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Die Gartenlaube (1873)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[269]

No. 17.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Die Voraussetzung schien auch einzutreffen, wenigstens wurde Arthur’s Name in den Briefen nie genannt und die Verhältnisse auf seinen Besitzungen nur sehr beiläufig erwähnt, bis Curt in einer dienstlichen Angelegenheit nach der Residenz beordert wurde. Während der wenigen Stunden seines Hierseins hatte man sich nicht aussprechen können. Bei Tische hatte die Gegenwart einiger Gäste der Familie Zwang auferlegt; jetzt aber, wo durch die geforderte Unterschrift Eugeniens der sonst streng vermiedene Punkt einmal berührt war, erkundigte sich der Baron auch mit jener Gleichgültigkeit, mit der man nach dem Ergehen eines sehr entfernten Bekannten fragt, wie es denn eigentlich auf den Berkow’schen Gütern stände.

„Schlimm, Papa, sehr schlimm!“ sagte Curt, indem er sich dem Vater zuwandte, ohne jedoch seinen Platz neben der Schwester aufzugeben. „Arthur wehrt sich wie ein Mann gegen das Unglück, das von allen Seiten auf ihn einstürmt, aber ich fürchte, er wird ihm doch zuletzt unterliegen. Er hat es zehnfach schlimmer als seine Collegen auf den übrigen Werken; all’ die Sünden, die sein Vater mit einer zwanzigjährigen Tyrannei und Ausbeutung, mit den unsinnigsten Speculationen der letzten Zeit aufgehäuft hat, muß er jetzt büßen. Ich begreife nicht, wie er sich in dem Kampfe noch überhaupt aufrecht erhält. Ein Anderer wäre längst unterlegen.“

„Wenn die Bewegung ihm über den Kopf wächst, so wundert es mich, daß er noch nicht militärische Hülfe in Anspruch genommen hat,“ meinte der Baron ziemlich kühl.

„Das ist’s ja eben, daß er in dem Punkte keine Vernunft annehmen will! Ich“ – hier brach die ganze aristokratische Rücksichtslosigkeit des jungen Erben von Windeg durch – „ich hätte längst unter die Kerle schießen lassen und mir mit Gewalt Ruhe geschafft! Anlaß dazu haben sie ihm wahrhaftig genug gegeben, und wenn ihr Rädelsführer so weiter hetzt, wie er es jetzt Tag für Tag thut, so werden sie ihm noch nächstens das Haus über dem Kopfe anzünden – aber das hilft Alles nichts. ‚Nein und abermals nein‘, und ‚so lange ich mich noch allein wehren kann, setzt kein Fremder den Fuß auf meine Werke!‘ Da helfen weder Bitten noch Vorstellungen. Und, offen gestanden, Papa, man sieht es im Regimente sehr gern, wenn unsere Hülfe nicht verlangt wird, wir haben sie nur zu oft leisten müssen in den letzten Wochen. Auf den anderen Werken war es nicht halb so schlimm wie auf den Berkow’schen, und doch hatten die Herren nichts Eiligeres zu thun, als nach Schutz und Soldaten zu rufen und sich mit ihren eigenen Leuten auf den Kriegsfuß zu stellen. Es sind da häßliche Scenen vorgekommen, und wir fahren am schlimmsten dabei. Mit Härte vorgehen soll man nicht, wo es sich nur irgend vermeiden läßt; seiner Autorität etwas vergeben soll man auch nicht, und doch die Verantwortung tragen für Alles, was geschieht. Darum rechnen es auch der Oberst und die Cameraden dem Arthur hoch an, daß er bis jetzt noch ganz allein mit seinen Rebellen fertig geworden ist und auch ferner mit ihnen fertig werden will, obgleich es gerade bei ihm am ärgsten zugeht.“

Eugenie hörte in athemloser Spannung dem Bruder zu, der sie für ganz unbetheiligt bei der Sache zu halten schien, denn er wandte sich mit der Erzählung ausschließlich an seinen Vater. Dieser dagegen, der schon mit steigendem Mißfallen das wiederholte „Arthur“ bemerkt hatte, dessen sein Sohn sich bediente, sagte jetzt mit zurechtweisender Kälte:

„Du und Deine Cameraden, Ihr scheint ja sehr genau über Alles unterrichtet zu sein, was da draußen bei Berkow vorgeht.“

„Die ganze Stadt spricht davon!“ versicherte Curt unbefangen. „Was mich betrifft, ich war allerdings ziemlich oft draußen.“

Der Baron fuhr fast in die Höhe bei diesem Geständniß. „Du warst bei ihm auf seinen Gütern? Und das sogar öfter?“

Ob der junge Officier die innere Bewegung bemerkt hatte, die sich bei seinen letzten Worten in den Zügen Eugeniens bemerkbar machte, er schloß ihre Hand auf einmal fest in die seinige, während er seinen unbefangenen Ton beibehielt.

„Nun ja, Papa! Du befahlst mir ja über die bewußte Angelegenheit noch zu schweigen, und da wäre es doch aufgefallen, wenn ich meinen Schwager völlig ignorirt hätte, zumal in seiner augenblicklichen Lage; das Hinausfahren war mir ja nicht verboten.“

„Weil ich glaubte, Dein eigenes Tactgefühl würde Dir dergleichen verbieten,“ rief Windeg im höchsten Grade gereizt. „Ich setzte voraus, daß Du diese Beziehungen meiden würdest; statt dessen hast Du sie geradezu aufgesucht, wie es scheint, ohne mir auch nur ein Wort davon zu schreiben. Wahrhaftig, Curt, das ist stark!“

Curt hätte, um die Wahrheit zu sagen, bekennen müssen, daß er ein directes Verbot gefürchtet und es deshalb wohlweislich vorgezogen hatte, das ganze Vergehen, brieflich wenigstens, zu verschweigen. Er hegte sonst einen unbedingten Respect vor [270] dem zornigen Stirnrunzeln seines Vaters; heute aber schien die Gegenwart Eugeniens diesem Respect das Gleichgewicht zu halten. Sein Auge begegnete dem ihrigen, und was er darin sah, mußte ihm wohl die väterlichen Vorwürfe erträglicher machen, denn er lächelte sogar, als er ganz unbekümmert erwiderte:

„Ja, Papa, ich kann doch nicht dafür, daß ich Arthur so lieb gewonnen habe! Du hättest es auch gethan an meiner Stelle. Ich versichere Dir, er kann von einer ganz hinreißenden Liebenswürdigkeit sein, wenn er nur nicht immer so furchtbar ernst wäre, aber freilich, das steht ihm ganz ausgezeichnet. Ich habe ihm noch gestern beim Abschiede gesagt: ‚Arthur, wenn ich Dich früher so gekannt hätte –‘“

„‚Dich?‘“ unterbrach ihn der Baron mit seiner allerschärfsten Betonung.

Der junge Officier warf ziemlich trotzig den Kopf zurück. „Nun ja, wir sind Du und Du geworden! Das heißt, ich bat ihn darum, und ich sehe auch nicht ein, warum wir einander nicht so nennen sollen. Er ist ja doch mein Schwager.“

„Die Schwagerschaft hat ein Ende!“ sagte der Baron kalt, nach dem Schreibtisch zeigend, „dort liegt der Scheidungsantrag.“

Curt warf einen nicht allzu zärtlichen Blick auf das bezeichnete Blatt. „Ja so, die Scheidung! Hat Eugenie schon unterschrieben?“

„Sie ist eben im Begriff, es zu thun.“

Der junge Mann sah wieder seine Schwester an, deren Hand jetzt in der seinigen bebte und deren Lippen zuckten, wie in mühsam verhaltener innerer Qual.

„Nun, ich dächte, Papa, gerade in dem Punkte hätte sich Arthur so benommen, daß jeder Vorwurf und jede Bitterkeit gegen ihn ausgeschlossen ist. Es wäre kleinlich, ihm jetzt nicht volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich habe nie geglaubt, daß ein Mann sich mit solcher Energie aus seiner Schlaffheit emporraffen kann, wie ich es jetzt an ihm sehe. Was er alles geleistet hat in diesen letzten Wochen, wie er überall zu rechter Zeit und am rechten Orte eingreift, was er schon für entsetzliche Scenen und Conflicte verhindert hat, er allein, mitten unter der rebellischen Menge, blos durch sein Erscheinen und die Macht seiner Persönlichkeit, das muß man sehen, um es zu glauben. Er ist geradezu zum Helden geworden – das sagen der Oberst und die Cameraden, das sagt überhaupt die ganze Stadt. Die Beamten benehmen sich ausgezeichnet, weil er sie überall anführt; auch nicht ein Einziger ist von den Werken gewichen, aber als ich abreiste, da schienen sie mir denn doch an der Grenze des Möglichen angekommen zu sein. Das Unglück ist nur, daß Arthur sich in den Kopf gesetzt hat, es solle kein Fremder zwischen ihn und seine Leute treten, und daß er das mit eiserner Consequenz durchführt. Ich glaube, wenn es zum Aeußersten kommt, so ist er im Stande, sich mit dem ganzen Beamtenpersonal im Hause zu verschanzen und sich dort bis auf den letzten Mann zu wehren, ehe er uns zu Hülfe ruft. Das sieht ihm ganz ähnlich!“

Hier zog Eugenie heftig ihre Hand aus der des Bruders. Sie stand plötzlich auf und ging an’s Fenster, der Baron dagegen erhob sich mit dem Ausdruck des lebhaftesten Unwillens.

„Ich weiß nicht, Curt, wie Du dazu kommst, eine einfache Frage nach dem Stande der Dinge auf Berkow’s Gütern mit einem so überschwenglichen Lobliede auf ihn zu beantworten. Es ist das eine Schonungslosigkeit gegen Deine Schwester, die ich gerade Dir, der sie stets mit so besonderer Zärtlichkeit zu lieben behauptete, am wenigsten zugetraut hätte. Wie Du Dich mit Deiner excentrischen Bewunderung für diesen Mann, die Du in Deiner Garnison ganz offen zur Schau zu tragen scheinst, später dort abfinden willst, wenn die Scheidung bekannt wird, überlasse ich Dir selber. Für jetzt bitte ich, daß dieses Gespräch ein Ende nimmt. Du siehst, wie peinlich es Eugenien berührt. Du wirst mich begleiten.“

„Nur einige Minuten noch laß mir Curt hier, Papa,“ bat die junge Frau leise. „Ich möchte ihn etwas fragen.“

Der Baron zuckte die Achseln. „Nun, dann wird er wenigstens die Güte haben, diesen Punkt nicht weiter zu berühren und Dich nicht noch mehr aufzuregen. In zehn Minuten stehen die Pferde unten, Curt; ich erwarte Dich dann bestimmt. Auf Wiedersehen!“

Die Thür hatte sich kaum geschlossen, als der junge Officier an’s Fenster zu seiner Schwester eilte und mit unverkennbarer, wenn auch etwas stürmischer Zärtlichkeit den Arm um sie legte.

„Bist Du mir auch böse, Eugenie?“ fragte er. „War ich wirklich schonungslos?“

Die junge Frau hob in leidenschaftlicher Spannung das Auge zu ihm empor. „Du bist bei Arthur gewesen – Du hast ihn öfter gesprochen, erst gestern noch beim Abschiede – hat er Dir nichts, gar nichts aufgetragen?“

Curt sah zu Boden. „Er läßt sich Dir und dem Papa empfehlen,“ sagte er etwas kleinlaut.

„In welcher Art? Was sagte er Dir?“

„Er rief mir nach, als ich schon im Wagen saß: ‚Empfiehl mich dem Herrn Baron und Deiner Schwester!‘“

„Und das war Alles?“

„Alles!“

Eugenie wandte sich ab; sie wollte dem Bruder die bittere Enttäuschung nicht zeigen, die sich in ihren Zügen malte, aber Curt hielt sie fest. Er hatte die schönen dunklen Augen seiner Schwester; nur war der Ausdruck bei ihm kecker, lebenslustiger, aber in diesem Augenblick – er beugte sich tief zu ihr hinab – verschwand dies Alles vor einem ungewohnten Ernst.

„Du mußt ihm wohl einmal sehr wehe gethan haben, Eugenie, und das in einer Weise, die er noch immer nicht verwinden kann. Ich hätte Dir so gern eine Zeile, ein Abschiedswort gebracht, aber das war von ihm nicht zu erlangen. Er wollte mir nie Rede stehen, so oft ich Deinen Namen nannte, aber todtenbleich wurde er jedesmal dabei und wandte sich ab und zog fast mit Gewalt ein anderes Thema herbei, um nur nichts mehr davon zu hören, gerade so, wie Du es machst, wenn ich Dir von ihm spreche. – Mein Gott, haßt Ihr Euch denn so sehr?“

Eugenie riß sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung aus seinen Armen. „Laß mich, Curt! um Gotteswillen, laß mich! ich ertrage das nicht länger.“

Ein Ausdruck halben Triumphs flog über das Gesicht des jungen Officiers und es klang fast wie ein mühsam unterdrückter Jubel aus seiner Stimme.

„Nun, ich will mich ja nicht in Eure Geheimnisse drängen! Ich muß jetzt fort. Papa wird sonst ungeduldig; er ist so schon heut’ übler Laune. Ich soll Dich wohl jetzt allein lassen, Eugenie. Du mußt ja noch den – den Scheidungsantrag unterschreiben! Bis wir zurückkommen, wird es wohl geschehen sein. Leb’ wohl!“

Er eilte fort. Die Pferde standen in der That bereits unten im Hofe, und der Baron sah ungeduldig nach den Fenstern hinauf. Der Spazierritt gehörte diesmal nicht zu den angenehmsten, denn sowohl der älteste Sohn, als die beiden jüngeren hatten dabei die üble Laune des Vaters zu empfinden. Baron Windeg konnte es nun einmal nicht ertragen, wenn irgend etwas, das den Namen Berkow trug, in seiner Gegenwart gelobt wurde, und da er natürlich bei seiner Tochter das Gleiche voraussetzte, so fand er sie und sich beleidigt, und Curt bekam noch Verschiedenes über seine „Tactlosigkeit“ und „Rücksichtslosigkeit“ zu hören. Dieser ließ das aber sehr ruhig über sich ergehen und schien leider nicht die geringste Reue zu empfinden, dagegen bekundete er ein lebhaftes Interesse an dem Ritte selbst, oder vielmehr an der Dauer desselben. Er war so lange nicht in der Residenz gewesen, fand die äußerst belebte Promenade so unterhaltend, und brachte es denn auch wirklich dahin, die Partie so weit auszudehnen, daß die vier Herren erst mit dem Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückkehrten.

Eugenie war inzwischen allein zurückgeblieben. Die Thür war abgeschlossen – sie konnte und wollte jetzt Niemand in ihrer Nähe dulden. Die Wände ihres Zimmers und die alten Familienbilder, die sie schmückten, hatten schon manche Thräne, manche bittere Stunde gesehen, damals, als es sich um die Vermählung der jungen Frau handelte, aber doch keine so schwere wie heute, denn heute galt es den Kampf mit sich selber, und der Gegner war nicht leicht zu überwinden.

Dort auf dem Schreibtisch lag das Blatt, in welchem eine Frau die gesetzliche Trennung von ihrem Manne forderte; nur die Unterschrift fehlte noch daran. War die vollzogen, so war [271] es auch die Scheidung, denn die Einwilligung ihres Gatten, der Einfluß und die Verbindungen des Barons sicherten der Angelegenheit ein schnelles und erwünschtes Ende. Sie hatte vorhin, in Gegenwart des Vaters, den verhängnißvollen Federzug nicht thun wollen, gethan mußte er doch jetzt werden. Was half der Aufschub einer einzigen Stunde? Es galt ja gleich, ob das Unabänderliche früher oder später geschah. Aber gerade in dieser einen Stunde war Curt gekommen und hatte mit seiner Erzählung die Wunde wieder aufgerissen, die freilich noch niemals aufgehört zu bluten.

Und doch hatte ihr Bruder kein Wort, nicht einmal einen Gruß bringen können. „Empfiehl mich dem Herrn Baron und Deiner Schwester!“ das war das Ganze. Warum nicht lieber „Empfiehl mich der gnädigen Frau“? Das wäre noch eisiger, noch passender gewesen. Eugenie war an den Schreibtisch getreten, und ihr Auge irrte über die Worte des Schriftstückes hin. Auch dort klang Alles so kalt, so förmlich, und doch wurde damit der Stab gebrochen über die Zukunft zweier Menschen. Aber Arthur hatte es ja nicht anders gewollt. Er war es, der zuerst das Wort der Trennung aussprach, er, der sich zuerst und rückhaltslos in die Beschleunigung fügte, und als sie zu ihm gekommen war und sich bereit erklärte, noch zu bleiben, da hatte er sich abgewandt und sie gehen heißen. Das Blut stieg wieder heiß empor zu den Schläfen der jungen Frau, und ihre Hand griff nach der Feder. Sie war denn doch Weib genug, um zu wissen, wie ihn diese Unterschrift traf, wenn er auch darauf gefaßt sein mußte; sie verstand es denn doch, auch Blicke zu deuten und unbewachte Momente, in denen er sich verrathen hatte; aber daß er Herr über diese Schwäche geblieben war bis zum letzten Augenblick, daß er den Wink nicht verstehen wollte, mit dem sie ihm die Möglichkeit einer Versöhnung gezeigt, daß er Stolz gegen Stolz, Schroffheit gegen Schroffheit setzte, das sollte er jetzt büßen und wenn sie selbst zehnfach mitbüßte. – Lieber zwei Menschen unglücklich machen, als bekennen, daß man einmal Unrecht gehabt.

