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Die Gartenlaube (1873)/Heft 27

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[431]

Der Loder.

Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Wolf sprang auf und eilte den Hügelabhang unter den Eichen trotz seiner Steilheit wie im Fluge hinunter; dort, wo die Mangfall, durch die Glonn verstärkt, unter der Brücke hinweg saust, neben einer schönen Baumgruppe erreichte er den Weg gerade recht, um Th’res gegenüberzutreten, die eben wieder spähend um sich blickte. Das Geräusch in den Büschen machte sie aufmerksam; sie wandte sich, daß er ihr voll in’s Gesicht sehen konnte – sie war es wirklich, aber völlig umgewandelt. Aus ihren Mienen war alle Herbheit, aller Trotz verschwunden, und ihre sonst so strengen Augen schwammen in Thränen. Diesmal besann sie sich nicht lange, was sie ihm zu sagen habe; während er noch immer wie zweifelnd sie anblickte, trat sie rasch und dicht vor ihn hin und bot ihm grüßend die Hand.

Auch er zögerte nicht einzuschlagen.

„Grüß’ Dich Gott auch!“ erwiderte er; „das ist aber seltsam, daß wir uns da begegnen. Wie kommst denn Du da her?“

„Das kannst leicht errathen,“ erwiderte sie, „nach dem Allem, was geschehen ist …“

„Ja, das ist freilich merkwürdig genug,“ rief Wolf. „In Zeit von einer halben Stund’ bin ich aus einem reichen Bauernsohn ein armer Teufel geworden, und da hast Dir halt eingebildet, Du müßtest es auch probiren, ob Du mir’s nit einreden kannst, daß ich mir ein Halsband umthun und die Ketten anlegen lassen sollt’ wie der Tiras daheim.“

„Nein“, sagte sie, indem sie ihr Tuch an die Augen drückte, „das will ich nit! Wie ich gehört hab’, was geschehen ist, droben auf dem Landgericht, da hab’ ich freilich gemeint, der Erdboden müßt’ einbrechen unter mir, aber nit deswegen, daß es so traurig hat kommen müssen, und daß ich nirgends eine Hülfe sah, wie’s wieder gut werden könnt’ … Es ist wohl hart und schwer, daß Du arm worden bist und Deine Heimath mit dem Rücken anschauen mußt – aber das Härteste ist doch, daß Du in die weite Welt ziehen und nimmer wiederkommen willst, nit einmal auf so lang, als man zum ‚B’hüt’ Gott!‘ sagen braucht.“

„Ist das wahr?“ fragte Wolf freudig bewegt. „Ist Dir das schwer gefallen?“

„Wie kannst fragen?“ entgegnete sie innig. „Zwiefach schwer ist mir’s auf’s Herz gefallen, weil ich daran ’denkt hab’, wie wir auseinander gegangen sind, daß du vielleicht im Unwillen fort gingest und mir’s nachtragst wegen meiner letzten Reden.“

In Wolf’s Herzen ward es hell wie in einem Regengewölk, durch das die Sonne bricht. „Da hast Dir Recht und Unrecht auf einmal ’denkt,“ sagte er. „Ich wäre nit im Unwillen fort’gangen, aber nachtragen werd’ ich Dir doch was – daß Du, mit der ich oft so ungut gewesen bin, mich aufgesucht hast; daß Du die Einzige gewesen bist, die es der Mühe werth gefunden hat, mir ‚B'hüt’ Gott!‘ zu sagen, das trag’ ich Dir nach, so lange ich ein offenes Auge habe – ich wundere mich nur,“ setzte er freundlich hinzu, „wie Du mich gefunden hast …“

Th’res schlug die Augen nieder; eine leichte Röthe der Verwirrung überflog ihre Wangen. „Sie haben mir gesagt, Du würdest nach Rosenheim gehen zu Deinem Advocaten,“ sagte sie beklommen und stockend, wie Jemand, der etwas verschweigen will – was dieses Verschweigen war, verrieth aber der Zug, der eben etwas weiter unten auf der Landstraße vorüberkam. Es war die Gauklerbande, die früh aufgebrochen war, um in einem der nächsten Dörfer noch eine Nachernte und ein wohlfeiles Nachtquartier zu finden. Von einem Paar schlechter Gäule gezogen, polterte der Wagen daher, der sich wie ein großer auf Räder gestellter Kasten ansah und zum zeitweisen Aufenthalt so wie zur Aufbewahrung des Künstlergeräthes diente; der Geiger schritt als Fuhrmann neben dem Gespann einher, die andern Gesellen schlenderten nach Belieben hinterdrein, von der Tänzerin war nichts zu gewahren; sie hatte wohl den Ehren- oder Vorzugsplatz im Innern des Wagens erhalten.

Ein Blick auf die Wandernden und dann auf Th’res sagte Wolf Alles, was sie verbergen wollte. Offenbar hatte sie ihn überall gesucht und, als sie ihn nicht gefunden, ihn in der Nähe der Truppe vermuthet, die sich eben zum Aufbruch gerüstet haben mochte. Er gedachte der eifersüchtigen Regung, die aus ihren Worten bei der letzten Begegnung gesprochen; er überlegte, daß sie diesem Grolle doch nicht nachgegeben und es nicht über’s Herz gebracht hatte, ihn, wenn er auch verarmt war, ohne einen letzten Gruß ziehen zu lassen, und diese Gedanken brachten immer mehr Lichtglanz und Sonnenwärme in sein Gemüth. Wie er seit dem Gespräch mit dem Schützenpeter Th’resens äußere Erscheinung mit ganz andern Augen ansah, so erschien ihm jetzt auch ihr Inneres in völlig verändertem Lichte; mit Einem Schlage ward ihm auf Jahre zurück ihr ganzes Betragen klar, und er erkannte, daß, was er oft für Feindseligkeit und mürrisches Wesen gehalten, nichts anderes gewesen, als die Stachelhülle einer kostbaren Frucht, die herbe Schale um den süßen Kern einer geheimen, tief [432] verborgenen Neigung. Wo hatte er seine Augen und wo sein Herz gehabt, daß er einen solchen Schatz erst jetzt erkannte, wo er für ihn verloren war? Wäre er in diesem Augenblicke noch der Erbe des Lindhamerhofs gewesen, er hätte ihr denselben angeboten und sie zu sich auf den Herrensitz gehoben – jetzt als heimathloser, mit einem schlechten Zehrpfennig abgefundener Knecht hatte er ihr nichts mehr zu bieten, jetzt mußte er auf die Liebe verzichten, die sich ihm so rein und ungesucht aufthat, wie ein unvermuteter Brunnquell, und jetzt zum ersten Male zuckte wie ein plötzlicher Dolchstoß der Schmerz über den hingeworfenen Reichthum durch sein Herz.

Schweigend stand er ihr einen Augenblick gegenüber, während die Gaukler, das Paar nicht beachtend, unten vorüberzogen; er hielt noch immer Th’resens Hand in der seinen. Unwillkürlich umschloß er sie fester, und auf seine Lippen drängte sich ein Wort, das ihr sagen sollte, was in ihm vorging; dennoch blieb es unausgesprochen; ein einziger Gedanke kühlte die Erregung ab, daß ihm das warme Blut und mit ihm die warme Rede zurückglitt, wie der vollgeschöpfte Eimer eines Radbrunnens, der bis an den Rand emporgewunden wird, dann aber, plötzlich losgelassen, wieder in die Tiefe stürzt und sich ausgießt – es war der Gedanke, daß er sich nicht schwach zeigen dürfe. Er war dem Vater gegenüber[WS 1] standhaft geblieben, hatte dem Landrichter höhnische Gleichgültigkeit gezeigt und es über sich selbst gewonnen, daß er seinen Verlust nicht höher anschlug, als ein mißlungenes Spielzeug, an dem er lange mit Eifer herumgebasselt und es dann als unausführbar gleichgültig bei Seite geworfen – und einem Mädchen sollte es gelingen, ihn sich selber untreu zu machen? Diesem Mädchen, das ihm bisher nicht mehr gewesen, als eine dienende Hausgenossin? Sie sollte sich rühmen können, daß sie ihn dazu gebracht, seinen in der Erregung des Augenblicks gefaßten Entschluß zu bereuen und zu wünschen, daß seine That ungethan sein möge?

„Es ist wohl Ein Ding, wie Du mich gefunden hast,“ sagte er, sich aufraffend, während Th’res, den stärkern Druck seiner Hand spürend und von schöner Ahnung ergriffen, noch tiefer erröthet war und die Augen noch fester am Boden haften ließ; „ich weiß doch, was ich davon zu denken hab’ und dank’ Dir’s von Herzen, daß Du gesucht hast nach mir. Und so wird halt nichts weiter übrig bleiben, als daß wir das thun, wegen was Du gekommen bist, und ‚B’hüt’ Gott!‘ sagen … B’hüt’ Gott! Th’res – wer weiß auf wie lang!“

„Ja wohl – wer weiß auf wie lang!“ erwiderte das Mädchen mit überströmenden Augen; „es weiß ja kein Mensch nit einmal, wohin Du gehst und was Du thust.“

„Ja ja, das Spiel geht jetzt umgekehrt,“ sagte Wolf ruhig, „erst hab’ ich Dich gefragt, was ich thun sollt’; jetzt fragst Du mich darum, und ich danke Dir dafür, daß Du’s thust. Was ich thun will?“ fuhr er mit Nachdruck fort. „Es ist noch nit lang her, so hätt’ ich Dir nit zu antworten gewußt; ich hab’ alleweil noch hin und her überlegt bei mir selber, aber wie Du mich gefragt hast, ist es mir auf einmal durch den Sinn gefahren, wie wenn Einem ein Stern niederschießt, und jetzt weiß ich ganz genau, was ich zu thun hab’. B’hüt’ Dich Gott, Th’res,“ rief er, ihr noch einmal die Hand schüttelnd, und sprang auf die Straße hinab; dort stand er still und blickte zurück … „Meine Cither gehört Dein, Th’res,“ rief er wärmeren Tones; „wenn Du drauf spielst und wenn Du’s der Müh’ werth findest, so denk’ dabei an den Loder, der sie Dir ’geben hat!“




3.

Es war Herbst und überall zu erkennen, daß die Tage des Welkens gekommen.

Obwohl die Sonne schon ziemlich hoch stand, schien sie doch wie durch einen leichten Duftschleier nur kühl und bleich herab und vermochte nicht, die Nebelstreifen zu bannen, die über den feuchten Niederungen und Moorstrecken der Thalebene lagen oder die Wolkenballen zu zerstreuen, in denen die Berge ihre höchsten Spitzen und Grate verbargen. Die Wiesen sahen sich fahl und bräunlich an; in den Wäldern waren die Tannen schwärzer, die Buchen roth und die Birken gelb geworden; nicht selten auch streckten einzelne früher gealterte Stämme ihr ganzes Gezweige dürr und blattlos dem kühlen Westwind entgegen, während die Büsche und Sträucher an den Gehegen und Straßen entlang als Ersatz für das verlorene Laub mit ihren Wildfrüchten prunkten und die rothe Hagebutte, die saftschwarze Hundsbeere oder die duftblaue Schlehe hin und wider schwenkten. Darüber hin schoß noch hie und da ein verspätetes Schwalbenpaar; wanderbereit schwirrte ein aufgeschrecktes Staarenvolk empor oder das Dreieck schreiender Wildgänse zog unerreichbar hoch nach Süden hin.

An dem Lindhamerhof waren nicht minder die Zeichen erkennbar, daß eine Zeit des Welkens und Verfallens auch in ihm eingekehrt war – Zeichen, wie nicht der Wechsel der Jahreszeit, sondern nur die langsame Zerstörung mehrerer Herbste sie einzuprägen vermochte. Der Gesammteindruck war nicht mehr so behäbig, freundlich, wie einst; die Einheit, die ihm das eigenthümliche Wesen echter Ländlichkeit verliehen hatte, war vernichtet durch eine Menge kleiner Einzelheiten, die, an sich unbedeutend, doch im Ganzen die Absicht verriethen, aus dem Hause etwas Anderes zu machen, als es nach seiner Bestimmung sein sollte, ein Bauernhaus. So war an den Fensterläden der rothe Anstrich mit den weißen Querkreuzen verschwunden und hatte einem matten Grau, wie es in Stadthäusern üblich ist, Platz gemacht, und auf der Gräd waren die Bänke und Klapptische einem steifen modischen Canapee gewichen; an dessen rothgeblümtem Persüberzug hingen indessen die Fetzen herunter. Von dem lustigen Windfähnlein waren Hirsch und Jäger heruntergefallen und der leere Ring sauste zwecklos um die Fahne; die Stangen, an welchen die zierlichen Staarenhäuser gehangen, starrten kahl empor; es war Niemand der Mühe werth gewesen, den munteren Wandergästen die Sommerwohnung zu rüsten; von Zeit zu Zeit schwebte ein leiser getragener Ton über die Höhe hin, wie eine verhallende Stimme der Trauer: es war die von Wolf eingerichtete Windharfe, die verdorben war, weil kein Mensch sie zu erhalten vermochte, und von der nichts übrig geblieben, als eine einzige zufällig ungerissene Saite.

Auf der Rundbank unter der Linde saß der alte Lindhamer und horchte auf das Rauschen der Blätter, deren Fallen und Treiben er nicht sehen konnte; wie sein Haar gänzlich weiß, waren seine Augen vollständig trübe geworden; er konnte keine Arbeit mehr verrichten, kein Geschäft mehr besorgen; mit einem Stocke versehen, vermochte er nur an bekannten Orten seinen Weg zu finden. So war die Bank sein Lieblingsplätzchen geworden, denn sie lag nicht weit von dem kleinen Hause entfernt, das sich, wie bei allen größeren Bauernhöfen, am Ende des Obstgartens erhob, um den in die Ruhe oder „in den Austrag“ gegangenen Alten eine stille und bequeme Zuflucht zu gewähren oder, wenn solche nicht vorhanden, als sogenanntes Zubau-Gütl ständigen verheiratheten Tagelöhnern zur Herberge zu dienen. Wie einst Wolf an dieser Stelle gesessen, ein Bild des Frohsinns und der Kraft, und in zierlicher Thätigkeit, saß nun der Alte da, müßig, ein Bild der Schwäche und der Betrübniß; das weiße Haupt vorgebeugt, die Hände um die Kniee geschlungen, sah er stundenlang unbeweglich vor sich hin, wenn bei Augen, die nur Nebel und in demselben verschwimmende Umrisse gewahren, von Sehen gesprochen werden kann; er hatte das Ansehen, als wäre er über langem Sinniren und Grübeln müde geworden und eingeschlummert, aber er schlief nicht; die Welt der Erinnerung wachte in ihm und das um so klarer und lebhafter, als keine äußeren Eindrücke den Reigen ihrer luftigen Gestalten verscheuchten. Weil Tag und Nacht ihm fast keine Unterscheidung brachten, geschah es nicht selten, daß er bis nach Mitternacht lichtlos und allein an seinem Tisch oder auf seinem Bett saß, ohne daß Jemand seiner gedachte oder ihn mahnte, denn er wollte Niemand um sich haben; sein Stolz ließ es nicht zu, seine Schwäche einzugestehen. Er that, als bedürfe er Niemand, als sei er vollkommen im Stande, sich selbst zu helfen und zu bedienen; darum litt er keinen Menschen in seiner Nähe und hatte sogar an der Schwarzwälder Uhr in seiner Stube das Schlaggewicht ausgehoben, weil es ihm peinlich war, wenn ihr Schlag ihm verkündete, wie entsetzlich langsam die dunkeln einförmigen Stunden von der Stelle rückten. Das Ganggewicht aber zog er jeden Tag pünktlich auf, damit es den Anschein habe, als vermöge er das Zifferblatt und die Zahlen ganz wohl zu unterscheiden; wollte er wissen, welche Zeit es war, so horchte er vorher lange und sorglich, ob Niemand in der Nähe sei, ihn zu belauschen; dann tastete er mit der Hand nach den Zeigern [433] und untersuchte ihren Stand, um daraus die Stunde zu errathen. Es war nur natürlich, daß er in dem wortkargen Brüten und in der Einsamkeit vielfach ein Anderer geworden: zu der Schwere und Wucht der Bürde, die er unsichtbar und schweigend trug, war die lange Zeit, während deren sie getragen werden mußte, als neues Gewicht hinzugekommen und hatte den alten Spruch wahr gemacht, daß die Länge die Last trage.

Fünf Jahre waren vergangen, seit er Dickl den Lindhamerhof übergeben hatte, seit Wolf in die weite Welt, er selbst aber in das Austragshäuschen gewandert war; die fünf Jahre hatten ihn um zehn älter gemacht.

Nach einer geraumen Weile hob er das Antlitz empor, sei’s, daß er dem wehmüthigen Summen der Windharfe lauschen wollte oder daß der feinhörige Blinde den Schritt Th’resens vernommen hatte, die aus dem Hause auf die Gräd getreten war und, auf das Geländer gelehnt, in den Morgen hinaussah; sie hatte den Fuß angehalten im Gehen. Sie wollte offenbar nicht gleich bemerkt sein; auch durch ihre Seele ging die Erinnerung eines andern Morgens, an dem sie auch so dagestanden, der noch viel klarer und schöner heraufgegangen, und dem doch ein so banger und trotz allen Glanzes lichtloser Abend gefolgt war.

