unaufhaltsam schwoll es über die genau bestimmten Grenzen hinaus, die ihm ursprünglich gestellt waren. Als Heeren 1842 und Friedrich Perthes 1843 starben, war bereits die Zahl der Bände erreicht, welche man in Aussicht gestellt hatte, und doch war man von der Erschöpfung des Stoffes noch weit entfernt. Im Jahre 1845 waren dreiundvierzig Bände erschienen, und man glaubte nun den Abschluß für die nächsten Jahre versprechen zu können. Aber auch als Uckert 1857 verschied, stand diese Vollendung noch in unbestimmter Ferne, und noch heute, wo mehr als siebenzig Bände vorliegen, läßt sich die Zeit einer gänzlichen Durchführung schwer bestimmen.
Auf alle diese nur Wenigen genauer bekannten Umstände glaubten wir die Aufmerksamkeit unserer Leser in einem Augenblicke lenken zu müssen, wo die Verlagshandlung (Friedrich Andreas Perthes in Gotha) in dem berühmten Geschichtsforscher Professor von Giesebrecht in München einen neuen Redacteur für die Fortsetzung dieses denkwürdigen Nationalwerks gewonnen hat. Da es keineswegs verschollen ist, sondern eine größere oder geringere Anzahl seiner Bände sich in sehr vielen deutschen Häusern findet, werden gewiß Unzählige mit Freude vernehmen, daß es von ebenso rüstiger als sachverständiger Hand ergriffen ist und seinem allseitigen Ausbaue entgegengeführt wird.
- ↑ Anknüpfend an seinen Artikel „Die Jagd auf Flußpferde“ (Gartenlaube 1874, Nr. 43) und denselben gewissermaßen ergänzend, giebt der berühmte Afrika-Reisende in dem obigen instructiven Beitrage eine überaus interessante Schilderung des afrikanischen Flußlebens. Bekanntlich hat unser vielgewanderter Mitarbeiter seine Forscherreisen kürzlich wieder aufgenommen und ist, wie wir dem Berichte des Prof. H. Vogel, eines Mitgliedes der Venus-Expedition, entnehmen, jüngst in Aden gesehen worden, von wo er sich wiederum in das Land der wilden Somali zu begeben gedenkt.Die Redaction.
- ↑ Die längste Zeit, die ein Hippopotamus unter dem Wasser ausharren kann, übersteigt nach meinen Beobachtungen nicht vier Minuten, und selbst dieser Zeitraum wird nur in der höchsten Angst ausgehalten.
- ↑ Laub scheinen die Hippopotamen nicht zu fressen, wenigstens fand ich keine Ueberreste davon in den untersuchten Mägen mehrerer derselben.D. V.