Der Dämon des Stolzes bäumte sich wieder in ihr empor mit seiner ganzen verderblichen Macht. Wie oft schon hatte er allen besseren Regungen zum Trotz das Feld behauptet, wenn auch nicht immer zum Segen für sie und Andere. Aber heute mischte sich seine Stimme doch mit einer anderen. „Arthur wehrt sich wie ein Mann gegen das Unglück, das von allen Seiten auf ihn einstürmt, aber er wird ihm doch zuletzt unterliegen!“ Und wenn er unterlag, so erlag er allein, allein wie er in dem ganzen Kampfe gestanden, er hatte keinen Freund, keinen Vertrauten, nicht einen einzigen. Wie sehr ihm auch die Beamten ergeben sein mochten, wie sehr die Fremden ihn jetzt bewunderten, nahe stand ihm Keiner; ein Herz hatte Keiner für ihn, und die Gattin, deren Platz jetzt an seiner Seite war, sie unterschrieb in diesem Augenblicke das Blatt, in dem sie in möglichster Eile nun auch die Trennung von dem Manne verlangte, den sie bereits verlassen hatte und der jetzt Tag für Tag mit dem Untergange rang.

Eugenie ließ die Feder fallen und trat vom Schreibtische zurück. Was war denn am Ende Arthur’s Schuld gewesen? Er hatte sich gleichgültig, nachlässig gegen eine Frau gezeigt, von der er geglaubt, daß nur die Aussicht auf seinen Reichthum sie zu dieser Convenienzehe verlockte, und als diese Frau ihn aus seinem Irrthum riß, da trat sie ihm auch zugleich mit einer Verachtung entgegen, die kein Mann erträgt, wenn noch ein Funken von Ehre in ihm ist. Er büßte auch hier die Sünden seines Vaters und hatte sie reichlich gebüßt in dieser kurzen Ehe. Seit jener Unterredung war ihr nichts weiter geschehen, als daß ihr Gatte sich fremd und kalt von ihr zurückzog, aber ihm? Eugenie kannte am besten den wahren Inhalt dieser drei Monate, die ihrer Umgebung nur die ruhige Oberfläche der Gleichgültigkeit gezeigt und die doch Stacheln in sich bargen, genug, um einen Mann bis auf’s Aeußerste zu treiben; man kann mit jedem Blicke, mit jedem Athemzuge beleidigen, und das war hier geschehen. Mit dem ganzen Hochmuth ihrer Geburt und ihres Standes hatte sie immer wieder versucht, ihn in die Nichtigkeit und Erbärmlichkeit herabzudrücken, wohin er ihrer Meinung nach gehörte. Tag für Tag hatte sie ihre Waffen gebraucht, und nur um so schonungsloser gebraucht, als sie erst sah, daß er verwundbar war, hatte ihm sein Haus zu einer Folter, seine Ehe zu einem Fluche gemacht, um sich an ihm dafür zu rächen, daß sein Vater gewissenlos an ihrer Familie gehandelt. Sie hatte ihn mit vollster Absichtlichkeit dahin getrieben, daß er zuletzt selbst die Trennung verlangte, weil er das Leben an ihrer Seite nicht mehr ertragen konnte – wenn er sich nun endlich aufbäumte und die Hand von sich stieß, die ihn so oft gequält und gepeinigt, wer war da im Unrecht?

Die junge Frau sprang auf von dem Sessel, auf den sie sich geworfen, und schritt in furchtbarer Erregung auf und nieder, wie um ihren eigenen Gedanken zu entfliehen. Sie wußte nur zu gut, was sie von ihr wollten, wohin sie sie drängten; es gab nur eins, was hier helfen und retten konnte, aber das war ja unmöglich, das konnte ja nicht sein. Und wenn sie das ungeheure Opfer ihres ganzen Stolzes brachte, und es wurde nicht so voll und ganz genommen, wie sie es gab: konnte sie sich nicht getäuscht, nicht falsch gelesen haben in diesen Augen, die sich ihr immer nur auf Augenblicke, und auch dann nur widerstrebend, entschleierten? Wenn er ihr nun wieder entgegentrat mit jenem Eisesblick, der nach ihrer Berechtigung fragte, da, wo jede andere Frau nur ihre Pflicht erfüllte, wenn er ihr auf’s Neue sagte, daß er allein stehen und fallen wolle, wenn er sie zum zweiten Male gehen hieß – nun und nimmermehr! Eher die Trennung, eher ein ganzes Leben voll Qual und Elend auf sich nehmen, als die Möglichkeit einer solchen Demüthigung!

Die Abendsonne, die die Wipfel der Bäume drüben vergoldete, war längst gesunken; die Dämmerung senkte sich herab, freilich ohne den heißen menschenvollen Straßen Stille und Kühlung zu bringen. Da draußen in der schwülen Abendluft summte und wogte es noch immer; unaufhörlich fluthete die Menge auf und nieder und Stimmengeräusch und Wagengerassel drang noch immer im wirren Durcheinander hinauf zu den Fenstern. Aber durch das Alles hindurch tönte jetzt etwas Anderes, erst nur fern, undeutlich, dann immer näher, immer lauter. War es von den grünen Waldbergen hergeflogen und hatte sich seinen Weg gebahnt mitten durch das Brausen der großen, ewig bewegten Residenzwoge bis hin zu der jungen Frau? Was es war, wußte sie nicht, aber es klang wie das Wehen der Tannenzweige, wie das Waldesrauschen mit seinen geheimnißvollen Accorden, und damit erstand in ihr auch wieder das ganze Frühlingsahnen, das ganze schmerzlich-süße Weh jener unter solchen Tannenzweigen verlebten Minuten. Der Nebel wallte wieder, und der Sturm brauste, und die Bäche rauschten, und aus den grauen Schleiern hervor trat klar und deutlich nur die eine Gestalt, die seitdem nicht wieder von ihr gewichen war im Wachen und Träumen, und schaute sie so ernst und vorwurfsvoll an mit den großen braunen Augen. Wer nur einmal einen Kampf durchgekämpft hat, wo sich alle Seelenkräfte anspannen im Ringen eines werdenden Entschlusses, der kennt auch solche Erinnerungen, die auf einmal kommen und da sind, ohne irgend eine äußere Beziehung oder Anregung, aber mit einer Allmacht, der nichts widersteht. Auch Eugenie fühlte sich jetzt umweht von ihnen, fühlte, wie ihr eine Waffe nach der anderen aus der Hand, ein Stachel nach dem anderen aus dem Herzen gewunden wurde, bis zuletzt Nichts mehr zurückblieb, nichts als die Macht jener Stunde, in der sie zum ersten Male empfunden, daß der Haß zu Ende war und an seiner Stelle etwas Neues auflebte, gegen das sie gestritten hatte auf Leben und Tod, und dem sie jetzt dennoch erlag.

Es war ein kurzer letzter Kampf zwischen dem alten Dämon, dem herben Stolz, der die einmal empfangene Abweisung nicht verzeihen konnte, und dem Herzen einer Frau, die sich trotz alledem geliebt wußte; aber die Waldesstimme hatte diesmal nicht umsonst gesprochen; sie behielt doch zuletzt den Sieg. Das Blatt, das zwei Menschen trennen sollte, die geschworen hatten, einander auf ewig anzugehören, lag zerrissen am Boden, und die junge Frau lag auf den Knieen, das von heißen Thränen überströmte Antlitz emporgerichtet.

„Ich kann nicht! Ich kann ihm und mir das nicht anthun; es trifft uns Beide – komme was da will, Arthur, ich bleibe bei Dir!“ – – –

„Wo ist Eugenie?“ fragte der Baron, als er eine Stunde darauf in den erleuchteten Salon trat, wo sich seine Söhne bereits befanden. „Hat man der gnädigen Frau nicht gemeldet, daß wir sie erwarten?“ fuhr er, zum Diener gewendet, fort, [272] der soeben den Theetisch in Bereitschaft gesetzt hatte und jetzt im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen.

Curt kam der Antwort zuvor. „Eugenie ist nicht zu Hause, Papa,“ sagte er, indem er dem Bedienten winkte, sich zu entfernen.

„Nicht zu Hause?“ wiederholte der Baron erstaunt. „So spät noch ausgefahren und wohin?“

Curt zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht. Ich war unmittelbar, nachdem ich vom Pferde gestiegen, in ihren Zimmern, fand sie aber nicht mehr dort; dagegen fand ich das auf dem Fußboden.“

Er zog ein Blatt hervor, und um die Lippen des jungen Officiers zuckte es ganz eigenthümlich, während er sich anscheinend mit dem größten Ernste bemühte, die beiden Hälften möglichst genau zusammengepaßt vor den Vater hinzulegen, der darauf niedersah, ohne irgend etwas zu begreifen.

„Das ist ja der Entwurf des Scheidungsantrages von der Hand des Justizrathes, das Blatt, das ich Eugenie zur Unterschrift übergab; sie fehlt aber noch immer, wie ich sehe.“

„Nein, unterschrieben ist das Ding nicht,“ meinte Curt mit der unschuldigsten Miene von der Welt, „aber mitten durchgerissen. Merkwürdig! Sieh nur her, Papa!“

„Was soll das heißen?“ fragte Windeg im höchsten Grade befremdet. „Wo kann Eugenie sein? Ich werde die Diener fragen; wenn sie wirklich ausgefahren ist, so müssen sie doch wissen, wohin der Wagen beordert wurde.“

Er wollte die Hand an die Klingel legen, aber schnell ergriff sein Sohn das Wort. „Ich glaube, Papa, sie ist zu ihrem Manne gegangen!“ sagte er sehr ruhig.

„Bist Du von Sinnen, Curt?“ fuhr der Baron auf. „Eugenie zu ihrem Manne?“

„Nun, ich vermuthe das nur so, und wir werden wohl auch bald Gewißheit darüber erhalten, denn auf ihrem Schreibtische lag dieses Billet, an Dich adressirt. Ich habe es mit herübergenommen; es enthält jedenfalls eine Benachrichtigung.“

Windeg riß das Couvert ab und bemerkte in seiner Hast gar nicht, wie Curt die Etiquette so weit verletzte, daß er sich erlaubte, hinter ihn zu treten und über seine Schulter weg mitzulesen. Die Züge des jungen Officiers zeigten dabei aber einen so unverkennbaren Triumph, daß seine beiden jüngeren Brüder, die nichts von der Scene verstanden, erschreckt und fragend bald auf ihn, bald auf den Vater blickten.

Das Billet enthielt nur wenige Zeilen: „Ich gehe zu meinem Manne! Verzeih’, Papa, daß ich so plötzlich, so heimlich abreise, aber ich will keine Stunde verlieren und ich will nicht erst Deinen Widerstand herausfordern, den ich doch brechen müßte; denn mein Entschluß steht fest. Thue keinen Schritt weiter in der Scheidungsangelegenheit, widerrufe die schon geschehenen! Ich versage meine Einwilligung dazu, ich verlasse Arthur nicht! Eugenie.“

„Ist so etwas je erhört worden?“ brach der Baron jetzt aus, indem er den Brief sinken ließ. „Ein Widerruf, eine förmliche Flucht aus meinem Hause, und das wagt meine Tochter mir zu bieten! So entreißt sie sich meinem Schutze, all’ meinen Plänen und Zukunftshoffnungen für sie und kehrt zu diesem Berkow zurück, jetzt, wo er nahe am Ruine steht, geht zu ihm, mitten unter die empörten Arbeiter, unter die Anarchie auf seinen Gütern; das grenzt ja nahezu an Wahnsinn! Was ist da vorgefallen? Ich muß es wissen, aber zuerst muß dieser unsinnige Entschluß vereitelt werden, so lange es noch Zeit ist. Ich werde augenblicklich –“

„Der Courierzug nach M. ist schon seit einer halben Stunde fort, Papa,“ unterbrach ihn Curt lakonisch. „Und eben scheint auch der Wagen vom Bahnhofe zurückzukommen. Es ist jedenfalls zu spät.“

In der That hörte man soeben den Wagen, dessen sich die junge Frau ohne Zweifel bedient hatte, unten in das Portal einfahren. Der Baron sah jetzt auch ein, daß es zu spät war, und nun wendete sich sein ganzer Zorn gegen seinen Sohn. Er warf ihm vor, allein an Allem schuld zu sein; er habe durch seine thörichte Bewunderung für den Schwager, durch seine übertriebenen Berichte von dessen Lage Eugeniens Gewissen aufgestachelt, bis ein falsches Pflichtgefühl sie antrieb, an die Seite ihres Gatten zu eilen, nur weil sie ihn unglücklich glaubte, und war sie erst dort, wer konnte da wissen, ob es nicht am Ende zu einer vollständigen Aussöhnung kam, wenn Berkow egoistisch genug war, das ihm gebotene Opfer anzunehmen. Aber Windeg vermaß sich hoch und theuer, die Scheidung trotz alledem doch durchzusetzen. Die Sache war einmal eingeleitet, der Justizrath hatte sie bereits in Händen, und Eugenie sollte und mußte zur Vernunft zurückkehren. Er, der Baron, wollte doch einmal sehen, ob er seine väterliche Autorität nicht mehr geltend machen könne, wenn auch zwei seiner Kinder – hier traf ein niederschmetternder Blick den armen Curt, der augenblicklich allein zur Stelle war – sie so gänzlich zu mißachten schienen.

Curt ließ den ganzen Sturm über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe zu vertheidigen; er wußte aus Erfahrung, daß dies das beste Mittel sei. Mit tiefgesenktem Kopfe und niedergeschlagenem Blicke schien er in der That außerordentliche Reue zu empfinden über seinen Leichtsinn und über das Unheil, das er damit angerichtet. Als aber der Baron, noch immer ganz außer sich, den Salon verließ, um in seinen eigenen Zimmern über die unerhörte Geschichte weiter zu grollen, schnellte der junge Officier muthig in die Höhe, und der übermüthige Ausdruck seines hübschen Gesichtes, die lachenden Augen gaben leider den Beweis, wie wenig ihm der väterliche Zorn zu Herzen gegangen war.

„Morgen früh ist Eugenie bei ihrem Manne!“ sagte er zu seinen beiden Brüdern, die jetzt mit Fragen und Vorwürfen auf ihn einstürmten. „Und da soll Papa es einmal versuchen, mit seiner väterlichen Autorität und seinem Rechtsanwalt dazwischen zu kommen! Arthur wird sich seine Frau schon sichern, wenn er nur erst weiß, daß sie ihm gehört, bisher wußte er das noch nicht. Wir freilich“ – hier warf Curt einen etwas bedenklichen Blick auf die Thür, hinter der sein Vater verschwunden war –, „wir werden wohl noch acht Tage lang Sturm haben, und der allerärgste kommt noch, wenn Papa erst merkt, wie es eigentlich zwischen den Beiden steht, und daß da von ganz etwas Anderem die Rede ist als blos von Gewissen und Pflichtgefühl; aber dafür bekommt Arthur jetzt vollen Sonnenschein, und damit und mit Eugenie an der Seite wird er sich schon durchschlagen. Den Scheidungsproceß sind wir nun Gott sei Dank los, inclusive Gerichte und Justizräthe – und wer von Euch mir jetzt noch ein einziges Wort gegen meinen Schwager sagt, dem werde ich darauf antworten!“




Es war in den ersten Vormittagsstunden des nächsten Tages, als die Postchaise, die soeben den Weg von M. nach den Berkow’schen Besitzungen zurückgelegt hatte, am Eingange des Thales Halt machte, in dem die Werke lagen, deren erste Häuser man bereits in unmittelbarer Entfernung vor sich sah.

„Thun Sie das nicht, gnädige Frau!“ sagte der Kutscher, in das Innere des Wagens hineinsprechend. „Kehren Sie lieber um mit mir, wie ich Sie schon auf der letzten Station bat. Schon dort habe ich’s gehört, und der Bauer, der uns soeben begegnete, sagt es auch. Es giebt heute Mord und Todtschlag da drüben auf den Werken; von den Arbeiterdörfern sind sie heute schon in aller Frühe hinübergezogen, und nun geht es drunter und drüber. Ich kann Sie beim besten Willen nicht nach Hause fahren; ich riskire Pferde und Wagen dabei. Wenn die drüben einmal im Revoltiren sind, dann schonen sie nicht Freund, nicht Feind. Sie werden doch nicht just heute hinüber müssen; warten Sie doch bis morgen!“

Die junge Dame, welche ganz allein im Wagen saß, öffnete statt aller Antwort den Schlag und stieg aus.