Auch an ihr war die Zeit nicht vorüber gezogen, ohne ihre Stundenzeichen anzumerken; aber sie hatte durch die Aenderung nichts an ihrem eigenthümlichen Wesen eingebüßt, sondern eher an Bedeutsamkeit gewonnen: ihre Gesichtsfarbe war bleicher und ihre Gestalt schlanker geworden; aber das ließ ihr gut und der Ausdruck ihrer Mienen war noch einnehmender, denn der herbe Zug, der früher ihren Mund umgeben hatte, war gemildert und zu jener weichen Wehmuth geworden, die, eine Tochter der Ergebung, über ihren Schmerz in sich selbst Herr geworden und sich ein Verlorenes dadurch wieder erworben hat, daß sie darum trauert. In dem Schauen und Erinnern wollte sich etwas wie brütender Trübsinn auf sie niedersenken; aber sie ließ es nicht Macht gewinnen über sich: gewaltsam raffte sie sich auf und fuhr mit der Hand über die Stirn, als könne sie mit der Wolke, die sich darauf gelagert, auch jene glätten, die sich hinter derselben zusammen gezogen. „Wie geschieht Dir denn, Th’res?“ sagte sie in halblautem Selbstgespräch vor sich hin. „Hast Dir nit vorgenommen, daß Du alleweil den Kopf über’m Wasser behalten willst? Heißt das sich zusammen nehmen und nimmer an das denken, wo alles Denken doch nichts mehr nutzt? … Ach, ja wohl,“ setzte sie dann mit einem Seufzer hinzu, „versprechen und verbieten ist halt leichter als halten und folgen … Das ist, als wenn ich da drinn’ einen Spiegel stehen hätt’, durch den ein Sprung geht, was ich auch anschau’ damit, der Sprung laßt sich nit leugnen und schneid’t Alles mitten auseinander.“

Die Aeolsharfe ließ sich wieder hören.

„Rührst Dich auch noch?“ sagte sie schmerzlich; „Dir geht’s halt wie mir, Du traurige Saiten! Das Spiel, zu dem Du gehörst, ist lang zerbrochen; aber Du kannst es nit lassen und fangst doch dann und wann wieder zum Klingen an. – Guten Morgen, Lindhamer,“ fuhr sie fort, indem sie über die Stufen herab zu dem Alten trat. „Seid Ihr schon heraus und habt gar nicht auf mich gewartet? Sonst ist es doch mein Geschäft, daß ich Euch in’s Freie führ’.“

Der Alte lachte, wie Jemand, der sich seiner Ueberlegenheit bewußt ist. „Was denkst von mir?“ rief er. „Ich bin ein bissel früher wach geworden als sonst und bin gleich heraus – Du meinst wohl, ich kann keinen Schritt allein gehn?“

„Fallt mir nit ein,“ entgegnete Th’res; „ich hab’s ja erst neulich gesehn, wie gut Ihr fort könnt, wie Ihr allein den Bergweg hinunter seid.“

„Willst mich vexiren?“ unterbrach sie der Alte rasch. „Ich wär’ auch ganz gut hinuntergekommen, wenn der Dickl nit den alten Weg verlegt und eine neue Fahrstraß’ gebaut hätt’, ohne mir was zu sagen …“ Sein ärgerlicher Ton zeigte, wie sehr ihm die Erinnerung unangenehm war, und das Lachen klang sehr gezwungen, mit dem er fortfuhr: „Eine neue Fahrstraß’! Seit der Lindhamerhof steht, ist der alte Weg gut genug gewesen; aber die jungen Leut’ wollen halt Alles fein bequem haben und die verstehn Alles besser, als die Alten. Aber davon wollt’ ich noch nicht reden, wenn er nur nicht die Geschicht’ angefangen hätt’ mit dem Brünnl’.“

„Ich mein’, Ihr solltet jetzt hinüber kommen in Eure Stuben,“ sagte Th’res rasch dazwischen, „ich hab’ Euch das Frühstück hinüber gebracht.“

„Ist es denn schon so spät?“ rief der Alte sich erhebend. „Es rührt sich ja noch gar nichts auf dem Hof. Alles ist mäuselstill im Stall und auf der Tenn’ – sie sollten ja schon lang’ mit Dreschen angefangen haben.“

Das Mädchen sah traurig umher und warf dann einen Blick des Mitleids auf den blinden alten Mann; eine so schmerzliche Regung überkam sie, daß sie die Lippen zwischen die Zähne klemmen mußte, um ohne Stimmzittern die Frage des Bauers beantworten zu können. „Weiß nit recht,“ erwiderte sie; „ich denk’, es wird wohl so ein halber Feiertag sein. Virgili, glaub’ ich – oder was!“

„Lauter neue Bräuch’!“ grollte der Alte. „Ich hab’ meiner Lebtag nit gehört, daß am Virgilitag nit gearbeit’ wird, will nur sehn, was sie noch Alles aufbringen …“ So murrte er in sich hinein, während er allein, geraden Weges, aber doch etwas unsicheren Schrittes, seiner Wohnung zuging. Nach einer Weile hielt er inne, wandte sich um und sagte mit halblauter, etwas unterdrückter Stimme: „Wie ist’s, Th’res? Wenn ein halber Feiertag ist, hast vielleicht Zeit, daß Du auf ein Stündel zu mir hereinkommst – können wir Eins mit einander schwätzen, und weißt Du was?“ fügte er etwas gleichgültiger hinzu, „kannst auch Deine Cither mitbringen. Ich mach’ mir zwar nicht viel aus dem Geklimper, aber ich weiß ja, Du hörst es gern.“

Th’res lächelte und sah den Alten mit einem leichten Kopfnicken an, als wenn sie sagen wollte, daß sie ihn wohl kenne und wisse, daß es, so abgeneigt er sich auch anstelle, doch Niemand mehr um das Citherspiel zu thun sei, als ihm selbst. „Wenn Du noch so fein auftrittst,“ dachte sie, „ich hör’ Dich doch gehn, Alter,“ und legte traulich ihre Hand auf seinen Arm. „Es wird sich wohl machen, daß ich die Cither herüberschwärzen kann auf ein halbes Stündl’,“ sagte sie mit ihrem besten herzlichsten Ton, „ich hab’ so was gehört, daß die Bäurin ausfahren will: sie ist bei der Müllerin am Ort zu Gevatter gestanden; da soll heut’ das Kindelmahl sein; ich bin begierig, ob ich noch was spielen kann, drüben im Haus komm’ ich nie dazu; die Bäurin kann’s nit leiden, und es ist recht gut und brav von Euch, daß Ihr Euch so aufopfert und laßt mich bei Euch spielen, wenn’s Euch auch zuwider ist.“

Sie huschte hinweg; geschmeichelt tastete sich der Alte nach dem Austraghause in seine Stube und ließ alle Thüren hinter sich offen stehen, damit er hören könne, was draußen vorginge, vielleicht auch, daß, wenn Jemand ihn zufällig beobachtete, er sich überzeugen mußte, wie gut er sich zurecht zu finden wisse. Er hatte am Tische Platz genommen und schickte sich eben an, sich den Kaffee zurecht zu machen, als es draußen vor dem Hause laut wurde und Stimmen durcheinander tönten, so daß er nach den ersten Worten, die er verstehen konnte, das Geschirr zurückschiebend, sich wieder erhob und nach dem Ausgange tastete.

Eine scharfe kreischende Weiberstimme wurde in lautem heftigen Schelten hörbar; sie gehörte der jungen Bäurin, Dickl’s Frau, die vom Straßenwirthshause auf den Lindhamerhof als Herrin eingezogen war. Die Bäurin war eine stark gebaute und wohl genährte Person, deren Verhältnisse über die gewöhnlicher Frauen etwas hinausgingen; dennoch war sie durchaus nicht unförmlich und die ganze Erscheinung, wenn auch in etwas größeren Maßen ausgeführt, machte wohl einen überraschenden, aber keineswegs unangenehmen Eindruck. Man traute es ihr auf den ersten Blick zu, daß sie wohl im Stande war, als Herrin und Wirthschafterin eines großen Anwesens das Regiment zu führen. Das Angesicht war von blühendem Aussehen; rothe Wangen, rothe Lippen und hochblaue Augen boten mit der auffallend weißen Haut ein lockendes Bild jugendlicher Frische; aber die Züge waren nicht edel: die stumpfe Nase, der aufgeworfene Mund und das etwas vorgedrängte breite Kinn ließen den Zornmuth und die Derbheit errathen, in denen sie sich so eben erging. Sie war im höchsten Staat, den eine Bauersfrau zu tragen vermag; eine schwere goldene Erbsenkette hing von dem weißen Halse, den sie ein paar Mal umwand, bis auf das Silbergeschnür am Mieder herab, an welchem, um den Reichthum recht zu zeigen, goldene Münzen und andere kostbare Schaustücke, zum Theil mit Edelsteinen besetzt, funkelten. Wie das bunte langbefranste Brusttuch,

[434] war auch die Schürze aus dem schwersten Seidenstoffe; kostbare Spitzen faßten dasselbe ein und der schwarze Rock war mit gleichfarbigen Sammetstreifen der feinsten Art besetzt. War auch im Ganzen die bäurische Tracht der Gegend beibehalten, so ließ doch jedes einzelne Kleidungsstück durch Zier und Ueberfeinerung erkennen, wie sehr die Trägerin bestrebt war, für etwas Anderes angesehen zu werden, als sie wirklich war. Vollends war dies aus den hohen Schnürstiefelchen zu ersehen, in denen die derben Füße steckten, so wie aus dem modisch zugestutzten Hütchen, das auf dem reichen hochblonden Haare so schief saß, als wäre es vom Winde verweht worden und dort hängen geblieben.

Es konnte kaum einen stärkern Gegensatz geben als den zwischen ihr und Th’res, die ihr gegenüberstand, die eine Hand auf den Rücken gelegt, als ob sie etwas zu verbergen suche; die feine, geschmeidige Gestalt in dem schmucklosen Arbeitsanzug, der anmuthige Ernst des Gesichts gaben ihr das vollste Uebergewicht über die zürnende Gegnerin, die, vielleicht weil sie das selbst empfand, sich zu immer leidenschaftlicherem Grimme steigerte.

„Was ist mir das für eine Wirthschaft!“ rief sie. „Ich ruf’ mir droben in der Stuben fast die Lung’ heraus, damit Jemand kommen soll, der mir beim Anziehn hilft, und Du trengest (tändelst, versäumest dich) da unten herum, als wenn ich für Dich gar nicht auf der Welt wär’.“

„Ich hab’ wahrhaftig nicht rufen hören,“ entgegnete Th’res gelassen, „sonst wär’ ich gleich gekommen.“

„Still!“ unterbrach die Bäuerin sie mit kreischendem Aufschrei. „Was hast Du denn für wichtige Sachen zu denken, daß Du nit hörst? Und wenn’s so wäre – wenn Du nur so viel Aestimation für mich hättest, als das Schwarze unter’m Nagel ausmacht, so hättest Du gar nit auf’s Rufen gewartet, so hättest Du von selber gewußt, was Deine Schuldigkeit ist, und wärst zu mir gekommen. Wirst schon eine andere Abhaltung gehabt haben – gewiß bist Du wieder bei dem Alten gesteckt und hast raisonnirt und uns ausgerichtet.“

„Ich richte keinen Menschen aus,“ sagte Th’res noch immer ruhig, wenn es ihr auch heiß durch die Wangen lief; „aber beim alten Lindhamerbauern bin ich wohl gewesen und hab’ ihm den Kaffee gebracht.“

„Still sei!“ schrie die Bäuerin wieder. „Ich hab’ Dir schon gesagt, daß ich nichts hören will von Deinen lumpigen Ausreden – an denen fehlt’s Dir nie; an Dir ist ein halber Advocat verloren gegangen. Deswegen weiß ich doch, was ich weiß; ich schaue Euch Alle durch und durch, als wenn Ihr ein Glasfenster auf der Brust hättet. Ihr könnt mich Alle nicht ausstehn und spinnt hinter meinem Rücken zusammen gegen mich; ich bin Euch ein Dorn im Aug’, seit ich einen Fuß hereingesetzt hab’ in den Lindhamerhof. Wenn Du nichts Besonderes mit dem Alten hast, warum hast Du denn jetzt gerade noch einmal zu ihm hinüber gewollt, nachdem Du ihm den Kaffee doch schon gebracht hast? Wenn Du Dich nichts zu scheuen hast, was hältst Du denn in der Hand, was Du so auf dem Rücken versteckst?“

„Nichts Unrechtes,“ sagte Th’res; „es ist meine Cither – der Vater hat danach verlangt.“

„So? Die Cither?“ schrie die Bäuerin. „Auf das also ist’s abgesehn gewesen? Ihr habt gemeint, wenn die Katz’ aus dem Haus ist, haben die Mäus’ Rantewuh (Rendezvous)? Du hast gemeint, wenn ich fort bin, dann braucht es nichts, als die Arbeit Arbeit sein lassen und faullenzen? Da ist was gut dafür. Her mit der Cither!“

Th’res trat einen Schritt zurück und hielt das Instrument jetzt mit beiden Händen an die Brust gedrückt. „Die Cither ist mein,“ sagte sie mit fliegendem Athem; „ich wüßte nit, warum ich sie hergeben sollt.“

„Weil ich es haben will, Du widerspenstiges Geschöpf!“ schrie die Bäuerin und machte Miene, ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. „Wenn ich Dir gut zum Rathen bin, so giebst den Schepperkasten her oder es geht Dir nit gut …“

„Laßt mich in Frieden, Bäu’rin!“ rief Th’res hinwieder, und in ihren Augen funkelte eine Entschlossenheit, die zum Schutze ihres Kleinods auch den Kampf mit dem ihr offenbar überlegenen Weibe nicht scheute. „Meine Cither geht Euch nichts an – wenn’s Euch zuwider ist, will ich s’ aus dem Haus thun und nimmer spielen – aber Euch geb’ ich die Cither nit …“

„Das wollen wir einmal sehn!“ schrie die Bäuerin außer sich und wollte auf Th’res losspringen; aber die mächtig dazwischentönende Stimme des Alten hielt sie zurück. Auf der Schwelle des Austraghauses stehend, hatte er den Wortwechsel mit angehört und war näher gekommen; er schien nicht zu fühlen, daß auf seinen Augen ein Schleier lag, so fest hielt er sie nach dem Orte gerichtet, von welchem die Stimme der Bäuerin herkam, und den Nacken trug er so kerzengerade aufrecht, wie er ihn in den Tagen seiner Kraft getragen, da er noch als Herr und Vogt auf dem Lindhamerhofe geschaltet hatte und gewohnt war, daß seine Blicke als Gesetze geachtet wurden, denen gegenüber kein Widerspruch galt.

„Laß es die Schwieger gut sein!“ sagte er im Tone eines Herrn, der zwar begütigen, aber durch sein Dazwischentreten entscheiden will. „Die Th’res kann nichts dafür – ich hab’ es ihr gesagt, daß sie mit der Cither zu mir herüberkommen soll.“

Die Worte des Alten verfehlten vollständig ihren Zweck; statt zu beruhigen, waren sie Oeltropfen, in die Gluth gesprengt, und machten die Flamme nur noch höher auflodern.

„So? Mischt Ihr Euch noch darein?“ rief die Bäuerin mit so maßloser Heftigkeit, daß ihr die Stimme überschlug. „Ihr seid auch gegen mich verschworen? Das wird ja immer schöner; statt daß Ihr, wie sich’s für den Schwiegervater gehören thät’, mich unterstützt, helft Ihr noch zum Gegentheil und muntert die Dienstboten auch noch auf in ihrem Uebermuth und Trotz. Recht so – nur so fort! Mir geschieht’s ganz recht; warum bin ich herein auf den miserabeln Hof – ich hätt’s vorher wissen können, daß es mein Unglück ist.“

Das Antlitz des Alten färbte sich dunkelroth. „Oho, Frau Schwieger,“ entgegnete er mit vor Unwillen bebender Stimme, „thu’ Sie sich nicht versündigen! Das Unglück, daß Sie Lindhamerbäu’rin geworden ist, wird wohl auszuhalten sein. Es fallt mir auch nit ein, der Frau Schwieger in Ihre Haushaltung oder Wirthschaft dareinzureden oder gar einen Dienstboten gegen Sie aufzuhetzen; aber wenn ich auch nicht mehr der Herr im Haus bin, thät’s der jungen Bäu’rin doch ganz wohl anstehn, wenn sie hört, was der Alte sagt. Wenn auch meine Augen nicht mehr so klar sind wie eh’dem, so ist’s doch in meinem Kopf nit so finster geworden, daß ich nicht noch recht wohl unterscheiden kann, was sich gehört und was nicht, und darum laß ich mir von Niemand das Reden verbieten, Frau Schwieger, und darum sag’ ich Ihr, daß Sie Unrecht hat, wegen einer solchen Kleinigkeit einen solchen Lärm aufzuschlagen. Sie selber ist der fällige Theil, denn es wär’ Ihr kein’ Perl’ aus der Kron’ gefallen, wenn Sie sich selber angezogen hätt’; so viel ich weiß, hat eine richtige Bäu’rin noch niemals eine Kammerjungfer gebraucht, und weil Sie doch schon einmal von Dienstboten red’t, so will ich Ihr auch sagen, daß Sie auch da auf dem Holzweg ist; die Th’res ist kein Dienstbot’.“

„Nit, Vater – von mir ist ja gar keine Red’,“ warf Th’res erschrocken ein, aber es bedurfte ihrer Dazwischenkunft nicht; die Bäuerin hatte in ihrer Wuth schon einen Ausweg gefunden, dem Zanke eine neue Wendung zu geben: sie rief Dickl herbei, der gleichfalls im vollen Festtagsstaate aus dem Hause getreten war. Er that, als gewahre er die Anwesenden gar nicht, und wolle sich dem Knechte zuwenden, der eben beschäftigt war, ein feines muthiges Pferd an eine elegante einspännige Kutsche zu schirren. Die Bäuerin, zu dem letzten Mittel der Bosheit ihre Zuflucht nehmend, brach in Thränen aus und wiederholte ihren Ruf mit schreiender gellender Stimme.