„Ich kann nicht warten,“ sagte sie ernst; „aber ich will Sie und Ihr Fuhrwerk auch nicht in Gefahr bringen. Die Viertelstunde werde ich wohl zu Fuß zurücklegen können. Kehren Sie um!“

Der Kutscher erschöpfte sich noch einmal in Warnungen und Vorstellungen; er fand es gar zu seltsam, daß die fremde, vornehm aussehende Dame, die ihn mit einem überreichlichen Trinkgelde zu möglichst schneller Fahrt bewogen hatte, sich so ganz allein in den Tumult wagen wollte; aber er erreichte nichts damit, als einen etwas ungeduldigen Abschiedswink, und mußte sich endlich achselzuckend zur Umkehr entschließen.

Eugenie hatte einen Fußpfad betreten, der, ohne die Werke selbst zu berühren, über die Wiesen nach dem Ausgange des

[273] 

Auf dem Kirchgang in Säterdalen.
Nach der Natur gezeichnet von Knut Ekwall.

[274] Parkes führte und der voraussichtlich noch sicher war. Im schlimmsten Falle fand sie in den nach jener Richtung hin gelegenen Beamtenwohnungen Schutz und Begleitung. Wie nothwendig hier Beides war, hatte sie freilich nicht gewußt, als sie, nur der Eingebung des Augenblickes folgend, ganz allein die Reise und die Fahrt hierher unternahm, und auch jetzt kannte sie noch nicht den ganzen Umfang der Gefahr, der sie sich mit diesem Gange aussetzte. Die Möglichkeit einer Gefahr war es nicht, die ihren Wangen diese erhöhte Farbe, ihren Augen dieses unruhige Leuchten gab und ihre Brust so heftig pochen machte, daß sie bisweilen stehen bleiben mußte, um Athem zu schöpfen; es war die Furcht vor der Entscheidung. Der schwere Traum, der sich auf sie niedergesenkt, als sie das Haus ihres Gatten verließ, er hatte nicht weichen wollen während der ganzen Zeit der Trennung. Nicht die Heimath und die Liebe der Ihrigen, nicht all’ die Stimmen eines neuen Lebens und Glückes hatten sie daraus erwecken können; der Traum war geblieben mit seinem dumpfen Schmerz und seinem dunklen Sehnen. Jetzt endlich sollte das Erwachen kommen, und alle Empfindungen, alle Gedanken der jungen Frau drängten sich zusammen in der einen Frage: „Wie wird er Dich empfangen?“

Sie hatte soeben ein kleines einzelnstehendes Haus erreicht, das gleichsam den äußersten Vorposten der Werke bildete, als ihr von dort her eilig ein Mann entgegenkam, der bei ihrem Anblick mit dem Ausdrucke sichtbaren Schreckens zurückfuhr.

„Gnädige Frau! Um Gotteswillen, wie kommen Sie hierher, und das gerade heute?“

„Ah, Schichtmeister Hartmann, Sie sind es!“ sagte Eugenie ihm entgegentretend. „Gott sei Dank, daß ich gerade Ihnen begegne! Es sind Unruhen auf den Werken ausgebrochen, wie ich höre. Ich habe meinen Wagen dort drüben gelassen; der Kutscher wagte nicht weiter zu fahren. Ich will jetzt zu Fuß hinüber nach dem Hause.“

Der Schichtmeister machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Das können Sie nicht, gnädige Frau; das geht jetzt nicht. Vielleicht morgen, vielleicht gegen Abend, nur jetzt nicht.“

„Weshalb nicht?“ fuhr Eugenie erbleichend auf. „Ist unser Haus bedroht? Mein Gatte –“

„Nein, nein, Herrn Berkow gilt es heute nicht; der ist im Hause mit den Beamten. Diesmal ist’s unter uns selber losgebrochen. Ein Theil der Knappschaft hat heute Morgen die Arbeit wieder aufnehmen wollen; mein Sohn –“ hier zuckte es schmerzlich über das Gesicht des alten Mannes, „nun, Sie werden ja am Ende auch wissen, wie er zu der Geschichte steht – Ulrich wüthet darüber. Er und sein Anhang haben die Leute mit Gewalt zurückgetrieben und halten nun die Schachte besetzt. Die Anderen wollen sich das nicht gefallen lassen und rotten sich nun auch zusammen; die ganzen Werke sind in Revolte, ein Camerad ist gegen den andern! O du barmherziger Gott, was wird das noch geben!“

Der Schichtmeister rang die Hände. Die junge Frau vernahm jetzt von drüben her wüstes Lärmen und Toben, das trotz der Entfernung deutlich zu ihr herüberdrang.


(Fortsetzung folgt.)




Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen
Von M. M. von Weber.
(Schluß.)


III.

Die vorstehenden statistischen Daten haben uns gelehrt, daß die Gefahr für Leib und Leben beim Eisenbahnbetriebe durchaus nicht ausschließlich an die Schnelligkeit der Fahrt, oder die Dichte des Verkehrs oder dessen Form geknüpft sei. In der That wirken diese Momente, wie erwähnt, nur dann verhängnißvoll, wenn ihre Einflüsse bei der Construction der Bahn und beim Organismus ihres Betriebes nicht genügend vorgesehen wurden, beides ihnen nicht gemäß ist. In noch weit höherem Grade ist dies der Fall bei den weiteren, die Betriebssicherheit beeinflussenden Elementen, der Construction der Stationen und der Organisation der Betriebsleitung.

Es giebt wenig Momente im Culturleben, wo die moralische Individualität der Nationen, ihre spezielle Begabung für dieses oder jenes Fach so drastisch zur Darlegung käme, wie bei diesen Elementen des Eisenbahnwesens. Zugleich tritt, in lehrreichster Weise, die Erscheinung zu Tage, daß durch Organisationen und Constructionssysteme, welche specifisch die Herbeiführung des höchstmöglichen Sicherheitsmaßes bezweckten, aber auf praktisch ungenügend begründete Speculationen basirt waren, gerade das Gegentheil des beabsichtigten Zweckes erreicht wurde.

Die ersten deutschen Eisenbahnstationen waren nach englischen Mustern angeordnet; die ersten Wagen für deutsche Bahnen kamen von England. Die ersten Unfälle, die sich auf deutschen Bahnen ereigneten, wurden durch fehlerhafte Manipulationen der Drehscheiben herbeigeführt; das große Eisenbahnunglück bei Versailles schien durch den Bruch einer Achse an einer vierrädrigen Maschine verursacht zu sein. Diese Thatsachen genügten, um die Anwendung von Drehscheiben zur Manipulation der Züge und Wagen auf Stationen streng zu vervehmen und als Sicherheitsevangelium zu verkündigen, daß alle Bewegung der Fuhrwerke von Gleis zu Gleis nur mittels Ausweichen erfolgen dürfe; andererseits führten sie zu dem Irrwahne, daß ein Fuhrwerk nur auf drei oder mehr Achsen und sechs oder mehr Rädern sicher rolle. Aus diesen falschen Grundsätzen wuchsen die Constructionen jener Ungeheuer von sechs- und achträdrigen Wagen, die so lange alpschwer auf dem deutschen Eisenbahnbetriebe lasteten und die Anwendung jeder gesunden Betriebsmanipulation unmöglich machten.

Es kam endlich noch die gedankenkurze „Ideenmode“ hinzu, welche die kostbareren Transportgüter eigentlich nur in Wagen für sicher erklärte, die mit festen Dächerkasten versehen sind. Hierdurch wurde die Anwendung aller mechanischen Hebevorrichtungen, wie hydraulischer Dampf- und Handkrahne und anderer Lastenbewegungsapparate aller Art etc., durch welche diese Geschäfte um ein Vielfaches beschleunigt und vereinfacht und vor Allem sicherer gemacht werden, unmöglich, während man in Frankreich, England, Belgien etc. dieselben Güter in offenen, nur mit guten wasserdichten Decken versehenen Wagen ohne jeden Anstand transportirt und sich dadurch die Verwendbarkeit jener mächtigen Betriebshülfsmittel sichert. Hiermit hat man alle Elemente beisammen, durch welche deutsche und österreichische Eisenbahnstationen zu wahren Schlachtfeldern werden, auf denen jährlich Hunderte von braven und muthigen Beamten und Arbeitern die redliche Ausübung ihrer Pflichten mit Leib und Leben bezahlen.

Durch die Verbannung der Drehscheibenreihen, vermittels welcher auf englischen, französischen, belgischen Stationen auf kleinsten Räumen Züge zusammengestellt und auseinandergeführt, einzelne Wagen beliebig aus in Ruhe bleibenden Zügen herausgenommen, beliebige Zugtheile ohne Störung der anderen Manipulationen, von Gleis zu Gleis, von Ladeplatz zu Ladeplatz gesetzt und fast alle Betriebsbewegungen selbstständig aus den ihnen eigens zugewiesenen, sparsam beschränkten, concentrirten Räumen, ohne hastige, gefährliche Schnellbewegung vorgenommen werden können, wurden die deutsch-österreichischen Stationen zu jenen unübersehbaren Gleiswirrsalen und wüsten Flächen auseinandergezogen, auf denen keine einheitlich geleitete Betriebsmanipulation mehr möglich und das fortwährende Mißverständniß, die Hauptquelle der Unsicherheit, heimisch ist. Um einzelne Wagen von Gleis zu Gleis zu stellen, einen Zug in einige Theile zu zerlegen, einige Fuhrwerke von oder nach einem Ladeplatze zu bringen, oder sie an rechter Stelle in einen Zug zu schalten, müssen oft Hunderte von Wagen, um viele Meilen weit, durch Locomotiven verschoben werden, die ihre Fahrgeschwindigkeit umsomehr zu vergrößern haben, je stärker der Verkehr, je größer die Zahl der in kurzen Zeiträumen auf einander zu expedirenden Züge wird; Hunderte von Weichen müssen geöffnet und geschlossen, Hunderte von Malen die Fahrtrichtungen der Maschinen gewechselt, Hunderte von Signalen gegeben [275] und verstanden werden, – – und dies Alles in immer fieberhafterer Hast, je stärker die Verkehre, je größer die Stationen werden – und wieder dies Alles oft bei Nacht, Nebel, Glatteis, Schnee, Sturm, wo jedes Signal undeutlich, das Rollen der Züge, das Bewegen der Wagen unvernehmbar, das Ueberschreiten der Gleise gefährlich, das Oeffnen und Schließen der Weichen gehindert wird.

Nicht das ist das Wunder dabei, daß in diesem unlenkbaren Dienstwirrsal, welches, unter Verhältnissen, zum wahren Chaos wird, viel Unfälle geschehen, sondern daß deren nicht noch viel mehr vorkommen. Daß dem aber so ist, das ist gewiß der Intelligenz, dem Muth und der Diensttreue des unteren Personales weit mehr zu danken, als der Weisheit jener Pontifexe der Eisenbahnconstruction, die, wenn die Verkehre auf dieser oder jener Station stocken, jenen unfähigen Mechanikern gleich, die beim Bruche eines Maschinenteiles kein anderes Mittel kennen, die Wiederholung des Unfalles zu verhindern, als den Theil dicker zu machen, auch hier keinen andern Rath haben, als die Station größer zu machen, statt gerade in deren zu weiter Ausdehnung den Quell des Uebels zu suchen.

In der That haben die deutschen und österreichischen Stationen Raumverhältnisse angenommen, von denen sich das Publicum und auch mancher Eisenbahntechniker keine klare Vorstellung macht. In Berlin bedecken die Stationen so viel Raum (1,960,000 Quadratmeter) wie die ganze innere Stadt; in Wien ist ihre Fläche (3,360,000 Quadratmeter) doppelt so groß wie die Stadt innerhalb der ehemaligen Glacis; in Leipzig, Frankfurt, Cöln, Prag beträgt die Fläche der Bahnhöfe fast halb so viel als die Gesammtfläche der betreffenden Städte, und diese ungeheuren Flächen liegen fast überall innerhalb des Bebauungsraumes dieser Orte, die Areale verteuernd und einengend; eine bei Weitem noch nicht in ganzer Bedeutung gewürdigte, aber ganz hauptsächliche Ursache der Wohnungsnoth in großen Städten.

Vergleicht man mit diesen colossalen Flächen, die sich bei den größten Stationen, wie z. B. der der Nordbahn und Staatsbahn in Wien, auf über eine Million Quadratmeter für jede beziffern, die der leistungsfähigsten englischen und französischen Bahnhöfe, aus denen bedeutend größere Verkehrsmassen als auf jenen bewältigt werden, so finden wir, daß die Fläche keiner der Pariser Stationen sich nur bis auf die Hälfte, keiner der Londoner sich auf das Viertel derjenigen der großen Wiener und Berliner Bahnhöfe erhebt. Nichts stellt deutlicher den praktischen Werth der Systeme, die bei Construction der Stationen in den Hauptculturländern zur Verwendung kamen, in’s Licht.

Daß von einer die Sicherheit und Promptheit der Manipulation in genügender Weise wahrenden Uebersicht und einheitlichen Disposition derselben auf jenen deutschen und österreichischen Stationen von der Ausdehnung mäßiger Mittelstädte, auf deren Geleisstrecken von vier bis fünf und mehr Meilen Länge mehrere Locomotiven oft mehr als tausend Wagen in allen möglichen Richtungen in raschem Tempo, unter von allen Seiten ertönenden Pfeifen-, Horn- und Glockensignalen und in allen Himmelsgegenden erscheinenden roten, grünen, weißen Licht- und vielfach geformten Körpersignalen etc. durcheinanderschieben, keine Rede mehr sein kann, liegt auf der Hand.

Und in dieser specifisch deutschen und österreichischen (ihrerseits durch die Wagenconstruction zum großen Theil bedingten) Bahnhofsconstruction mit ihren rasch bewegten, hin- und hergeschobenen Wagenreihen, die man im Lärm der Signale oder bei Sturm und Wetter nicht kommen und gehen hört, mit ihrer Nothwendigkeit, rasch Wagen zusammenzukoppeln und zu lösen, wobei die Leute unter dieselben kriechen müssen, mit ihrem Zwange, von Weiche zu Weiche oft zwischen dicht hinter einander rollenden Wagen hindurch über die Gleise zu springen, mit ihrer Complication und Gleichzeitigkeit der Signale, mit ihrer Beschränkung der Fernsicht durch die hohen Wagen und endlich mit ihrer Unmöglichkeit, auf solchen großen Flächen Manipulationen klar zu übersehen und zu dirigiren – liegt die Hauptursache der Gefährdung der auf ihnen fungirenden Arbeiter und Beamten. Und der persönliche Muth in Ausübung jener gefährlichen Functionen, dessen Mangel bei einem Personal gleichbedeutend mit Lahmlegung jedes energisch raschen Verfahrens, ja Stockung und Stillstand des Verkehrs auf der betreffenden Station ist, grenzt hier so oft, mehr oder weniger, an Tollkühnheit und Leichtsinn und daher – Verschulden, daß sie, wie jeder praktische Betriebsmann, der sich nämlich offen zu äußern wagt, bekennen wird, nur selten zu unterscheiden sind!

Daß die eigentliche Quelle der Gefahren für Leib und Leben auf deutschen Bahnen in den Manipulationsarbeiten auf den Stationen liegt, dafür giebt die einzige Eisenbahnstatistik, die, wie erwähnt, den Namen einer solchen verdient, die preußische, genügende Bestätigung. Während auf den preußischen Bahnen, deren Verwaltung im Allgemeinen, innerhalb des Systems, zu den besten gehört, die es giebt, im Normaljahre 1869, bei einer Beförderung von zweiundsechszig Millionen Passagieren nur vier Reisende getödtet und 17 verletzt wurden, nur 160 Beamte und Arbeiter während der wirklichen Fahrt zu Schaden kamen, wurden auf den Bahnhöfen 136 der Letzteren getödtet und 210 verletzt, kamen mithin bei dieser Thätigkeit mehr als doppelt so viel Menschen zu Schaden, als beim Fahrbetriebe selbst. Die englischen Bahnen zeigen im Jahre 1871, bei einer Beförderung von nahe vierhundert Millionen Passagieren, nur einen Gesammtverlust von 213 getödteten und 323 verletzten Beamten und Arbeitern, das heißt: für die Beamten und Arbeiter war die englische Betriebsform ungefähr sechs Mal sicherer als die deutsche, während diese für die Passagiere in Bezug auf Tödtung 1,6 Mal, in Bezug auf Verletzung etwa 10 Mal sicherer sich zeigte.

Der Gesammtverlust an Leib und Leben aber war in England in Bezug auf Tödtung 5 Mal, in Bezug auf Verletzung 13/4 Mal geringer (1869) als in Preußen. Bemerkenswerth ist dabei das Factum, daß auf den englischen Bahnen die Gesammtzahl der Passagiere sich in den zehn Jahren von 1861 bis 1871 von 180 Millionen auf 300 Millionen, das heißt auf das Doppelte gehoben hat, während die Zahl der Unfälle nur von 1100 auf 1500, das heißt um die Hälfte stieg, daß hingegen in Preußen die Gesammtzahl der Unfälle nicht allein mit dem Wachsen des Verkehrs (22 Millionen auf 62 Millionen Passagiere) Schritt hielt, sondern letzteres noch überholte, indem die Zahl der Unfälle von 211 auf 782 sich erhob.

Es ist dies nicht etwa ein Zeichen geringerer Sorgsamkeit in der Handhabung der Mittel, welche das Bau- und Betriebsystem der Eisenbahnen beider Länder für die Sicherung des Verkehrs bietet, sondern dafür, daß die Leistungsfähigkeit des Systems selbst in Bezug auf Sicherheit in Deutschland von den Anforderungen des Verkehrs überholt wurde.

Die Bestrebungen der Fachleute werden daher, ohne alle falsche Selbstliebe, auf Revision dieses Systems vor Allem hinzugehen haben, wenn nicht mit dem weiteren Steigen des Verkehrs die Unfälle in unstatthafter Weise zunehmen sollen.

Eng hiermit zusammen hängt die Unzulänglichkeit des Systems für die Bewältigung großer Verkehrsmassen auf den Stationen, trotz fast maßloser Vergrößerung derselben. Man hat hier und da selbst an Stellen, die wohlunterrichtet sein sollten, den größeren Verlust an Leib und Leben unter den Beamten bei dem Betriebe der deutschen und österreichischen Eisenbahnen einer angeborenen Mindergewandtheit der betreffenden Völkerstämme in der Manipulation mechanischer Vorkehrungen zuschreiben wollen. Es ist dies aber nur in sehr beschränktem Maße zuzugeben. Wenn es nun auch zweifellos erscheint, daß gewisse Nationalitäten mehr oder weniger Talent für die Gesammthandhabung des Eisenbahnwesens besitzen (wie es ja auch mehr oder minder kriegerische, mehr oder minder mit Geschmack und anderen Talenten begabte Stämme giebt), so wird dies Talent sich jedenfalls weit weniger in der größeren oder minderen körperlichen Geschicklichkeit der Bediensteten, als in der Wahl und Entwicklung des für die Landesverkehrsverhältnisse schicklichsten Bau- und Constructionssystems der Eisenbahnen zeigen, hier aber von durchschlagendem Einflusse sein, wie das Beispiel der anglo-germanischen Race diesseits und jenseits des Oceans zeigt.

Fassen wir schließlich in anschaulichen Vergleichen die verschiedenen Ausmaße von Sicherheit zusammen, unter denen Diejenigen, die mit Eisenbahnen zu thun haben, mit denselben verkehren, so findet sich etwa Folgendes:

Es mußte, ehe ein Reisender getödtet wurde, eine Anzahl Reisende fahren, die gleich war: [276]

in Preußen der Gesammtbevölkerung von Belgien, Holland und Luxemburg;
in Oesterreich der Gesammtbevölkerung von Baiern und Württemberg;
in England der Gesammtbevölkerung von Spanien.

Ehe ein Reisender zu Schaden kam, mußten fahren:

in Preußen die Bevölkerung des Königreichs Sachsen;
in Oesterreich die Bevölkerung von Baden;
in England die Bevölkerung von Braunschweig.

Aber nur die Bevölkerungen weit kleinerer Länder, ja sogar nur von Mittelstädten, brauchten transportirt zu werden, um beim Eisenbahnbetriebe einen Menschen überhaupt zu Schaden kommen zu lassen, und zwar:

in Preußen die von Chemnitz oder Schwarzburg-Rudolstadt;
in Oesterreich die von Wiesbaden oder Schaumburg-Lippe;
in England die von Hamburg oder Anhalt.

Das aber wäre der größte Meister des Eisenbahnwesens, der in dieser Beziehung einen dieser Kleinstaaten zu einem großen reich bevölkerten Königreiche machen könnte, ja – werth, selbst dessen Krone zu tragen!




An strömenden Gebirgswässern.

Das Angeln wird in Deutschland noch für einen geistlosen Zeitvertreib und die Angel für ein Instrument gehalten, an dessen einem Ende sich ein Köder, am andern ein Tagedieb befindet. Dieses Urtheil hat einige Berechtigung, wenn jene Beschäftigung ohne Kunst und in stehendem oder ruhig fließendem Gewässer betrieben wird.

Tritt man dagegen, mit allen Mitteln der Kunst ausgerüstet, durch Wissenschaft oder Erfahrung über die Eigenthümlichkeiten und die Natur des lebendigen Salmengeschlechtes belehrt, in einer reizenden Gebirgsgegend an ein lebhaft dahinrauschendes klares Gewässer und wirft hier, stromauf oder stromab wandernd, kunstgerecht seine Angel, so ist dies ein hohe Reize gewährendes Vergnügen und steht zu jener Tagedieb-Angelei in dem Verhältniß wie das Reiten auf einem feurigen Renner zu dem Hocken auf einem störrischen Esel.

Allerdings läßt sich auch jenem Angeln in ruhigen Gewässern der Ebene bei Kenntniß der Natur der Fische und sachgemäßer kunstgerechter Behandlung ein reges Interesse abgewinnen und ein nicht unerheblicher Vortheil dabei erzielen; jedoch gehört dies einstweilen nicht in diesen Aufsatz, der dazu bestimmt ist, den vielen Reisenden, die alljährlich Gebirgsfrische aufsuchen, eine Anleitung zu geben, wie sie den längern Aufenthalt an einem Orte, der Gelegenheit dazu bietet, durch eine der Gesundheit zuträgliche, sehr reizvolle und den Tisch mit einer gesuchten Speise versorgende Unterhaltung sich noch angenehmer gestalten können, sowie auch denen zu dienen, deren Wohnort ihnen die Ausübung dieses Vergnügens gestattet.

Diesen praktischen Zweck verfolgend, soll hier keine ausführliche Abhandlung über das Angeln überhaupt und die Kunst des Fischens mit Kunstfliegen insbesondere gegeben werden; es wird genügen, außer einer kurzen Beschreibung des Aeußern und der Gewohnheiten der Bachforelle, der Lachsforelle und der Aesche das auf eigene Erfahrung basirte Verhalten beim Angeln auf diese Fische anzugeben, vermöge dessen man eines lohnenden Erfolges sich versichert halten kann, und daran noch dasjenige anzuschließen, was über die Ausrüstung zum Angeln und die am leichtesten zu beschaffenden natürlichen und künstlichen Köder zu wissen nothwendig ist.

Die gemeine Bachforelle hat bekanntlich keine Schuppen; ihre Haut ist auf dem Rücken dunkel-olivenfarbig und an den Seiten mit blutrothen Punkten in dunklem Felde bezeichnet; der untere Theil des Leibes ist gelblich – die Flossen sind gelb, in’s grünliche spielend; die Schwanz- und Bauchflossen haben einen weißlichen Rand. Sie laicht im Spätherbst und wird höchstens drei Pfund schwer.

Die Forelle ist ein gieriger Raubfischer, der nicht nur kleinere Fische anderer, sondern auch seiner eigenen Gattung verschlingt, aber ebenso erpicht ist auf allerhand Insecten und Gewürme. Die Bachforelle hält sich hauptsächlich in den oberen Theilen der Gebirgsbäche auf, wo das Wasser äußerst klar, kalt und beschattet ist und stark strömt und wo große Steine im Wasser lagern. Unter diesen und hohlen Ufern hat sie ihren Stand und schießt aus ihrem Versteck wie ein Pfeil auf den Köder los, aber ebenso schnell zurück, wenn sie den Angler bemerkt. Dieser hat also dafür Sorge zu tragen, daß, wenn er an solchen Orten angelt, wo kein Wasserstrudel ist, er dem Fische möglichst verborgen bleibe. Dazu trägt bei, wenn er der Sonne gegenübersteht, damit weder sein eigener noch der Schatten der Angelruthe auf das Wasser falle. Den Wind hat man gern im Rücken, wodurch das Auswerfen der Angel sehr erleichtert wird. In den oberen Theilen der Gebirgsbäche, wo sie noch wenig Wasser haben und großenteils flach über das Gestein fließen, suche man die sogenannten Sümpfe auf. Es sind dies die tiefen Wasserkessel, welche sich durch Hochwasser unmittelbar unterhalb einer sehr starken Strömung oder eines Wasserfalles gebildet haben. In diesen Sümpfen halten sich die Forellen bei niedrigem Wasser stets auf und stehen unter hohlen Felsen und Steinen oder in der schäumenden Strömung oberhalb des Kessels.

Das Angeln auf diese letzteren ist das am meisten zu empfehlende, weil diesen Forellen gegenüber der Angler weniger Rücksichten auf sein Unbemerktsein zu nehmen hat und die Fische dort am ehesten auf den Köder gehen. Sie können bei dem schäumenden Wasser nicht mit der Schärfe äugen wie im ruhigern. Man wirft den Köder oberhalb des Wassersturzes oder der starken Strömung ein und läßt ihn mit dem Wasser gehen; stehen Forellen dort, so wird man dies nicht oft zu wiederholen haben, ohne ein Resultat zu erzielen. Der Angler steht oberhalb des Wassersturzes und giebt der Angelschnur eine solche Länge, daß der Köder nicht allein die starke Strömung, sondern auch den darunter liegenden Kessel durchziehen kann. Er wird dann auch für die in letzterm stehenden Forellen wenig bemerkbar sein, besonders wenn er auf der Seite eines hohlen Ufers steht, und hier erlangen, was in der starken Strömung nicht glückte. Der Fang geräth am besten, wenn das Wasser angeschwollen und trübe oder die Oberfläche durch Wind gekräuselt ist. Die Manipulation des Gehenlassens des Köders mit dem Wasser wird an derselben Stelle öfter wiederholt, wobei man sich jedoch hüte, den Köder gegen den Strom zu ziehen. Dies erweckt sofort den Verdacht des schlauen Fisches. Der Köder muß, wenn die Schnur abgelaufen ist, aus dem Wasser gehoben und erst oberhalb der Stromschnelle wieder eingeworfen werden. Angelt man nur im Kessel und das Wasser strömt in demselben nicht lebhaft genug, so kann man den Köder auf der Oberfläche quer über das Wasser bewegen.

Den Schwimmer (die Flosse, Kork oder Federkiel) läßt man bei dem Angeln auf Forellen am besten ganz weg; diese scheut sich davor, und in stark strömendem Wasser zeigt der Schwimmer ohnedies den Biß nicht an, da er durch den Strudel zu stark bewegt wird. Man verlasse sich auf das Gefühl in der Hand; man wird darin bald sehr feinfühlend. Für den Anfänger empfiehlt es sich, die Angel jedesmal, wenn der Köder die Stromschnelle durchlaufen hat, durch eine sanfte Bewegung des Handgelenkes der Art anzuhauen, daß er etwa einen Fuß gegen den Strom gerückt wird. Fühlt man keinen Widerstand, so läßt man den Köder weiter durch den Kessel schwimmen. Sitzt eine Forelle am Haken, so werfe man sie ohne Weiteres auf’s Land. Das sogenannte Drillen, d. h. das Mattmachen des Fisches im Wasser, um ihn dann auf’s Ufer zu ziehen und mittelst eines Käschers oder mit der Hand aus dem Wasser zu heben, ist nur bei sehr starken Fischen nöthig, um das Abbrechen des Hakens oder das Reißen der Angelschnur, respective des Vorfaches, zu verhüten.

Bei der Bachforelle, die selten über neun Zoll lang wird, ist diese Vorsicht nicht erforderlich. Ich habe an einem tiefen, an und für sich ruhigen Sumpfe in einem Gebirgswasser des Harzes, in den der Bach etwa zwei Fuß hoch herabstürzte, jedesmal meinen lohnenden Fang gemacht, indem ich mir die [277] Mühe nicht verdrießen ließ, den Köder mit dem Wassersturze in den Sumpf fallen zu lassen und dann ihn unmittelbar wieder herauszuziehen, um ihn auf’s Neue oberhalb des Sturzes auszuwerfen. Der mit dem Sturze kommende Köder erweckt keinen Verdacht bei der Forelle, und sie stürzt sich in der Regel sofort auf diesen Raub.

In der fortwährenden Bewegung und Thätigkeit beim Forellenangeln liegt ein großer Reiz; so wandert man von einem Sumpf zum andern, von einer Stromschnelle zur andern. Die beste Zeit zum Angeln bieten die Morgen- und Abendstunden, namentlich bei trübem, regnigem Wetter. Daß übrigens unter Umständen auch eine Forelle an den Köder geht, wenn der Angler ganz frei und sichtbar steht, habe ich selbst erfahren. Ich stand an einem tiefen, durchaus klaren Kessel, oberhalb dessen der Bach eine ziemlich lebhafte Strömung hatte. Mir gegenüber im Kessel befand sich unter Wasser ein hohler Fels, wo ich den Stand einer Forelle vermuthete. Ich ließ den Köder, eine Kunstfliege, mit der Strömung in den Kessel ziehen, und es erschien auch sofort eine sehr starke Forelle, welche ihren Versteck unter dem Felsen jedoch nur so weit verließ, um sich neugierig den Köder etwas näher zu betrachten, und dann wieder verschwand. Beim zweiten Einwerfen stürzte sie, als der Köder an ihrem Versteck vorbei passirte, mit großer Rapidität auf denselben los und faßte ihn. Ich hieb sogleich an und hob sie aus dem Wasser, um sie auf’s Land zu werfen. Der Haken mußte jedoch nicht genügend gefaßt haben, denn sie fiel noch über dem Wasser ab, kehrte in ihren Schlupfwinkel zurück und alle Bemühungen, ihren Appetit wieder zu erregen, blieben vergeblich. Die Forelle ist im Allgemeinen jedoch so gierig, daß sie auch durch eine solche Erfahrung sich nicht von neuen Angriffen abhalten läßt, wenn sie den Angler nur nicht sieht. Hätte ich am andern Ufer über dem hohlen Felsen gestanden, so würde ich wahrscheinlich doch noch meinen Zweck erreicht haben. Ich habe an einer den Angler deckenden Stelle eine Forelle gefangen, nachdem sie schon viermal angebissen und den Haken gefühlt hatte; es machte mir dies den Eindruck, als ob der muthige Fisch beschlossen habe, der Gefahr zu trotzen und seinen Willen um jeden Preis durchzusetzen. In seine Höhle war die weise Lebensregel nicht gedrungen:

Sei deiner Neigungen Herr, so wirst du das Unglück beherrschen.

Die gefangenen Forellen lebendig zu transportiren, ist sehr umständlich. Man muß zu diesem Zweck ein wasserdichtes Tönnchen zum Umhängen bei sich führen, an dessen Peripherie eine gut schließende Klappe zum Einthun der Fische, und am Boden und Deckel je ein Spundloch mit dicht schließendem Pfropfen sich befinden. Diese Spundlöcher dürfen nicht so groß sein, daß eine Forelle durchschlüpfen könnte. An dem Orte, wo man angelt, zieht man die Pfropfen heraus und legt das Tönnchen so in’s Wasser, daß dieses hindurch geht. Beim Wechseln des Ortes werden die Spundlöcher im Wasser geschlossen, und dann das Tönnchen wieder umgehangen. Der Umhängeriemen ist so angebracht, daß das Tönnchen mit seiner Achse parallel mit dem Erdboden, die Klappe nach oben, getragen wird. In dieser Weise verfahren die gewerbmäßigen Fischer, welche Fischkasten halten. Für den Angler, mit dem wir es hier zu thun haben, genügt es, um den Fisch genießbar zu erhalten und leicht zu transportiren, ihn mit dem Messer, etwas oberhalb der Schwanzflosse, nach der Länge des Fisches zu durchstechen und ausbluten zu lassen. In’s Wasser darf der getödtete Fisch nicht mehr gehangen werden. Das Fleisch der Bachforelle ist weiß, das der nunmehr folgenden Lachsforelle röthlich. –

Die Lachsforelle erreicht eine sehr erhebliche Größe; sie wird selten unter einem halben Pfund schwer gefangen, erlangt aber unter Umständen, bei hohem Alter, ein enormes Gewicht. Der Fischer aus Heiterwang, dem der in der Nähe von Reute liegende Plansee in Tirol gehört, versicherte mir, und der Mann machte nicht den Eindruck des Flunkerns, daß er einen Lachsferch, wie dieser Fisch dort genannt wird, von über hundert Pfund Gewicht im See gefangen und nach Innsbruck verkauft habe. In dem Gasthofe zu Reute zeigte mir der Wirth, ein passionirter Angler, den in Spiritus gesetzten Kopf einer Lachsforelle, die er mit der Angel im Lech gefangen. Derselbe ist so groß wie ein schwacher Kalbskopf. Das Gewicht dieses Fisches soll, so viel mir erinnerlich, dreißig Pfund betragen haben. In Bartholomäus am Königssee bei Berchtesgaden befinden sich lebensgroße Abbildungen von den größten Fischen dieser Art, die dort gefangen wurden.