„Da komm’ her,“ rief sie, „jetzt kannst Du zeigen, ob Du ein Mann bist und nit umsonst auf dem Lindhamerhof sitzest. Wenn Du es leidest, daß man so mit Deinem Weibe umgeht, dann bist Du kein richtiger Mann. Dann will ich nichts von Dir wissen. Scheiden lass’ ich mich von Dir, wenn die Person da noch länger im Haus’ bleibt. Sie oder ich – Eins von uns Beiden muß fort!“

Es war Dickl höchst unangenehm, in den Vorfall hineingezogen zu werden, und diese unangenehme Empfindung machte sein Gesicht noch widerlicher, als es in den letzten Jahren geworden; es war aufgedunsen und stark geröthet – die Spuren aller Leidenschaften und eines wüsten regellosen Lebens hatten sich darin eingegraben. Er hatte die Bauerntracht gänzlich abgelegt und städtische Kleider angezogen, so daß er wie ein Bürger [435] aussah, der sich auf seinen Reichthum etwas zu Gute thut, und dessen weichlich dicke Hände mit den schweren Goldringen daran deutlich verrathen, daß er sich die Arbeit nicht sehr anliegen und durch den Fleiß Anderer Das erwerben läßt, was er verschleudert.

„Was giebt’s denn da?“ rief er hinzutretend in rauhem Tone. „Ich bin der Lindhamer Bauer; ich bin der Herr im Haus’, und Du bist mein Weib – ich und Du haben zu befehlen. Ist das Jemand nit recht? Hat Jemand was einzuwenden dagegen?“

„Niemand will Dir was einreden,“ entgegnete der Alte, „Niemand macht Dir oder der Schwieger die Herrschaft streitig auf dem Lindhamerhof, wenn Du’s auch nicht nöthig hättest, gegen mich so den Herrn herauszukehren – ich mein’, Du hättest ihn schon gezeigt all’ die Zeit her. Das Ganze ist nicht so viel Gered’ werth. Ich hab’ von der Th’res verlangt, daß sie mit ihrer Cither zu mir kommen soll; das ist der Schwieger nit recht und sie will haben, daß die Th’res ihr die Cither giebt.“

„Und sie will sie nit hergeben?“ rief Dickl mit höhnischem Lachen. „Ja, mein’ liebe Kath’rin’, das hätt’ ich Dir gleich sagen können, daß Du da den Kürzeren ziehst – die Cither giebt sie nit aus der Hand, die ist ja ein Andenken von ihrem saubern Schatz, von dem Loder, dem lüderlichen …“

„Dickl,“ rief der Alte in aufloderndem Zorne und trat ihm mit der ganzen Würde des einstigen Gebieters so entschieden entgegen, daß der junge Mann trotz seiner Frechheit vor dem Blicke des Blinden die Augen niederschlug und sich abwendete. „Schäm’ Dich in’s Herz hinein, daß Du so red’st! Ich mein’, Du hättest am allerwenigsten Ursach’ dazu.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Muster gesundheitlicher Baukunst.

Das neue Universitätsgebäude zu Glasgow.

Die modischen Miethscasernen mit Hintergebäuden, welche Luft und Licht ausschließen, und die Villa’s, wie sie sich jetzt um Berlin und andere Großstädte herum in unschöner Zerstreuung nach allen Seiten kokettirend einfinden, entsprechen nur sehr selten den Anforderungen der Schönheit, noch weniger denjenigen innerer Bequemlichkeit und Gesundheit. Von Ventilationseinrichtungen bemerkt man selten etwas; dagegen scheinen die Gifttrichter, welche die Wohnungen aus Senkgruben oder aus unterirdischen Spülcanälen fortwährend tückisch mit Typhusluft und sonstigen Krankheits- und Todesgiften versorgen, diese Waterclosets zu den unerläßlichen Erfordernissen sogenannter herrschaftlicher Häuser und Wohnungen zu gehören. In England sind wenigstens kluge und belehrungsfähige Leute durch Schaden klug geworden und lassen nicht nur neue Häuser ohne diese Gifttrichter bauen, sondern diese auch aus alten herausreißen. Und in England können diese Hausdrachenrachen wenigstens nicht so viel Schaden thun wie bei uns, weil es hier noch fast durchweg an guten Ventilationseinrichtungen fehlt, die der Engländer für unerläßlich hält und ohnehin auch mittelbar in den stets luftreinigenden Kaminfeuern besitzt.

Ja, in der Baukunst und in häuslichen Einrichtungen können wir viel von den Engländern lernen. Dort giebt’s noch keinen Casernenstil, und Ventilationseinrichtungen, an welche bei uns Baumeister und Bauherren kaum denken, gelten dort für ebenso nothwendig wie Thüren und Fenster. Da nun nach Rittershaus das neue deutsche Reich „der Freiheit Tempelhalle und nicht eine Reichscaserne“ werden soll, empfiehlt sich das militär- und miethscasernenarme England mit seiner Ventilationspraxis der deutschen Cultur und Baukunst um so mehr zum Vorbilde, als es wirklich höchste Zeit geworden ist, in diesem Reiche der Casernen und der Wohnungsnoth ausreichend bequem, gesund und schön bauen zu lernen. Deshalb wird zunächst ein Musterbau, der, so weit wir es verstehen, allen praktischen und ästhetischen Forderungen der architektonischen Kunst genügt, wie er hier in Wort und Bild zur Anschauung kommt, nicht unwillkommen, wenigstens nützlich sein. Das Reich und die Reichen haben ja ohnehin die höhere Verpflichtung, für Läuterung des Geschmacks und Förderung der Cultur nicht sowohl prächtig, als schön und zweckentsprechend zu bauen. Dafür sind viele englische monumentale Bauwerke, wenn nicht unbedingt Muster, so doch im höchsten Grade anregend.

Zu den gelungensten und großartigsten Kunstwerken dieser Art gehört jedenfalls das von Professor G. G. Scott entworfene [436] und von dem deutschen Ingenieur W. Conradi, einem Schüler des genialen Semper, ausgeführte neue Universitätsgebäude zu Glasgow. Diese musterhafte Tempelhalle der Wissenschaft wirkt wohl auch insofern schon wohlthätig auf Berlin, als der jetzt in Berlin wohnende Conradi von zwei Männern der Wissenschaft ersucht worden ist, ihnen Auditorien und Laboratorien dieser Art im Kleinen zu entwerfen und auszuführen.

Die Universität Glasgow steht nicht allein auf dem solidesten Bau-, sondern auch auf dem ehrwürdigsten Geschichtsgrunde. Im Jahre 1450 entstanden, gehört sie zu einem der ältesten Freitempel der Wissenschaft, durch ihre Entwickelung und Lehrer zu einem der wirksamsten. Sie erwuchs aus eigener Kraft und durch die in England auch noch heutzutage blühende und Früchte tragende „Poesie des Reichthums“ und des Wohlthätigkeitssinnes, durch welchen in London allein die meisten der siebenhundert Anstalten der Barmherzigkeit erhalten werden. Die Zahl der Studenten stieg bald über tausend und schwankt jetzt zwischen zwölf- und fünfzehnhundert. Einige Professoren derselben haben europäischen Ruf erworben, den wirksamsten jedenfalls Adam Smith durch sein Werk „The Wealth of Nations“. Aus seinen Lehren und diesem Buche entsprangen die großartigsten Umwälzungen in der Staats- und Volkswirthschaft, in Handel und Wandel. Er ist der Urvater der allmächtigen Freihandelsbewegung und der Manchesterschule, nach welcher alles Wohl und Wehe der Völker und einzelnen Menschen dem eigenen Ermessen, der Freiheit in „Angebot“ und „Nachfrage“ überlassen bleiben soll. Sie hat nun ihre weltgeschichtliche Mission erfüllt und muß einer höheren, sittlicheren Auffassung und Behandlung der Menschen und Dinge weichen, da alle Freiheit nach der jetzigen höheren und tieferen Erkenntniß auf Pflichten gegen uns und Andere beruht und nicht auf Rechten, für unseren Privatvortheil Andere zu schädigen.

Die große und wachsende Anzahl von Professoren und Studenten machte öftere Erweiterungen nothwendig, und schon vor dreißig Jahren wurden Versuche gemacht, einen ganz neuen, großen, einheitlichen Wissenschaftstempel zu erbauen. Sie gelangen erst vor acht Jahren. Man kaufte zunächst einen prachtvollen, umfangreichen Baugrund für siebenhunderttausend Thaler, und nachdem der Plan des Professor Scott genehmigt worden war, gingen er und der Schüler Semper’s an die heroische Arbeit der Ausführung, welche nun in allen Theilen bis in’s Kleinste als siegreich abgeschlossen betrachtet werden kann. Der Wissenschaftstempel erhebt sich auf freundlichst umgrünter und parkartiger Höhe als rechtwinkeliges, sechshundert Fuß langes und dreihundert Fuß breites Viereck, dessen Inneres durch einen prachtvollen Mittelbau in zwei Würfel von je hundertachtzig Geviertfuß getheilt ist. Um diese beiden großen inneren Würfel gruppiren sich alle die unzähligen Säle, Auditorien, Laboratorien, Wirthschafts- und Gesundheitseinrichtungen. Letztere gelten als das Vollkommenste, was überhaupt bis jetzt je irgendwo erstrebt und mit bestem Erfolge durchgeführt ward. Luft und Licht, diese Sinnbilder des Geistes und Wissens, können von innen und außen stets frei einwirken, und durch den Ventilationsthurm wird fortwährend die reinste Luft aus der Höhe durch alle Räume so mächtig hineingetrieben, daß schädliche Gase und Ausdünstungen sich nie ansammeln können.

Das ganze Gebäude zerfällt in vier Hauptabtheilungen. Die südliche Front mit dem westlichen Eckturme ist den Naturwissenschaften in den prächtigsten Auditorien und Laboratorien gewidmet, der östliche Theil der Arzneikunde mit Bibliothek, Museum und allen nur erdenklichen Hülfsmitteln; die nördliche Front enthält einen Versammlungssaal für die Studenten, eine Lesehalle mit prachtvoller Bibliothek und das berühmte Hunter-Museum, vielleicht die vollständigste Sammlung von Münzen, außerdem die über hunderttausend Bände umfassende allgemeine Universitätsbibliothek. Daran schließen sich über ein Dutzend Privathäuser, jedes mit besonderen bequemen und heiteren Professorenwohnungen, ein fünf Morgen großer Spielplatz für die Studenten, am Ende noch das neue Universitätshospital.

Zuerst fällt natürlich der große Centralthurm mit den Haupteingängen unten in die Augen. Er ist nicht, wie andere Thürme, für Glocken bestimmt, sondern wesentlich für den praktischen Zweck der Ventilation. In einer Höhe von zweihundert Fuß zieht hier gleichsam die Lunge des ganzen Gebäudes jede Stunde seine Million Cubikfuß der reinsten Luft ein und hinunter in alle Poren des Gebäudes, durch welche gleichzeitig alle verbrauchte Luft immerwährend ausgetrieben wird. Noch mehr. Diese frische Luft wird je nach Jahreszeit und Temperatur entweder entsprechend gewärmt oder gekühlt, ehe sie den Lungen geboten wird. Darüber hernach noch ein Wort. An den Hauptthurm schließen sich der große Saal für öffentliche Prüfungen und der Versammlungssaal für den Senat an. Die medicinischen und naturwissenschaftlichen Auditorien sind halbcircelförmig, amphitheatralisch so gebaut, daß der Lehrer mit seinen Experimenten in der Mitte des Halbkreises unten von jeder Stelle aus gut gehört und gesehen werden kann.

Für Equipagen sind mehrere Portale so eingerichtet, daß diese ohne Verwirrung bequem ein- und ausfahren können, und für größere Bücher und sonstige Lasten im Museum, der Bibliothek etc. verschiedene Flaschenzüge mit Dampfbetrieb angebracht. Als nachahmungswerthe Einrichtung verdient noch erwähnt zu werden, daß unmittelbar an jedem Auditorium sich noch ein kleines Privatzimmer mit besonderem Eingange für die Docenten und Professoren befindet.

Um alle Einzelnheiten der vortrefflichen praktischen Einrichtungen anschaulich zu machen, müßte man nicht nur einen Grundplan, sondern auch architektonische Zeichnungen der verschiedenen Etagen zu Hülfe nehmen. Da es uns hier aber nur auf eine Generalansicht und Veranschaulichung der Ventilationseinrichtungen ankommt, weisen wir auf die photographisch aufgenommene Abbildung hin und beschränken uns auf eine Skizze dieses großartigen Ein- und Ausathmungssystems mit den Dampflungenkräften der Ein- und Ausathmung, durch welche der ganze riesige Bau gleichsam zu einem lebendig athmenden Wesens wird.

Die Einathmungswerkzeuge bestehen in vier weiten Luftröhren des Thurmes, durch welche dampfgetriebene Fächer die Luft mit großer Gewalt hinunterschrauben und in die verschiedenen Luftbehälter treiben, wo sie im Winter erst gewärmt und durchfeuchtet und im Sommer gekühlt und dann von derselben Gewalt in unzählige, durch die Wände vertheilte Röhren und von da in alle Räume gepreßt wird. Ueberall sind Klappen angebracht, um den etwaigen zu großen Zustrom zu mildern oder ganz abzuschließen. Vielleicht würde es auch manchmal zu viel werden, da das freie Spiel dieser Luftzufuhr in jeder Stunde jedem Auditorium 1050 Cubikfuß der reinsten Luft zuführt.

Wo kommt aber die schlechte Luft hin? Das ist vielleicht die Hauptsache. Bei uns denken noch häufig selbst gebildete Leute, daß sie den Gesundheitsanforderungen die größten Opfer bringen, wenn sie etwa im Winter täglich einmal auf so und so viel Minuten die Fenster öffnen, obgleich dies keine andere wesentliche Wirkung hat, als Abkühlung der im Zimmer verharrenden Luft und Erkältung. Wenn frische Luft eindringen soll, muß es der schlechten leicht gemacht oder sie muß, noch besser, gezwungen werden, sich an die Luft zu setzen. Unter den Sitzen der Auditorien der Glasgow-Universität sind überall solche Oeffnungen angebracht, daß die verbrauchte Luft, durch die frisch eindringende gepreßt, entweichen kann, ohne Zug zu verursachen. Um dieser nun auch den etwaigen heimlichen Aufenthalt in den Abzugsröhren unmöglich zu machen, sind immerwährend dampfgetriebene schraubenartige Fächer mit je vier Propellers und sechs Pferdekraft damit beschäftigt, ebenso stark für Austreibung, wie ihre dampfgetriebenen Collegen für Eintreibung, zu sorgen. Das ist die Hauptsache bei aller Ventilation: Verbindung einer Einathmungs- und Ausathmungskraft. Von Natur ist die Luft trotz ihrer Lockerheit faul und läßt sich nur durch äußere Gewalt, so zu sagen, auf die Beine bringen.

Diese Ein- und Ausathmungsorgane bestehen aus Röhren, die in gerader Linie fünf englische oder mehr als eine deutsche Meile lang sein würden. Ueber das Baumaterial und die Construction wäre für Sachverständige noch viel zu sagen; wir machen’s mit noch einigen Hauptthatsachen ab. Der Hauptthurm, vierundzwanzig Fuß unter der Oberfläche auf einem soliden Steinblocke von sechsunddreißig Quadratfuß ruhend, steigt erst in zwölf Fuß dicken Mauern von hundertcentnerigen Steinböcken empor. Diese Dicke verringert sich allmählich auf sieben und endlich auf fünf Fuß, so daß der ganze Thurm blos in seinem Rohmaterial hundertsechszigtausend Centner wiegt. Das vortreffliche Baumaterial von Fels und Gestein war meist in nächster Nähe zu haben und wurde an Ort und Stelle [437] und durch riesige Dampfhebelkräfte für die gestaltende Hand des Meisters und seiner Gesellen immer an die geeigneten Stellen gehoben. So konnten etwa zwei und eine halbe Million Cubikfuß oder drei Millionen Centner riesige Steinquadern zu diesem Muster der Baukunst mit mehr als hundert einzelnen Abtheilungen, d. h. Sälen, Auditorien und Zimmern geschichtet und gedichtet werden. Und was für Auditorien und Säle! Man denke nur, daß sie von neunzehn bis zu fünfunddreißig Fuß Höhe und entsprechender Breite und Tiefe zu haben sind. Für sonstige musterhafte Solidität sorgen dreihundertsechszigtausend Centner Guß- und Schmiedeeisen, welche theils als Säulen, theils als Röhren, Bogen und Bindebalken angebracht sind.

Eine ungefähre Vorstellung von den Haupträumlichkeiten geben die Bibliothek, von hundertneunundzwanzig Fuß Länge und sechszig Fuß Breite, und die Centralhalle, welche ziemlich ebenso lang, dafür aber zehn Fuß breiter ist. Selbst die kleinsten Auditorien haben noch eine Länge von dreißig und eine Breite von mehr als zwanzig Fuß. Diese Angaben machen auf uns wenigstens den richtigen Eindruck von Herz und Sinn erweiternder Geräumigkeit, und wenn wir uns noch hinzudenken, daß durch ungefähr fünfzigtausend Geviertfuß von Fenstern das reichlichste Licht und durch den Ventilationsathmungsproceß ununterbrochen so viel reinste Luft aus der Höhe eindringt, daß Niemand die von einem Andern ausgeathmete Luft wieder für seine Lunge einzuziehen braucht, so werden wir zugeben, daß wir es hier mit einem Muster- und Meisterwerk für gemeinsame Cultur- und Wissenschaftszwecke zu thun haben. Solche Muster sollten für uns um so anregender sein, als es unseren öffentlichen Gebäuden und Versammlungstempeln aller Art noch fast durchweg an nur erträglichen Ventilationseinrichtungen fehlt, so daß die Leute aus Concerten, Theatern, Speise-, Trink- und Vergnügungslocalen immer schon deshalb mindestens mit Verstimmung und Kopfschmerz heimkehren, weil sie sich durch Athmung vergifteten. Vielleicht ist die Scharrath’sche Porenventilation, welche der Erfinder nach jahrelangen Opfern und Aergernissen wenigstens an einigen öffentlichen und Staatsgebäuden anbringen durfte, noch bestimmt und berufen, eine neue Aera in gesundheitlicher Baukunst zu begründen; für ganz große öffentliche Institute und monumentale Bauten ist aber dieses in der Glasgower Universität unter der Leitung des deutschen Ingenieurs W. Conradi zum ersten Male so großartig und segensreich durchgeführte System wegen der Sicherheit und Beständigkeit immerwährend zugfreier und frischer Zufuhr von erwärmter Luft im Winter und kühler im Sommer ebenfalls auf das Angelegentlichste zu empfehlen. Wie schon erwähnt, wollen zwei berühmte Professoren Berlins für ihre Auditorien und Laboratorien dieses System in Anwendung bringen lassen und traten zu diesem Zwecke mit W. Conradi in Verbindung. Hoffentlich ist inzwischen etwas daraus geworden, so daß wir annehmen dürfen, die gesundheitliche Baukunst werde auch in Deutschland durch erprobte Ventilationseinrichtungen endlich Eingang finden und Fortschritte machen. Freilich, leicht ist’s immer noch nicht, weil dazu höhere wissenschaftliche Baumeister und zugleich anständige, gebildete Bauspeculanten gehören.
H. Beta.




Persische Diamanten im Taunusbade.


Die Diamanten des Schahs. – Bei Krupp und komischer Einzug in Wiesbaden. – Zwei Berliner Donnen. – Lebensweise des Schahs und seiner Begleiter. – Generalingenieur Gasteyer und seine Enthüllungen. – Hauptzweck der Reise des Schahs. – Die persischen Großen im Bade. – Des Schahs Lieblingsroß. – Sitzt er, so stehen sie; steht er, so sitzen sie. – Officielles und improvisirtes Concert. – Mauvais portrtait! – Taschenspielerei. – Der Schah als freigebiger Gabenspender.


Nur das Außergewöhnliche, was die Fremde auf deutschen Boden sendet, ist heute noch im Stande, Aufsehen zu erregen. Eine japanesische Gesandtschaft erobert sich allenfalls wohl noch ein Plätzchen in der Tagesliteratur; um nachhaltigen Effect zu machen, bedarf es den Werth eines Königreichs in Diamanten, wenn diese auch als Sinnbild der Thränen eines halbverhungerten Landes gelten können.

Wie spurlos würde der vielbesprochene Schah von Persien auf deutschem Boden verschwunden sein, wenn nicht sein zusammengesparter, von Herrscher auf Herrscher vererbter Diamantenschmuck den nöthigen Effect hervorgebracht haben würde! Seine sonstigen Eigenschaften haben weder Hervorragendes noch Bewundernswerthes erkennen lassen. Sein ganzes Wesen war das eines schläfrigen, eigenwilligen, wenig gebildeten Despoten. So zeigte er sich in Petersburg; so zeigte er sich noch mehr in Berlin. Seine selbst nicht durch persische Sitten entschuldigte Indolenz entbehrte nicht nur der Liebenswürdigkeit, sondern auch der Originalität.

In Berlin wußte man ohne Zweifel nicht mehr, was mit dem Schahyczschah anzufangen sei; man sann daher darauf, ihn auf gute Manier loszuwerden; gleichzeitig trachtete man auch wohl, jene königlichen Gemächer wieder zu säubern, welche sein Gefolge – verpersert. In England war sein Empfang noch nicht vorbereitet; in Brüssel verzichtete man gern auf seine sonnenherrliche Gegenwart oder suchte dieselbe doch auf die kürzeste Frist zu beschränken, und so sandte man ihn nach Wiesbaden – vielleicht auch mit dem zarten Nebengedanken, es könne ihm und seinen Begleitern eine kleine curgemäße, also gründliche Abwaschung nur förderlich sein. Nun, die Stadt kann mit diesem Besuche zufrieden sein – er hat einen so großen Menschenzufluß zuwege gebracht, daß die vorhandenen Säle und Gartenanlagen sich, so ausgedehnt sie auch sind, als zu klein erwiesen.

Ueber Essen zur Besichtigung der Krupp’schen Eisenwerke geleitet, traf Nassr-Eddin in Wiesbaden an einem der letzten Sonntage ein. Wenn man glauben sollte, der Schah und sein Gefolge habe eine Studienreise unternommen, um sich und ihr Land durch Erfahrungen zu bereichern, so dürfte dieser äußerst flüchtige Besuch der Krupp’schen Werke leicht das Gegentheil bezeugen. Mit wenig Interesse und noch weniger Behagen sahen sich die persischen Granden die bedeutenden Etablissements unseres Kanonenkönigs im Fluge an. Imponiren konnte ihnen nur das Massige, das Riesenhammerwerk und die größten der fertigen Geschütze, und auch dies nur, weil sie augenscheinlich sich keine genügende Erklärung über die gewaltigen Kräfte geben konnten, welche hier in Bewegung gesetzt werden, um Außergewöhnliches zu schaffen.

Der Verfasser Dieses hat Gelegenheit gehabt, den Schah und die Seinigen in verschiedenen Situationen sehr genau zu beobachten, und er giebt vielleicht durch diesen Umstand manche Notizen in dem Nachfolgenden, welche sich andernfalls der Mittheilung entziehen würden.

Bedauern muß er zunächst die preußischen Officiere, welche zum Ehrendienst des Diamantenherrschers beordert waren. Ein launischerer Patron – mit allem Respect vor seiner Sonnenhoheit – ist wohl nicht leicht aufzutreiben. Einzelne Details lassen an seinem offenen Kopfe zweifeln, obwohl seine Begleitung hierin anderer Ansicht ist. Dagegen sind seine Minister mit wenigen Ausnahmen gebildete, wenn auch nicht europäisch fein auftretende, so doch manierliche Leute. Die meisten derselben sind in Paris, London oder Wien erzogen. Einige – der erste Leibarzt ist ein Engländer, der zweite ein Franzose, einer der Generale ein Oesterreicher – verleugnen ihre Abstammung nur wenig, wenngleich ihnen auch schon manches Persische anhängt. Wie sollte dies auch anders sein? Böse Gesellschaft verdirbt ja die besten Sitten. Unwahr aber ist es, daß die Herren des höhern Gefolges mit den Fingern essen. Sie bedienen sich wie wir der Messer und Gabeln und der Serviette in manierlicher Weise. Die Berliner Zeitungen haben sich hier viele Uebertreibungen zu Schulden kommen lassen oder doch nur den Troß im Auge gehabt. Bei vielen Personen des niedrigen Gefolges ist allerdings das echt persische Insectenpulver recht von Nöthen. Vorsorglich hatte man deshalb auch in Wiesbaden ausgeliehenes und nicht königliches Bettwerk dem vorhandenen substituiert. Der Rest – die niedrigste Dienerschaft – ist Schweigen.

[438] Als der Zug den Bahnhof zu Wiesbaden erreichte und die daselbst aufgestellte Ehrenwache, mit der Musik an der Spitze, für den Schah sichtbar wurde, vollendete der Beherrscher aller Könige seine Toilette, indem er seinen Brillantrock schnell über die königlichen oder besser kaiserlichen Hemdärmel zog – kaiserliche Hoheit lieben die Bequemlichkeit auf der Reise über Alles – striegelte eigenhändig die allerhöchsten Haare in persische Position und stand steif und ungelenk in der Mitte des Reisesalonwagens, der Dinge harrend, die da an ihn herantreten sollten. Zwei königliche Leibjäger bildeten für den persischen Gast Treppengeländer, etwa wie schweizerische Bergführer bei Gletscherrissen die Touristen unterstützen, und schlaff und müde trat er hervor an’s Licht der rheinischen Sonne, geschmückt mit seinen persischen Sternen. Besonders fesselnd konnten wir sein Aeußeres nicht finden. In Posen und polnisch Lissa finden sich derartige Gesichtsbildungen gar nicht selten. Er spricht – wie wir öfter zu bemerken Gelegenheit hatten – selten von Angesicht zu Angesicht mit seiner Umgebung, stets nur über die Schulter.

Neben ihm stand sein Bruder, ein kleiner unansehnlicher Mensch mit über alle Begriffe markirtem orientalischem Typus. Jedenfalls aber ist der kleine Schah, wie er hier allgemein – und sicher gegen seinen Willen – getauft wurde, Prinz Abdul-Samet-Mirza, ein sanfter, liebenswürdiger und für einen Perser fein gebildeter Mensch.

Schah Nassr-Eddin stand wie ein Gartenpfahl, ließ seine Diamanten in der Sonne glänzen, nahm die Vorstellung der drei Vertreter der hiesigen hessen-nassauischen, respective preußischen Regierung durch den General der Infanterie von Boyen mit drei Kopfnicken entgegen, welche lebhaft an die Bewegung eines Pagoden erinnerten, winkte schlaff und abgespannt, die Hand kaum erhebend, mit dem Finger, deutete halb gähnend auf die entgegengesetzte Seite des Perrons, als wenn er sagen wollte: „Auch das noch!“ und schritt der Ehrencompagnie zu, deren Musik den persischen Marsch intonirte. Zehn Schritte Raum vor ihm, zehn hinter ihm, nicht anders duldet er’s. Hier schritt er langsam die Front entlang, mit dem Fürstenanstand eines Bühnenanfängers; statt aber der Front einen Blick zu gönnen, schaute er hinüber auf die andere Seite, wo ein eben rangirter Bahnzug zur Abfahrt bereit stand. Als die Ceremonie vorbei und das Ende der Ehrenwache erreicht war, hob Nassr-Eddin die beiden Finger der rechten Hand, um den preußischen Militärgruß, den er wohl in Berlin studiert haben mag, in ziemlich verunglückter Weise nachzuahmen, und sein Tagewerk war vollbracht. Ohne Rücksicht auf die ihn erwartenden Spitzen der Behörden ging er gelangweilt zum Wagen, und weithin glänzten die berühmten Diamanten durch die wahrhaft volksüberfüllten Straßen. Graf Dattenberg würde diesen Pascha durch Würde gründlich beschämt haben.

Nach ihm ward das Gefolge eingeladen und in königlichen Wagen zum Schlosse befördert, wohl nahe an hundert Personen. Die rheinische Jugend, welche wohl auf den Reichthum der reichgestickten Paradeuniformen gespannt sein mochte, fand sich durch die bescheidenen Reisekleider des Gefolges in Etwas getäuscht. Zum Jubel aber steigerte sich der Ausbruch jugendlicher Freude, als das Gepäck mit seinen Begleitern erschien, ersteres zum großen Theile in Tücher geknotet und mit Riemen oder Stricken zusammengeschnürt, auf Rollwagen gepackt, Letztere auf diesen und den Bündeln thronend – ein Auszug der Kinder Israels in optima forma.

„Hei!“ riefen die jugendlichen Richter solcher Straßenaufzüge, „’s ist Faasenacht! Holla! jetzt kimmt der Hanswurscht!“

Dies war der Einzug des Schahs von Persien zu Wiesbaden, des Königs der Könige, des Beherrschers der Sonne, der kurz vorher dem Kaiser von Rußland für seine treffliche Bewirthung in Petersburg allergnädigst Rußland geschenkt hatte.

Einen wohlthuenden Gegensatz zu diesen Erscheinungen bildete der persische Gesandte aus Paris, General Nazare Aga und der Großvezier und Generalissimus Hadji-Mirza-Hussein-Khan – der persische Bismarck –, so wie der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Nazim-ul-Mulk Mirza Malcolm Khan, Persönlichkeiten, welche auch in einem andern Gefolge volle Ehre eingelegt haben würden.

Die Stadt, welche festlich geflaggt hatte, brachte dem Schah von Persien am ersten Abende durch die Cur-Direction eine Serenade und eine bengalische Beleuchtung des Schloßplatzes, bei welcher, durch die Localverhältnisse geboten, die evangelische Kirche die Hauptgruppe bildete. Aber Nassr-Eddin konnte das Ende dieser Feierlichkeit kaum erwarten; er sandte zu verschiedenen Malen hinunter zum Schloßplatze mit der Weisung, die Musik möge doch ein wenig schneller spielen, er geruhe ruhen zu wollen. Als drollige Erklärung für diese Eile des Schahs wird angegeben, daß er Verlangen getragen, sich mit zwei Berliner Damen zu unterhalten, welche, seinen Wünschen Folge leistend, bereits in der preußischen Hauptstadt sich seinem Gefolge angeschlossen hätten. Beide Damen, die eine blond, die andere schwarz, repräsentirten die preußischen Nationalfarben, wahrscheinlich in Erinnerung an den Berliner Aufenthalt. Sie wurden auf ihr Verlangen, im Schlosse einquartiert zu werden, einfach beseitigt und mußten die Erfahrung machen, daß ihre Koffer wahrscheinlich schon in Berlin aus dem Extrazuge entfernt worden waren. Nur persönliche Intervention des persischen hohen Gastes hatte ihnen für ihre Person die Mitfahrt ermöglicht. Zufällig konnte der Verfasser der Verzweiflung der einen jener Donnen beiwohnen, als ihre Koffer nicht aufzufinden waren. Mit Berlinischer Unverfrorenheit simulirte dieselbe eine Sprache, die wohl persisch sein sollte, als ihr einer der Diener mit der größten Gemüthsruhe die Landsmannschaft klar machte mit den Worten: „Je, Juste, habe Dir man nich!“ Während eines Ausflugs wurden in den nächsten Tagen diese Huldinnen entfernt und dürften dieselben, das Glück einer persischen Reise nicht aufgebend, wohl in Spaa wieder zum Gros der persischen Armee gestoßen sein.

Die Hausordnung des persischen Hofes auf der Reise ist sehr einfach. Morgens Thee; um die Mittagszeit ein Frühstück nach europäischer Sitte, um sechs Uhr Abends indessen muß sich das ganze Gefolge zum gemeinsamen Diner einfinden. Bei seinen Spaziergängen folgen dem Schah fünf Diener, der eine mit einem persischen reichen Shawl, der zweite mit dem landesüblichen Tschibuk (auch die Cigaretten werden von den Herren sehr bevorzugt), der dritte mit einer schön ciselirten und emaillierten Theekanne, und die übrigen beiden mit silbernen Kohlenbecken, nicht, wie allgemein geglaubt wurde, mit Weihrauchfässern, obwohl sie Räuchersubstanzen enthalten. Sie sind zur Erwärmung des Thees bestimmt.