Die Lachsforelle ist ohne Schuppen. Ihr Rücken ist schwarzblau; die Seiten sind grünlich; der Bauch ist weißgelblich; die Flossen sind grau, Fett- und Schwanzflosse schwarz; an der Bauchflosse hat sie sechs Punkte; der ganze Körper ist mit schwarzen oder dunkelbraunen und röthlichen Punkten in hellerem Felde bestreut. Sie lebt, wie der Lachs, in der See und steigt aus dieser im Monat Mai in die Flüsse, wo sie im November und December laicht und dann in die See zurückkehrt. Ihr Aufsteigen in die Gebirgswässer geht nicht bis in die hohen Regionen; man trifft sie, stromab wandernd, erst dort an, wo der Bach, wenn er auch noch schnell fließt, doch keine Stürze mehr macht, und wo an die Stelle der großen Steine im Bett sandiger oder kiesiger Grund getreten ist. Man hat sie hauptsächlich da aufzusuchen, wo das Wasser als Stromschnelle über sandigen oder kiesigen Grund strömt; auf die Klarheit des Wassers legt sie nicht den Werth, wie die Bachforelle. Steigt eine Lachsforelle bei Hochwasser ausnahmsweise höher nach der Quelle des Gewässers an, so verbleibt sie in den tiefen Sümpfen dieses höheren Theiles bis zum nächsten Hochwasser.

Die Lachsforelle ist nicht so scheu wie die Bachforelle und man kann sich ihr gegenüber freier zeigen; namentlich wird sie oft von Brücken herab geangelt, unter denen sich ein Wehr und dem entsprechender Sumpf befindet. Sie steht sehr gern unter der Bebohlung der untersten Theile dieser Wehre. Läßt man den Köder auf der Oberfläche des Sumpfes spielen, als wenn ein Insect sich eintaucht und wieder hebt, so stürzt die Forelle aus ihrem Versteck hervor und greift gleich tüchtig zu, so daß man sie in der Regel auf die Brücke ziehen kann. Ist sie jedoch zu stark zum Herauswerfen, so muß das Drillen eintreten; bei diesem wird folgendermaßen verfahren: Geht der Fisch nach dem Anhauen des Angelhakens auf den Grund, so sitzt der Haken fest; man läßt die Schnur nach, wenn er sich weiter bewegt, doch muß dieselbe immer so straff bleiben, daß er keine gefährlichen Stellen erlangen kann. Als solche sind alte Stöcke im Wasser oder derartige Uferstellen zu bezeichnen, an denen beim Untertreten des Fisches eine Verwickelung der Schnur erfolgen könnte. In freiem Wasser läßt man den Fisch hin und her schießen und die Schnur hinter sich her schleppen, nur zuweilen hält man ihn wieder gelinde an. Ist er sehr kräftig, so folge man ihm, insofern dies das Ufer gestattet; bemerkt man eine Ermattung des Fisches durch den schwächeren Widerstand, den er leistet, so ziehe man ihn langsam an die Oberfläche des Wassers; ist er auch hierbei geduldig, so führe man ihn mittelst der Schnur langsam stromabwärts an einer Stelle zum Ufer, wo man ihn an ganz kurz gefaßter Schnur herauswirft oder mittelst eines unterfassenden Käschers oder durch Hülfe seiner Hände bequem an’s Land bringen kann. Je weniger man sich beim Drillen dem Fische zeigt, desto weniger Widerstand leistet er. Anfänger müssen sich beherrschen lernen und der Begierde widerstehen, einen am Haken sitzenden schweren Fisch sofort auf das Land zu werfen, da Haken und Vorfach der gewöhnlichen Klitschangel dem Gewicht und dem Widerstande eines starken Fisches nicht der Art gewachsen sind, um das Herauswerfen ohne häufig eintretenden Verlust zu ermöglichen. Ich verlor auf diese Weise durch das Abbrechen eines schon starken Hakens eine zehnpfündige Lachsforelle, der ich an einer Stromschnelle in der Oder, am Südharz, wo ich sie stehend wusste, schon lange nachgestellt hatte. Sie wurde kurze Zeit darauf, oberhalb dieser Stelle, in dem Sumpf eines Wehres bei Nacht mit Netz gefangen.

An solchen tiefen, mit sandigem oder kiesigem Grunde versehenen Stromschnellen, wo man Lachsforellen stehend vermuthet, lasse man, oberhalb stehend, den Köder die ganze Schnelle hinablaufen und fahre damit, von Neuem einwerfend, so lange fort, bis Anbiß erfolgt oder man die Ueberzeugung gewinnt, daß es besser sei, sein Glück an einer andern Stelle zu versuchen.

Die Aesche ist ebenfalls ein Raubfisch und hat in ihren Bewegungen und ihrer Lebensweise viel Aehnlichkeit mit der Bachforelle, versteckt sich jedoch nicht, sondern steht immer im Strom und zwar an denjenigen Stellen, die als eigenartig für die Lachsforelle angegeben sind, nur nicht in der starken Strömung der Stromschnelle selbst, sondern fast immer an der Stelle, wo diese [278] Strömung in ruhigeres Wasser übergeht. Man fängt deshalb an diesen Stromschnellen, wenn die Schnur lang genug ist, um bis in das ruhigere Wasser zu laufen, sehr häufig anstatt der Lachsforelle die Aesche, die ein außerordentlich guter Beißer ist. Geht man blos auf Aeschen aus, was in der Regel sehr lohnend ist, so nimmt man seinen Standpunkt am untern Ende der Stromschnelle. Die Aesche liebt klares, kaltes, schattiges, ziemlich schnellfließendes Wasser mit kiesigem und sandigem Grunde, wächst schnell, wird bis zwei Fuß lang und einige Pfund schwer. Sie hat einen schwärzlich-grünen Rücken, an den Seiten etwas ins Blaue spielend; die Seiten und der Bauch sind glänzend weiß, mit großen harten Schuppen bedeckt. Die Flossen spielen etwas in’s Röthliche und die große nach hinten gebogene Rückenflosse ist schwarz und rothbraun gefleckt; der Schwanz ist gabelförmig und bunt gefleckt; sie hat einen stumpfen Kopf und einen langen, nicht sehr starken Leib. Ihr weißes, zartes und fettes Fleisch ist von feinem Geschmack, ohne Gräten, und wird von Vielen dem der Forelle vorgezogen.

Die Aesche laicht im April und Mai und beißt das ganze Jahr, auch im Winter; vom Juli ab ist sie am schmackhaftesten. Sie findet sich in allen Gewässern des Harzes und unserer andern heimatlichen Gebirge von da ab, wo diese Gewässer aus der reinen Steinregion heraustreten, z. B. in der Bode an der Roßtrappe vom Bodekessel, in der Oder am Südharz von der Mündung der Sperrlutter ab, die von Andreasberg herunter kömmt. In der Limmath bei Zürich wird sie in großen Mengen gefangen; auch in den Flüssen Baierns ist sie zu Hause.

Ich wende mich jetzt zur nothwendigsten Ausrüstung zum Angeln. Das zu der angegebenen Art des Angelns erforderliche Instrument ist die Klitsche, auch Klitsch- oder Wurfangel genannt. Sie ist von den vielerlei Arten von Angeln die gebräuchlichste und die meiste Unterhaltung gewährende. Dazu gehört zunächst der Angelstock, welcher ein Natur- oder Kunststock sein kann. Den ersteren schneidet man sich, wo Gelegenheit dazu ist, an Ort und Stelle und wählt dazu eine gerade gewachsene, möglichst leichte, dabei aber feste elastische Ruthe von neun bis zwölf Fuß Länge von Haselnuß, Hartriegel, Buche, Ahorn etc. Es ist jedoch immerhin schwer, gerade gewachsene Triebe oder junge Bäume von dieser Länge überhaupt und gerade am Orte des Gebrauches ausfindig zu machen; auch ist das weite Schleppen solcher Ruthen, wenn man sie von Hause mitbringt, umständlich und für Manchen genirend. Eine solche Angelruthe ist daher nur für den Nothfall in’s Auge zu fassen. Frisch geschnittene Ruthen ermüden wegen ihres Gewichtes außerdem bald den Arm.

Dagegen ist ein, auch als Spazierstock dienender, künstlicher Angelstock sehr zu empfehlen. Ein solcher Stock der billigsten Sorte besteht in der Regel aus Weberrohr oder Bambus, und zwar aus drei bis vier, auch noch mehr Theilen. Diese Theile stecken in einander, und wird der die übrigen enthaltende stärkste Theil oben durch einen Knopf und unten durch eine metallene Zwinge, welche auf- und abzuschrauben sind, geschlossen und hat eben ganz das Aussehen eines mehr oder weniger starken Spazierstockes. Bei dem Gebrauch werden Knopf und Zwinge abgeschraubt und in die Tasche gesteckt, die andern Theile am Knopfende herausgezogen und am Zwingenende einzeln, nach ihrer Stärke folgend, auf einander gesetzt. Zu diesem Zweck ist jeder Theil, mit Ausnahme des obersten, des Vorhauers, mit breiten messingenen Ringen an beiden Enden (der stärkste Theil nur am untern) versehen, die genau in einander passen und sehr fest zusammenstecken. Das schwächste Ende, der Vorhauer, ist eine dünne, aber außerordentlich zähe und elastische Ruthe von Hasel- oder Hickoryholz mit einer etwa einen Fuß langen Spitze von Fischbein, an deren Ende eine Oese zum Befestigen oder Durchziehen der Angelschnur angebracht ist. Das unterste genau in die Zwinge des vorletzten Theiles passende Ende des Vorhauers ist in der Regel ohne Ring. Das Auseinandernehmen des Stockes und die Wiedereinbringung in den stärksten Theil nebst Aufschraubung des Knopfes und der Fußzwinge und damit Wiederherstellung des Spazierstockes bedarf keiner Beschreibung.

Solche Stöcke sind in großer Auswahl von der Handlung J. E. R. Waitz in Hamburg, Gänsemarkt Nr. 48, zu beziehen und kosten, je nach der Güte des Materials und der Anzahl der Theile, laut Preisliste zwölf Groschen bis zwei Thaler vierundzwanzig Groschen. Man kann jedoch dort auch noch dauerhaftere von Hickoryholz oder chinesischem Rohr erhalten, die über zehn Thaler kosten.

Aber fast in allen größeren Städten Deutschlands sind jetzt dergleichen Stöcke und Fischereigeräthe der mannigfaltigsten Art zu haben. Von den mir bekannten Adressen führe ich noch an: Berlin: Kalli, Schloßfreiheit Nr. 1; Coblenz: Reischich am kleinen Paradeplatz, Schäfer auf der Firmungsstraße, Waitz auf der Marktstraße; Cöln: Käsen, Rheinstraße; Hannover: Hahne (die Straße ist mir entfallen).

In England und Amerika treibt man mit künstlichen Angelruthen einen großen Luxus. Dergleichen Stöcke, welche mit Rollen zum Verlängern und mit Ringen zum Ablaufen der Schnur versehen sind, kosten bis fünfundzwanzig Thaler; ja, ich traf im Bodethal einen Amerikaner, der einen Angelstock führte, an dem alle Beschläge von Silber und feinster Arbeit waren, der ihm nach seiner Versicherung achtzig Dollars kostete. Dieser Amerikaner theilte mir im Laufe unserer Unterhaltung mit, daß die Leidenschaft des Angelns „dort drüben“ bei Männern und Frauen in stetem Wachsen begriffen sei, und daß er mit seiner und noch vier anderen Familien, von New-York aus, alle Jahre einen vierwöchentlichen Ausflug nach dem Staate Maine mache, wo die Gesellschaft an geeigneten Stellen unter Zelten campire, und sich dem Vergnügen der Jagd und Fischerei hingebe. Namentlich den Frauen sei dieser Ausflug so an’s Herz gewachsen, daß sie die dafür festgesetzte Zeit kaum erwarten könnten, und daß sie, in so weit sie nicht im Küchendepartement beschäftigt seien, mit schweren Stiefeln bewaffnet, dem Sport des Angelns fleißig oblägen.

Die Angelschnur besteht aus zwei Theilen: der Leine, eventuell mit dem Schwimmer, und dem Vorfach mit dem Haken.

Die Leinen, aus welchen die Angelschnüre hergerichtet werden, sind aus Hanf, Seide oder Pferdehaar gefertigt und von allen drei Stoffen, auf Rollen gewickelt, in Längen von sechszig bis einhundertzwanzig Fuß zu haben. Die aus Seide geklöppelten sind die dauerhaftesten. Man erhält in den Handlungen mit Fischereigeräth zwar auch bereits vollständig mit Schnur und Haken armirte Angelschnüre auf Stech- oder Windebrettchen; es ist für dasjenige Angeln, welches dieser Aufsatz behandelt, jedoch vorzuziehen, seine Angelschnur nach Bedürfniß der Länge aus Leine und Vorfach sich selbst zurecht zu machen. Vor dem Gebrauch ist die Angelschnur natürlich auf das Stech- oder Windebrettchen gewickelt. Die Länge der Schnur, inclusive Vorfach, ist für das gewöhnliche Auswerfen annähernd gleich der Länge des Stockes zu bemessen, so daß man, mit der rechten Hand den Stock haltend, mit der linken die angespannte Schnur über dem Haken faßt und dann, die Schnur loslassend, den Köder an die Stelle wirft, welche man sich ausersehen hat. Man erlangt durch die Praxis hierin bald die erforderliche Fertigkeit. Bedarf man nach der Oertlichkeit zum Weiterschwimmenlassen des Köders keiner größeren Länge, als Schnur und Stock ergeben, so wird die Schnur an die Oese des Vorhauers befestigt. Der Vorsicht wegen ist jedoch anzurathen, die Leine rückwärts noch um etwas mehr als Stocklänge zu verlängern und, nachdem sie leicht um die ganze Länge des Stockes gewickelt ist, am Griffende desselben zu befestigen, damit, wenn der Vorhauer oder ein anderer Theil des Stockes sich aus seiner Verbindung beim Anhauen lösen sollte, der losgelöste Theil mit dem angehakten Fisch nicht verloren gehe. Ist dagegen der Standpunkt des Anglers sehr hoch über dem Wasser oder die Stromschnelle so lang, daß man einer größern Länge der Schnur bedarf, um den Köder bis an’s Ende derselben ziehen lassen zu können, so wird dieselbe ohne Befestigung durch die Oese gezogen und rückwärts so lang gemacht, daß man bis zum Ende der Schnelle die Schnur nachlassen kann, ohne sie aus der Hand zu verlieren. In diesem Falle hält man, wenn die Schnur nicht etwa an einer am Stock angebrachten Rolle aufgewickelt ist und man sie von dieser ablaufen lassen kann, die nachzulassende Leine in der linken Hand.

Vorfach wird eine Schnur von wenigstens ein Fuß Länge genannt, die in der Regel etwas schwächer ist, als die Angelschnur, und an deren einem Ende sich eine Oese, am andern der Haken befindet. Vermittels der Oese wird das Vorfach mit der Leine verbunden. Zur Ausrüstung der Angeln führt man eine Anzahl Vorfächer mit sich, um Ersatz zu haben, wenn ein Haken [279] abbricht ober durch Hängenbleiben verloren geht. Angelt man auf sehr schwere Fische, zum Beispiel Karpfen, so muß das Vorfach die volle Festigkeit der Schnur selbst haben.

Für das Angeln auf Forellen und Aeschen besteht die Schnur des Vorfaches aus einem sehr festen Stoffe, welcher sich in seiner Färbung fast gar nicht vom Wasser unterscheidet, was bei den klaren Gebirgswässern sehr wichtig ist. Dieser Stoff ist der Seidendarm; er wird in der Seidenraupe gefunden, kurz bevor dieselbe zum Einspinnen in den Cocon sich anschickt. Durch Streichen mit Gummi-elasticum macht man diesen Darm wieder gerade, wenn er in Folge der Aufbewahrung eine Krümmung angenommen hat. Den einzelnen Seidendarm hat man selten länger als einen Fuß; durch Zusammenknüpfen von mehreren kann man das Vorfach verlängern.

Der Haken ist auf eine sehr feste und kunstvolle Art mit dem Darm verbunden. Die besten Haken sind die englischen und unter diesen die Limmericker. Dieselben werden aus Gußstahl fabricirt, mittelst der Feile ausgefeilt und gut polirt; ihre Form ist die allgemein bekannte.