Das Privatleben des Schahs hat sich wohl nur wenig den gewohnten Sitten bis heute entfremdet. Er speist allein auf seinem Zimmer, auf einem Teppiche sitzend und hier wohl auch mit den Fingern essend. Ein Zutritt in seine Gemächer während seiner Mahlzeit ist selbst seiner Bedienung nicht gestattet. Zu bemerken wäre nur, daß er nach unseren Begriffen sehr mäßig ißt. Rohe Gurken, Zwiebeln und sonstige Gewürzpflanzen, sowie ein frischgeschlachtetes, halb gar gebratenes Stück Hammelfleisch, das auf einer kleinen Maschine für ihn bereitet wird, sind seine Liebhaberei. Dabei wirft er die Knochen in die Salons, räumt, was ihm im Wege ist, in einfachster Weise auf, verschmäht die Benutzung eines Spucknapfes und hält Serviette und Taschentuch für weniger angenehm, als seine Brillanten.

Seine Begleiter aber ließen sich stets die reich besetzte königliche Tafel trefflich munden, verschmähten keines der Gerichte, bevorzugten das Desserteis des Hofconditors Röder und tranken größtentheils herzhaft, trotz einer rheinischen Kehle. Naturwein scheint ihnen weniger zu munden als Gilka und Doppelkümmel, den sie hier in den verschiedensten Läden persönlich einkauften. Außerdem setzten sie dem Champagner frisch, fromm und fröhlich zu und voltigirten über die Religionsgesetze des Weinverbotes mit der einfachen Erklärung hinweg, Champagner sei eigentlich nur „kohlensaure Limonade“. Eine Wirkung des Weines konnten wir an keinem der Herren vermerken. Nur zwei jüngere Leute tranken Wasser zur Tafel und wehrten jede Versuchung ab. Zu bemerken dürfte sein, daß mindestens zwölf Personen des Gefolges leidlich französisch sprachen. Um so schlechter spricht diese Sprache der Schah, der sich im Umgang beständig der Intervention seines Premier- oder Hausministers bedient. Im Ganzen sind die Herren des kaiserlichen höheren Gefolges, mit wenig Ausnahmen, stattliche Figuren, durchaus nicht so klein, wie sie allgemein geschildert werden. Ihre hohen Schaffellmützen sind eben nicht kleidsam.

Eine in gewisser Beziehung interessante Erscheinung ist der [439] Generalingenieur Gasteyer, ein alter biederer Oesterreicher, der als Unteroffizier vor fünfzehn Jahren nach Persien kam, dort die persische Armee drillte und jetzt die Straßenbauten regelt und das persische Geniecorps befehligt. Von ihm erhielt der Verfasser manchen Aufschluß über die Eigenthümlichkeiten seines Herrn. Auf unsere Bemerkung, daß wohl von dem Gefolge, den höheren Officieren des Schah’s, aber nicht von ihm selbst das Bestreben zu Tage trete, sich auf der Reise zu belehren, erwiderte er: „Es sei kein Wunder, daß der Schah unbeholfen und verstört erscheine. Man dürfe sicher in Deutschland glauben, daß diese ganze Reise überhaupt ein gewagtes Spiel für den Schah sei, daß er beständig in der Sorge sein müsse, die Priester würden seine Abwesenheit benutzen, um ihn zu stürzen. Seine Reise sei ganz gegen deren Willen geschehen, und nirgends sei eine Palastrevolution sicherer zu fürchten und häufiger, als in Persien. Nur die etwa hunderttausend Mann zählende Armee, an deren Spitze er zuverlässige Leute zurückgelassen, mache es ihm, dem wenig bevölkerten Lande gegenüber, möglich, eine so lange andauernde Reise zu unternehmen. Nur gestützt auf englischen und russischen Beistand habe er sein lange gehegtes Project ausführen können. Hier in Europa aber werde er erdrückt von all dem Neuen und Ueberraschenden, für welches er vielleicht nicht Verständniß genug mitbringe, um Alles in sich aufzunehmen. Den bedeutendsten Eindruck hätten nicht die Paraden, welche ihn in ihrer schnellen Aufeinanderfolge ermüdet haben, auf ihn hervorgebracht, sondern die Eisenbahnen und vor Allem der Knotenpunct Deutz-Cöln. Da kommende und abfahrende Züge auf verhältnißmäßig beschränktem Raum, dort die Eisenbahnrheinbrücke und hin- und herfahrende Dampfer, hier wieder der majestätische Rhein mit seinem belebten Strombett, der ihm, dem Fürsten eines wasserarmen Landes, das nicht einen schiffbaren Fluß besitze, am meisten imponirt habe. Das Gefühl der eigenen Dürftigkeit lasse ihn unbeholfen und niedergedrückt erscheinen. Auch sein oft übermüthiges Benehmen gegen hohe Häupter rühre aus diesen Gründen her; es sei eben der Zustand eines von der Sonne geblendeten Beherrschers der – Sonne. Für ihn und sein Gemüth spreche die besondere Vorliebe für Blumen, für Kinder und vor Allem für die freie, wunderbare Gottesnatur, die ihn hier noch mehr fessele, als im eigenen Lande.“

Nichts interessiere ihn mehr, als die prachtvollen Umgebungen des Curortes, die Waldungen und öffentlichen Gärten. Auch das Gefolge hat vielen Sinn für landschaftliche Schönheiten. Dabei erfuhren wir freilich gleichzeitig, daß ein Bruder des Schah in Constantinopel geblendet lebe. Geblendet in Folge einer versuchten Palastrevolution. Noch mehr aber durften wir staunen, als uns ein hoher Officier, dessen Name nichts zur Sache thut, auf eine Schmarre, ähnlich dem Hiebe eines Studentenschlägers, im Gesichte des Großveziers aufmerksam machte. Unser Gewährsmann ist Genüge für die Wahrheit der folgenden Mittheilung: „Bei einer Streitigkeit zwischen Hofbeamten erhielt vor Jahren der jetzige Ministerpräsident einen Hieb mit einem jener kurzen persischen Dolchmesser in’s Gesicht. Dem Thäter wurde in Gegenwart des Schah’s und in dessen Zimmer der Hals mit einem Federmesser durchschnitten, aber langsam, ohne große Uebereilung, damit die Strafe gründlich sei.“ Mein Gewährsmann kannte den Fall genau, da er als Mitglied der russischen Expedition im Kaukasus die Hofverhältnisse in Teheran kennen zu lernen genügend Gelegenheit hatte.

Der Hauptzweck der ganzen Reise des Schah ist jedenfalls, sich die Freundschaft Englands für alle Fälle zu sichern, und er dürfte, da aus handelspolitischen Rücksichten ihm gerade von hier aus Bereitwilligkeit entgegen getragen wird, in diesem Falle wesentliche Förderung für seine Pläne finden. Daß der Schah, wie von Berlin berichtet wird, sich allabendlich Notizen über das Geschehene und Erlebte mache, ist hier nicht bekannt geworden, indessen schließt dies die Möglichkeit nicht aus, daß es von seinem Gefolge geschieht. Faul sind die Zustände des Landes sicher. Das Volk ist verarmt, der Boden größtentheils Wildniß, die Cultur vernachlässigt. Da soll nun Hülfe von außen kommen.

Gemüthlicher als die oben mitgetheilten wenig anmuthenden Beweise der persischen Culturstufe ist der Umstand, daß am nächsten Tage die Herren des persischen Gefolges in den verschiedenen Badhäusern der Stadt heiße Bäder nahmen und daß nun natürlich jeder derselben für den Schah gehalten wurde. Da die Wiesbadener Thermen etwa fünfzig Grad Réaumur heiß sind, so war es leicht, den Herren entsprechende Badetemperatur herzustellen, von denen einige bis zu nahe vierzig Grad bestellten und – aushielten. Einer der Granden des Reichs entstieg in einem seidenen Schlafrock seiner Droschke, ging mit diesem in die Zelle und behielt den Schlafrock auch im Bade an. Ob dies Kleidungsstück gleichfalls einer Abbrühung bedurfte, war nicht zu erfahren. In jedem der Badehäuser hatte nun der wirkliche Schah gebadet, und um Niemandem wehe zu thun, nannte der Volkswitz diese verschiedenen Schah’s im Plural die – Schächer. In einem der Badehäuser befindet sich eine große Schale zur Trinkcur, in welcher das heiße Wasser direct entquillt. Da fällt es einem der persischen Granden ein, in nahezu unaussprechlichem Costüme das Marmorbecken jener Schale als Badewanne zu benutzen. Ein Schauspiel für die übrigen Gäste, das nicht geringe Heiterkeit erregte, und eher nicht war der Sonnenritter zu bewegen sich zurückzuziehen, bis der Sprudel ohne Weiteres abgestellt worden war.

Der Schah reitet einen braunen arabischen Fuchs, sein Paraderoß und Lieblingspferd, von kleiner Statur. Reichgesticktes Sattelzeug (im Werte von circa zwanzigtausend Thalern) zeichnet das flinke, edle Thier vor allen Dingen aus. Berühren darf eine Christenhand dieses Pferd und seine Zierrathen, sein Riemenzeug, nicht. Der in unserer Gegenwart gemachte Versuch wurde durch ein persisches Gebet des Reitknechtes sofort unschädlich gemacht. Den Wachtdienst hierfür hat Moutchoul Khan, der Sattelüberwacher, ein Posten, der nicht zu den letzten im Gefolge gehört. Das Paraderoß hat in der That, wie schon öfter berichtet, einen carmoisingefärbten Schweif, der lang zur Erde herabreicht. Man erklärte uns diese abenteuerliche Färbung durch den Umstand, daß das Pferd eine Wallfahrtsreise des Schah (russische Berichte sagen nach Mecca) zu einem bestimmten Ziele mitgemacht habe. Daher diese Auszeichnung. Ist doch der Schah auch das geistliche Oberhaupt seines Landes.

Am Tage nach seiner Ankunft erlustigte sich der Schah damit, dieses Edelroß auf einem Kartoffelacker an den Ufern des Rheins herumzutummeln. Ob er die Kartoffeln für Wiesenland gehalten, oder ob er die naheliegenden Wege und Matten als zu schlecht für sich und sein Roß taxirte, blieb fraglich. Genug, daß er sein Beginnen nicht eher einstellte, als bis der Acker gründlich zusammengeritten war. Eine Entschädigung wird dem wackeren Bauersmann und Besitzer desselben wohl nicht ausgeblieben sein.

Des Schah Befehle konnten die wachthuende Umgebung deutscher Nationalität fast zur Verzweiflung treiben. In einer Stunde wechselte er mindestens sechsmal seine Dispositionen. Anspannen, abspannen, ausreiten, absatteln folgten in kurzen Zwischenpausen als allerhöchste Befehle aufeinander.

Das zu seinen Ehren arrangiere Doppel-Concert in den Cur-Anlagen mit bengalischer Beleuchtung besuchte der Schah nicht, weil er nothwendig Berlinische Dialektstudien zu pflegen hatte. Dagegen erschien sein ganzes Gefolge, auffallend durch die persischen Sonnen- und Löwen-Orden mit reichem Brillantschmuck und jener in ovaler Form mit seinem Brustbilde geschmückten Brillantendecoration um den Hals. Welch’ eine Augenweide für das schöne Geschlecht! Unzweifelhaft sind auch jene Nachrichten nicht genau, wonach sich die Perser den Frauen in auffälliger Weise bei öffentlichen Festlichkeiten nähern. Es ist nach unserer Erfahrung leider weit eher das Gegentheil der Fall. Die liebe Neugier und die persischen Diamanten mögen dies verschulden. Der Oberhofphotograph, der gleichzeitig Kammerherr ist, Aga Riza, erfreute sich stets besonderer Aufmerksamkeit.

Am nächsten Tag erschien der Schah zu dem ihm zu Ehren veranstalteten Feuerwerk, nachdem er mindestens viermal vorher seiner Begleitung Gegenordre gegeben hatte. Am meisten imponirten ihm die römischen Lichter, welche sich in Form eines Kreuzfeuers über den Platz ergossen. Raketen und dergleichen haben die Perser auch, jedoch kennen sie, trotz des brillanten Effectes, alle anderen Feuerwerkskörper wenig oder gar nicht, so wenigstens erzählte mir einer der militärischen Begleiter des Schah’s. Muthmaßlich ist auch in dieser Beziehung der Effect der Diamanten bevorzugt. Während des Feuerwerks trank Nassr-Eddin aus seiner mitgebrachten silbernen Theekanne und zwar direct aus dem Abguß derselben. Indessen trank er sehr mäßig, nur scheinbar zur Anfeuchtung der Lippen. Ohne sonderliche [440] Wirkung blieb der Gesammteffect des Feuerwerks. Auch hier müde und abgespannt, nahm der Schah dasselbe hin, wie etwas Unvermeidliches. Sein Gefolge erwartete ihn bis zu seiner Ankunft sitzend. So lange er stand, verließen die Perser ihre Sitze nicht, in dem Augenblick, wo er den für ihn bereitgestellten Sessel einnahm, schnellten die Granden des Reichs empor. Die persische Sitte gestattet nicht, daß irgend wer von der Umgebung des Schah’s thue, was er thut. Steht er, so darf das Gefolge sitzen, sitzt er, muß es stehen. Eine spanische Wand, welche ihn in solchem Falle von dem Gefolge trennt und die bereit gehalten wurde, lehnte er ab. Dagegen gefielen ihm ausnehmend die Wappenschilder und Fahnen, welche an seinem Sitze in einem Garten von Blumen und Palmen angebracht waren. Auch die persische Flagge, grün und weiß, mit dem persischen Löwen und dem geschwungenen Damascener in der Pranke, erregte seine Aufmerksamkeit in hohem Grade. Er selbst trug ein Bandelier von Diamanten, daran einen äußerst reichen und voll mit Edelsteinen besetzten, trefflich gearbeiteten persischen Dolch.

Plötzlich erhob sich der persische Despot und wandte sich, während das Feuerwerk noch seine leuchtenden Garben entsandte und die beiden Musikcapellen ihre Märsche spielten, den Sälen zu. Seine erste Frage war in schlechtem Französisch nach den früheren Spielsälen. Also von der einstigen Existenz dieses Instituts war sogar der Perser unterrichtet! Mehrere Damen wurden ihm vorgestellt, und diesen gegenüber trat zum ersten Male eine gewisse Liebenswürdigkeit bei ihm hervor. Nach und nach belebten sich seine Züge, und er schritt dem einen der Säle zu. Hier stand ein Concertflügel zufällig geöffnet. Mit Interesse schritt er auf denselben zu und gab, allerdings sehr linkisch, einen Ton an, sofort die Frage stellend: ob Niemand da sei, der gut spielen könne. Zufällig weilte in der Nähe Fräulein Ottilie Lichterfeld aus Berlin, eine tüchtige Pianistin welche kürzlich in einem der großen Curhausconcerte gespielt hatte, zugleich eine sehr schöne und liebenswürdige, echt deutschblonde Dame. Diese spielte ein Concertstück in brillanter Weise, und nie haben wir die Wirkung der Musik in auffälligerer Weise hervortreten sehen, als der dieser Gelegenheit. Mit wahrhaftem Interesse folgte er den Tönen und der Fingerfertigkeit der Künstlerin, nebenbei einen Blick auf die Saiten des Instruments und die anschlagenden Hämmer desselben werfend. Seine Laune war sofort eine vortreffliche und sie verließ ihn auch nicht mehr während des ganzen Abends. Wohl dreimal erkundigte er sich nach dem Namen der Dame, dankte wiederholt und riß sich augenscheinlich nur mit Widerstreben von diesem musikalischen Genusse los.

Im nächsten Saale entdeckte er mit großer Freude auf den Spieltischen Schachspiele: „Ah, Schach!“ war sein überraschter Ausruf. Als er die Lesesäle erreichte, die hier allerdings in ausgedehnter Weise vorhanden sind, staunte er über die Zahl der Zeitungen und durchschritt die vier aneinanderstoßenden Räume mit dem Ausdruck der Verwunderung. Er ließ sich die ganze Einrichtung erklären, da er offenbar zum ersten Mal ein derartiges Local zu sehen Gelegenheit hatte, und frug dann sofort nach der „Independance belge“ , das Journal, welches ihm am bekanntesten zu sein schien. Hier suchte er sich selbst Artikel über seine europäische Reise. Als ihm sodann die letzten Nummern zweier illustrirter Blätter mit seinem Portrait gezeigt wurden, lachte er plötzlich so laut, daß das Hofgefolge sich vor Erstaunen nicht zu fassen vermochte. Das war seit Gedenken nicht geschehen. Ein Wort entschlüpfte ihm dabei, das von wirklich komischem Effect war und ebensowohl für seine Eitelkeit Zeugniß ablegte, wie es kein Compliment für die Zeichner seiner Abbildung sein dürfte. „Mauvais – portrait! Moi – non!“ – in richtiger Uebersetzung etwa: „Das soll mein Bild sein! Bewahre!“

In ähnlicher Weise führte er seine Conversation überhaupt. Auf einem Balle redete er eine ältere Dame an: „Vous – vieille – pourquoi – bal?“ mit andern Worten: „Zum Ballvergnügen sind Sie zu alt, Madame. Gehen Sie nach Hause!“ Ueber das Publicum äußerte er sich höchst herablassend: „Ils sont – très bons gens – ici.“ Es sei hier noch eines Scherzes erwähnt, der allgemein belacht wurde. Nassr-Eddin erhielt auf der Reise nach Wiesbaden die Nachricht, daß seine Mutter verstorben sei. Ein gemüthlicher Berliner nahm diese Botschaft mit der drolligen Bemerkung auf: „Was thut denn det? Der hat ja mehrere.“

Nachdem der Schah noch einen Gang in den Garten gemacht, die große Fontaine bewundert und sich an schnellservirtem Eis erfrischt hatte, verließ er das Etablissement, wie er gekommen, in vierspänniger königlicher Equipage. Im Schloß harrte seiner eine große Ueberraschung. Ein Taschenspieler, der Tags vorher im Curhause Vorstellungen gegeben und der ihm empfohlen war, fesselte ihn noch bis Mitternacht durch seine Experimente ohne Apparate. Alle Kunststücke, welche dieser producirte, erregten seine Neugier und seine Heiterkeit, die sich um so mehr steigerte, als der Künstler mit dem Gefolge jene kleinen Scherze trieb, die auf Geschwindigkeit beruhen, und die für uns selbst, mehr also noch für Perser, im Augenblick unerklärlich scheinen. Er ließ auf diese Weise einen der Herren seines Gefolges so in Verlegenheit bringen und ergötzte sich so an dessen Verzweiflung, daß der auf diese Weise Ausgezeichnete den Schah schließlich beschwor, ihn für heute entlassen zu wollen, da der Taschenspieler offenbar ein Hexenmeister und jedenfalls ein gefährlicher Mensch sei.