Für das vorstehend beschriebene Angeln sind kleine Haken am passendsten; sie sind entweder bloß und zum Anstecken des natürlichen Köders bestimmt oder mit Kunstinsecten der Art versehen, daß der Haken zum Insect zu gehören scheint.

Unter den natürlichen Ködern für die hier in Betracht gezogenen Fischarten stehen die Heuschrecken (Grashüpfer) obenan. Dieselben sind vom Monat Juni an bis in den September hinein wohl überall auf trocknen Wiesen anzutreffen, und meist wird sich Gelegenheit bieten, sie auf dem Wege nach dem Angelplatz frisch einzufangen. Sie werden in einer fest schließenden starken Holzschachtel aufbewahrt, in deren Deckel sich eine mit einem Pfropfen verschlossene Oeffnung befindet. Die mittelgroßen Heuschrecken sind die besten, da sie in der Regel den ganzen Haken in sich aufnehmen können und dieser doch fest sitzt. Man setzt die Spitze des Hakens am Ende des Leibes ein und zieht das Insect über den Haken so hinweg, daß die Spitze am Kopfe oder der festen Schulterdecke gerade nur zum Vorschein kömmt. Nächstdem sind folgende natürliche Köder zu empfehlen: kleine Fischchen, rohe Krebsschwänze oder Scheren ohne Schalen, ganz kleine Frösche, Wasserspinnen, große Mücken und bei trübem Wasser auch Regenwürmer, Mehlwürmer und große Maden. Alle zur Angelzeit vorkommenden Insecten, als: größere Fliegen jeder Art, Libellen, Junikäfer, Hummeln, ferner Raupen etc., sind gute Köder.

Steckt man über den Köder, sei er natürlich oder künstlich, ein kleines Stückchen rothes Tuch oder rothe Wolle, so wird der Reiz des Köders für die Forelle und Aesche erhöht. Künstliche Köder haben den Vortheil, daß man sich mit dem Aufsuchen natürlicher nicht aufzuhalten nöthig hat und daß sie sehr lange vorhalten. Mit einer dunkeln Kunstfliege, welche jener Amerikaner an der Roßtrappe mir verehrte, habe ich, ehe sie unbrauchbar wurde, wohl an die drei Dutzend Forellen und Aeschen geangelt. Die Engländer fertigen auch künstliche Fischchen von Perlmutter, Glas und Gummi, künstliche Frösche, Käfer, Grashüpfer und Larven, an deren unterem Ende die Haken hervorstehen; am oberen Ende befindet sich eine Oese zum Befestigen an das Vorfach. Von den künstlichen Ködern verdienen jedoch die Kunstfliegen bei dem Angeln auf Forellen und Aeschen, und von ihnen die englischen, entschieden den Vorzug. Sie sind den natürlichen Fliegen der verschiedensten Arten täuschend ähnlich gefertigt. Bei den französischen, meist aus Chenille und ohne Kunst hergestellten Fliegen, fehlt die Nachahmung der Natur. Das Dutzend englische Kunstfliegen kostet fünfzehn Groschen, wobei die Hakengröße nicht in Betracht kommt.

Da die Fische ein feines Geruchsorgan haben, so betupft man besonders die künstlichen Köder mit einer sie reizenden Witterung. Moschus, Bisam oder Zibet, in sehr geringer Quantität verwendet, reizen besonders an. Auch Anisöl, Honig, Steinöl, Bibergeil, Gewürznelken, Kampher etc. sind dazu dienlich. Besondern Ruf genießen auch das Reiher- und das Maikäferöl, jedoch muß man sich diese Substanzen selbst bereiten. Anleitung dazu findet man in dem sehr renommirten Werke des Baron von Ehrenkreuz, „Das Ganze der Angelfischerei und ihre Geheimnisse etc.“ In den größeren Handlungen mit Fischereigeräthen bekommt man auch einen Liqueur, das Fläschchen zu neun Groschen, welcher eine gute Witterung abgeben soll. Außerdem wird das Anbeißen befördert, wenn man an die Spitze des Hakens der Kunstfliege noch ein Naturinsect, eine gewöhnliche Fliege oder Made, steckt. Im Allgemeinen ist bei Benutzung der Kunstfliegen noch als Regel zu beachten, daß man am hellen Tage dunkle, in der Dämmerung oder Nacht rothe, respective weiße Fliegen verwendet. Zum Aufbewahren der Kunstfliegen nebst Darm dient ein Fliegenbuch von Leder mit Pergamenttaschen; ein einfaches Buch der Art kostet fünfzehn Groschen.

Für den Ausgang zum Angeln sind ferner zu empfehlen: dauerhafte dunkle Kleidung mit vielen und großen Taschen, derbe Stiefeln, mit denen man nöthigenfalls durch flaches Wasser gehen kann, eine Umhängetasche mit Abtheilungen zum Heimtransport der gefangenen Fische und Aufbewahrung von ein Paar Reservestrümpfen sowie eines Netzbeutels, welcher, während des Angelns in’s Wasser gehangen, die lebendigen Fische enthält, und eventuell eines kleinen Fischhamens, zu dem der Stock an Ort und Stelle geschnitten wird. Außerdem versehe sich der Angler mit einem starken scharfen Messer, mit Bindfaden, Garn, Reserveschnuren, Gummi-elasticum und etwas Fenster- oder Tabakblei zum Umwickeln an das obere Ende des Vorfaches, wenn das Wasser trübe ist und der Köder gesenkt werden soll.

Ein Dilettant, der unter Beachtung der vorstehend gegebenen, nach eigener Erfahrung aufgestellten Regeln seine Angeloperationen in den Monaten Mai bis inclusive September ausführt, kann sich eines lohnenden Erfolges versichert halten, wird diese angenehme Unterhaltung bald sehr lieb gewinnen und nach Schluß der Saison mit Sehnsucht dem Beginne der nächstjährigen entgegensehen.
A. T.




Der letzte Adept.
Eine Jugenderinnerung von Ferdinand Dieffenbach in Darmstadt.


„Excellenz, der Barometer steht auf Wunderlich!“ sagte der Kanzleidiener zu dem Präsidenten des Oberappellationsgerichts zu Darmstadt, Geheimerath von Arens, denn Excellenz pflegten ihre wichtigen Dienstverrichtungen an jedem Morgen durch ein Gespräch über das Wetter mit dem Kanzleidiener zu beginnen. – An jenem Morgen aber, wo der Kanzleidiener also sprach, stand der Barometer ungewöhnlich tief, weit unter Sturm, so daß das Niveau der Quecksilbersäule fast bis dahin hinabgesunken war, wo der Verfertiger des Instruments – er hieß Wunderlich – seinen Namen verewigt hatte.

Karl Wunderlich war großherzoglich hessischer Rath, wurde aber bereits, als er kaum das fünfunddreißigste Jahr erreicht hatte, im Jahre 1804 pensionirt. Er füllte von seinen vierundzwanzig täglichen Freistunden immer einige mit der Verfertigung von Barometern und Thermometern aus, welche Instrumente er beinahe für alle Kanzleien unserer Residenzstadt lieferte. Auch als Schriftsteller ist er auf dem Gebiete der Technik aufgetreten, und es existirt von ihm eine Schrift, in welcher die Construction eines von ihm „zum Zwecke höchstmöglichster Ersparung des Brennstoffes erfundenen Stubenofens (Darmstadt, 1821)“ beschrieben wird. Dieses Buch beginnt folgendermaßen: „Wenn es Pflicht der Staatsregierung ist, für die Unterhaltung der Forste zum Besten künftiger Geschlechter zu sorgen, so ist es nicht weniger Pflicht der Staatsbürger, durch Ersparniß des Holzes den Intentionen einer hohen Behörde entgegenzukommen.“ Er motivirt hierauf weiter seine Erfindung. „Die Zeit, wo der Menschen so viele sein werden, daß keiner wegen des anderen mehr leben, keiner etwas verdienen kann, weil jeder verdienen will, die alle kochen, die alle sich wärmen wollen, wo die ungeheuer vermehrte Consumtion nicht allein allen älteren Holzvorrath nach und nach wegraffen, sondern auch kein nachkommendes aufkommen lassen wird, kann nicht ausbleiben. Dieses furchtbare Extrem [280] wird uns in unserer Sorglosigkeit ereilen und zu spät werden wir den begangenen Fehler einsehen. Mich hat dieser Gedanke schon oft mit Entsetzen erfüllt, und er ist mir ein Hauptantrieb gewesen, wenigstens was das Holz betrifft, etwas zur Verminderung des Unglückes beizutragen.“

Mit dieser, weil Niemand mehr zum Besten der Nachwelt sparsam mit dem Holze umgehen will, leider zwecklos gewordenen Erfindung wollen wir uns nicht weiter beschäftigen, sondern mit einer anderen Marotte des alten Wunderlich, seiner alchemistischen Wirksamkeit. Er gehörte zu jenen sonderbaren Menschen, für die es undenkbar ist, daß Alles auf der Welt mit natürlichen Dingen zugehen soll, die, nachdem Kepler, Newton und Laplace aufgetreten waren, noch an geheime Einflüsse der Sterne glaubten, die, als schon für die ganze übrige Welt heller Tag angebrochen war, noch Gespenster beschwören zu können vermeinten und die, nachdem bereits Lavoisier gelebt und während Berzelius in voller Kraft wirkte, Liebig aber gerade seinen Triumphzug begann, noch an die Umwandlung der Metalle glaubten.

Er war Mitglied der von dem jovialen Verfasser der Jobsiade, Dr. Kortum[WS 1] zu Bochum, gegründeten angeblichen hermetischen Gesellschaft, von welcher er „in honorem Divini Numinis“ zum Ehrenmitgliede ernannt wurde. Eines dieser Diplome, welche von Kortum in Masse verschickt wurden, lautete in deutscher Uebersetzung also: „Die Gesellschaft der hermetischen Philosophie, die den entlegenen Geheimnissen der Natur nachgeht, wählt, erklärt, nimmt Herrn Carl Wunderlich, wegen seiner ausgezeichneten Verdienste um die Chemie, in die Zahl ihrer Ehrenmitglieder auf, denen es obliegt, mit beständigem Geist, mit regem Studium der Philosophie, mit reinen und unbescholtenen Sitten die Wahrheit zu pflegen, die besten Autoren zu Rath zu ziehen, die Geheimnisse der Philosophen zu ergründen, die doppelsinnigen Zweideutigkeiten zu lassen, die Syrten (Untiefen) der alchemistischen Wissenschaft zu vermeiden, das aber, was diese Gutes und Sicheres erzielt, zur Ehre des göttlichen Willens, zum Nutzen des Vaterlandes und zum Troste der Armen anzuwenden.“

Mit selbstbewußtem Stolze zeigte er seinen intimeren Bekannten, wenn auf diese Gesellschaft, die für ihn wirklich existirte, die Rede kam, das Insignium seiner Würde, eine kleine, dem Diplom beigefügte Wünschelruthe. Gleich dem Baron Sternhayn zu Karlsruhe, der noch im Anfange dieses Jahrhunderts Alchemie trieb und sich, wie er sich ausdrückte, durch sein hermetisches Diplom mehr als durch seinen Adelsbrief geehrt fühlte, hatte er von der Kortum’schen Schelmerei keine Ahnung und glaubte wirklich Mitglied eines großen, geheimen, mächtigen Bundes zu sein.

Fünfzig Jahre lang brütete Wunderlich über dem großen alchemistischen Geheimnisse; von der Offenbarung Johannis an bis herab zu Eckartshausen’s 1802 erschienener „Wolke über dem Heiligthume“ hatte er die gesammte alchemistische Literatur und die einzelnen Schriften studirt und kritisch verglichen, so daß er in Wahrheit gewissenhaft die ihm durch sein Diplom auferlegte Pflicht erfüllt und versucht hatte, „die Geheimnisse der Philosophen und die alchemistischen Syrten zu vermeiden“.

In seinem Arbeitscabinet waren Tiegel und Kuppelöfen aufgehäuft, und ein wahrer Wust des verschiedenartigsten mystischen Plunders: Erdspiegel, Wünschelruthen, Todtenspiegel, Nägel von Särgen, Glas von zerbrochenen Kirchenfenstern, das linke Auge eines Wiedehopfs und das rechte eines Luchses, und der Himmel weiß was sonst noch Alles, hatte sich bei ihm angesammelt; in einem gesonderten Zimmer aber, gewissermaßen dem Allerheiligsten, war seine über dreitausend Bände starke Bibliothek, der Inbegriff der gesammten alchemistischen und kabbalistischen Wissenschaft, aufgestellt. Damit ja kein profanes Auge in die von ihm sorgfältig gehüteten Geheimnisse eindränge, hatte er diese ganze ungeheure Büchersammlung selbst eingebunden und selbst katalogisirt.

Noch steht er vor meinen Augen, der alte, gebeugte Mann mit der braunen Perrücke und dem großen grünen Augenschirme, wie er emsig an seinem Werktische und seiner Drehbank arbeitete und seine merkwürdigen Apparate construirte. Er muß sein Wohlgefallen an mir gehabt haben, als ich ihn und sein Treiben einst mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, denn er nahm mich mit und zeigte mir sein Sanctissimum.

„Da, Junge,“ sagte er, „sieh Dich um, aber rühre nichts an. Später, wenn ich längst todt bin, denkst Du vielleicht noch einmal an das, was ich hier getrieben habe, und begreifst mich. Aber halte Dich frei von der Sünde, sonst ist Alles vergeblich. Der Sündenstoff in unserm Blute macht uns blind und unempfänglich für die Wahrheit der Wissenschaft. Hüte Dich vor den Weibern und dem Weine! Dann ergründest Du vielleicht das große Geheimniß der Natur.“

Er führte mich im Zimmer herum und zeigte mir alle seine Apparate. Zum Andenken gab er mir ein beschriebenes Zettelchen. Als ich in die Höhe wuchs, kam mir der alte Wunderlich nach und nach aus dem Gedächtniß, leider auch der gute Rath und die Warnung, die er mir einst mit auf den Weg gegeben. Der Talisman, den er mir schrieb, wurde mir von frommer Hand aufbewahrt; aber er ist für mich machtlos. „Umsonst, daß trocknes Sinnen mir die heiligen Zeichen hier enthüllt; mein Sinn ist zu, mein Herz ist todt!“ Die Sätze, die mir eine Welt zu erschließen vermöchten, erscheinen mir nur als wirre Worte. Ich wiederhole den Spruch; vielleicht begreift ihn ein Anderer, dem es gelungen ist, sein Blut von den „polymeren und isomeren Modificationen der Sünde“ freizuhalten. Oben auf dem Zettel ist eine große Sonne mit dicken Pausbacken gezeichnet, und darunter steht:

Der Schlüssel aller Heimlichkeit
An mir allein gänzlich nur leit,
Der mir durch Gottes Gnadgewalt
Vom Engel Michael zugestallt;
Mein Kunst gehört zur Grammatika –
Lies recht darin, so find’st Du’s da!

Ehrlich und gründlich forschte Wunderlich nach diesem „Schlüssel aller Heimlichkeit“, dem großen Magisterium. Allerwärts findet man in den von ihm benutzten Büchern Anmerkungen, in welchen er seine Erfahrungen mittheilt. Zu einem Aufsatze Kortum’s, welcher das Erdpech für die wahre materia prima hielt, macht er zum Beispiel die Randbemerkung: „Nein, es ist nicht wahr, der Galmey ist es.“ Allein auch der Galmey führte ihn nicht zum Ziele und er versuchte es nach einander mit Blei, Arsenik und Spießglanz. Zuletzt gar arbeitete er mit einer Materie, welche ich hier nicht genauer bezeichnen mag.

Allein, was er auch anfing, seine Mühe und sein Suchen war vergeblich. Der Erzfeind des Menschen, der Teufel, der ihm bald als wüthender, großer, schwarzer Hund, oder als ein anderes Ungethüm, oder auch als mächtiger Wollsack, der ihm beim Nachhausegehen die Treppe versperrte, erschien, verdarb ihm immer, wenn er am Ziel angekommen zu sein glaubte, die lange mühevolle Arbeit. Er war nicht einmal so glücklich, wie der Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt, der 1717 aus dem durch die Gewandtheit seines Alchemisten auf alchemistischem Wege erzeugten Silber wenigstens einige hundert Thaler prägen lassen konnte, welche die Inschrift führen: „Sic Deo placuit in Tribulationibus.“ (So hat es Gott gefallen in unserer Bedrängniß.)