Es scheint, als wenn der Schah selbst unsere deutschen Eisenbahn-Directionen für eben solche Hexenmeister hält, denn es war ihm nicht klar zu machen, daß die Extrazüge für ihn in größter Pünktlichkeit abfahren müssen, soll Unglück vermieden werden. Von Pünktlichkeit ist ihm überhaupt kein Begriff beizubringen, ein Umstand, der preußische Militärs jedenfalls zur gelinden Verzweiflung bringen kann. Ob er sich in dieser Beziehung später durch seinen Generalbauunternehmer Baron von Reuter (früher Buchhändler in Berlin) belehren lassen wird, steht dahin. Ein besseres Gründungsgeschäft ist lange nicht gemacht worden, als von dem genannten Herrn, der hier viel mit dem Schah und den Ministern conferirte. Baron von Reuter hat die Errichtung sämmtlicher Eisenbahnen für den Umfang des ganzen persischen Reiches, sowie die Anlage aller Verbindungswege, Chausseen, Canäle, die Ausnutzung sämmtlicher Bergwerke und Wälder, die Errichtung sämmtlicher Banken und Fabriken übernommen. Ein Monopol, wie es sich wohl selten wieder finden dürfte! Der Baron begleitet den Schah auf seiner Reise durch Belgien und England. Es soll denn auch von hier aus der Befehl nach Teheran ergangen sein, sofort mit dem Bau der bereits vorbereiteten Eisenbahnlinien zu beginnen.

Wie sehr wenig das Weinverbot von dem persischen Hofe beachtet werden mag, geht daraus hervor, daß des Schah Bruder, nachdem er hier mehr denn zwanzig Sorten der besten Weine im Keller versucht hatte, eine bedeutende Bestellung auf Hochheimer Edelweine aufgab. Einen Festball, von nahe zweitausendfünfhundert Personen besucht, beehrte der Schah nicht mit seiner Anwesenheit, wie man sagt, weil ihn die erzwungene Abreise seiner Berliner Herzensfreundinnen in zu traurige Stimmung versetzt hatte.

Wie in Berlin, so war auch hier Nassr-Eddin bei seiner Abreise höchst freigebig. Reich beschenkt wurden die Schutzleute und Gensdarmen, die Dienerschaft und Schloßbediensteten. Mit Uhren, Gold und persischen Shawls war er nicht zurückhaltend. Von seinen Brillanten aber scheint er sich schwer zu trennen. Die baaren Summen, welche er bei sich führt, sind bedeutend. Ziemlich sorglos werden die Geldsäcke, sämmtlich Imperials enthaltend, von der Dienerschaft behandelt. Sie liegen in offenen Wagen fast ohne Wache. Der Zweck, warum er in Baarem so viel bei sich führt, geht aus einem Geschäft hervor, das Nassr-Eddin am Abend seiner Abreise von Wiesbaden abschloß. Er kaufte für 54,000 Gulden Juwelen von zweien der ersten Juweliergeschäfte, und es gewinnt fast den Anschein, als ob der Diamantenkönig mehr eine Entdeckungsreise auf derartige Schätze, als zu anderen Zwecken unternommen habe. So zog er denn auch am Tage der Abreise auf den Wellen des deutschen Stromes dahin, silberglänzend wie die hochaufspritzenden Wogen unter dem Bug des von der Dampfschifffahrts-Gesellschaft stattlich geschmückten Dampfers (Deutscher Kaiser), eine absonderliche Erscheinung, mehr bewundert wegen seines äußern Schmucks, als wegen seiner sonstigen Eigenschaften. In seinem Sinne, gestützt auf seinen Juwelenreichthum, ist er sicher der Reichste der Könige, der aber nicht, wie Eberhard im Bart, „sein Haupt kann ruhig legen jedem Unterthan in Schooß!“
Rhenanus.
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Ein mitteldeutsches Volkstrachtenfest.

Mitten im Herzen Deutschlands liegt das kleinste der vier sächsischen Herzogthümer, das Herzogthum Sachsen-Altenburg. Preußisches und reußisches Gebiet trennen dasselbe in zwei fast gleich große, nach ihrer Beschaffenheit und ihren Bewohnern aber völlig verschiedene Theile, den Ostkreis und den Westkreis, oder, wie man dieselben wohl auch treffend zu bezeichnen pflegt, das Kornland und das Holzland. Letzteres, ein Stück des schönen Saalthales, grenzt unmittelbar an das Thüringerland an; dunkle rauschende Wälder sind sein Schmuck und sein Schatz; Saale und Orla durchströmen sein Waldrevier; Tannenduft und Waldluft durchwehen es, und die Berge Thüringens strecken ihre letzten Ausläufer, oder wenn man lieber will, ihre ersten Vorboten bis mitten hinein in das schöne Land. Auch seine Bewohner sind Thüringer Stammes, wie dieser begabt mit der naturfrischen Biederkeit und Leichtlebigkeit des munteren Völkchens der Thüringer; Wohlstand und reiche Habe ist ihnen, gleich diesen, nicht zu Theil geworden und nur mühsam ringen sie dem wenig fruchtbaren Boden die nothdürftigen Früchte ab; aber was ihnen Feld und Wiese versagt, das giebt ihnen in reicher Segensfülle ihr herrlicher Wald, und frohgenügsam neiden sie nicht dem reicheren Nachbar das Loos, sondern freuen sich Dessen, was ihnen der Wald freigebig schenkt an Beeren, Holz und Arbeit.

Anders dagegen der Ostkreis des Herzogthums! Dort dehnen sich weithin die gesegneten Fluren des Kornlandes; auf den saftigen Wiesen lagert schmuckes, wohlgenährtes Vieh und die Scheuern vermögen kaum die reichen Gaben des Feldes zu fassen. Dort birgt die Tiefe das schwarze Gold der Braunkohlen, welches der Dampfwagen weithin in die Ferne trägt; dort breitet sich die stattliche Hauptstadt des Landes aus; dort ragt auf hohem Porphyrfelsen stolz das Schloß des Fürstenhauses empor; dort sitzt in behäbigem, soliden Wohlstande auf schönen, von den Vätern ererbten Gütern der eigentliche Nährstand des Herzogthums, der Altenburger Bauer. Er bewohnt zum großen, fast ausschließlichen Theile den reichen Strich des Ostkreises und hat sich, trotz aller zerstörenden Einflüsse der Zeit, mit zäher Ausdauer seine zahlreichen Eigenthümlichkeiten in Tracht, Sitten, Gebräuchen und Sprache Jahrhunderte hindurch bewahrt.

Der Altenburger Bauer ist nicht, wie der Holzländer, thüringischen Stammes, sondern vielmehr slavischen Ursprungs. Vor langen Jahrhunderten drang ein Zweig des großen Slavenstammes, die Sorben-Wenden, von Osten her immer weiter nach Sachsen vor, siedelte sich hier mit praktischem Verstande an, wurde nach und nach völlig germanisirt und rief eine vortreffliche Bodencultur und so jenen Wohlstand hervor, der noch heute ihre Nachkommen auszeichnet. Aus dieser Abstammung von den Sorben-Wenden erklärt sich die mannigfache Eigenart der Altenburger Bauern. Insbesondere zeigt sich dieselbe in der ganz eigenthümlichen, von der aller Umwohner wesentlich verschiedenen Tracht. Freilich hat auch hier die Zeit bereits sehr Vieles geändert, aber Vieles, das Hauptsächlichste, ist doch geblieben, und schon das Gebliebene ist merkwürdig genug.

Am wenigsten Veränderung hat die männliche Tracht erlitten. Das Hauptstück derselben ist die Kappe, ein langer Tuchrock von dunkler Farbe und inwendig mit grünem Flanell gefüttert. Sie wurde jedoch an Fest- und Sonntagen mit „der Weißen“ vertauscht, einem der Kappe ähnlichen Rocke von sehr weißem Tuche, mit schwarzbesetzten Aermeln, Futter von blaustreifigem Zeuge und an den Seiten mit einem Einschnitte versehen, durch welchen die schwarzen, bauschigweiten Lederhosen sichtbar werden. Ein sauberes Hemd mit sehr weiten, in seine Fältchen gelegten Aermeln, Hosenträger aus schwarzem lackirten Leder, ein schwarzes, breites Brusttuch oder ein Brustlatz, hohe, enganliegende Stiefeln, endlich ein einfaches Filzhütchen mit schmaler Krempe vervollständigen den Anzug des echten Bauersmannes. Doch ist noch von den genannten Kleidungsstücken bereits manches verbannt oder doch in den Hintergrund gedrängt worden. Namentlich ist die sogenannte „Weiße“ jetzt gar nicht mehr zu sehen und nur noch in den Kleiderschränken des Großvaters als Rarität zu finden. Statt ihrer und auch statt der Kappe trägt jetzt der Bauer den bequemeren Spenser, eine kurze Jacke, und außerdem zum Schutze gegen Kälte und Regen den sogenannten Matin (spr.: Mateng), einen weiten, langen Mantel von verschiedenen Stoffen und Farben. Ebenso hat auch die gewöhnliche Schirmmütze das alte Hütchen fast vollständig verdrängt.

Wenn nun die männliche Tracht, welche kleidsam, volksthümlich und dabei praktisch und dauerhaft ist, sich wesentlich gleich geblieben, so ist dies bei der weiblichen durchaus nicht der Fall. Hier haben Mode und Zeit arge Verwüstungen angerichtet, Kleidungsstücke völlig beseitigt, andere an deren Stelle geschaffen und den alten neue Formen gegeben. Man vermag genau nachzuweisen, daß die große Umwälzung in der weiblichen, namentlich der festlichen Bauerntracht, wie sie sich etwa seit dem Jahr 1800 vollzogen hat, in der Hauptsache eine Folge der französischen Revolution gewesen ist, wenn sich auch schon vorher mannigfache Aenderungen Bahn gebrochen hatten. Es würde jedoch Stoff zu einer besonderen Abhandlung liefern, wollte man die einzelnen Stadien verfolgen, welche die Weibertracht durchlaufen hat, bis sie zur heutigen und neuesten Form und Art hindurchgedrungen ist. Begnügen wir uns daher mit der Thatsache und sehen wir uns ein wenig die heutige Tracht der schöneren Hälfte des Bauernstandes an.

Das Bleibende in allem Wechsel ist der weibliche Rock, heute, wie in alter Zeit, enganliegend, nur bis zum Knie reichend, aus vielen ganz dichtaneinander genähten steifen Falten bestehend und die Formen ihrer Trägerinnen mehr als zur Genüge andeutend. Zu ihm gehören weiße, für Wirthschaft und Werktag wohl auch dunkle Strümpfe, auf deren Beschaffenheit und Verzierung viel Werth gelegt wird und welche die mehr oder weniger guten Waden der Bäuerinnen, alle Heuchelei in dieser Beziehung unmöglich machend, in das hellste Licht setzen. Weiter gehören zum Anzug Aermel von verschiedenem Stoff und verschiedenartige Mieder, ebenfalls je nach Stand und Wohlhabenheit, während bei kaltem Wetter und an Sonn- und Festtagen noch eine glattanliegende Jacke über Mieder und Aermel getragen wird. Dazu trägt man vor der Brust einen mächtigen, vom Kinn bis zum Rockanfange reichenden Vorstecklatz von Pappe, mit Zeug überzogen und durch Bänder gehalten. Dieser Latz ist das Ungeheuerlichste der weiblichen Bauerntracht, bedeckt vom Kinn an den ganzen Vorderleib, und wer will, kann beinahe mit der Hälfte des Gesichts, mindestens mit Mund und Nase, unter diesen Panzer hineinkriechen und sich hinter demselben verstecken. Endlich kommt noch der Kopfputz dazu; er besteht jetzt nur in einem mehr oder weniger kostbaren Kopftuche mit breiten Kanten, welches das Oberhaupt vollständig bedeckt, nicht eine Spur des Haares sichtbar werden läßt und von dem geschürzten Knoten in zwei langen, breiten Flügeln fast bis auf den halben Rücken hinabreicht.

Das ist in Kurzem das Bild der Altenburger Bäuerin. Charakteristisch ist es wohl, aber daß es schön sei, dürfte selbst der größte Schmeichler nicht zu behaupten wagen. Ist doch durch diese Tracht Alles, was die Zierde der weiblichen Gestalt ausmacht, völlig verhüllt, in ein Tuch eingewickelt und durch einen Panzer von Pappe versteckt, Anderes dagegen mit einer Offenheit in grelles Licht gesetzt, welche die Formen ihres Reizes entkleidet! Mag sie auch in der Haus- und Landwirthschaft recht praktisch sein, mögen mich manche neueste und neue Modethorheiten des schönen Geschlechts nicht minder unschön und ungeheuerlich sein, so muß es doch im Allgemeinen ausgesprochen werden, daß das allmähliche Abkommen dieser Tracht ein allzugroßer Verlust nicht genannt werden könnte.

In der weiblichen Tracht liegt der Keim zum allmählichen Absterben der ganzen Nationaltracht des Altenburger Bauernstandes; sie besonders ist zu jeder Zeit der Gegenstand der Neugierde, der Verwunderung, ja wohl gar des Spottes gewesen. Darf sich die Bäuerin in ihrer Tracht doch kaum in einer fremden Stadt sehen lassen, ohne daß ihr lächelnd die Erwachsenen nachschauen, und wohl gar die liebe Jugend, kritische Bemerkungen machend, in hellen Haufen jubelnd hinter ihr einherzieht und ihr ein unwillkommenes Geleite giebt! Kein Wunder also, daß das junge hübsche Bauernmädchen Lust bekommt,

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Das Trachtenfest der Altenburger Bauern im April 1873. Nach dem Leben entworfen und auf Holz gezeichnet von G. Sundblad.
Altenburger Bauern auf dem Schlosse.  Bauernball.

[443] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [444] die entstellenden Kleider abzulegen und sie mit der wenigstens gefälligeren Tracht der Städterinnen zu vertauschen. Und wie schon jetzt zahlreiche Männer doppelte Kleidung besitzen, Sonntags und in der Stadt städtisch, zu Hause und auf dem Felde dagegen bäurisch gekleidet sind, wie von der Männertracht Kappe, Weiße und Hütchen, von der weiblichen zum Beispiel der festliche, mit Scharlachtuch gefütterte Mantel, der Schleier und der den poetischen Namen „Saumagen“ tragende Kopfputz bereits verschwunden sind, so wird überhaupt die Zahl Derer, welche sich bäurisch kleiden, von Jahr zu Jahr geringer, und es erscheint als nicht ganz unmöglich, daß einmal in fernen Tagen die ganze Nationaltracht der Altenburger Bauern dahin gehen werde, von wannen sie niemals wiederkehrt.