Beinahe noch mehr als den Teufel fürchtete Wunderlich den Erdgeist, den gefährlichen Hüter der unterirdischen Schätze. Ein Bruder des Großherzogs Ludwig des Ersten, Landgraf Christian, der in seiner Jugend gleichfalls an Geisterbeschwören und Goldmacherei glaubte, gab ihm einst den Auftrag, den Erdgeist zu beschwören, um einige Fragen an ihn zu richten. Er wies ihm dazu ein rundes Gartenhaus an, das sich in einem Parke des Landgrafen, dem sogenannten „Pfauengarten“ befand und heute noch zu sehen ist.

„Durchlaucht,“ bemerke Wunderlich, „gestatten Sie mir, daß ich zuerst das Haus untersuche, ehe ich die Beschwörung vornehme.“

Der Prinz war damit einverstanden und einige Tage später ließ sich Wunderlich wieder melden.

„Durchlaucht,“ bemerke er mit vortrefflich erheuchelter Verdrießlichkeit im Gesicht, „Sie werden ein eigenes Haus für die Beschwörung bauen lassen müssen. Ich habe das Gartenhaus im Pfauengarten untersucht und ausgemessen und habe es zu klein gefunden. Dem Erdgeist kann man eine so bescheidene Räumlichkeit nicht anbieten, oder man erregt seinen Zorn.“

Der Prinz überlegte sich die Sache. Das Unternehmen wurde verschoben und unterblieb, wie Alles, was auf die lange Bank geschoben wird.

„Ich hab’ es wohl gewußt,“ sagte Wunderlich später mit pfiffiger Miene zu einem Bekannten. „Ich werde mich hüten,

[281] 

Die Bastei und der Stadtgraben am Hallerthor in Nürnberg.
Nach der Natur gezeichnet und auf Holz übertragen von H. Grünewald.

[282] mir für den Landgrafen die Finger zu verbrennen. Er weiß es selbst recht gut, wie man den Erdgeist beschwört, und wenn er ihn sprechen wollte, hätte er mich nicht dazu nothwendig, aber die hohen Herren lassen sich gern durch Andere die Kastanien aus dem Feuer holen. Ha, ha, ha,“ lachte er höhnisch, „dem Wunderlich ist sein Leben und seine unsterbliche arme Seele auch lieb!“

Wunderlich starb 1840. Seine unsterbliche Seele ist nunmehr wohl in die „philosophische Spießglashöhle“ eingedrungen und hat durch sie den Weg zum „Thale Josaphat“ gefunden, wo das große magisterium unverunreinigt aufgehäuft liegt und ewige Gesundheit dem Alchemisten zum Lohne wird, damit er sich immer und immer an dem Borne himmlischer Weisheit zu erquicken vermag.

Seine Maschinen und Apparate wanderten zum Trödler; seine ungeheure alchemistische und kabbalistische Bibliothek erwarb aber die hiesige Hofbibliothek. Um die bibliothekarische Wissenschaft hat sich Wunderlich durch diese Sammlung ein nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst erworben, denn seine alchemistische Büchersammlung überbietet alle anderen an Vollständigkeit. In langen Reihen sind diese Bände in einem eigenen Zimmer aufgestellt; aber – wehe Dem, dessen Kopf nicht von Haus aus helle ist, wenn er zu lange in ihrer Nähe verweilt und es sich beigehen läßt, einen Blick in ihren Inhalt zu werfen! Ihre Nähe ist gefahrbringend wie der Duft des Manzanillo, und furchtbar rächt es sich, ihr Geheimniß erforschen zu wollen. Gleich Jenem, der das verschleierte Bild zu Sais enthüllte, wird Der gestraft, der in ihr Geheimniß zu dringen versucht –

          „Auf ewig
Ist seines Lebens Heiterkeit dahin,
Ihn reißt ein tiefer Gram zum frühen Grabe!“

Zwei Diener der Bibliothek, die ihrer Neugierde nicht Zügel anzulegen vermochten, sind durch die Lectüre dieser Bücher buchstäblich verrückt geworden. Bei einigen anderen Liebhabern der geheimen Wissenschaften erlitt die Gehirnthätigkeit gleichfalls bedenkliche Störungen, so daß die Bibliothekare ein- für allemal die Weisung haben, allen Denen, die ein Buch über Alchemie, Dämonologie, Rosenkreuzerthum, Freimaurerei oder etwas Aehnliches verlangen, namentlich Ungebildeten oder Solchen, bei denen es etwa nicht ganz richtig sein konnte, die Auskunft zu verweigern.

„Wir bedauern, daß wir Ihnen nicht dienen können,“ antwortet man höflich. „Alle derartigen Werke mußten wir 1866 zufolge einer Bestimmung des Friedensvertrages an Preußen ausliefern!“

„Ah, daher sind diese preußischen Schurken unsere Herren geworden,“ erwiderte hierauf ein französischer Officier, der während seiner Kriegsgefangenschaft in Darmstadt diesen Zweig der Wissenschaft cultiviren wollte und nun wußte, warum die Preußen solche „Hexenmeister“ sind!




Ein Hauptbureau des Weltverkehrs.


Den meisten Freunden der Gartenlaube, die zugleich Zeitungsleser sind, wird täglich in den Blättern die Bezeichnung „Reuter’s Bureau“ begegnen. Und doch – wie klein dürfte die Zahl derjenigen sein, welche über die Entstehung und Einrichtung dieses in einem gewissen Sinne die Welt beherrschenden Instituts mehr als oberflächlich unterrichtet sind! So trage ich denn gewiß nicht Eulen nach Athen, wenn ich den Lesern der Gartenlaube im Nachstehenden einige authentische Mittheilungen über Zweck und Organisation des genannten Etablissements mache, in dessen politischem Departement ich selbst längere Zeit als Beamter thätig war.

Es sind der Fälle wohl wenige, wo sich aus einem Nichts nach und nach ein so glänzendes Resultat entwickelt hat, als es gerade mit dem Reuterschen Bureau der Fall gewesen ist, – einer Anstalt, die in Deutschland wie auf den Sandwichs-Inseln, in Petersburg ebenso wie in Wellington in Neu-Seeland bekannt ist. Um jedoch die Einrichtung und Manipulationen dieses großen Instituts recht zu verstehen, muß sich der geneigte Leser vorerst über den Zweck desselben klar werden, denn es herrschen in Bezug auf das erwähnte Bureau viele, meist falsche Ansichten, denen gewöhnlich Mißverständniß und Unwissenheit zu Grunde liegen. Man nimmt allgemein an, daß das Reutersche Bureau eigene Telegraphenlinien besitzt, und daß durch sein Hauptcomptoir in London Jeder für sein Geld eine beliebige Depesche absenden kann, wie das in den Staats-Telegraphenämtern zu jeder Minute geschehen darf. Das ist jedoch eine ganz irrige Ansicht. Das Reuter’sche Bureau besitzt keine eigenen Linien, sondern empfängt und sendet seine Privatdepeschen wie jeder Privatmann, das heißt vermittelst der Staatstelegraphen, bezahlt auch für dieselben in baarer Münze, nur daß das Reuter’sche Bureau einmal monatlich seine Rechnung berichtigt, während Privatleute sogleich zu bezahlen verpflichtet sind. Die von diesem Institut mit seinen vielen Agenturen verausgabte Summe Geldes für Telegramme beläuft sich jährlich auf viele, viele Tausende von Pfunden.

Der Zweck des Reuter’schen Bureaus ist in kurzen Worten der: politische und commercielle Nachrichten aus den besten Quellen rechtzeitig zu schöpfen und dieselben auf dem schnellsten Wege an die Zeitungen und Kaufleute zu befördern. Dazu ist es nöthig, überall solche Agenten zu besitzen, die wichtige Nachrichten ohne Zeitverlust in kurzen, aber klaren Worten an das Hauptbureau in London telegraphieren, von wo aus dann die verschiedenen Agenturen gespeist werden.

Das Reuter’sche Bureau in London besteht aus zwei verschiedenen Abtheilungen, nämlich aus der commerciellen und aus der politischen. Wir wollen vorläufig die erste näher in’s Auge fassen. Der Handel Englands interessirt oder beeinflußt mehr oder weniger die ganze Welt, und es ist daher von Wichtigkeit, über dortige Marktpreise, Börsencourse und Stimmungen sofort an die betreffenden Märkte zu berichten, die sich dann in Käufen und Verkäufen darnach richten. So zum Beispiel bedarf Deutschland der Course, der Preise von Manufacturwaaren, Producten etc.; Frankreich der Getreide- und Oelpreise; Rußland, Belgien, Italien, – alle haben ihre besonderen Artikel, die in London auf den Markt gebracht werden und hier Käufer finden. China sendet Thee und Seide; Ostindien Baumwolle, Kaffee, Reis, Zucker; Amerika liefert Petroleum, Terpentin, Häute etc. Von Trinidad kommt Cacao, von Chili Eisen, von Zanzibar Gewürz, von Demerara Rum, von Rio de Janeiro Kaffee und von Mauritius Zucker. Es giebt wohl keinen Artikel, der nicht in England seinen Markt findet. Wiederum aber concentrirt sich nicht alles Geschäft auf London. Die Manchester-Notirungen von Manufacturwaaren sind in diesem Artikel die preisangebenden, wie in Liverpool die Baumwolle, in Birmingham die Viehpreise etc. etc. Es ist also für das Reuter’sche Bureau ein Erforderniß, in jeder wichtigen Handelsstadt einen Agenten zu haben, der sogleich nach Marktschluß über die herrschende Stimmung und die Preise Nachricht sendet, namentlich wenn irgend welche wichtige Veränderung vorgegangen ist, die den betreffenden fremden Markt beeinflußt. Bei der Wahl eines derartigen Agenten muß man vorsichtig zu Werke gehen. Zuverlässigkeit, Unbestechlichkeit, klare Einsicht und namentlich gründliche Kenntniß dessen, was ihm obliegt, – das sind Haupteigenschaften, die das Reuter’sche Bureau fordert und fordern muß, da von den Nachrichten, die von diesem Institut in die Welt gesandt werden, viel abhängt. Ich will nicht behaupten, daß von dem Reuter’schen Bureau niemals eine unrichtige Depesche ausgegangen wäre, das aber behaupte ich, daß dieselbe nie wissentlich falsch abgesandt worden ist, sondern stets auf einem erklärlichen Irrthum beruhte, denn Reuter’s Bureau oder dessen Agenten sind ebensowenig unfehlbar, wie Seine Heiligkeit, Vater Pius in Rom.

Man wird nun vielleicht fragen: was geschieht mit diesen kaufmännischen Nachrichten und in welcher Weise werden dieselben veröffentlicht? Auf diesen Punkt wollen wir zunächst eingehn.

Ein Londoner Kaufmann, der zum Beispiel in Hamburg, Paris, New-York und Calcutta Geschäftsfreunde und Correspondenten hat, würde es ziemlich kostspielig finden, denselben täglich telegraphische Nachrichten über den Markt, dessen Stimmung [283] und Preise zu senden, oder von ihnen über die Preisnotirungen der Hamburger, Pariser und anderer Märkte Depeschen zu erhalten. Da kommt ihm die commercielle Abtheilung des Reuter’schen Bureaus zu Hülfe. Er abonnirt also auf ein Jahr auf alle mercantilischen Nachrichten, die das Reuter’sche Bureau von den ihn interessirenden Märken täglich erhält, während wiederum seine Freunde in Paris, Hamburg etc. ihrerseits auf die Londoner Preisnotirungen des Reuter’schen Bureaus in den genannten Städten subscribiren und so für eine verhältnißmäßig kleine Summe ganz dieselben Nachrichten bekommen, die sie andern Falls mit vielem Gelde würden zu bezahlen haben. Das geschieht in allen Plätzen, wo Reuter’s Bureau vertreten ist, und das ist wiederum an jedem irgend wie wichtigen Handelsplatz.

Nun aber ist es eine Aufgabe von Bedeutung, die Abonnenten mit den Depeschen so zu versorgen, daß zum Beispiel in London A. dieselben nicht früher erhält, als B., dessen Comptoir vielleicht eine Meile weiter vom Reuter’schen Bureau entfernt ist als dasjenige A.’s, und daß es so verhindert werde, daß Ersterer vielleicht im Stande ist, durch einen noch so kleinen Zeitvorsprung dem Zweiten einen Vortheil abzugewinnen. Dazu bedarf man einer großen Anzahl von Boten, welche alle ihre besonderen Straßentheile oder Viertel haben, und welche die Depeschen mit größter Schnelligkeit in den verschiedenen Comptoiren abliefern. In London benutzt man zu diesem Zwecke Knaben, die wegen ihrer Gewandtheit und Größe sich dazu besser eignen, als erwachsene Männer, und die in dem Gewühle Londons sich schneller bewegen können und daher das Abliefern der Depeschen sehr beschleunigen. Diese Boten tragen die Uniform des Reuter’schen Bureaus, nämlich grau mit grünen Aufschlägen und silbernen Knöpfen.

Die politische Abtheilung dieses Instituts ist eine von der commerciellen gänzlich abgesonderte und begreiflicher Weise viel complicirterer Natur, als die letztere. Wie vorhin die Kaufleute, so werden in diesem Falle die Redactionen der Zeitungen der verschiedenen Länder mit den neuesten und wichtigsten Nachrichten versorgt, das heißt natürlich nur die abonnirenden. Es sind dies nur die besseren Blätter, da der Betrag eines jährlichen Abonnements nicht eben gering ist. Die Reuter’schen Agenten in dieser Abtheilung sind von den vorhin erwähnten Beamten gänzlich verschieden, in vielen Fällen mit einander überhaupt nicht bekannt, namentlich in den continentalen Residenzstädten, wo die Reuter’schen Agenten meistens dem betreffenden Hofe nahe stehen. Die Namen dieser Beamten „werden nicht gewußt“, und sind außer dem Chef nur dem Secretär bekannt. Die Hauptaufgabe dieser Leute ist, alle Vorgänge bei Hofe sorgfältig zu beobachten und, sowie irgend etwas politisch Wichtiges sich zuträgt, sofort dem Londoner Bureau davon telegraphische Nachricht zu geben. So besaß z. B im letzten Kriege das Reuter’sche Bureau Agenten in den Hauptquartieren beider Mächte, um sofort etwaige Nachrichten von Interesse nach London depeschiren zu können. Auch in diesem Departement sind Fehler vorgekommen, die dem Reuter’schen Bureau verschiedentlich eine Rüge von Seiten der englischen Zeitungen zugezogen haben, gewöhnlich aber sind die von dem genannten Institute veröffentlichten politischen Nachrichten außerordentlich zuverlässig. In Politik immer das Richtige zu treffen, ist wohl Niemandem möglich. Die Reuter’schen Agenten werden durch ein sehr einfaches Verfahren vorsichtig gemacht, und zwar besteht es darin, daß sofortige Entlassung die Strafe ist für eine in diesem Departement begangene Nachlässigkeit, eine Drohung, der die Strafe auf dem Fuße folgt, wie das einige der früheren Agenten nur zu wohl bestätigen könnten.

Es ist nun wichtig, daß, sollten die Reuter’schen Depeschen durch Zufall oder Absicht in unrechte Hände fallen, der Inhalt derselben nicht für Jeden lesbar ist, aus Gründen, die zu klar auf der Hand liegen, um einer Erklärung zu bedürfen. Zu diesem Zwecke besitzt daher das Institut eine Chiffresprache, welche die Depeschen vor jedem unbefugten Gebrauche schützt. Den Schlüssel zu dieser Sprache hat jeder der Agenten, und somit ist die Sicherheit der Depeschen gewiß, um so mehr, als hin und wieder eine neue Geheimschrift in Gebrauch gesetzt wird. Eine Depesche in dieser Sprache würde etwa besagen, daß heute ein Alligator angekauft worden sei. In der Uebersetzung würde das vielleicht lauten, daß auf der Börse die Nachfrage nach englischen Eisenbahnactien ziemlich flau gewesen und die Course gefallen sind.

Das Reuter’sche Bureau ist nie geschlossen, sondern Tag und Nacht offen. Damit das geschehen kann, besitzt das Institut zwei Abtheilungen, deren eine den Tagdienst und deren andere den Nachtdienst versieht. Die zu letzterer Gehörigen machen die Nacht zum Tage und nehmen während derselben ihre Mahlzeiten ein, die für sie im Bureau, welches eigene Küche etc. hat, zubereitet werden. Es finden sich auch Schlafsophas, Waschtische und dergleichen in den zum Nachtdienst bestimmten Zimmern vor, so daß die Herren, falls es nichts zu thun geben sollte, der Ruhe pflegen können. Der Nachtdienst ist sehr anstrengend, und das scharfe Gaslicht wirkt höchst unangenehm auf die Augen ein. Der Tagdienst beginnt um zehn Uhr Morgens und dauert bis sechs Uhr Abends, worauf der Nachtdienst um sieben Uhr seinen Anfang nimmt und um neun Uhr den nächsten Morgen endet. Die Zahl der im Londoner Bureau Angestellten beläuft sich auf fünfunddreißig, von denen die meisten drei, manche auch mehrere Sprachen sprechen. Von hier aus werden hin und wieder Einzelne als Assistenten nach den Zweigbureaux gesandt, wie z. B. nach Amerika, Indien oder China. Die Herren werden in den betreffenden Departements des Bureaus vorbereitet, um dann gleich nach Ankunft in die immer vollauf vorhandene Arbeit eingreifen zu können. – Wie in England London das Hauptbureau ist, so ist in Belgien das in Brüssel, in Frankreich das in Paris eine Hauptagentur etc. Nach dem englischen Geschäftskreise findet sich der vortheilhafteste und nächstgroße in Indien und China. Das Hauptbureau für diese Welttheile ist in Bombay und wird von einem Mr. H. W. Williams verwaltet. Die Arbeit in den Zweiginstituten ist natürlich dieselbe wie in London, nur in verkleinertem Maßstabe.

Wenn ich vorhin sagte, daß das Reuter’sche Telegraphenbureau keine eigene Linie besitzt, so bezieht sich die Bemerkung auf die Gegenwart. Vor dem Kriege des Jahres 1866 wurde Herrn Reuter von dem damaligen Könige von Hannover, Georg dem Fünften, eine Concession zur Legung eines Kabels von Lowestoft nach Norderney bewilligt, ein Unternehmen, das nach dem für Hannover unglücklichen Ausgange des Krieges von der preußischen Regierung gebilligt wurde. Zur Legung eines Kabels jedoch bedurfte es einer bedeutenden Summe Geldes, und Herr Reuter entschloß sich daher, sein Geschäft in eine Actiengesellschaft umzuwandeln, der er selbst als Hauptdirector vorzustehen beabsichtigte. Dieser Plan ward damals ausgeführt, und das frühere Reuter’sche Telegraphenbureau heißt seitdem Reuter’s Telegram Company Limited. Die Actien lauteten auf je 25 Pfund Sterling und das Capital belief sich auf 250,000 Pfund, von welcher Summe etwa 100,000 Pfund auf die Legung des Kabels verwandt wurden. Dieses Kabel ließ Herr Reuter von einer englischen großen Telegraphengesellschaft bearbeiten, und dieselbe erhielt dafür die Summe von zwanzig Groschen per Depesche von zwanzig Worten, während der Rest von einem Thaler zehn Groschen der Reuter’schen Gesellschaft blieb. Im Jahre 1869 wurden von der englischen Regierung alle unterseeischen (englischen) Kabel angekauft und nach langem Kampfe von beiden Seiten der Reuter’schen Gesellschaft die Summe von 726,000 Pfund Sterling für das Lowestoft-Norderney-Kabel bewilligt, wodurch sich dieselbe in Stand gesetzt sah, ihre 25 Pfund Sterling-Actien zurückzuziehen, den Actionären für jede Actie etwa 80 Pfund Sterling baar auszuzahlen, das Capital bedeutend zu verkleinern und die neuen Actien auf 8 Pfund zu setzen. Dieselben stehen heute an hiesiger Börse auf etwa 11 Pfund. Herr Reuter, der von Anfang an, wie man sagt, 3000 Actien seiner eigenen Gesellschaft hielt, wird gewiß auf dieses Ereigniß noch jetzt mit großem Behagen zurückblicken. – Das Capital der Gesellschaft wäre genügend, wenn es auf wenige tausend Pfund verkleinert würde, da alle Abonnements pränumerando bezahlt werden müssen und daher ausstehende Rechnungsbeträge im Reuter’schen Bureau unbekannte Größen sind. Der Secretär dieses Instituts, ein Mr. J. J. Griffith, steht Herrn Reuter schon seit langen Jahren zur Seite und wird gewöhnlich als die rechte Hand des Chefs betrachtet.

Zum Schluß mögen hier noch einige biographische Notizen über den Gründer des Telegraphen-Bureaus Platz finden. Paul Julius Reuter wurde im Jahre 1821 zu Cassel geboren, trat [284] in Göttingen in ein Bankgeschäft ein, lebte später als Mitinhaber einer Verlagsfirma in Berlin und begründete darauf in Paris eine lithographische Correspondenz, durch welche er sich zum allgemeinen Berichterstatter der Presse machen zu können hoffte. Später verfolgte er ähnliche Zwecke in Aachen, Verviers, Quiêbrain und siedelte etwa 1851 mit seinem Bureau nach London über.

Damit will ich den Artikel über das Reuter’sche Bureau in der Hoffnung schließen, daß ich es den Lesern der Gartenlaube ermöglicht habe, sich in Zukunft die oft in den Zeitungen vorkommenden Worte „Reuter’s Bureau“ oder auch „Reuter’s Telegramm“ zu deuten.

     London.
E. Woltmann.





Blätter und Blüthen.



Frevel am Reliquienkästlein des deutschen Reiches. (Mit Abbildung, S. 281.) Bis vor einiger Zeit noch das Reliquienkästchen des deutschen Reiches genannt, verliert Nürnberg zusehends ein Stück nach dem andern von seinem mittelalterlichen Charakter. Nachdem in kurzen Zwischenräumen am südlichen und östlichen Theile die alterthümlichen Ringmauern, Nürnbergs Eigenthümlichkeit, durchbrochen, Bastionen und Thore, sowie Thürme eingelegt wurden, auch mit dem Ausfüllen des Grabens an verschiedenen Stellen begonnen ist, wird nun auch baldigst die malerisch gelegene Partie der westlichen Seite der Stadt am Ausflusse der Pegnitz dem Erdboden gleich gemacht sein, indem nach Beschluß der jetzigen Gemeindevertretung auch hier ein Durchbruch durch den Wall, das Schleifen der Mauern, die Entfernung des Thores mit den Thürmen, der Brücke und die Ausfüllung des Grabens bis aufwärts gegen die alte Reichsveste zu vollzogen werden. Wäre letztere nicht Eigenthum der Krone und zugleich im Mitbesitz des hohenzollern’schen Hauses, so könnte man mit Gewißheit annehmen, daß auch die Burg eines Tages fallen würde.

Die auf unserem Holzschnitte dargestellte Ansicht zeigt im Vordergrunde einen alten halbrunden Vertheidigungsthurm der äußeren und einen höheren Wachtthurm der inneren Umfassungsmauer nebst der Bastei, dem Thurme, der Brücke und dem Hallerthor, nach Art der Kasematten unter der Bastei angelegt. Längs der Brücke sieht man die Baulichkeiten der städtischen Badeanstalt; im Mittelgrunde sind die beiden Gewölbebogen über die Pegnitz sichtbar; auf dem vorderen Bogen ruht der Wehrgang, welcher theilweise noch wohlerhalten um die ganze Stadt mit Ausnahme der Stellen, wo er bereits geschleift ist, sich herumzieht. Der Wehrgang vermittelte in kriegerischer Zeit eine bequeme Verbindung der Streiter mit allen Theilen der Befestigung rings um die Stadt. Auf dem zweiten Gewölbebogen, der bedeutend breiter als der erstere ist, ruht die alte Frohnveste, daneben die neuere. Durch beide Bogenöffnungen ist die Kettenbrücke sichtbar, welche ebenfalls beide Arme des Flusses miteinander verbindet. Dieselbe ist die erste derartige Brücke in Deutschland, und von dem Professor Kuppler im Jahre 1824 ausgeführt. Im Hintergrunde unserer Ansicht ragen die Kuppel des deutschen Hauses, die Jakobskirche und der weiße Thurm hervor.

Der besuchteste aller Spaziergänge um die Stadt führt vom Neuenthor am Hallerthor vorüber nach dem Spittlerthor; die Stadtmauer mit ihren Thürmen, prächtigen, von Epheu oft ganz dicht überwucherten Bastionen, Thoren und Brücken, sowie auch der mit üppig tragenden Obstbäumen und auch sonst fleißig mit Gemüse bebaute Stadtgraben sind gerade auf dieser Seite der Stadt am anziehendsten für die gesammte Bevölkerung und die vielen Fremden, welche Nürnberg gerade wegen seines alterthümlichen Charakters jährlich besuchen.

Die massiven, fast überall zehn bis fünfzehn Schuh starken, ja oft noch viel stärkeren doppelten Ringmauern, welche zwischen dem innern und äußern Theile mit Schutt ausgefüllt sind, entstanden in der Form, wie wir dieselben heutzutage noch sehen, kurz vor dem dreißigjährigen Kriege. Die Stadt wurde in Vertheidigungszustand gesetzt, weil Tilly im Anzuge war; er lagerte vom 10. November bis 22. December 1631 vor der Stadt, ohne jedoch einen Angriff zu unternehmen und wahrscheinlich auch ohne einen solchen auf die damals trefflich bewehrte und wohl verschanzte Stadt zu beabsichtigen. Nach seinem Abzuge kam Wallenstein mit den kaiserlichen und bayerischen Heereshaufen, an sechszigtausend Mann stark, aber die Schweden unter Gustav Adolph hatten Nürnberg wohl verschanzt inne, und Wallenstein legte sich mit seinen Truppen auf die alte Veste bei Fürth, ein und eine halbe Stunde von Nürnberg entfernt. Die vor dem Stadtgraben damals aufgeworfenen Schwedenschanzen sind längst nicht mehr. Demselben Schicksale gehen nach und nach sämmtliche Thürme, Basteien, Thore und Brücken der Stadt entgegen.

Sollte es denn nicht möglich sein, manche von den malerischen Basteien, alten Thürmen oder epheuumrankten Mauern in der Weise an einzelnen besonders hübschen Partien für die Nachwelt zu erhalten, daß solche mit einer Parkanlage, zum Beispiel wie der Zwinger in Dresden, in Verbindung gebracht würden? Gerade die Bastei, welche gegen den Fluß zu gelegen ist, würde nach Schleifung der Mauern, des Thores und Einebnung des Grabens durch theilweise Erhaltung mit einer solchen Anlage recht gut harmoniren, um so mehr als die Hallerwiese, der besuchteste Tummelplatz der Nürnberger Jugendwelt, in unmittelbarer Nähe gewissermaßen dann die Fortsetzung des durch die Schleifung in Anlagen umgewandelten Raumes bilden würde.






Trachtenbilder Nr. 2. Auf dem Kirchgange in Säterdalen. (Mit Abbildung, S. 273.) Wer das Hirten- und Bauernleben in Norwegen kennen lernen will, der darf nicht versäumen, die bahnlosen Hochgebirge von Telemarken zu besteigen. Wie in den übrigen tiefen, weltabgeschieden Thälern Norwegens, den Spalten des ungeheuern Felsens, aus dem die scandinavische Halbinsel besteht, wohnt zumal in Telemarken ein kerniges Volk von Bauern, derbe, gesunde Naturkinder mit schlichten, uralten Sitten und Gebräuchen, ernst und markig wie das rauhe Land, das sie geboren hat – und welch ein Land ist das! Zerklüftete und zerrissene Felsformationen, himmelan ragende Kuppen, klaffende Abgründe mit brausenden Wasserfällen und weithin gestreckte Hochebenen mit gewaltigen Wäldern – das ist die Naturscenerie dieses Theils von Norwegen. In den Wäldern sprießt unter zerbrochenen, modernden Baumzweigen ein verborgenes Pflanzenleben, und wenn der Schnee des langen Winters endlich schmilzt und die zahllosen Gebirgsbäche mit Wasser speist, dann entfaltet sich in Moosen und Gräsern, in wilden Blumen und saftigen Beeren eine duftige Pracht. Wie herrlich dann vom Hochgebirge der Blick in’s Thal! Unter Dir, vielleicht fünfhundert Fuß tief, rauscht der Gebirgsstrom hervor, und von Riff zu Riff stürzend braust er kräftig dahin, frei und trotzig, ein Held, der jeder Fessel spottet.

Und frei und trotzig sind auch die Menschen, die an solchen Wassern in den tiefen, stillen Thälern wohnen. Langsam aber energisch, rauh aber gastfrei, ist der norwegische Bauer vor Allem selbstbewußt und stolz: vom Heldenzeitalter der Wikinger her hat er die Sitte des Dutzens beibehalten, und selbst für den König scheint ihm das derbe „Du“ gerade gut genug. Einfach wie er selbst ist auch seine Wohnung und das Leben darin. Willst du dem Bauern in’s Herz schauen und die Eigenart seines Wesens kennen lernen, so mußt du ihn an einem der langen Winterabende im Kreise seiner Familie aufsuchen. Im engen Stübchen sitzen sie, oft eine vielköpfige Gruppe, um den brodelnden Kessel, der, das bescheidene Abendmahl in sich bergend, an langen Ketten von dem rauchgeschwärzten First der Decke herabhängt. Durch den Qualm, der, unter dem Kessel hervordringend, die ganze kleine Stube erfüllt, siehst du hier und da ein neugieriges Kindergesicht hervorlugen; denn es sind gar wunderliche, seltsame Geschichten, die der Vater beim Scheine des Feuers erzählt, Märchen, weither ererbte Urvätermärchen. Ihnen allen fehlt Schmelz und Farbe, Klarheit und Schärfe; aber sie sind ernst wie der Himmel des Nordens, tief wie die Gebirgsseen, in denen die finsteren Wolken jenes Himmels sich spiegeln – – – Ernst und Tiefe sind ja die edelsten Züge des Nordländers.

In unserem heutigen Bilde hat der Künstler es verstanden, dem dunklen Norden eine heitere Seite abzugewinnen. Er zeigt uns ein Liebespärchen von Säterdalen, indem er zugleich die höchst originelle und farbenreiche, namentlich an den Mädchen sehr reizende Tracht von Telemarken auf’s Glänzendste zur Geltung bringt. Sonntagmorgen! Auf dem Gange aus der Kirche – wie wenig nachhaltig war die Predigt des salbadernden Herrn Pfarrers! – ist das frische lustige Mädel ihrem Burschen entsprungen. Als sie pfeilgeschwind dem Geliebten voranflog, ei, wie da die hübschbestrümpften kleinen Füße über den Waldweg hinflogen, wie da die grün und roth besetzten, derb wollenen Röcke und das rothe Kopftuch im Winde flatterten! Aber er – ein rechter Tölpel, schlendert er, die nordische Ruhe nicht verleugnend, ihr langsam nach. Fast schaut er so philiströs darein, wie der altfränkische, weiß und grün bebänderte Zylinder, den er steif auf dem Kopfe trägt. Wie steif sitzt ihm auch die enge, grüngestreifte Sonntagshose mit dem die halbe Brust bedeckenden Latz! Aber warte nur, Bursche! Schon steht das Mädel schmunzelnd hinter’m Zaun, das Gebetbuch – „o Entweihung!“ würde der Herr Pfarrer ausrufen – an das schelmische, jetzt heftig klopfende Herzchen gedrückt. Und, Bursche, kommst Du vorüber – husch! springt sie hervor, und wärst du der nüchternste Philister von Säterdalen, lachen mußt du in den Armen deines Prachtmädels!






Abrechnung über die des der Redaktion der Gartenlaube eingegangenen
Beiträge für die Notleidenden an der Ostsee:
Einnahmen laut specieller Quittungen:
12,289 Thlr. 14. Ngr. 4 Pf.
Ausgaben
An den Deutschen Hülfsverein in Berlin 10214 Thlr. Ngr. Pf.
An das Unterstützungs-Comité in Altona 1000 Thlr. Ngr. Pf.
An das Provinzial-Comité in Stettin 500 Thlr. Ngr. Pf.
An das Central-Comité in Stralsund 500 Thlr. Ngr. Pf.
An das Special-Comité in Broacker, durch
     Herrn Kirkerup, welcher auf das ihm
     zugewandte Ehrengeschenk zu Gunsten
     seines Heimathsortes verzichtete 75 Thlr. Ngr. Pf.
Verlust an ausländischen Coupons Thlr. 14 Ngr. 4 Pf.
          Summa 12289 Thlr. 14 Ngr. 4 Pf.
Sämmtliche Spesen wurden von der Redaction allein getragen. Ueber einige nach Schluß unserer Sammlung noch eingegangene Beitrage referiren wir in einer späteren Nummer.[1]
Die Redaction der Gartenlaube.
Ernst Keil.




Kleiner Briefkasten.


M. in Dr. Auch wir können die auf tausend Thaler taxirte Insecten-Sammlung in zwölf Schränken mit Glaskaste angelegentlichst zum Ankauf für Museen etc. empfehlen. Der zweite Präsident der deutschen ornithologischen Gesellschaft in Berlin, Herr von Homeyer, hat protokollarisch die Sammlung als eine im guten Zustande befindliche und nicht veraltete bezeichnet, die besonders reich sei an Noctuen, Pyraliden und Sortices. Die Präparate sind durchweg ganz vorzüglich. Die Redaction der Gartenlaube ist gern erbötig, auf Wunsch die nähere Verkaufsadresse anzugeben.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wort ist unleserlich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Carl Arnold Kortum, Vorlage: Kortüm