Ebenso wie von der Tracht, hat sich auch von den mancherlei eigenthümlichen Sitten und Gebräuchen des Bauernstandes der größte Theil verloren; in dieser Hinsicht besonders fordert die Zeit fast jährlich ihre zahlreichen Opfer. Wenig ist noch übrig geblieben, und dieses Wenige ist nicht besonders interessant und derartig mit modernen Elementen versetzt, den modernen Formen so angepaßt, daß es seine Ursprünglichkeit fast ganz eingebüßt hat. Diese althergebrachten Sitten bezogen sich hauptsächlich auf die festlichen Ereignisse des Familienlebens; Taufe, Verlobung, Hochzeitsfest und Begräbniß waren ihr Gegenstand. Am merkwürdigsten waren sie bei den Hochzeitsfesten und haben sich auch hier noch verhältnißmäßig am meisten erhalten. Das Interessanteste ist das Institut der Hormtjungfern oder „Hormtmeede“ (Mägde, Maide). Bei Hochzeiten und Gevatterschaften trugen nämlich die Jungfrauen eine sonderbare Kopfbedeckung, das Hormt. Es ist dies ein Kopfputz in Form einer runden Schachtel, innen und außen mit rothem Damaste oder Sammt überzogen. Um das Hormt herum gehen dreizehn silberne Bleche oder Tafeln und auf jeder derselben stehen drei Reihen erhabener Knöpfe, gleichfalls von Silber. Rund herum hängen an Henkeln silberne, stark vergoldete Schildchen, kleinen Kirschblättern ähnlich, welche im Sonnenschein hell glänzen und bei jeder Bewegung des Kopfes schellenartig ertönen. Hinten am Hormte befinden sich zwei Zöpfe, jetzt aus Werg geflochten, mit buntem Bande umwunden und in einem Halbkreise über dem Hormt gebogen. Zwischen den beiden Zöpfen sitzt ein Kränzchen von Silberlahn und rings um das Hormt hängen breite, buntfarbige Bänder, welche unter dem Kinn in eine große Schleife gebunden werden und so den Kopfputz überhaupt festhalten. Früher begleiteten bei größeren Bauernhochzeiten wohl zwanzig bis dreißig solcher Hormtjungfern die Braut zur Trauung oder bei dem Auszug oder Einzug zu Wagen. Jetzt ist diese Sitte verschwunden und das Hormt, von denen manches einen Werth von über hundert Thalern hat, ruht unbenutzt als altes Familienerbstück nur noch in den Truhen und Schränken der Großmutter.

Dagegen ist der Charakter des Altenburger Bauern bis heute sich ziemlich gleich geblieben und zeigt sich noch jetzt in manchen Eigenthümlichkeiten. Besonders hat sich bis auf unsere Tage der mit großer Zähigkeit festgehaltene Unterschied zwischen dem Bauer und dem Städter oder Bürger und das enge, geschlossene Zusammenhalten der Bauern unter sich erhalten. Noch heute besteht für den Bauer ein scharfer Gegensatz zwischen ihm und dem Stadtpublicum; er schließt sich gegen dasselbe ab, mißtraut ihm wohl auch nicht selten; selbst das Bauermädchen knüpft nicht so leicht ein Liebesverhältniß mit einem Städter an, und Verheirathungen des Bauern mit einer Städterin und umgekehrt gehören zu den Ausnahmefällen. Auch untereinander herrscht strenger Unterschied der Vermögensclassen; der Anspanner, der sein Gut mit zwei, vier, sechs und mehr Pferden bewirthschaftet, verkehrt nicht gern auf freundschaftlichem Fuße mit dem Handgutsbesitzer oder Kuhbauer, dieser wieder nicht gern mit dem bloßen Häusler, der kein Gut besitzt. Doch das sind kleine Schwächen, denen eine große Reihe guter Eigenschaften gegenübersteht. Intelligenz, Fleiß und Sparsamkeit sind durchgehends bei dem Bauernstande zu finden; Solidität zeichnet ihn vortheilhaft in seinen Geschäften aus; ein schlagfertiger Mutterwitz ist ihm gegeben, und als Landwirth steht er überall in hohem Ansehen.

Ein Hauptvergnügen des Altenburger Bauern ist das Spiel, hauptsächlich das Scatspiel, dessen Erfindung mit Recht dem Bauern zugeschrieben wird. In ihm ist er anerkannter Meister; er spielt es ruhig und gewandt, am liebsten um einen nicht zu geringen Preis, weil er meint, daß ein solcher die Aufmerksamkeit der Spielenden anspanne. Seine Verluste trägt er mit großer Ruhe und ohne Leidenschaftlichkeit. Neben dem Scat ist wohl auch noch das „Tippen“, eine Art Hazardspiel, beliebt, und an den Roßmärkten in Altenburg wurde und wird wohl auch noch lebhaft und hoch gespielt.

Die Hauptfeste des Bauern sind, außer zahlreichen Schmäusen, das Erntefest und die Dorfkirmeß oder Kirmse. Letztere, welche in den Monat November fällt, dauert in sämmtlichen Dörfern drei Wochen lang. Die Dörfer sind in dieser Hinsicht in drei Bezirke, die sogenannten Reiten, getheilt, so daß jede der drei Wochen in einer Anzahl von Dörfern Kirmse ist. Die einzelne Kirmse in jedem Dorfe dauert fast die ganze Woche hindurch; Essen, Trinken und Tanz sind die Vergnügungen der Kirmse, welche auch zahlreich von dem Publicum aus der Stadt besucht wird. Diesem gehört der Nachmittag; sobald es aber dunkelt, verschwinden die modernen Trachten der Städter, und der Tanzsaal füllt sich mit den Burschen und Mädchen des Dorfes, welche sich nun, Erstere meist in den blanken Hemdärmeln und die Mütze auf dem Kopfe, Letztere in der Festkleidung mit den saubersten weißen Strümpfen, in munterem Tanze drehen. Dabei wird durchgehends, besonders von dem weiblichen Geschlechte, sehr gut und zierlich getanzt, wenn auch nur Polka, Schottisch und Galopp, da die engen Röcke es den Mädchen geradezu unmöglich machen, Walzer zu tanzen. Den alten Nationaltanz, den sogenannten „Rumpuff“, mit einer einförmigen Melodie kennt man jetzt höchstens noch dem Namen nach. Auch in den größeren Tanzsälen der Residenz werden im Winter öfters zahlreich besuchte Bauernbälle abgehalten, auf denen die Eigenart des Bauers deutlich hervortritt.

Eine letzte, nicht zu vergessende Eigenthümlichkeit ist die Sprache der Bauern. Obwohl dieselbe unzweifelhaft eine Abart des sächsischen Dialektes ist, so hat sie doch vieles ihr völlig Eigene und sie von allen Idiomen der Umgegend Unterscheidende. Sie ist kräftig, derb und naiv, und ihre Ausdrücke beleidigen öfters das gebildete Ohr des Hochdeutschen. Trotzdem muß man ihr doch auf der andern Seite nachrühmen, daß sie, herangebildet im Kreise des ländlichen Berufs, sich mit Traulichkeit an die Erscheinungen des dörflichen Lebens anschmiegt. Freilich klingt sie dem Ohr des Nichteinheimischen wie die Sprache irgend eines wilden Völkerstammes, und auch der Eingeweihtere wird bisweilen rathlos vor manchem ihrer Ausdrücke stehen. Zu den größten Merkwürdigkeiten in dieser Beziehung gehören besonders die Namen der heimischen Ortschaften, mit denen der Bauer in der wunderlichsten Weise verfährt. So nennt er zum Beispiel die Dörfer Monstab „Musch’pch“, Dobraschütz „Dubschtz“, Brökau „Brieke“, Bornshain „Börnse“, Loitschütz „Lühtzsch“, und aus dem Namen des Dörfchens Heiligenleichnam machte er gar das Wort „Hellechen“. Und würde nicht der Fremde, welcher von einem Manne sagen hörte, das sei aber ein „gemeener“ Mann, sicher dies für einen schweren Tadel halten, während es umgekehrt nur so viel bedeutet, als es sei ein freundlicher, leutseliger Mann?[1] Ebenso seltsam ist der Umstand, daß der Bauer, will er von etwas sagen, daß es ganz besonders schön sei, sich des Wortes „häßlich schiene“ bedient.

Und doch eignet sich die Bauernsprache vermöge ihrer ausgebildeten Hinneigung zum Wirklichen vortrefflich zur Erzählung, auch zu der in poetischer Form, von Witzen und Schnurren, sowie zu kräftigen Darstellungen aus dem ländlichen und Familienleben, und Mancher, der sich durch längeren Verkehr die Rede- und Anschauungsweise der Bauern vertraut gemacht hat, versteht mit einer Erzählung in ihrer Mundart die fröhlichste Heiterkeit zu erregen. Das beste Zeichen für ihre Lebensfähigkeit aber ist es, daß sie, wie manch anderes, ausgebildeteres Idiom, auch ihren Volksdichter gefunden hat.

Auf ihn, den am 19. März 1854 zu Zwickau verstorbenen Pfarrer Friedrich Ullrich und dessen „Volksklänge in Altenburger Mundart“, deren zweite Auflage 1861 in Zwickau erschienen ist und die sich innerhalb der Kreise ihrer Heimath [445] verdienter Beliebtheit erfreuen, sei hier ausdrücklich der Freund den Dialekts und einfacher, lustiger Geschichten aus dem Volksleben aufmerksam gemacht. Einzelne derselben, wie zum Beispiel „De Schwalbge“, „Dr verluhrne Suhn“, „Dr dicke Paal“ (Paul), „Dr ungerathne Suhn“ und manche freie Nachdichtung Gellert’scher und Hebel’scher Gedichte sind Erzeugnisse gesunden Humors und feiner Beobachtung des Landvolkes.

Doch auch die Sprache des Bauern verschwindet immer mehr, jeder Gebildete spricht jetzt Hochdeutsch oder kann es wenigstens sprechen, ja, er schämt sich wohl gar des groben Dialekts, und so geht, wie Tracht und Sitte, auch die Sprache unaufhaltsam ihren Weg, dem Ende entgegen.

Um so interessanter und beachtenswerther war deshalb das Fest, das die gesammte Altenburger Bauernschaft am 15. April dieses Jahres zu Ehren der Vermählung der Prinzessin Marie, der einzigen Tochter des regierenden Herzogs, mit dem Prinzen Albrecht von Preußen, einem Neffen Kaiser Wilhelm’s, in Altenburg veranstaltet hatte, nämlich ein feierliches Aufreiten der Bauern und eine Auffahrt von Hormtjungfern. Es war ein nationales Schauspiel, von dem man sich mit wehmüthigem Bedauern sagte, daß es das letzte seiner Art sein werde. Und wirklich war es ein schönes, ein gelungenes Fest und verlief in schöner Ordnung. Umwogt von einer heiteren Menschenmasse, von der hellsten Lenzsonne beschienen, bewegte sich der stattliche Zug durch die Straßen der festlich geschmückten Stadt nach dem alten, ehrwürdigen, hoch auf seinem Felsen sich erhebenden Schlosse des Fürstenhauses, mit seinen reichgeschmückten Rossen und deren kräftigen Reitern in dem kleidsamen Männeranzuge des Bauern, mit den festlich geputzten Wagen und den frischen, hübschen Mädchen in ihrer eigenartigen Tracht und den funkelnden Hormten, einen prächtigen Anblick gewährend. Am schönsten aber war der Eindruck des Zuges, als sich derselbe die steil sich zum Thore des Schlosses hinanziehende Auffahrt hinauf und, nachdem der fürstlichen Braut die ihr bestimmten Geschenke übergeben waren, aus dem Schlosse zurückkehrend sich wieder die Auffahrt hinabbewegte.

Diesen Moment hat auch der talentvolle Zeichner des umstehenden Bildes lebensvoll und treu aufgefaßt. Die Spitze des Zuges, die Hauptmomente desselben vereinigend, tritt uns entgegen, während im Hintergrunde das alte Schloß von seiner Höhe auf das bunte Treiben des Festes ernst herniederschaut. Voran reitet ein Zugführer mit seinen beiden Adjutanten, sämmtlich in der Kappe, den Kopf mit dem kleinen Hütchen bedeckt; dann folgt im offenen Wagen der Kreishauptmann des Ostkreises; hinter diesem zeigt sich ein berittenes Musikcorps in den modernen Spensern, während rechts im Vordergrunde ein anderes Musikcorps, in die „Weiße“ gekleidet, dahinreitet. Mitten inne aber erblickt man einen Wagen mit Hormtjungfern, hinter ihnen den Wagen, welcher das Hauptgeschenk für die Fürstentochter, ein von Adolph Burger in Berlin gemaltes Oelbild, eine Altenburger Bauernhochzeit darstellend, getragen hatte. Zwei kleinere, an beiden Seiten des Bildes angebrachte Skizzen zeigen die Uebergabe der mannigfachen Geschenke an die hohe Braut und den fröhlichen, auch von dem Brautpaare und den übrigen Mitgliedern des Fürstenhauses besuchten Ball, der am Abend des Festtages dessen Theilnehmer und Theilnehmerinnen vereinigte.

So möge denn das schöne Bild allen Denen, welche das seltene, vielleicht in seiner Art letzte Nationalfest miterlebten, noch einmal den frohen Tag in freundliche Erinnerung rufen, Andern aber ein Andenken an einen Ehrentag des Altenburger Bauernstandes bewahren! Und verschwindet bei ihm auch die alte Tracht der Väter immer mehr, so mag doch, ändert sich auch die Schale, der tüchtige Kern für alle Zeiten frisch und gesund bleiben!
Kurt Greß.




Blätter und Blüthen.

Vom Kreuzschnabel. Wunderbar ist die Geschichte dieses Vogels. Von Christi Kreuzigung an ist er bekannt und von da an schon in der Sage, daß er es gewesen, welcher die Nägel am Kreuze löste und zum Dank fortan einen gekreuzten Schnabel, gleichsam als Orden für geleistete Dienste (wichtig für die Geschichte der Orden!), erhalten habe. Mosen, ein Sohn des sächsischen Obervoigtlandes, wo der Kreuzschnabel unter dem Namen Krinitz in jedem Häuschen, in jeder Stube in einem oder mehreren Exemplaren zu finden, kleidete diese Sage in poetisches Gewand und machte ihn durch seine Poesie demnach unsterblich.

Wunderbar, wie seine Geschichte, ist auch die Metamorphose seiner Befiederung! In der Jugend roth, färbt er sich später grau, grau-grün. Jeder kennt diesen Vogel; Jeder wird gewiß schon oft sein munteres Wesen im Käfig bewundert haben, wo er mit Hülfe seiner Füße und des Schnabels behend und mit erstaunlicher Kraft an den Wänden seines drahtenen – denn Holz zerspaltet er mit seinem harten Schnabel – Gefängnisses herumklettert, wie er ferner einen ihm gegebenen Fichtenzapfen, sein Lieblingsgericht, zerhackt und die Samen verzehrt; ich sage, einem Jeden wird er wohl in seiner Lebensweise schon Gelegenheit zur Bewunderung gegeben haben. Hauptsächlich aber hat dieser Vogel besonders bei Bewohnern der gebirgigen Gegenden noch heutigen Tages den großen Ruf, Krankheiten von dem Menschen weg in sich aufnehmen zu können. Man hat deshalb, wenn ein Mensch krank wird, auch nichts Eiligeres zu thun, als daß man einen Kreuzschnabel sofort in das Krankenzimmer hängt. Der „rechtsgeschlagene“ Kreuzschnabel, bei dem der obere Schnabeltheil nach rechts über dem untern liegt, gilt für wirksamer bei Krankheiten des weiblichen Geschlechtes; der linksgeschlagene, bei welchem das umgekehrte Verhältniß der Schnabellage stattfindet, zeichnet sich als kräftiger bei Krankheiten des männlichen Geschlechtes aus. Den größten Ruf genießt der Vogel bei rheumatischen Krankheiten, und der Leidende ist seines Erfolges bezüglich der Besserung der Krankheit um so gewisser, wenn er früh Morgens noch nüchtern vor Sonnenaufgang in das Trinkgefäß des Thieres spuckt.

Nicht Krankheiten allein aber nimmt der Vogel in sich auf, sondern auch jedwedes Hauskreuz und Unglück. Auch Prophet ist er; denn in ein neugebautes Haus gebracht, ersieht der Besitzer, ob das Haus mit Glück und Segen bestehen wird, oder ob dem Hause oder dessen Bewohnern eine getrübte Zukunft bevorsteht. Stirbt der Vogel, so bleibt das Haus oder die Familie vor Unglück geschützt, der Vogel hat es mit sich fortgenommen; bleibt er am Leben: dann wehe, die Zukunft wird eine trübe! Wie hier, so bezahlt das edle Thier mit seinem Tode auch die Krankheiten Derer, von welchen er sie anzieht. Sobald er in einem Krankenzimmer stirbt, werden auch die Leiden des Kranken besser, und sollten sie nicht gleich schwinden, so doch gewiß mit dem Tode eines zweiten in die Stube gebrachten Vogels. Geschieht es nicht, dann ist der Kranke seiner Unheilbarkeit oder seiner Verschlechterung gewiß. Eine wichtige Wunderkraft, die sicherlich in manchen Ehen, besonders denjenigen geschätzt werden wird, wo ein Sohn sehnlichst erwünscht wird, sei es, um den hohen Namen der Nachwelt zu erhalten oder um ein Majorat nicht zerfallen zu lassen, sei es aus rein selbstlosestem innigstem Wunsche, gleichviel, der Krinitz besitzt hier unberücksichtigt der Interessen der Betreffenden die hohe unbezahlbare Wunderkraft, daß er, unter das Bett der Kreißenden gebracht, durch seine Anwesenheit die Geburt eines Knäbleins bewirkt, wie überhaupt den ganzen Zustand erleichtert. Rufe aus, Leser: „Wunder, ihr existirt noch in der Welt!“ Ja, und ich selbst stimme bei, aber nur in der Beziehung, daß man sich wirklich wundern muß, warum der Speculationsgeist der Jetztzeit noch nicht diese Wunderkraft ausnutzte und sich noch nicht Gründer fanden, welche einen Curort mit Krinitzen etablirten.
Dr. Knauthe.

Zeitersparende Uhren. Diese Bezeichnung verdienen die von Karl Bauer, Bahnhofverwalter zu Maximiliansau am Rhein, im Laufe des letzten Herbstes ersonnenen und ausgeführten Reductions-Uhren, welche zur schnellsten, bequemsten und sichersten Umwandlung der alten Maße, Gewichte und Münzwährung aller deutschen Länder in metrisches Maß und Gewicht und Reichswährung und natürlich auch umgekehrt dienen. Es liegen uns fünf solcher Uhren vor und zwar zum Reduciren von Zollpfund in Kilogramm, von Fuß und Elle in Meter, und von süddeutschen Gulden und Kreuzern, von preußischen Thalern, Groschen und Pfennigen und Francs und Centimes in Reichsmark und Reichspfennige. Diese in der That mit scharfem Geist erdachten und nach genauester Berechnung construirten Instrumente haben die Form von starken Taschenuhren mit zwei Zifferblättern, zwischen welchen das regulirende Werk angebracht ist. Wie beim Zeitmesser, kommen auch hier zwei Zeiger in Thätigkeit, deren Zweck dem des Stunden- und Minutenzeigers insofern entspricht, als der kürzere Zeiger das Normalganze und der längere die Theile anzudeuten hat. Bewegt werden sie bei je einem und demselben Bügelknopf durch Umdrehen, das zwar vor- und rückwärts geschehen kann; beim Ablesen der Werthe jedoch muß man die Richtung der zwischen den Ziffern eingezeichneten Pfeile folgen.

Die Eintheilung auf den Zifferblättern ist die einfachste, um das Auffinden der gesuchten Werthe zu erleichtern. Nehmen wir das Längenmaß als Beispiel. Das Fuß-Zifferblatt ist in drei Kränze getheilt: der äußerste Kranz enthält 100 Linien in 10 Zoll abgetheilt, deren jeden eine kleine 5 in Halbzolle scheidet. Der zweite Kranz umfaßt 1–10 Fuß, der dritte innerste Kranz größere Längen bis zu 1000 Fuß. Diesem entsprechend zeigt das ebenfalls in drei Kränze geschiedene Meter-Zifferblatt im äußersten Kranze 100 Centimeter, in der Steigerung von 5 zu 5 bezeichnet (1–5–10–15–20 etc.), der mittlere 1–3 Meter und der innerste größere Längen bis 300 Meter. Da nun, wie bei der Zeit-Uhr der Minutenzeiger alle 60 Minuten umläuft, wenn der Stundenzeiger eben eine Stunde zurückgelegt hat, auch hier der lange Zeiger den ganzen Kreis von 100 Theilen umwandelt, während der kurze die Strecke von einem Fuß auf der Fußseite und einem Meter auf der Meterseite zurücklegt, so ist die Uhr in den Stand gesetzt, nicht bloß die Ganzen, sondern auch die Theile auf das Genaueste anzugeben. Am anschaulichsten macht dies die Gulden-Mark-Uhr, die, weil die Umrechnung von Gulden und Kreuzern in Mark und Pfennige weit mehr Schwierigkeiten bietet, als die der Thaler, Groschen und Pfennige, namentlich da, wo das Decimalsystem bereits eingeführt ist, auch die größte praktische Wichtigkeit hat. Wir [446] wollen zum Beispiel wissen, wie viel [?] Mark, Gulden und Kreuzer sind. Man richtet den kurzen Markzeiger auf 3, so steht auf der Gulden-Seite der kurze Zeiger zwischen 1–2, dieses bedeutet also noch 1, und der lange auf 45, also 1 Fl. 45 Kr. Stellen wir den langen Zeiger auf 35 Kr., so zeigt der kurze der Kehrseite auf 1 Mark. Die Stellung der Zeiger muß immer von der Null-Stelle des Zifferblattes ausgehen.

Wir glauben, so viel sich das ohne Illustration thun lässt, die außerordentliche Brauchbarkeit und Nützlichkeit vieler Uhren dargethan zu haben. Die Preise steigen nach der Ausführung in Neugold, Neusilber oder Silber von 2 bis 4 Thaler; auch die andere Ausstattung derselben ist gefällig.


Fliegende Fische. So unendlich reich und mannigfaltig auch das Thierleben im Meere ist, so wenig sieht davon doch gerade der Seemann. Die ungeheuren Strecken, welche er übersegelt, sind, für das unbewaffnete Auge wenigstens, verhältnißmäßig unbelebt; die Fische namentlich meiden das offene Meer und finden sich gewöhnlich in der Nähe von Küsten oder auf Untiefen, und der Fang derselben gehört zu den gefährlichsten und mühseligsten Gewerben. Auf hoher See sieht man nur dann und wann einige Arten von großen oder kleinen Raubfischen einzeln oder in Schwärmen am Schiffe erscheinen, wirklich zahlreich und häufig zeigen sich allein die fliegenden Fische, jedoch auch nur in warmen Gewässern.

Der Reisende, welcher dieselben zum ersten Male sieht, ist gewöhnlich enttäuscht: durch das Wort „fliegend“ irregeleitet, hatte er sich doch wohl eine andere Vorstellung gemacht, wenn er auch nicht gerade erwartete, daß der besagte Schuppenträger anmuthig dem Ocean entschweben und eine Vergnügungsreise zwischen Himmel und Wasser machen würde. Aber selbst eine solche Vorstellung wäre entschuldbar; giebt es doch Fische, welche weite Wanderungen über Land unternehmen, andere, welche sogar auf Bäume klettern, und noch andere, welche dem Sprüchwort „Stumm wie ein Fisch“ zum Trotz Töne von sich geben, die ihnen den Namen Trommelfische verschafft haben, freilich nur in ähnlichem Sinne, wie man von Trommeltauben zu sprechen pflegt. So außerordentlich wunderbar wäre es also nicht, wenn Fische spazieren fliegen würden, haben ja doch auch schon viele Menschen versucht, dieses Problem zu lösen.

Der fliegende Fisch ist nicht so hochstrebend; er schnellt sich einfach aus dem Wasser empor und treibt seinen Körper durch heftige Bewegung der sehr großen Brustflossen in der eingeschlagenen Richtung vorwärts. Sein Flug ist nichts als ein künstlich verlängerter Sprung und gleicht bis zu einem gewissen Grade dem Aufschwirren der Grashüpfer unserer Wiesen; dies gilt namentlich von den kleinen Fischen, denn die größeren werden über zwölf Zoll lang. Ist der Luftspringer kräftig und geschickt, so wird er vielleicht fünfzehn Fuß hoch und hundert Schritte weit streichen, prallt dann vielleicht nochmals vom Wasser ab, fällt aber endlich ziemlich heftig in dasselbe zurück. Die Bahn, welche er beschreibt, läßt sich am besten mit der eines Pfeiles oder Bolzens vergleichen, nur schwirrt er oft in leichtem Bogen allmählich seitwärts, wobei ihm die Schwanzflosse als freilich sehr unvollkommenes Steuerruder dient. Ganz unmöglich ist es ihm aber, die Richtung seines Fluges willkürlich und schnell wie ein Vogel zu ändern, er kann nicht ausweichen; darum trifft er sehr häufig gegen die Seite des Schiffes, oder fällt auf das Verdeck desselben, selten schießt er darüber hinweg, gewöhnlich macht ein tückisches Tau oder ein sich blähendes Segel seiner Flugbahn ein Ende. Zuweilen werden auf diese Weise eine ganze Menge Fische in der Luft gefangen und bilden für manche Liebhaber auf dem Schiffe eine recht wohlschmeckende Speise.

Bloßer Uebermuth oder Vergnügungssucht treibt die fliegenden Fische wohl selten aus der salzigen Fluth; es ist vielmehr die Furcht vor ihren Feinden. Zu diesen gehören vor allen die Delphine und die prächtig gefärbten Boniten. Von letzteren zieht in warmen Breiten eine Schaar oft stundenlang wie eine buntschillernde Ehrenbegleitung unermüdlich vor und neben dem Schiffe einher. Plötzlich schießen sie pfeilschnell vorwärts und treiben ganze Schwärme von fliegenden Fischen aus dem Wasser; ihre ängstlich durch die Luft schwirrenden Opfer mit unglaublicher Gewandtheit unter Wasser verfolgend, erschnappen sie dieselben oft genug beim Einfallen. Es wird erzählt, daß sich bei einer solchen Jagd auch die Seevögel betheiligen und ihren Antheil an der Beute im Fluge erhaschen. Ich habe eine solche Jagd nie beobachten können.

Die seltsamen Luftreisenden mögen auch manchmal recht heitere Scenen veranlassen; ich erinnere mich eines höchst komischen derartigen Intermezzos. Mit einer zierlichen Yacht unweit der Orinoco-Mündungen entlang segelnd, standen wir eines Abends fröhlich plaudernd auf dem Deck und freuten uns des herrlichen Wetters. Da pfiff plötzlich etwas vorüber und traf Einen aus unserer Gruppe voll auf die Brust. Dieser stieß einen Schreckensruf aus, griff wild mit den Händen in die Luft und stürzte dann schwer und lang rückwärts nieder. Wir sprangen erschrocken hinzu, brachen aber in ein herzliches Gelächter aus, als wir neben dem Gefallenen einen ungefähr zehn Zoll langen fliegenden Fisch fanden, der zum Attentäter wider Willen geworden war und dies natürlich mit dem Tode gebüßt hatte.
M. E. P.

Noch einmal „der Garten auf dem Hause“. Der Artikel „Der Garten auf dem Hause“ von H. Jäger in Nr. 23 der Gartenlaube hat an Redaction und Verfasser verschiedene Schreiben veranlaßt. Aus einem derselben theilen wir hier als Ergänzung jener Andeutungen über Dachgärten Auszüge mit. Der Schreiber, ein Herr A. Hofmann zu Pinta in Sachsen, macht uns Mittheilungen über einen von ihm 1869 eingerichteten Dachgarten von über hundertfünfzig Quadratellen Beetfläche, und über hundert Ellen Wege und Plätze von Kies, welcher hauptsächlich mit Nutzpflanzen bebaut wurde. Derselbe lieferte bereits im ersten Jahre fünfzehn Liter Erdbeeren, dazu Erbsen, Bohnen und anderes mehr. Auch Kleinobst wurde gebaut an Himbeer-, Stachel- und Johannisbeersträuchern. Dazu waren einige Blumen nicht vergessen. Selbst Mais (türkischer Weizen) gedieh in diesem luftigen Garten. Die nächste Veranlassung gaben die hohen Dächer von zwei Nebengebäuden, welche Aussicht, Luft und Licht versperrten. Anstatt ein billigeres flaches Dach herzustellen, kam der Besitzer auf den Gedanken, einen Garten darauf anlegen, und er nennt dies das billigste aller Dächer. Der Eingang geht durch das zur Thür eingerichtete Küchenfenster. Diese Dächer haben ungefähr einen Zoll Fall auf die Länge eines Fußes, eine Steigung, welche wenig bemerkbar ist, und doch den Abzug des Wassers vermittelt. Ueber den bewohnten Räumen ist ein diese Dachneigung bezweckender Hohlraum unter der Gartenfläche. Die Bewässerung wird durch die städtische Wasserleitung bewirkt.

Obschon der Einsender dieser Mittheilungen besonders den Nutzen und seine Freude an Erdbeeren betont, so fügt er doch hinzu, daß auch er den hauptsächlichsten Genuß des Dachgartens im Genuß von freier Luft „im Grünen“, in der Benutzung als Spiel- und Tummelplatz für die Kinder, als Erholungsort für Erwachsene unmittelbar an der Wohnung erkennt. Er würde nach Befriedigung dieser Liebhaberei an Beeren hauptsächlich Grasplätze auf dem Hause anlegen. Somit kommt er der Idee des Verfassers des beregten Artikels, trotzdem er das Gegentheil ausführte, ganz nahe.


Die Philharmonische Gesellschaft zu Laibach ist ein Kunst-Institut Oesterreichs, dem wir die Theilnahme der deutschen Musikfreunde in den weitesten Kreisen zuwenden möchten. Denn diese Gesellschaft kann, als im Jahre 1702 gegründet, auf eine einhundertsiebenzigjährige Thätigkeit zurückblicken und darum wohl die Ehre beanspruchen, von allen musikalischen Gesellschaften Deutschlands und ganz Oesterreichs die älteste zu sein. Der Aufgabe, die sie sich gestellt, deutschen Sang und deutsche Musik und damit auch deutsche Art und Sitte an deren südlichsten Grenzen zu pflegen, hat sie bis heute treu nachgestrebt und sich durch Widerwärtigkeiten aller Art, wie sie der Nationalstreit im Kaiserstaate in immer verbitterterer Weise an den Tag bringt, keinen Augenblick davon abwendig machen lassen. – Nur der Mangel eines eigenen Heims für ihre Versammlungen, Concerte und Musikschule trat bisweilen ihrer Wirksamkeit störend entgegen. Dieses Hinderniß eines neuen großartigen Aufschwungs soll nun beseitigt werden durch Gründung eines eigenen Hauses der Gesellschaft. Zur Beschaffung der Mittel dazu hat die kaiserliche Regierung eine Effecten-Lotterie gestattet, auf welche wir die deutschen Musikfreunde aufmerksam machen wollen. Wir müssen immer daran erinnern und mahnen, daß es hier die Befestigung eines äußersten Vorpostens deutscher Cultur gilt, eines Instituts, dem selbst ein Beethoven seit 1819, wo er dessen Ehrenmitglied geworden, seine Theilnahme erwies. Der dermalige Director der Philharmonischen Gesellschaft ist Dr. Anton Schöppl in Laibach.


Die Protestanten-Bibel. Wenige Monate sind seit dem Erscheinen der ersten Hälfte der von Dr. Paul Wilhelm Schmidt und Dr. Franz von Holtzendorff herausgegebenen „Protestanten-Bibel Neuen Testaments“ (Leipzig, Barth) verstrichen, und schon liegt mit der soeben versandten zweiten Hälfte das Werk vollendet da. Zu den Zeiten Luther’s und Melanchthon’s konnte der deutsche Bibeltext, wie diese beiden Männer bewiesen haben, aus den Händen einzelner hervorgehen und sich die Anerkennung von Volk und Kirche erwerben. Anders heute, wo es sich um eine den Forderungen der Gegenwart Rechnung tragende Neugestaltung des deutschen Bibeltextes handelt. Die neue deutsche Bibel mußte mit Nothwendigkeit das Product der einmüthigen Gesammtarbeit der verschiedenen gegenwärtigen theologischen Richtungen sein. Als ein solches liegt die „Protestanten-Bibel“ heute vollendet vor uns. Sie ist ein Commentar des Neuen Testamentes, welcher unter Beibehaltung und theilweiser Berichtigung des Luther’schen Textes sich an die denkenden deutschen Laien und die im liberalen Sinne forschenden Gelehrten wendet. Dem Texte sind erläuternde Anmerkungen hinzugefügt. Jedem Buche dieses Neuen Testaments ist eine Einleitung vorausgeschickt worden, welche über Entstehung, Abfassung etc. der betreffenden Glaubensurkunde gemeinverständliche Mittheilungen macht. Anmerkungen und Einleitungen stammen aus der Feder der hervorragendsten Theologen unserer Zeit und sind ihrer Mehrzahl nach im Geiste der sogenannten „Tübinger Schule“ gehalten. Gegenüber dem längst in allen Gesellschaftskeisen empfundenen Bedürfnisse, zu einem tieferen Verständnisse der Bibel durchzudringen, gegenüber dem in mancher Beziehung ungenügenden Religionsunterrichte in unseren Schulen, gegenüber endlich den großartigen Reform-Ergebnissen, welche die Geschichts- und Bibel-Forschung der letzten Decennien ergeben haben, dürfen wir die „Protestanten-Bibel“, welche unter Ausscheidung des Wunder- und Fabel-Materials den sittlichen Gehalt des Christenthums zur Geltung zu bringen sucht, als ein treffliches und in jedem Sinne zeitgemäßes Werk deutscher Forschung und deutscher Tüchtigkeit freudig begrüßen und einer allgemeinen Beachtung um so mehr auf das Wärmste empfehlen, als eine heftige Polemik gegen dieses Erzeugniß freisinniger Forschung seitens der landläufigen Theologie leider wohl nicht ausbleiben dürfte.


Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben vollständig erschienen:
Dr. Carl Ernst Bock,
Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig.
Das Buch vom gesunden und kranken Menschen.
Mit gegen 120 feinen Abbildungen. – Neunte verbesserte und vermehrte Auflage.
Preis eleg. brosch. 2 Thlr. 15 Ngr., geb. 2 Thlr. 25 Ngr.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ist überhaupt in volksthümlicher Redeweise und darum in vielen deutschen Mundarten der Fall; in einigen oberdeutschen Mundarten bedeutet auch „niederträchtig“ so viel als herablassend.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegegenüber