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Die Gartenlaube (1872)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.
Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.
(Fortsetzung.)


Bernhard überstürzte Lucie ganz plötzlich und ohne alle Vorbereitung mit der Frage. Lucie erröthete tief und glühend, aber der Bruder hatte Recht, sie war zu einer Lüge nicht fähig.

„Nur einmal, am Tage darauf!“ sagte sie leise.

„An jenem Tage also, wo Du allein im Walde warst?“ Günther schickte einen bedeutsamen Blick zu Franziska hinüber, die sich ärgerlich abwandte, denn Luciens Benehmen stimmte freilich verzweifelt wenig zu ihrer Behauptung, der Graf sei dem jungen Mädchen gleichgültig.

„Hat er Dir wieder von Liebe gesprochen?“ fuhr Bernhard fort.

„Nein!“ Es war augenscheinlich, daß das Examen Lucie bereits zu peinigen begann und daß sie es nicht lange aushalten werde. „Wir sprachen überhaupt nur wenige Worte zusammen. Er bot mir seine Begleitung an.“

„Die Du annahmst?“

Die Gluth floß noch heißer als vorhin über Luciens Wangen. „Ich bin nicht mit ihm gegangen!“ sagte sie kurz mit fliegendem Athem, „er blieb auf der Bergwiese zurück – und nun, Bernhard, frage mich nichts mehr, Du siehst, Dein Verbot ist befolgt worden, ich antworte jetzt keine Silbe mehr!“

Sie preßte trotzig die Lippen zusammen, Bernhard sah wohl, daß ihr kein Wort mehr zu entreißen war, und er kannte seine eigensinnige Schwester zu gut, um hier Strenge anzuwenden.

„Es ist gut!“ sagte er ernst. „Mir genügt es, daß der Graf Dich nicht begleitete und daß Du ihn seitdem nicht wieder gesprochen hast. Letzteres ist doch nicht der Fall gewesen?“

„Nein!“

„Nun höre einer das Kind an!“ sagte Franziska mit unverhehltem Erstaunen. „Wie kommen Sie auf einmal zu diesem energischen Nein, Lucie? Man glaubt Ihren Bruder zu hören!“

Das junge Mädchen wandte sich ab, aber die eben noch so energisch zusammengepreßten Lippen bebten leise, es war unverkennbar, daß es sie unendlich quälte, jene Begegnung von Anderen auch nur berührt zu sehen, und nun goß Franziska mit dem besten Willen von der Welt auch noch Oel in’s Feuer.

„Aber weshalb wollen Sie uns durchaus nicht sagen, was zwischen Ihnen und dem Grafen –“

„O mein Gott, so quälen Sie mich doch nicht immer und ewig mit dem Grafen!“ brach Lucie mit einer so leidenschaftlichen Heftigkeit aus, daß Franziska, ganz die Unart der Antwort übersehend, erschreckt auf sie zueilte.

„Dacht’ ich’s doch, da sind die Thränen wieder!“ sagte sie halblaut und wollte das junge Mädchen in ihre Arme nehmen. Aber Lucie schien wenig empfänglich für diese Theilnahme, sie machte sich hastig los, die Thränen versiechten plötzlich und der Mund zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich weine ja gar nicht, durchaus nicht! Aber ich muß jetzt hinüber, mich umzukleiden, da Bernhard in einer halben Stunde mit mir nach C. fahren will. Er zuckt immer so spöttisch die Achseln, wenn ich nicht pünktlich bin; diesmal soll er gewiß nicht auf mich warten!“

Sie war aus dem Zimmer, kopfschüttelnd blickte ihr Franziska nach.

„Jetzt wirft sie sich wieder drüben auf’s Sopha und weint! Wollen Sie mir nun endlich glauben, daß das Kind unglücklich ist, ohne es sich und uns eingestehen zu wollen?“

Günther war aufgestanden und ging gedankenvoll im Zimmer auf und nieder. „Sie haben Recht! Ich glaubte nicht, daß die Sache so ernst sei! Ihr Interesse für den Grafen scheint mehr zu sein, als eine flüchtige Regung der Eitelkeit, und doch wies sie seine Begleitung zurück! Ich hätte nie geglaubt, daß meine Warnung so tief bei ihr gehen würde.“

„Ich auch nicht!“ sagte Franziska sehr aufrichtig. „Lucie pflegt gewöhnlich das Gegentheil von dem zu thun, was man ihr anempfiehlt.“

„Gleichviel! Ich hätte am liebsten jede Berührung mit den Rhanecks vermieden, indessen der Sache muß ein Ende gemacht werden, ich sehe es jetzt ein! Ich werde mir schriftlich jede fernere Annäherung des Grafen an Dobra und an meine Schwester verbitten. Sein Benehmen auf dem Balle giebt mir das Recht dazu und raubt ihm den Vorwand, sein fortwährendes Erscheinen hier für eine Zufälligkeit auszugeben.“

„Thun Sie das!“ stimmte Franziska eifrig bei. „Ich wollte, ich könnte Ihnen den Brief dictiren, der Graf sollte da etwas zu lesen bekommen, wie es ihm wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nicht geboten worden ist!“

Trotz seiner umwölkten Stirn flog dennoch ein Lächeln über Günther’s Gesicht. „Ich glaube, es ist doch besser, ich schreibe diesmal ohne Dictat. Fürchten Sie übrigens nicht, daß der Brief zu zahm ausfällt, man kann sehr ruhig und sehr vernichtend sein, und ich habe jetzt keinen Grund mehr, den Grafen zu schonen, seit ich Luciens sicher bin. Sie sorgen doch, daß Lucie zur bestimmten [118] Stunde fertig ist? Die Zerstreuung der Fahrt wird ihr wohl thun.“

Franziska nickte blos, als aber Günther das Zimmer verließ, fuhr sie wie aus tiefen Gedanken auf, schlug mit der Hand so heftig auf den Tisch, daß die Blumenvasen klirrten, und sagte im Tone unumstößlicher Ueberzeugung:

„Und sie macht sich doch nichts aus ihm!“ –

Eine halbe Stunde darauf saß Lucie im Wagen an der Seite des Bruders, der öfter Geschäfte in C. hatte und, da der Weg dorthin durch die reizendste Gebirgslandschaft führte, seine Schwester bisweilen mitzunehmen pflegte. Nur an einer einzigen Stelle war dieser Weg unbequem und beschwerlich; er stieg hier in steilen Windungen bis zur Höhe des Berges empor, an dessen jenseitigem Fuße die Straße sich theilte, um rechts in die Ebene nach C., links hinein in’s Hochgebirge zu führen. Die Pferde, obgleich jung und kräftig, keuchten und dampften doch von der Anstrengung. Bernhard ließ halten und stieg mit Lucie aus; die Thiere hatten genug zu thun, den leeren Wagen bis zur Höhe zu bringen, während dessen Insassen zu Fuße folgten. Lucie, der das Steigen nicht die geringste Mühe verursachte, war leichtfüßig vorauf; Bernhard folgte langsamer; plötzlich blieb das junge Mädchen stehen, ohne einen Schritt weiter vorwärts zu thun.

„Was hast Du?“ fragte Günther, als er sie erreichte.

„O, nichts! Ich meine nur, wir könnten etwas langsamer gehen.“ Sie hing sich an den Arm des Bruders und drängte sich dicht an seine Seite; dieser achtete nicht darauf. Er bemerkte jetzt in der Windung des Weges einen zweiten Wagen; es war eine geschlossene Stiftskutsche, deren Insasse, ein Benedictiner, gleichfalls ausgestiegen war und zu Fuß nebenherging.

Bernhard liebte es sonst durchaus nicht, mit den nachbarlichen Bewohnern des Stiftes irgendwie in Berührung zu kommen. Diesmal jedoch schien er eine Ausnahme machen zu wollen; er hatte kaum einen raschen Blick auf den Geistlichen geworfen, als er auch seine Schritte beschleunigte. Lucie klammerte sich fester an seinen Arm.

„So eile doch nicht so, Bernhard! Laß uns lieber zurückbleiben!“

Günther sah sie befremdet an. „Weshalb? Es ist Pater Benedict. Ja so, Du kennst ihn nicht! Du hast ihn schwerlich an dem Abende bei Brankow bemerkt.“

„Doch!“ sagte das junge Mädchen leise mit halb erstickter Stimme. „Ich – ich fürchte mich so vor ihm, vor seinen Augen – laß uns lieber zurückbleiben.“

„Sei nicht kindisch, Lucie!“ unterbrach sie Bernhard ungeduldig, indem er sie ohne Weiteres mit sich fortzog. In einigen Minuten hatten sie den jungen Geistlichen erreicht, den Günther ganz gegen seine Gewohnheit diesmal zuerst grüßte.

„Sie wollen es Ihren Pferden auch leichter machen, Hochwürden!“ begann er in unbefangenem Tone. „Der Weg ist freilich steil genug und die Thiere haben hinreichend an dem leeren Wagen zu schleppen, man muß ihnen schon einmal das Opfer bringen.“

Benedict hatte sich beim Nähern der Schritte umgewandt und war dann regungslos wie eine Bildsäule stehen geblieben. Vielleicht war es die Anstrengung des Steigens, die ihm den Athem versagte und ihm das Blut so glühend in’s Antlitz trieb, und doch widersprachen dem seine Worte, als er nach stummem Gegengruß erwiderte:

„Ich meinestheils gehe sehr gern zu Fuße.“

Das könnte ich von mir nun gerade nicht behaupten!“ meinte Bernhard. „Aber wir sind nun einmal im Gebirge, da geht es nicht immer so bequem wie daheim auf unseren ebenen Chausseen.“

Er schritt langsam vorwärts, während sich der junge Priester, wie es schien halb gezwungen, ihm anschloß; es wäre auch gar zu auffällig gewesen, zurückzubleiben, während sein Wagen schon weit voraus war. Lucie hing stumm am Arme des Bruders, ohne sich mit einer Silbe an der Unterhaltung zu beteiligen; Benedict sah unverwandt vor sich hin, auch nicht ein einziger Blick fiel nach jener Seite hinüber.

Bernhard fiel es nicht ein, seine Schwester zu beobachten; dagegen grub sich sein Auge wieder in die Züge des jungen Mönches, genau so forschend tief wie an jenem Abende, als er ihn zum ersten Male erblickte.

„Ich weiß nicht, Hochwürden, ob Sie sich meiner erinnern!“ begann er von Neuem. „Wir sahen uns beim Baron Brankow, freilich ohne einander vorgestellt zu werden.“

„Doch! Ich kenne den Gutsherrn von Dobra!“ gab Benedict leise zur Antwort.

Günther verneigte sich leicht. „Wir sind auf einer Fahrt nach C. begriffen,“ warf er hin. „Sie scheinen gleichfalls eine Reise vorzuhaben.“

„Ich gehe in’s Gebirge, nach N.“

„So hoch hinauf? Da haben Sie einen weiten und beschwerlichen Weg vor sich. Jedenfalls wollen Sie dem dortigen Pfarrer einen Besuch machen?“

„Nein. Ich gehe, ihm Caplansdienste zu leisten, und werde wohl Monate, vielleicht den ganzen Winter hindurch dort bleiben.“

„Das ist in der That kein beneidenswerther Posten!“ sagte Bernhard mit unverkennbarer Theilnahme. „N. liegt im unwirthlichsten, unzugänglichsten Theile des Gebirges; es gehört ein wahrer Heroismus zu dem Gedanken, den Winter dort aushalten zu wollen.“

Die Lippen des jungen Mönches zuckten; er hatte es trotz des abgewandten Blickes doch gesehen, wie ein tiefer erleichternder Athemzug Luciens Brust hob, als er von seiner Entfernung sprach.

„Es giebt Feinde, die schlimmer zu überwinden sind als Eisnächte und Schneestürme!“ erwiderte er kalt.

Bernhard sah überrascht auf. Sollten die Worte salbungsvoll sein? Dann hätten sie nicht mit einer so unendlichen Bitterkeit gesprochen werden müssen.

„Verzeihen Sie, Hochwürden, wenn ich eine etwas indiscrete Frage an Sie richte,“ sagte er rasch. „Sie sind in B. geboren?“

Benedict blickte ihn befremdet an. „Nein! Ich stamme aus Süddeutschland.“

„So? Dann war meine Voraussetzung eine irrthümliche. Mir fiel eine gewisse Aehnlichkeit auf; ich glaubte, Ihre Mutter gekannt zu haben.“

„Schwerlich! Sie starb schon während meiner Knabenzeit, ebenso wie der Vater, auf den Gütern des Grafen Rhaneck.“

„Ich sehe meinen Irrthum ein. Verzeihen Sie die Frage!“

Benedict machte eine ablehnende Bewegung. „O, ich bitte!“

„Er weiß also nichts!“ murmelte Bernhard. „Sie haben ihn wirklich in vollster Unkenntniß gelassen!“

Sie schritten schweigend weiter, Benedict schien es schon halb zu bereuen, daß er sich so weit aus seiner Verschlossenheit hatte treiben lassen; übrigens lag jetzt bereits der Gipfel des Berges vor ihnen, wo die Wagen sie erwarteten. Günther’s Kutscher legte soeben den Hemmschuh ein, aber er benahm sich ungeschickt dabei, die Kette gerieth zwischen die Räder und wurde von ihnen erfaßt und zerrissen, als die Pferde unversehens anzogen; der Gutsherr, den Vorfall schon von fern bemerkend, runzelte die Stirn.

„Der Joseph ist heute wieder einmal die Ungeschicklichkeit in Person! Ich muß wohl selbst nachsehen, sonst kommen wir kopfüber den Berg hinunter!“ Er erstieg rasch vollends die Höhe, seine Schwester und Pater Benedict allein lassend.

Lucie war an dem Orte stehen geblieben, wo der Bruder ihren Arm losgelassen, Benedict schien ihm folgen zu wollen; aber auch er verharrte jetzt wie gefesselt auf seinem Platze, einige Secunden lang herrschte ein beängstigendes Schweigen, das wie mit Bergeswucht auf den Beiden lastete.

„Gehen Sie weit fort?“ begann Lucie endlich, die dies stumme Gegenüberstehen nicht mehr zu ertragen vermochte und, um es nur zu brechen, nach der ersten besten Frage griff, die ihr gerade beifiel.

Benedict hob langsam das Haupt. „Weit genug für Ihre Wünsche, mein Fräulein! Sie fürchten wohl, daß der unbequeme Warner wieder in Ihren Weg treten könnte? Beruhigen Sie sich, ein einziges Mal habe ich das gethan, zum zweiten Male wäre es sicher nicht geschehen.“

„Ich – ich meinte das nicht in der Art,“ sagte Lucie, zaghaft zu Boden blickend.

„Nicht? Und doch athmeten Sie mit einer so unendlichen Erleichterung auf, als Sie von meiner Entfernung hörten?“

Das junge Mädchen erröthete. Ja freilich, sie hatte aufgeathmet bei der Nachricht, denn mit seiner Entfernung mußte [119] sich doch der Bann lösen, den dieser Mann die ganze Zeit über auf sie ausgeübt, selbst wenn er nicht an ihrer Seite war. Franziska hatte Recht, sie hatte oft genug zornig und – ohnmächtig dagegen gekämpft; wie ohnmächtig, das fühlte sie erst wieder in diesem Augenblick, und dennoch war etwas von dem alten Trotz in ihrem Tone, als sie jetzt heftig fragte:

„Wie können Sie das wissen? Sie haben mich ja nicht ein einziges Mal angesehen während des ganzen Weges!“

Benedict sah sie auch jetzt nicht an, aber die fliegende Röthe kam und ging in seinem Antlitz, als er gepreßt antwortete:

„Wozu. Ich weiß es ja ohnedies, daß Sie mich fürchten – und hassen!“

Es war derselbe Vorwurf, den Lucie ihm damals im Walde entgegengeschleudert, und sie ließ ihn ebenso widerstandslos über sich ergehen, wie er es gethan hatte. Aber der junge Priester schien doch eine Abwehr, einen Widerspruch erwartet zu haben, seine Lippen zuckten wie vorhin, als keine Antwort erfolgte.

„Sie sehen, wie gut es ist, daß ich gehe! Leben Sie wohl!“

Die tief aufquellende Bitterkeit in diesen Worten traf Lucie doch, sie machte unwillkürlich eine Bewegung, ihn zurückzuhalten. Die blauen Augen blickten ihn wieder bestürzt und fragend an, sie mußten eine eigenthümlich zwingende Gewalt auf den finstern Mönch ausüben, er stand regungslos und langsam schwand die Härte von seiner Stirn und von seinen Lippen.

„Habe ich Sie gekränkt? Wir wollen doch nicht so scheiden! Ich kehre lange, kehre vielleicht niemals zurück. – Leben Sie wohl!“

Das klang freilich anders, als das Lebewohl, welches er vorhin gesprochen. Es war wieder die ganze Weichheit in seinem Tone, der düster milde Blick in seinen Augen, die Lucie schon einmal so räthselhaft getroffen. Mußte ihr denn jede Begegnung mit ihm den dunkeln unerklärlichen Schmerz bringen, der sich jetzt wieder regte und sie mit einer wahrhaft vernichtenden Gewalt überkam, als er sich von ihr wandte? Das Trennungsweh, das in der Brust des Mannes stürmte, schien ein Echo gefunden zu haben, das junge Mädchen preßte leise die Hand auf ihr Herz, das sie noch so wenig verstand, und von dem sie nur wußte, daß es ihr wehe that.

Günther hatte inzwischen seinen Hemmschuh in Ordnung bringen lassen und selbst mit Hand angelegt; er blickte etwas überrascht auf, als er den jungen Geistlichen allein ankommen sah, es schien ihm doch etwas rücksichtslos, daß dieser seine Schwester so ohne Weiteres allein auf der Straße zurückgelassen hatte. Benedict ging mit einem kurzen hastigen Gruße an ihm vorüber, stieg in seinen Wagen und rollte bereits in der nächsten Minute bergabwärts. Jetzt endlich erschien auch Lucie.

„Nun, das muß man sagen, einer besondern Höflichkeit den Frauen gegenüber macht sich Pater Benedict nicht schuldig!“ sagte Bernhard, während er ihr heim Einsteigen hehülflich war. „Er hätte wohl auch noch die wenigen Schritte bis zur Höhe mit Dir gehen können, da er einmal in unserer Gesellschaft war!“

„Ich frage gar nichts nach seiner Höflichkeit!“ erklärte Lucie, sich heftig in die Wagenecke werfend.

„Das glaube ich Dir, Kind! Sein Wesen ist viel zu abstoßend, um Dir gefallen zu können, übrigens wäre das auch gar nicht von Nutzen, da er nun einmal ein Mönch ist.“

Lucie gab keine Antwort, zum Glück achtete Bernhard nicht weiter auf sie, der nur nothdürftig ausgebesserte Hemmschuh nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, er mahnte während der Hinunterfahrt den Kutscher unausgesetzt zur Vorsicht. Lucie war gegen die Gefahr vollkommen gleichgültig, ihr wäre es jetzt auch gleichgültig gewesen, wenn der Hemmschuh aufs Neue gerissen und der Wagen hinabgestürzt wäre, sie lag, den Kopf tief in die Polster gegraben, und kümmerte sich um nichts mehr auf der Welt.

Inzwischen fuhr Benedict in entgegengesetzter Richtung weiter, immer tiefer hinein in’s Hochgebirge. Er hatte sich weit aus dem Wagenfenster gebeugt und die freie frische Bergluft umspielte kühl die bleiche Stirn des jungen Priesters, auf der noch die Spuren des letzten Kampfes zu lesen waren. Noch einmal hatte er am Scheidewege gestanden, noch einmal das berauschende Gift jener Nähe gekostet, jetzt war es überwunden! Näher und dunkler stiegen die Berge vor ihm auf, die riesigen Schneehäupter legten sich zwischen ihn und die Versuchung, ihre starren Felswände sollten ihn auf ewig davon scheiden. Er wähnte den Kampf geendigt, wähnte sich hinter Schneegipfeln geborgen, während doch ein junges, heißes Herz wild und glühend in seiner Brust pochte, er kannte noch nicht die Gewalt der echten Leidenschaft, vor der Ferne und Schranken machtlos zusammensinken, die sich mit verheerender Kraft Bahn bricht durch Bergesweiten und durch Menschensatzungen, bis hin zu ihrem Ziele – oder ihrem Verderben!




Mehr als drei Monate waren vergangen, der Sommer hatte Abschied genommen und die Herbststürme brausten rauh und wild über das Gebirge hin. Was nicht jahraus jahrein auf seinen Gütern lebte, machte Anstalt wieder in die Stadt zurückzukehren, und auch auf Schloß Rhaneck traf man Vorbereitungen zur Uebersiedlung der gräflichen Familie in die Residenz; der Graf war ohnehin in der letzten Zeit nicht hier gewesen, schon im vergangenen Monat hatte seine Stellung ihn an die Seite seines Souverains gerufen, von wo er erst jetzt zurückkehrte, nur auf einige Tage, um Gemahlin und Sohn abzuholen.

Er war gleich am Morgen nach seiner Ankunft nach dem Stifte geritten und die Brüder befanden sich wieder im Arbeitszimmer des Prälaten. Wie damals saß der Abt im Lehnstuhl und der Graf stand ihm gegenüber, auf seinen Sessel gestützt, es war dasselbe Gemach mit den dunklen, sammetüberzogenen Möbeln und den schweren purpurrothen Seidenvorhängen, aber es fehlte die Sonnengluth, die damals auf dem Thale ruhte und bis in die geschützten Räume der Abtei drang, es fehlte der Sommerglanz und die Sommerfülle auf der Landschaft draußen, jetzt lag sie düster, nebelumschleiert da und das Gebirge, das einst so duftig blau emporstieg, verschwand heute ganz in den Wolken.

„Nun aber genug von der Politik und der Residenz!“ brach der Graf das eben geführte Gespräch ab. „Ich komme mir Nachrichten über Bruno zu holen. Er ist doch noch in N.? Wie geht es ihm?“

„Er ist gesund!“ erwiderte der Prälat lakonisch.

„Und eifrig in seinem neuen Amte?“

„Sehr eifrig!“

Rhaneck stutzte bei dem Tone. „Was hast Du? Was ist mit Bruno? Soll ich etwa Schlimmes hören?“

„Auf Gutes mache Dich nicht gefaßt.“

Der Graf richtete sich heftig empor. „Nun, was ist’s mit ihm? Ich bitte Dich, rede!“

„Pater Benedict hat all Deine und meine Erwartungen weit hinter sich zurückgelassen!“ sagte der Prälat mit unverkennbarem Hohne. „In den drei Monaten, während welcher er den Pfarrer Clemens vertritt, hat er sich bereits zum Apostel des Gebirges aufgeschwungen und das abgelegene N. zu einem Wallfahrtsorte gemacht, wohin man stunden- und tageweit wandert, und ihn nur zu hören. Er predigt aber auch in der That ganz wundersame Dinge, es bedarf nur noch eines Anstoßes, und unsere Gegenpartei begrüßt ihn als einen der Ihrigen und hebt ihn als solchen auf den Schild.“

„Um Gotteswillen!“ fiel der Graf ihm entsetzt in’s Wort, „und das duldest Du? Warum hast Du ihm nicht Einhalt gethan?“

„Weil ich die Größe der Gefahr verkannte! Für gefährlich hielt ich Benedict immer; daß er mir so schnell, so riesig entwachsen würde, habe ich doch nicht gedacht.“

„Und Du bist nicht eingeschritten?“

„Das Nothwendige ist geschehen,“ sagte der Prälat finster, „aber es ist zu spät geschehen, er hatte Zeit den Zündstoff in’s Volk zu werfen. Ich schonte ihn zu lange, um Deinetwillen und auch um meiner selbst willen, denn ich wollte dem Orden um jeden Preis diese Kraft erhalten. Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen derartigen Fehler beging, er hat sich bitter gerächt.“

„Aber was hat denn Bruno eigentlich begangen?“ fragte der Graf unruhig. „Als ich abreiste, schienst Du ja ganz einverstanden mit seinem Auftreten.“

„Ich war es auch anfangs. Er bestand seine ersten Rednerproben glänzend, etwas zu kühn vielleicht, aber ich hatte es so erwartet und gewünscht. Unsere Art zu predigen hat sich längst überlebt, es nützt nichts mehr, dies starre Festhalten an den alten Traditionen. Wir brauchen mehr als je feurige energische Redner, die es verstehen, sich die jetzige Richtung, vor der das Volk nun [120] einmal nicht mehr zu schützen ist, dienstbar zu machen, um uns in der neuen Zeit die alte Macht zu wahren, und Benedict wäre der Mann dazu gewesen, zumal er die seltene Gabe besitzt, auf die Massen zu wirken und, trotz seiner geistigen Ueberlegenheit, sich in Verständniß mit ihnen zu setzen. Ich sah das mit steigendem Interesse, aber bald ging er zu weit; ich warnte ihn, einmal, zweimal, er ließ sich immer wieder fortreißen; ich beschloß endlich ihn zurückzurufen, denn die Sache wurde mir bedenklich, da kommt er mir zuvor und schleudert am letzten Kirchentage, wo das ganze Gebirge zum alljährlichen Wallfahrtsfeste in N. zusammenströmt, eine Predigt in das Volk, eine Predigt –“ der Prälat ballte unwillkürlich die Hand. „Was hat sich der Tollkopf eigentlich gedacht, als er es wagte, das auf der Kanzel zu sprechen, er mußte doch wissen, daß es ihn in’s Verderben bringt!“

Der Graf entfärbte sich leicht. „Die Rede war – ketzerisch?“

„Schlimmer als das, sie war revolutionär. Die Empörung, die ihm sein Eid verbietet, die predigt er den Anderen, und ich fürchte, es hat bereits gezündet. Die Aelpler da oben sind eine trotzig wilde Race, die wir immer nur mit Noth und Mühe zu zügeln vermochten. Im ewigen Kampf mit ihrer Bergnatur lernen sie den Widerstand gegen Alles, selbst gegen Beichtstuhl und Kirche; der schwachköpfige Clemens hat ihnen allzu viel Willen gelassen, ebenso wie die übrigen Pfarrer, und nun noch dazu ein Lehrmeister wie Benedict – es sollte mich gar nicht wundern, wenn es einmal unter ihnen losbräche, und wenn, während wir hier alle Kräfte anspannen müssen, um die gährenden Elemente niederzuhalten und der immer mehr herandrängenden Bewegung die Stirn zu bieten, sich dort oben der Abfall in Masse vollzieht!“

Der Prälat hatte sich erhoben und schritt in unverkennbarer Erregung im Zimmer auf und nieder, seine ganze Ruhe schien ihn verlassen zu haben, der Graf stützte sich schwer auf den Sessel.

„Und was hast Du hinsichtlich Bruno’s beschlossen?“ fragte er scheinbar gelassen, aber sein Auge folgte unruhig dem auf- und abschreitenden Bruder.

„Ich habe ihm natürlich sofort jedes fernere Predigen untersagt und ihn zur Verantwortung hergerufen. Ich zweifle nicht, daß er gehorchen wird, und erwarte ihn in einigen Tagen; ihn sofort zurück zu fordern, wagte ich nicht, die Bauern hängen mit einer förmlich fanatischen Begeisterung an ihrem Caplan, sie wären im Stande, sich zusammen zu rotten und mit Gewalt zurückzuhalten, ahnten sie, was ihm bevorstände.“

Der Graf zuckte leise zusammen bei den letzten Worten. „Was willst Du thun?“ fragte er gepreßt.

„Was die Ordensregel in diesem Falle befiehlt. Benedict hat das geistliche Gericht herausgefordert, er wird seine ganze Strenge empfinden.“

„Bruder, um Gottes willen, Du wirst doch nicht – ?“

„Was werde ich nicht?“ fragte der Prälat stehen bleibend.

„Meinst Du vielleicht, ich könnte jetzt noch irgend eine Rücksicht walten lassen? Dir freilich ist dieser Bruno von jeher Alles gewesen – Deinen Ottfried hast Du nie geliebt!“

Rhaneck wendete sich ab.

„Daß die Gräfin Dir keine Neigung einflößte, habe ich begreiflich gefunden,“ fuhr Jener fort; „sie war nicht die Frau, die Dich fesseln konnte, und Du brachtest dem Glanz unseres Hauses ein Opfer mit der Verbindung; daß Du aber für den einzigen Sohn und Erben, den sie Dir schenkte, für Deinen Sohn immer nur diese tödtliche Gleichgültigkeit hattest, das ist’s, was ich Dir zum Vorwurf mache, was ich nicht begreifen kann.“

„Ottfried’s verweichlichte egoistische Natur ist mir nicht sympathisch,“ vertheidigte sich der Graf finster, „er trägt meine Züge, aber er hat auch nicht eine Ader von meinem Temperament in sich.“

Der Prälat trat ihm einen Schritt näher und stützte die Hand auf den Tisch. „Ich weiß, wer Dein Temperament hat, wenn er auch Deine Züge nicht trägt! Nimm Dich in Acht, Ottfried! Dies Temperament stürzte Dich einst in endlose Verirrung, aus der nur meine Hand Dich emporriß, es wird auch sein Verderben! Wenn jene Liebschaft Dich früher –“

„Schweig!“ fuhr Rhaneck heftig und drohend auf, „sprich das Wort nicht aus, Du weißt es, Du am besten, daß es eine Ehe war!“

Der Prälat zuckte verächtlich die Achseln. „Eine Ehe! Zwischen verschiedenen Confessionen, im Auslande geschlossen, ohne Einwilligung des Vaters, ohne die in solchem Falle nöthigen Formalitäten! Die Kirche hat diese protestantische Trauung nie anerkannt, das Gesetz erklärte sie später für nichtig!“

„Gleichviel, ich dulde es nicht, daß Du einen Schatten auf Anna wirfst! Sie ward mein vor dem Altar, mir durchs Priesterhand vermählt. Was wußte das achtzehnjährige Mädchen davon, daß das Gesetz bei uns noch andere Formalitäten verlangte? Was ich später that, gezwungen durch die Verhältnisse, getrieben von Deinem unaufhörlichen Drängen, aufgestachelt durch jenes furchtbare Ereigniß, das fällt nicht auf sie, das – mag mir Gott verzeihen!“

Er preßte leidenschaftlich die Hand gegen die Stirn, der Prälat blickte völlig unbewegt auf ihn hin.

„Du thatest, was der Name und die Ehre unseres Hauses gebieterisch von Dir forderten. Was bei dem jungen unbedeutenden Officier in fremden Diensten eine Thorheit war, das wurde zum Verbrechen, als das Schicksal Dich unerwartet zum Erben und Herrn von Rhaneck machte. Warum wagte es das Bürgermädchen, die Hand nach einer Grafenkrone auszustrecken! Sie ging zu Grunde daran! Ein Glück für Dich, daß sie starb, Du hattest ohnehin genug an dem Kinde.“

„Ich habe es ja nie besitzen dürfen!“ brach der Graf in überwallender Bitterkeit aus. „Du fordertest ja den Knaben sofort für die Kirche, Du übernahmst die Sorge für seine Erziehung, seine Ausbildung, kaum, daß ich ihn hin und wieder einmal sehen durfte!“

„Sollte ich ihn Dir vielleicht lassen, damit Deine wahnsinnige Zärtlichkeit für den Buben aller Welt das Geheimniß verriethe, dessen Schleier schon allzu sehr gelüftet war? Welche Stellung hätte er Deiner Gemahlin, Deinem Sohne gegenüber eingenommen? Die Kirche war der einzige Ort, wo seine Geburt gesühnt werden konnte, die einzige Bahn zu Ansehen und Ehre, die Du nun einmal durchaus für ihn haben wolltest. Du weißt, welche Pläne wir mit ihm hatten! Ist es unsere Schuld, wenn er in seiner Verblendung die Hand zurückstößt, die ihn erbeben wollte, und sich in den Abgrund stürzt?“

„Er hat sich in einem unglücklichen Augenblick hinreißen lassen, er wird sich besinnen, wird umkehren –“

Der Prälat schüttelte den Kopf. „Der kehrt nicht mehr zurück, der ist uns unwiederbringlich verloren! Zu sehr hat er sich verrathen – das ist das alte trotzige Protestantenblut, das uns einst die Reformation schuf und uns durch Jahrhunderte zu schaffen machte, es fließt auch in seinen Adern und es rächt sich jetzt dafür, daß wir es in die Kutte gezwungen haben.“

Er nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder auf, Rhaneck folgte ihm und legte wie beschwörend die Hand auf seinen Arm.

„Schone ihn! Noch kannst Du es, denn noch bist Du der alleinige Richter. Schone,“ seine Stimme sank zum Flüstern herab, „mein Blut in ihm, es ist ja auch das Deine.“

„Ich würde Dich nicht schonen, Ottfried, ständest Du mir so gegenüber!“ sagte der Prälat eiskalt. „Du weißt nicht, wie weit er bereits gegangen ist. Da lies,“ er zog rasch aus einer auf dem Schreibtisch liegenden Mappe einige Papiere hervor und hielt sie dem Bruder hin, „hier hast Du seine letzte Predigt Wort für Wort, hier das Verzeichniß der Bücher, in denen er Nachts studirt, der ganze Index ist darauf zu finden!“

Der Graf schob mit einer heftigen Bewegung die Papiere zurück. „Ich sehe wenigstens, daß Ihr ihn hinreichend mit Spionen umgeben habt!“ entgegnete er bitter.

„Traust Du mir im Ernst die Thorheit zu, einen solchen Charakter unbeobachtet zu lassen? Und meinst Du, ich könnte jetzt noch diese Kraft in die Welt hinauslassen, damit sie sich gegen uns wendet? Benedict in den Reihen unserer Gegner ist eine unberechenbare Gefahr: mit seinem Beispiel, mit seiner glühenden Rednergabe wird er Hunderte uns entreißen, er hat den Haß gegen Mönchthum und Kirche auf der hohen Schule studirt – im Kloster selber.“

„Was hast Du vor mit Bruno?“ fragte der Graf in steigender Angst.

Der Prälat lächelte unheimlich. „Lebst Du schon in Todesangst um Deinen Liebling? Beruhige Dich, wir sind nicht mehr im Mittelalter; die Zeit ist vorbei, wo man ungehorsame Mönche einmauerte oder mit der Folter zum Widerrufe zwang, wir müssen der weltlichen Macht jetzt Rechenschaft ablegen über jedes Mitglied

[121]

Am Sarge Grillparzer’s am Abend des 24. Januar 1872. Nach der Natur aufgenommen von H. Fritzmann.

[122] unseres Ordens, sie hat uns die Grenzen eng genug gezogen.“

„Ich weiß es,“ sagte Rhaneck düster, „aber ich weiß auch, daß Ihr Mittel genug habt, Eure Opfer dieser weltlichen Macht zu entziehen. Ihr erklärt es einfach für wahnsinnig und laßt es dann aus den Augen der Menschen verschwinden. Der Vorwand deckt ja jede Grausamkeit, jede Körper- und Geistesfolter. Wie viele von denen, die Ihr für wahnsinnig ausgebt, waren es wirklich, wie viele wurden es erst unter Euren Händen? Sprich mir nicht von der Barmherzigkeit der Klöster! Ich frage Dich noch einmal, was willst Du thun?“

Der Prälat sah ihn an, es war ein eisiger, mitleidloser Blick. „Was ich auch über Benedict beschlossen habe, Du wirst mich an Nichts hindern. Du begabst Dich Deiner Rechte auf ihn, als Du ihn der Kirche weihtest, das Mönchsgelübde zerreißt jedes andere weltliche Band. Jetzt gehört er mir, seinem Abte, und ich werde mit ihm verfahren, wie es mir gut dünkt.“

„Nun und nimmermehr!“ rief der Graf auflodernd. „Ich dulde es nicht, daß er geopfert wird! Zu viel schon habe ich mich von Dir leiten lassen, zu oft schon mich Deinem starren Willen gebeugt, aber jetzt stehen wir an der Grenze. Ich sage Dir, rühre mir Bruno nicht an, oder ich nehme vor aller Welt mein Recht in Anspruch, ihn zu schützen, und gebe Dich und Dein ganzes Kloster preis!“

Der Prälat trat zurück, auch auf seiner Stirn erschien jetzt die Falte, die längst drohend auf der Rhaneck’s stand, aber seine Stimme klang noch in vernichtender Ruhe.

„Du bist von Sinnen, Ottfried, sonst würdest Du mir nicht so drohen. Wer wird in solchem Falle preisgegeben? Bin ich es etwa, dessen Name und Ehre auf dem Spiele steht, wenn Du eine Sache an’s Licht ziehst, die jetzt schwerlich so beurtheilt werden würde, wie vor fünfundzwanzig Jahren? Versuche es doch, entdecke Dich zuvörderst Deinem Bruno – die erste Frage wird nach seiner Mutter sein!“

Der Graf erbleichte, langsam ließ er die drohend erhobene Hand wieder sinken.


(Fortsetzung folgt.)




Der gefrorne Bodensee.


Von Dr. Magg in Constanz.


Der Winter dieses Jahres, der so streng begonnen und die Welt so frühzeitig in seine eisigen Ketten und Banden geschlagen hatte, hat nach der Hand doch ein so mildes und lobenswerthes Regiment geführt, daß ihm vor Allem die wackern Schlittschuhläufer, deren kunstgeübte, stahlbeschwingte Schaar sich mit jedem Jahre in der erfreulichsten Weise mehrt, gar nicht Dank genug sagen können.

Da mag es mir denn in diesen Tagen vergönnt sein, in der weit verbreiteten Gartenlaube einem interessanten, sehr seltenen, von mir selbst als Augenzeuge erlebten Naturereigniß (ich war damals zweiunddreißig Jahre alt) ein kleines, nur in der Gestalt eines Genrebildes dargestelltes „Denkmal“ zu setzen, welches die verehrten Leser und Leserinnen mit einigem Wohlgefallen betrachten mögen.

Der Bodensee, der im (südwestlichen) Garten unseres deutschen Vaterlandes gelegene Landsee, dem eine frühere Zeit den prächtigen Namen des „schwäbischen Meeres“ zu ertheilen pflegte, liegt 12231/10 Pariser Fuß über der Nordsee (nach Andern 1164 bis 1199) und hat sechsundzwanzig Meilen im Umfang. Seine Länge beträgt von der südlich gelegenen österreichischen Stadt Bregenz bis zu dem nördlichen Ende bei dem badischen Dorf Sernatingen, jetzt Ludwigshafen, fünfzehn badische oder achtzehn würtembergische Stunden. Seine Breite ist sehr verschieden, und beträgt von Friedrichshafen (Würtemberg) bis Rorschach (Schweiz), wo er am breitesten ist, bei fünf badische oder sechs würtembergische Stunden. Seine Tiefe ist ebenfalls verschieden, und mißt eine Stunde von Arbon (Schweiz), in der Breiterichtung gegen das Schloß Hofen bei Friedrichshafen, wo er am tiefsten ist, tausendzweiundfünfzig Fuß.

Und diese ganze weite, prachtvolle Fläche zeigte sich im strengen Winter 1829 bis 1830 mit nur wenigen kleinen Unterbrechungen vollständig zugefroren.

Theilweise gefriert der See wohl alle Jahre zu, z. B. an seinem westlichen Ende bei der Stadt Radolfzell und Reichenau, und es finden sich über das stückweise Zufrieren in den Städtechroniken viele Aufzeichnungen seit dem Jahre 574; aber das Phänomen auf der ganzen Ebene kommt in den Chroniken während der seither verflossenen 1256 Jahre nur sechs Mal vor, und zwar in den Jahren 1363, 1435, 1573, 1695 (in diesem Jahr am vollständigsten), 1709 und 1830.

Das Ueberfrieren einer so großen Wassermasse richtet sich nicht blos nach dem zunehmenden Grade der Luftkälte. Letztere muß allerdings wochenlang anhaltend sein, was auch im Januar 1830 der Fall war; allein es gesellten sich damals zwei Erscheinungen zu ihr, welche das Ereigniß wesentlich bewirken halfen. Anfangs Januar 1830 peitschten die rauhen Nord- und Ostwinde bei hellem Wetter das Wasser in mächtigen Wogen durcheinander; doch schon nach den ersten acht Tagen hörten die scharfen Winde allmählich auf, der See wurde ruhiger und auf ihm lagerten sich fortwährend düstere Nebel, welche sich mit dem Wasserspiegel vermengten und denselben in Eis verwandelten.

Die Dicke der Eisdecke wurde auf verschiedenen Punkten gemessen. Das Resultat war:

Auf  10,000  Schuh  von  Uttweil  an  6½  Zoll;
15,000 5
20,000 4
30,000

Das Thermometer stand in einer Entfernung von:

5000  Schuh  vom  Uttweiler  Ufer  auf  18  Grad,
20,000  21 

Das Eis lag von seiner Entstehung – zweiten und dritten Februar bis zum Vergehen gegen die Mitte März – auf der Oberfläche des See’s auf; dieser bildete daher eine das Brechen des Eises verhindernde Grundlage, auf der es schwamm, da es bekanntlich specifisch leichter ist, als das Wasser.

Als die Unterlage durch das allgemeine Abnehmen der Höhe des ganzen Sees aufhörte, versank das Eis in wenigen Tagen spurlos gerade hinab in die Tiefe, ohne an den Ufern Zerstörungen anzurichten. Auf diese Weise entstand und endete das Phänomen.

Um aber meine Eingangs erwähnte Bezeichnung eines „Denkmals“ zu rechtfertigen, genügt es nicht, das Beispiel nachzuahmen, welches – nach einer im Volksmunde gehenden Sage – bei einer weit frühern ähnlichen Katastrophe der weise Rath eines Seeortes dadurch gegeben haben soll, daß er „zum ewigen Angedenken“ die Jahreszahl auf das Eis eingraben ließ, sondern es liegt mir ob, zu erzählen und zu schildern, was sich von dieser denkwürdigen Thatsache nur erzählen und schildern läßt.

Am Morgen des 2. Februar 1830 war die sonst so liebliche Wasserfläche in einen undurchdringlichen Nebel eingehüllt, den die Sonne erst gegen Mittag zu durchbrechen vermochte. Nun aber erkannte man auch überall, daß das von der Fama schon aller Orten verbreitete Gerücht: „Der See sei zugefroren,“ sich bestätige. Von allen Seiten strömten die Uferbewohner an die Gestade und betrachteten mit Staunen die überraschende Verwandlung ihres jugendlichen Lieblings in einen leblosen Greis; denn in solcher traurigen Gestalt lag der sonst lustbringende See, soweit das spähende Auge reichte, vor ihren mit Wehmuth erfüllten Blicken.

Aber bald verwandelte sich die düstere Gemüthsstimmung der „Seehasen“ (so nennt das Sprüchwort die Bewohner der deutschen Seeufer) in die Regung des Muthes der „Seelöwen“.[1] Jung und Alt wagte sich hinaus auf die schaurige Fläche. Der Erste, den ich in Ueberlingen sprach, war ein Schiffknecht aus dem am westlichen Ufer gelegenen Orte Dingelsdorf, ein geborener Reichenauer. Das in seiner Heimath heute noch bestehende Sprüchwort: „Wenn das Eis einen Handschuh trägt, so trägt es auch einen Auer,“ hatte [123] ihn besorgt gemacht, und sein Ehrgefühl, der Erste zu sein, sowie die Gewißheit einer Belohnung trieben ihn an, den ungebahnten, gefahrvollen, drei Viertelstunden langen Weg von Dingelsdorf nach der von dort etwas nördlich gelegenen Stadt Ueberlingen unter die Füße zu nehmen und zwar nicht auf Schlittschuhen. Er unternahm das Wagstück am Morgen des 2. Februar vor zehn Uhr in leichter Knechtskleidung vom Kopf bis zu den Füßen, die Hände mit Handschuhen angethan und mit einer langholmigen Axt bewaffnet. Die Handschuhe bestanden aus starkem, mit grober dicker Wolle gefütterten Zwillich; derlei wiegen aber zusammen drei bis dreieinhalb Pfund, und werden auf Segelschiffen gewöhnlich vom Steuermann getragen; nur mit dem Daumenfinger versehen, sind sie so groß und weit, daß der sie tragende Mann Hände und Finger darin leicht bewegen, den Axtholm mit ganzer Kraft umfassen und nach Erforderniß dirigiren kann. Langsam und bedächtig beschritt unser Held das Eis, stellte den einen Fuß fest auf dasselbe und schritt mit dem andern vorsichtig vorwärts, untersuchte mit demselben die Eisdecke, prüfte sie durch einen Schlag mit der Axt, und warf sodann einen Handschuh einige Schritte weit vor sich hin, dann zog er den andern Fuß an sich, und setzte so dieses Manöver fort, bis er den Weg zurückgelegt hatte. Diesen langsamen bedächtigen Marsch lehrte ihn die Erfahrung. Er kannte von Jugend auf die eigenthümliche Beschaffenheit des Sees und wußte, daß aus seiner Tiefe quellenförmige Aufsprudelungen des Wassers stellenweise durch das Eis heraufdringen und es in Spalten zertheilen, die man entweder überspringen oder umgehen muß; ebenso wußte er, daß das Eis nicht überall gleich dick, sondern da und dort so laubdünn sei, daß es nicht einmal einen Schifferhandschuh, geschweige einen „Auer“ trage, weshalb eine so genaue Sondirung in der absoluten Nothwendigkeit liege. – Konnte er denn – hör’ ich ängstlich fragen – nicht Vorsichtsmaßregeln treffen? einen Kahn vor sich herschieben? oder einen Begleiter mit sich nehmen? – Das Erste nicht, weil ein Kahn doppelte Aufmerksamkeit erfordert und ihn im Laufe verhindert hätte, zumal wenn derselbe eingefroren wäre; auch konnte ein Muthvollerer als er ihn um Rang, Ehre und Belohnung bringen; das Zweite nicht, weil nur Einer der Erste sein konnte, und er diesen Vorzug und diese Berühmtheit keinem Andern gönnte, sondern die Eiskrone auf seinem Haupte wollte glänzen lassen.

Um elf Uhr Vormittags trat der junge Mann wohlbehalten, mit Handschuhen und Axt versehen, in den städtischen Rathhaussaal (mein damaliges Arbeitslocal) zu Ueberlingen und präsentirte sich mir als den ersten classischen Zeugen des eingetretenen Ereignisses. Der umständlichen Erzählung seiner gewagten Fußreise auf dem See fügte er schließlich die Bitte und Behändigung der in solchen Fällen uralt herkömmlichen Ehrengabe eines Kronenthalers aus der Stadtcasse bei (diese Ehrengabe ist wirklich durch Rathsbeschluß vor Jahrhunderten dem Ersten zugesagt), nach dessen Empfang er sich dankend entfernte und – wohl nicht ohne vorher eine Erfrischung eingenommen zu haben – seinen Heimweg antrat, den er wie den Herweg, auf die gewohnte Weise, muthig und vorsichtig zurücklegte.

Auf den von seinen Tritten zurückgelassenen Spuren wurde nun alsbald von Amtswegen eine sichere ziemlich breite Straße gebahnt und auf derselben beiderseits durch Stangen die Grenze bezeichnet, innerhalb welcher man bei Strafvermeidung das Eis sollte begehen dürfen. Aber die polizeilichen Vorschriften haben alle und überall das gleiche Schicksal: sie werden befolgt von elf Uhr bis Mittag; und Feuerbach hat mit Scharfsinn sein System des Strafrechts auf den psychologischen Grundsatz gebaut, daß die Lust zur Begehung von Vergehen und Verbrechen größer sei, als die Furcht vor Strafe. Kaum war das Mittagsmahl genossen, so trieb die Neugierde alle Uferbewohner, die gehen oder doch hinken konnten, hinaus auf die weite Ebene, welche nunmehr während der ganzen Dauer des Gefrierens nicht nur bei schönem Wetter zum Tummelplatz des Vergnügens, sondern auch täglich zum Betrieb aller jener Geschäfte diente, die sonst mittelst der Schiffe besorgt wurden. Kaufleute erhielten und versendeten Waaren auf Schlitten, von Menschen und Thieren gezogen, über den See. Die auf Ueberlingens großem Markt gekauften Früchte aller Art wurden auf diese Weise sogar bis Uttweil geführt. Von dort bis Immenstadt (ein badisches Dorf unweit Friedrichshafen), also in einer bedeutenderen Tiefe, ließ sich eine Gesellschaft auf einem Schlitten hin- und herziehen, jedoch nur von „Schuhmachers Rappen“ (d. h. von Männern), und nicht von Rossen. Weiter unten fuhr aber auch ein kühner Mann von Unteruhldingen[WS 1] (badisches Dorf), wie ich selbst sah, auf einem Schlitten von zwei rüstigen Pferden gezogen, nach der wunderschönen Insel „Mainau“, die bekanntlich gegenwärtig ein überaus reizendes Besitzthum des Großherzogs Friedrich von Baden bildet und etwa drei Viertel Stunde weit entfernt liegt.

Von den vielen auf dem ganzen See stattgefundenen Vergnügungspartien und anderen Vorkommnissen sollen hier nur einige angeführt werden, die des Andenkens werth und der allgemeinen Teilnahme entsprechend sein dürften.

Die Schnee- und Eisfreuden der Schuljugend, das Jagen der Schlittschuhläufer, die Fahrten pelzverbrämter junger Damen mit dem obligaten galant-homme am Schlitten-„Schalter“, das bunte Gemisch neugieriger Spaziergänger, das langsame Fortschreiten bedächtiger Eheleute, das eifrige Drängen liebender Paare durch die ihnen gefühllos erscheinende Menge – das Alles gehört zu den gewöhnlichen Eisbelustigungen, die man sich auf dieser ausgedehnten Fläche nur recht massenhaft vorzustellen braucht, um sich ohne schriftstellerische Beschreibung ein sprechendes Bild von dem ergötzenden Durcheinander machen zu können. In diesen Tagen fehlten aber auf dem See auch die Musikbanden nicht, selbst Gesangvereine ließen sich in dem bunten Treiben hören und überall waren zahlreiche Buden errichtet, die verführerisch zum Genusse von Speisen und Getränken verlockten.

Doch leider ward auch die Gewalt des Seegottes offenbar. Unter dem Eise gefangen gehalten mochte er über die auf seinem Elemente fröhlich umherwandelnden Menschen zürnen und verlangte Opfer von ihnen, die ihm auch zu Theil wurden, wenngleich zum Glück nur in geringer Zahl. Er öffnete die tiefen Schleußen im See, aus dem, wie schon oben angeführt, Quellen heraussprudelten und das Eis an manchen Orten in Spalten zertheilten, in welche Unvorsichtige hineinfielen, um unter dem Eise spurlos zu verschwinden. Solche Vorkommnisse waren natürlich nur geeignet, die allgemeine Lust wenigstens zeitweise zu dämpfen und zu mildern. Nachdem jedoch der erzürnte Gott durch einige Opfer versöhnt schien, gestattete er die Rettung kühner Jünglinge, die durch einen gewagten Sprung über die Spalte seiner Gewalt zu entrinnen hofften, und begnügte sich damit, dieselben, wenn sie in’s Wasser gefallen und vom Eise überglast herausgezogen waren, dem Spott der umherstehenden Zuschauer zu überlassen.

Hiermit wäre denn durch meine Erzählung Alles gethan, was ich vermochte, um die Erinnerung an das geschilderte denkwürdige Ereigniß dauernd zu bewahren; es fehlt nur noch die Beurkundung. Diese sollte – wie mir erzählt wurde – nach der scherz- und ernsthaften Ansicht einer Anzahl von Ortsbewohnern ebenfalls auf dem Eise protokollarisch aufgenommen und das Protokoll aufbewahrt werden. Die Beschließenden begaben sich auf’s Eis, wählten einen Vorsitzenden, und dieser ernannte seinen Sohn, einen Schönschreiber, zum Schriftführer. Derselbe setzte sich auf Eisschollen an einen herbeigetragenen Tisch und verfaßte die Urkunde, umgeben von vielen neugierigen Spaziergängern, welche der Arbeit beifällig zusahen. Inzwischen ward das kurze Protokoll gefertigt; der Schriftführer las es laut vor; es wurde von mehreren Anwesenden unterzeichnet, worauf es der Schreiber sandete – aber unglücklicherweise mit der Tinte. Die Stirn des etwas heftigen Vaters legte sich in Falten; doch bewältigte er den Unmuth und befahl dem erschrockenen Sohn kurz und ernst: „Schreib’s noch emal!“

Es geschah sogleich. Aber wenn das Schicksal einen Menschen zum Schicksal seiner Laune erkoren hat, so – läßt es ihn auch zum zweiten Male mit der Tinte sanden, wie es denn wirklich dem unseligen Schriftführer begegnete. Einen Augenblick herrschte allgemeine Stille; in diese hinein aber rief der zornige Vater mit Stentorstimme: „Hochgeehrte Anwesende! Sehen Sie, dieser Talkenbacher[2] ist mein Sohn!“

Nun erscholl ein allgemeines Gelächter; der beschämte Schriftführer packte betrübt seine Papiere zusammen; die Anwesenden zerstreuten sich; eine Eis-Urkunde aber kam nicht zu Stande.


  1. Diesen Ehrentitel gaben in der zweiten badischen Kammer des denkwürdigen Landtags von 1831 die Deputirten des Unterlandes uns Abgeordneten aus dem Seekreise. Von den dreiundsechszig Kammermitgliedern leben zur Zeit noch unser Fünf.
  2. Mit diesem Titel bezeichnet der Volksmund hier zu Lande einen ungeschickten Menschen. Stammwort: vertalken – etwas Gelungenes mit Talg – Talk – übergießen – durch Ungeschicklichkeit verderben – schlechtes Brod backen (provinziell: bachen).




[124]
Der Prinz von Erie.


Ein amerikanisches Charakterbild von L. Brentano.[1]


In Vermont, dem Staate der grünen Berge, lebt eine Bevölkerung, die den Typus der eigentlichen Yankees bewahrt hat. Das Land ist nur stellenweise zum Ackerbau geeignet und bietet daher für die Einwanderung nicht viel Anziehendes dar. Die Einwohner treiben hauptsächlich Handel mit den anderen angrenzenden Neu-England-Staaten und mit Canada; erscheint ihnen hierzu der Raum zu eng, so wandern sie nach den anderen Staaten in allen Richtungen aus. Im Allgemeinen ist der Neu-Engländer nüchtern und fleißig. Ein geborener Geschäfts- und Handelsmann, oder jedenfalls von frühester Jugend an zum „Geschäfte“ erzogen, ist er schlau berechnend und auf Gewinn und Erwerb versessen, ohne aber ängstlich an dem Erworbenen festzuhalten. Der Amerikaner will die Früchte seiner Arbeit genießen, und da sich ihm die Gelegenheit zu erwerben oft und leicht bietet, so findet das verdiente Geld auch wieder seinen Weg in die verschiedenen Canäle des Verkehrs. Darum ist der Amerikaner auch in der Regel freigebig. Das Geldausgeben selbst ist ihm ein Genuß, und einer der Endzwecke des Erwerbes ist ihm die Möglichkeit es auszugeben. Wohlthätigkeit ist daher eine von den Amerikanern vorzugsweise gepflegte Tugend, wenn sie sich auch manchmal bei dem Ungebildeten in einer prahlerischen oder gar verletzenden Form kundgiebt.

In einem lieblichen, friedlich stillen Thale des Staates der grünen Berge, an den Ufern des Connecticut-Flusses, lebte in dem Städtchen Battlebow James Fisk, ein Yankee, der neben einer kleinen Landwirthschaft des Gewerbe eines reisenden Handelsmannes, Pedlar genannt, betrieb, und hier wurde James Fisk der Jüngere geboren, über dessen gewaltsames Ende und pomphafte Bestattung noch jetzt die politischen und illustrirten Zeitungen Nordamerikas mit Berichten und Bildern angefüllt sind; er ist’s, der durch seine Laufbahn vom Hausirer bis zum Beherrscher großer Eisenbahnmonopole, durch sein Leben und seinen Tod, uns zum Vorwurfe eines amerikanischen Charakterbildes dienen soll.

Ein Charakter wie James Fisk der Jüngere kann nur in der großen amerikanischen Republik unter den dortigen großartigen Verhältnissen sich entwickeln, und auch dort treten solche Menschen nur vereinzelt in so grotesker Gestalt hervor, wie dies James Fisk that. Aus seiner ersten Jugendzeit pflegte er gern ein Vorkommniß zu erzählen, welches zeigt, wie Schlauheit und Ueberlistung als ein Mittel zur Erziehung angewendet wird. Der junge James stand eines Morgens in dem Stalle, in welchem sein Vater eine Reihe stattlicher Kühe angebunden hatte.

„Könntest Du wohl diesen Stall reinigen, mein Sohn?“

„Ich habe es noch nie gethan,“ war die Antwort.

„Siehe hier diesen blanken Silberdollar; diesen sollst Du erhalten, wenn Du die Arbeit vollbringst.“

Welcher Yankee-Knabe könnte dem Reize eines blanken Dollars widerstehen? James ergriff die nöthigen Werkzeuge, und schweißtriefend meldete er, daß das Werk gethan sei.

„Ei, das ist ja charmant,“ sagte der Vater, indem er die versprochene Belohnung ausbezahlte, „ich sehe, Du kannst es thun, und von jetzt an wirst Du es jeden Tag thun.“

Das Geschäft des älteren Fisk hielt ihn natürlich viel von Hause entfernt, und daß unter diesen Umständen die Erziehung des Jungen in wissenschaftlicher Beziehung eine äußerst mangelhafte war und Herz und Gemüth wenig Ausbildung erhielten, ist erklärlich; und doch war das Feld gut und ein rechtzeitig eingestreuter Same hätte zu schönen Früchten berechtigt. Was ihm an Bildung abging, ersetzte er durch scharfen Verstand, und trotz eines sehr dehnbaren Gewissens und des Mangels an Moral und wahrer Ehre kamen doch die guten Eigenschaften seines Herzens, Großmuth und Wohlthätigkeitssinn, oft zum Durchbruch.

James Fisk der Jüngere folgte dem Gewerbe seines Vaters, allein die Art des Geschäftsbetriebes des Letztern erschien ihm zu kleinlich, und so ließ er sich denn einen bei den amerikanischen „Pedlars“ gebräuchlichen, aber mit auffallend grellen Farben bemalten und mit Goldlack geschmacklos übertünchten Wagen anfertigen, in dem er, mit vier Pferden bespannt, in den Ortschaften und auf den Farmen herumfuhr, seine Waaren, die er in großer Auswahl mit sich führte, zum Verkaufe ausbietend. Seinem über diese Extravaganz des Sohnes erschreckten Vater bot er – Anstellung in seinem Geschäfte an, legte ihm aber an’s Herz, durch dieses ihm bewiesene Zutrauen sich ja nicht zu Hochmuth verleiten zu lassen. Uebrigens hat er in seinem kurz zuvor, ehe die Kugel seines Mörders ihr Werk vollendete, verfaßten Testamente seinem Vater und seiner Mutter eine bedeutende lebenslängliche Rente ausgesetzt und dadurch bewiesen, daß er „Vater und Mutter ehrte“. Aus seiner Hausirerlaufbahn, die eine höchst erfolgreiche war, und die ihm den Weg zu seinen späteren finanziellen Erfolgen bahnte, nur eine Anekdote: Eine alte Frau, welche von Fisk, Vater, ein baumwollenes Halstuch um einen Schilling – den achten Theil eines Dollars – gekauft, beschwerte sich bei dem Sohne, daß sie übervortheilt worden sei. James betrachtete die Waare aufmerksam von allen Seiten und that nach langem Besinnen den Ausspruch: „Nein, liebe Frau, für einen Schilling sagt mein Vater keine Lüge; für einen Dollar würde er wohl ohne Zögern deren acht sagen!“ Es war der eigene Charakter, den James Fisk hier schilderte; auch er betrog nur – um Hunderttausende und um Millionen.

Der Krieg der Union gegen die Rebellenstaaten beendigte die Hausirer-Laufbahn unseres Helden. Der Speculation öffnete sich jetzt ein weites Feld, und James Fisk war nicht der Mann, eine solche Gelegenheit zur Erwerbung von Reichthümern ungenützt vorübergehen zu lassen. Durch seine Energie und Geschäftsgewandtheit hatte er die Aufmerksamkeit des Handlungshauses in Boston, bei welchem er seine Waaren einkaufte, auf sich gezogen. Dieses ließ sich mit ihm in Speculationen ein, die oft der gewagtesten Art waren, allein sie glückten und nach wenigen Jahren zog Fisk sich mit einem Vermögen von hunderttausend Dollars aus dieser Verbindung zurück. Mit diesen Mitteln ausgerüstet, verlegte er den Schauplatz seiner Thaten nach New-York, wo nun in Wall Street, der Straße für legitime und illegitime Geld- und Börsengeschäfte, ein Schild anzeigte, daß der künftige Beherrscher der New-York- und Erie-Eisenbahn sich mit Wechsel- und Actiengeschäften befasse.

Wenn Jemand fragt, ob eine Geldanlage in diesen oder jenen amerikanischen Eisenbahnpapieren sicher sei, so darf man nur antworten: so lange als die Verwaltung der Bahn sich in ehrlichen Händen befindet. Bei einer schlechten Administration sind die wohlfeilsten Papiere zu theuer, und wenn die Bahn auch noch so rentabel ist. Im Jahre 1866, zur Zeit als Fisk seine Finanzoperationen begann, standen die Erie-Eisenbahn-Actien niedrig; und doch repräsentirte diese Bahn, welche von New-York an der südlichen Grenze des Staates denselben in seiner ganzen Breite durchläuft und in dem Hafenplatze Dunkirk am Erie-See ausmündet, ein Capital von sieben Millionen Pfund Sterling, mit einer Brutto-Einnahme von drei Millionen! Hier war eine goldene Gelegenheit zur Speculation.

Die sonst so vorsichtigen englischen Capitalisten kauften massenweise; auch James Fisk kaufte; aber während Jene fern waren, stand Fisk in der Nähe. Sein Zweck war nicht gewöhnliche Speculation; er hatte ein höheres Ziel, Mitglied des Directoriums zu werden, die Verwaltung der Bahn, ja diese selbst an sich zu reißen. Dazu bedurfte es vor allen Dingen vieler Actien und mächtiger Verbindungen mit finanziellen und politischen Größen. In Daniel Drew, einem Director der Bahn, und in Jay Gould, einem Börsenspeculanten, dessen Gewissen eine ebenso weite Spannkraft hatte, wie jenes von Fisk, fand dieser die finanziellen, in Tammany, einer demokratischen Verbindung oder engstverbrüderten Genossenschaft New-Yorks, die ihre mächtigen Arme über den ganzen Staat ausstreckte, die politischen Bundesgenossen; an der Spitze der letzteren stand der berüchtigte William Tweed, dessen Thaten jetzt in den Criminalgerichtshöfen an’s Licht gezogen werden sollen. Es war ein [125] würdiges Kleeblatt, die Herren Drew, Fisk und Gould, welche nun im Directorium thronten und die Gewalten eines Executiv-Comités sich anzueignen gewußt hatten. Eine Mehrausgabe von sechzigtausend Actien war die erste That, durch welche sie sich bemerkbar machten. Zwar kamen sie diesmal noch mit der Justiz in Conflict und sie wurden genöthigt, für einige Zeit jenseits des Hudson-Flusses auf dem Boden von New-Jersey ihren Wohnsitz aufzuschlagen, wohin die von den Civilgerichten New-Yorks erlassenen Verhaftsbefehle nicht reichten; denn noch war die Verbindung mit der „Tammany“ nicht abgeschlossen, und lieferte diese somit auch noch keine willfährigen Richter; auch beobachtete sie noch das wachsame Auge des Millionärs Vanderbilt, der im Besitze von hunderttausend Actien der Bahn war.

Bekanntlich wird in Amerika der Sonntag sehr heilig, puritanisch heilig gehalten. Ein Civil-Verhaftsbefehl darf am „Sabbath“ nicht vollzogen werden, und so konnten die Flüchtlinge an diesem Tage ihr „Fort Taylor“, wie der Volkswitz ihr bescheidenes Hôtel in Jersey City benamset hatte, verlassen und in New-York mit ihrem Hauptgegner über Frieden unterhandeln. Und dieser Friede kam zu Stande. Die Haupt-Actionäre, worunter Vanderbilt und Drew, verkauften ihre Actien an Fisk und Gould, und diese zahlten mit dem Gelde, das sie der Schatzkammer der Compagnie entnahmen.

James Fisk und Jay Gould waren jetzt im factischen Besitze der Eisenbahn. Eine solche Corporation, in deren Dienste fünfzehntausend Angestellte und Arbeiter stehen, ist in der Republik eine Macht. Mit „Tammany“ war jetzt ein Bündniß zu schließen. Dafür lieferte dieses gefügige und gefällige Gesetzgeber. Durch Beide zusammen wurde jede Controle durch die Actionäre ausgeschlossen. Die durch den Einfluß von „Tammany“ gewählten Richter sanctionirten die ungesetzliche Actien-Emission, und die Legislatur sorgte durch Gesetze dafür, daß Fisk und Gould von ihren Sitzen im Directorium nicht leicht entfernt werden konnten.

So weit haben wir es mit zwar grotesken, aber doch trockenen Finanz- oder Schwindel-Operationen zu thun, die wir in ihren Einzelheiten schon aus dem Grunde nicht verfolgen können, weil sie nur in ihren großen Resultaten an das Tageslicht traten. Doch auch die Romantik soll in unserm Gemälde nicht fehlen, und selbst die Tragödie wird die Bühne beschreiten, ehe der Vorhang über das Bild herabfällt.

James Fisk und sein Genosse kauften das New-Yorker Opernhaus, einen aus weißem Marmor aufgeführten Palast, nebst den daranstoßenden Gebäuden um vierzigtausend Pfund Sterling; die inneren Räume wurden mit fürstlicher Pracht ausgestattet. Hier wurden die Geschäftszimmer der Eisenbahnverwaltung eingerichtet, in denen Intriguen geschmiedet, Speculationen erdacht und Schwindeleien jeglicher Art verabredet wurden. Von diesem Hauptquartier aus ergingen die Befehle an die Börsenwerkzeuge, um die Actien der Erie-Bahn fallen oder steigen zu machen. Heute machte man gemeinschaftliche Sache mit den „Bullen“, welche die Papiere in die Höhe trieben, morgen mit den „Bären“, die sie herabzudrücken suchten.

Betrachten wir uns nun einmal die äußere Erscheinung der beiden Persönlichkeiten, welche sich in den Prunkgemächern des Opernhauses niedergelassen, die von hier aus die Fondsbörse dirigirten und in diesen mit orientalischem Luxus ausgerüsteten Zimmern Orgien feierten, wie sie in den dem Verfalle des römischen Reiches vorangegangenen Zeiten an der Tages- und Nachtordnung waren. Der Colonel Fisk – ein militärischer Titel ist in Amerika ein unentbehrliches Attribut, und Fisk war Oberst des neunten New-Yorker Milizregimentes – war ein Mann von hoher Gestalt, rohem Aussehen, blühender Gesichtsfarbe, „äußerlich und innerlich einem Metzgerburschen ähnlich“ – wie sich ein amerikanisches Monatsheft ausdrückt –, sehr gesprächig, großthuerisch, dabei voll Yankee-Humor und Witz. Seine Schulbildung war so mangelhaft, daß er selbst die Liebesbriefe an seine „Josie“ durch seinen Privatsecretär schreiben lassen mußte. Als ein Theil derselben nach seinem Tode in dem New-Yorker „Herald“ abgedruckt wurde, höhnte ein Blatt: „Seither war Fisk als ein Speculant, Eisenbahndirector und Impressario bekannt; diese Briefe erheben ihn in den ersten Rang der Briefschreiber, an die Seite von Plinius, Madame de Sevigny und Lady Montague. Allein unglücklicher Weise, als man ihm gerade diese hohe Stellung in der Literatur anweisen wollte, wurde entdeckt, daß diese Briefe durch seinen Privatsecretär geschrieben wurden. Wie jener englische Höker sich ‚einen Poeten hielt‘, so hat sich der Magnat von Erie einen maître des belles lettres gehalten, der das delicate Amt hatte, die Liebescorrespondenz zu führen.“ – Sein Freund Jay Gould ist von kleiner, feingebauter Gestalt, sein Teint ist blaßgelb, die Gesichtsbildung etwas orientalisch. Im Gegensatze zu seinem lärmenden geschwätzigen Genossen ist er zurückhaltend, wortkarg und verschlossen. In das Innere der Gemächer dringt kein Unberufener ein, und selbst der mit einem gerichtlichen Befehle bewaffnete Sheriff könnte das Heer wohlgeschulter Diener nicht durchbrechen, jedenfalls nicht eher, als bis der, den er suchte, nicht mehr zu finden wäre. Diese Gemächer stehen mit den Opern- und Theatersälen in Verbindung, um den Damen des Theaters, dessen Direction der Prinz von Erie selbst übernommen und welches ihm sein Harem lieferte, den Zutritt zu vermitteln. So führte James Fisk in der Republik das Leben eines Sultans oder mindestens das eines mächtigen Pascha. Die Erie-Bahn war sein Paschalik, Tammany lieferte ihm die Kadis, Oper und Ballet die Odalisken und die Börse die Mittel zu sardanapalischen Lüsten und lucullischen Mahlen. Da führte ihm das Geschick zwei Personen entgegen, deren Bekanntschaft für ihn verderblich werden sollte. –

Josephine Mansfield ist eine geschiedene Ehefrau, von der in Amerika häufigen Sorte der Laura Fairs in San Francisco, welche die Männer wechseln wie die Handschuhe, sich erforderlichen Falles Dutzend Male scheiden lassen oder, wenn diese Formalität nicht erforderlich ist, den Liebesknoten nach Belieben auflösen, sobald eine andere Neigung mit besserer Aussicht auf Geldgewinn dies wünschenswerth macht. Sie greifen aber auch zur Pistole, um jede Verletzung ihrer „heiligsten Gefühle“ in dem Blute des Mannes zu rächen, dem sie für seine offene Börse die Arme geöffnet hatten, und sind gewöhnlich sicher, eine Jury von zwölf „intelligenten“ Männern zu finden, welche sich überzeugen lassen, daß die schöne Mörderin – häßliche finden auch vor amerikanischen Geschworenen keine Gnade – gerade im Augenblicke der That, weder einen Moment vorher noch nachher, unzurechnungsfähig war. Josephine, als sie von ihrem Gatten, einem gewissen Lawler, geschieden war, befand sich in sehr mißlichen Verhältnissen; das Kleid, das sie trug, war ihr einziges, ihr bestes. Sie mußte also das Pfund, das ihr verliehen war, zu verwerthen suchen, und dieses Pfund – war sie selbst, der Körper ohne Seele. Sie that einen glücklichen Wurf, als sie ihre Augen auf den Prinzen von Erie warf, den Mann mit voller Börse und von sinnlicher Gluth, den sie denn auch mit dämonischer Gewalt festhielt, bis er, getroffen von der Kugel eines glücklichen Nebenbuhlers, in den Armen seiner Gattin den letzten Athemzug aushauchte. Seiner Gattin? – Ja freilich, James Fisk hatte eine rechtmäßige, ihm angetraute Gattin, die Mutter seiner Kinder, die in Boston lebte und von deren Existenz das große Publicum erst Kenntniß erhielt, als die Zeitungen die letzten Augenblicke des gemordeten Mannes beschrieben.

Josephine hatte einen tiefen Eindruck auf das Herz dieses rohen Naturmenschen gemacht; mit unwiderstehlicher Gewalt zog sie ihn in ihre Arme und in sein Verderben. Sie wurde die erklärte Geliebte des Eisenbahnfürsten, der ihr ein Haus kaufte und solches mit fürstlicher Pracht einrichtete. Wie mit Zaubermacht wurde sie aus tiefer Armuth auf die Höhe des Reichthums gehoben. Gold, so viel sie mochte, Diamanten, Dienerschaft, Equipage, alles, was sie nur wünschte, gab ihr der „verzauberte Prinz“ mit freigebiger, ja mit verschwenderischer Hand. In die duftenden Briefchen voll zarten Liebesgeflüsters aus der Feder eines Schreibers legte James werthvolle Bankbillete für seine „Josie“. In ihrem Hause, in ihren Gemächern ruhte er von den Mühen des Tages, an ihrer Tafel versammelte er die Könige der Börse und die Häupter von Tammany, Männer mit weitem Gewissen und lockerer Moral. Aber noch war kein Mörder unter ihnen. Da führte Fisk selbst den jungen Eduard Stokes ein. –

Wir bedauern, den Leser aus den üppigen Gemächern Josephinens in die Oelläuterungsanstalt der Frau Stokes führen zu müssen. Eduard, ein junger Mann von feinem Aeußern, schönen und einnehmenden Gesichtszügen, dunkelblauen Augen und gelockten schwarzen Haaren, breiter Stirn, schlanker Gestalt, spricht fein und fließend, kleidet sich elegant und kostbar und braucht viel Geld. Die Oelraffinerie seiner Mutter erscheint ihm als die Münzstätte, [126] in welcher man Geld prägen kann. James Fisk ist ihm der Mann, der seine Ideen zur Ausführung bringen könnte. Auf der Erie-Bahn konnte man das rohe Oel zu wohlfeilen Frachtsätzen herbeischaffen und es nach seiner Läuterung auf demselben Wege an seine Absatzplätze verführen. Dem Erie-Prinzen leuchtete die Sache ein; das Etablissement wurde gepachtet, eine Actiengesellschaft gegründet und Eduard wurde Schatzmeister, zugleich aber auch – der begünstigte Liebhaber Josephinens, in deren Haus Fisk thörichter Weise seinen jungen Freund eingeführt hatte. In wenig Monaten hatte der Schatzmeister der Oelläuterungs-Compagnie beinahe hunderttausend Dollars in die eigene Tasche wandern lassen und in Folge dieser Speculation wurde er verhaftet. Doch es dauerte nicht lange, so wurde ein Vergleich abgeschlossen, durch welchen Stokes zu dem bereits bezogenen Gelde noch fünfzehntausend Dollars erhielt, um ihn aus dem Geschäfte zu entfernen. Auch wir wollen uns von der öligen Raffinerie wieder in die Gemächer der Buhlerin zurückbegeben, wo diese, während sie ihrem Wohlthäter Liebe heuchelt, mit ihrem neuen Freunde auf sein Verderben sinnt.

Die an seine „Josie“ gerichteten Liebesbriefe Fisk’s finden sich plötzlich in den Händen von Eduard Stokes, der unter Mittheilung einer Abschrift derselben und unter der Androhung, sie zu veröffentlichen, von James Fisk die Kleinigkeit von zweihunderttausend Dollars verlangt. Aber Fisk läßt sich nicht so leicht in Schrecken jagen. Wozu hat er auch seine Kadis? Er erwirkt also ein richterliches Verbot, durch welches die Veröffentlichung dieser Briefe untersagt wird. Die Juristen nennen dies eine Injunction, und einer solchen wagt weder Stokes, noch ein Zeitungsherausgeber, oder ein Drucker entgegenzuhandeln. Fisk hatte zur Erwirkung des richterlichen Befehls sich eines Documents bedient, welches eine beeidigte Aussage des früher in Josephinens Diensten gestandenen farbigen Dieners enthielt, und nun erhob Stokes Anklage auf Verleitung zum Meineid. Während die Voruntersuchung bei einem Polizeirichter in Yorkville bei New-York stattfand, erschien Fisk vor der Grand Jury und dem Criminalgericht der Stadt und erwirkte die Inanklageversetzung des Stokes wegen versuchter Gelderpressung.

Wir führen den Leser vor das Polizeigericht, wo eben Josephine Mansfield in reicher Seidenrobe, strotzend von Gold und Diamanten, gegen den Geber dieser Schätze Zeugniß ablegt. Sie ist gerade von den Advocaten Fisk’s in’s Kreuzverhör genommen, das heißt man läßt sie moralisch Spießruthen laufen. Mit unbarmherziger Kaltblütigkeit wühlen die Männer des Gesetzes in ihrer Vergangenheit. Jede einzelne Phase ihres Lebens wird zergliedert und sie selbst ist es, welche die Geschichte in Antworten wiederholen muß, die ihr die Anwälte in Form von Fragen in den Mund legen. Ein amerikanischer Advocat im Kreuzverhör kann schrecklich sein. Nicht besser ergeht es dem Stokes; nur daß man ihm eine Fortsetzung der Folterqualen in der nächsten Sitzung in Aussicht stellt. Er weiß, daß dann seine Verbindungen mit professionellen Spielern, Fälschern und Dieben an das Tageslicht gezogen werden sollen. Thränen der Wuth in den Augen verläßt Josephine, tödtlichen Haß im Herzen Stokes das Gericht. Sie treten in Josephinens Boudoir, ein Freund eilt herein und meldet, daß Stokes in Anklagezustand versetzt, der Verhaftsbefehl bereits in den Händen des Sheriff ist. „Wäre ich ein Mann,“ flüstert das Weib, „so wüßte ich, was ich zu thun hätte.“ Und fort stürzt der Mörder, sein Opfer zu suchen. Im Grand Central-Hôtel fand er Fisk, als dieser gerade die Treppe hinaufeilte, um die Wittwe eines Mannes zu besuchen, der ihm in früherer Zeit eine Wohlthat erwiesen, für die er nie aufhörte dankbar zu sein. Von oben herab, aus sicherem Hinterhalte traf ihn die Kugel mitten in die Brust.

Es war noch nicht lange, als man ihn um einen Geldbeitrag angesprochen hatte, um die Umzäunung des Friedhofes in jenem grünen Thale in Vermont zu erneuern. „Wozu denn,“ sagte er scherzend, indem er zugleich einen tiefen Griff in seine Börse that, „ein neuer Zaun? Für die drinnen ist der alte stark genug, und die noch außen sind, werden sich auch nicht sehr herbeidrängen, um hinein zu kommen.“ Dort in der kleinen Vaterstadt ist nun sein Grab. Die Verwünschungen, die ihm während seines Lebens um seiner Thaten willen folgten, sind verstummt, und nur seine guten Eigenschaften, seine guten Handlungen sind lebhaft in der Erinnerung seiner Mitbürger geblieben. Es ist dies ein schöner Zug des amerikanischen Charakters, das Böse zu vergessen und sich auf die Seite des Schwächern und des Verfolgten zu stellen.

Ob in dem nun folgenden Gerichtsdrama die blinde Göttin mit fester Hand die Wage der Gerechtigkeit halten oder ob diese Wage schwanken wird, – wer vermöchte dies vorauszusagen?




Aus den letzten Tagen einer Vielgenannten.


Nach den persönlichen Mittheilungen Hermann Hendrichs’ erzählt von E. Laddey.


In der Bockenheimer Gasse der schönen Stadt Frankfurt am Main stand in den dreißiger Jahren ein kleines, altes Haus; wenn man die winklige Treppe desselben hinaufstieg, gelangte man zu einer kleinen seltsamen Wohnung, in welcher eine noch seltsamere Frau ihre letzten Lebenstage verlebte; von ihr wollen wir hier erzählen.

Es gab eine Zeit, da waren die eisgrauen Locken dieser Frau glänzend schwarz, da blitzten diese matten, kranken Augen in Feuer und Lebenslust und da entströmte den rothen lebensfrischen Lippen das übermüthige originelle „Lied eines Schwabenmädchens“, das unsern volksthümlichsten Dichter zum dritten, zum unglücklichsten Ehebunde lockte. Wer konnte es jetzt wohl noch dieser alten Frau mit dem phantastischen Kopfputz und dem Schlafrock von türkischem Kattun ansehen, daß sie die Macht besessen, das Bild einer Molly, wenn auch nur für kurze Zeit, aus dem Herzen ihres Dichters zu verbannen und seiner Leier neue Töne zu entlocken? Und doch war es so, die alte Dame in dem winkligen Erkerstübchen war Niemand anders, als die einst hochgefeierte und dann oft lieblos und ungerecht geschmähte Elise Hahn, Bürger’s letzte Gattin.

Jahre, lange Jahre waren über den wonnigen Traum von Glück und Liebe, über die Schmerzen und Enttäuschungen der kurzen, unseligen Ehe dahingerauscht, Bürger’s Feuergeist hatte längst Ruhe unter der kühlen Rasendecke gefunden, jetzt war er mit seiner Molly vereint; denn ewig verbunden tönen die Namen Bürger und Molly durch die Welt, während Dora und Elise nur die dürren Zweige an dem stolzen Liebesbaume sind. – Arme Dora! dich beklagt man und bewundert dich, dein langes Martyrium hat dein Andenken geweiht! – Aermere Elise! dir kann es die Welt nicht vergeben, daß Molly’s Dichter ihrem Grabe um deinetwillen untreu werden konnte! Geschmäht, verlästert und verdächtigt floß dein unruhvolles Leben dahin und weder die Poesie, noch die leichtverrauschenden Triumphe, die du als Bühnenkünstlerin und Declamatrice einerntetest, konnten dir Ersatz gewähren für ein zerstörtes Dasein, für ein unwiederbringlich verlorenes Ideal!

Derartige Gedanken mochten wohl in der Seele der alten Frau in der Bockenheimer Gasse wogen, denn wie verloren von der Gegenwart saß sie auf dem alten Kanapee, den Kopf tief auf die Hand gesenkt. Schmerzlich zuckte es manchmal in den faltigen Zügen auf, höhnisch und bitter zog sich der Mund zusammen und mancher Seufzer entwand sich der erinnerungsschweren Brust. Plötzlich stand sie auf und schritt hastig und erregt im kleinen Stübchen umher, grollend betrachtete sie ihre ärmliche Umgebung; da hingen Bilder bekannter Dichter und Schauspieler in blind gewordenen Goldleisten, geschmückt mit verdorrten Lorbeerkränzen, mit verblaßten Schleifen. Wohin war die Zeit, da man sie ihr huldigend geweiht? –

„Lorbeer und Elend,“ flüsterte Elise bitter lächelnd, „ihr gehört zueinander! Verdorrt, wie die Kränze da, sind Ruhm und Ehre, Glück und Liebe! Die alte Komödiantin ist von der Weltbühne abgethan! – Alte Leute aber wollen auch leben, sie können nicht lernen, ihren Hunger zu bezwingen, sie brauchen Holz, ihre armen Glieder zu erwärmen! – Ich bin wieder einmal am Ende, ganz am Ende!“ sagte sie nach einer langen Pause ruhiger. „Habe ich nichts, gar nichts mehr, dessen ich mich entäußern könnte?“ Ihr Auge überflog ihre Habseligkeiten – werthloser Flitter, theatralischer Aufputz war Alles, was ihr geblieben war.

Da trafen ihre Augen ein altes Buch in Albumform, unwillkürlich blieben sie länger darauf haften. „Wenn ich mich entschließen [127] könnte!“ flüsterte sie und nahm die alten Blätter zur Hand. Sie mußte das Buch dicht vor die Augen halten, um die Schriftzüge darin entziffern zu können, aber diese schienen eine magische Gewalt auf die alte Frau auszuüben; die sorgenvolle Stirn glättete sich immer mehr, je weiter sie las, das finstere Antlitz ward friedlich und ruhig.

Schiller, Goethe, Jean Paul!“ sprach sie begeistert und drückte einen Kuß auf die gelben Blätter, „nein, nein, von solchen Schätzen trenne ich mich nicht! – Sind doch die Grüße dieser Edlen das Einzige, was mir aus einer schönen Zeit, aus einer reichen Vergangenheit, aus einem Leben, das wirklich ein Leben war, geblieben ist!“

Nun lag es wieder da, jenes Gedenkbuch, in das so manche Dichtergröße jener Zeit der originellen Declamatrice einen Gedenkspruch, ein kleines Lied geschrieben hatte, ein kostbarer Schatz für einen Handschriftensammler. Keine Noth, keine Entbehrung hatte die alte Frau vermocht, sich dieses Schatzes zu entäußern. Und war es nicht, als wollte der Himmel solches Thun belohnen? Im selben Augenblick öffnete eine alte Dienerin die Thür und rief: „Na, Frau Professorin, da bring’ ich endlich einmal wieder einen fünffach gesiegelten Brief, nun können wir Vorrath für den Winter einkaufen!“

Mit zitternden Händen öffnete Elise das Schreiben und rief stolz und froh: „Die Götter verlassen mich nicht! Da, Dörthe, da ist Gold, Gold von der Kaiserin von Oesterreich!“

Die erstaunte Dienerin schlug die Hände vor Verwunderung zusammen; ihre Herrin wuchs urplötzlich vor ihren Augen, da sogar eine Kaiserin ihrer gedachte. „Wie kann nur so eine Majestät wissen, daß wir g’rad’ jetzt so nöthig Geld brauchen?“ fragte Dörthe.

Elise lachte. „Es ist die Antwort auf mein Glückwunschgedicht, das ich ihr zuschickte,“ sagte sie. „Da sieh’, zehn blanke, herrliche Ducaten!“

„Für ein Gedicht! Ach, du meine Güte, Frau Professorin, wenn uns das doch öfter passirte! – Ja, was ich sagen wollte, da ist mir eingefallen, die Majorin von Breitbach hat Zwillinge bekommen, das wär’ so ein Ereigniß, wenn Sie da –“

„Schweig’,“ rief Elise, „an einem Tage, wo eine Kaiserin meiner gedenkt, mache ich nicht die Bänkelsängerin!“ –

Das kaiserliche Geld war bald genug wieder in Nichts zerronnen. Kein Wunder, die Frau Professorin hatte gar Manches damit zu bezahlen und anzuschaffen, und dann gab’s im Nebenhause eine kranke Nachbarin, die so lange schon keinen warmen Ofen, kein ordentliches Stück Fleisch gehabt hatte – der mußte nothwendig beigestanden werden. Wie auch Dörthe brummen und murren wollte: wo Elisens gutes Herz sprach, war jede Einrede nutzlos.

Ganz und gar ärgerlich ward die alte, treue Person, als die Herrin, die doch um Gotteswillen froh sein sollte, endlich einmal ein paar Groschen in der Hand zu haben, nun auch noch Geld in einen Brief schloß und Dörthe den Auftrag gab, ihn auf die Post zu bringen.

„An wen ist denn das Schreiben da?“ sagte die alte Dienerin fast weinend.

„An ihn!“ entgegnete Elise, „an Bürger’s Sohn! Schüttle nicht den Kopf, Dörthe, starre mich nicht so an, gönne mir das süße Gefühl solcher Rache; sie haben ihn mich verachten gelehrt, diese Verachtung soll ihn bitter reuen. Zu beklagen war ich, zu verachten nie! Geh’, Dörthe, geh’, der arme Mensch braucht’s, es geht ihm elend, wie mir; nun, wir wollen desto sparsamer sein!“

Derartige kleine Scenen spielten sich oft zwischen Herrin und Dienerin ab, denn bis an ihren Tod lernte Elise nicht, der nüchternen Vernunft gehorsam auf ihr höchstes Glück, wohlzuthun und mitzutheilen, zu verzichten.

Die alternde Dichterin suchte und fand nun auch allerlei Hülfsquellen; da bestellte man bei ihr Polterabendscherze und Gelegenheitsgedichte aller Gattung, die sie mit Geschick und wunderbarer Geläufigkeit zu verfertigen wußte. Ja, Elise verstand es, manchmal diesen Versen ein hohes Pathos, eine echt klingende Begeisterung zu verleihen, so daß sich der geachtete Geheimrath B. nicht entblödete, ihre Gedichte bei festlichen Gelegenheiten für die seinigen auszugeben und das Lob dafür einzuernten. Für die vergessene Frau in der Bockenheimer Gasse konnte das ja nur eine Ehre sein, und bezahlt wurde sie doch auch immer.

Außer der Einnahme von solchen Dichtungen war es hauptsächlich dramatischer Unterricht, durch den sich Elise erhielt. Zu jener Zeit gab es weder Theaterschulen, noch Künstler, die aus solchem Unterricht einen förmlichen Erwerb machten. Der einzige dramatische Lehrer Frankfurts, der tüchtige Schauspieler Rottmeyer, ließ sich seinen Unterricht mit einem Kronenthaler bezahlen, und wie viele von Thaliens Jüngern konnten so viel wohl erschwingen!

Die Frau Professorin war bescheidener; für fünfzig Kreuzer die Stunde übte sie den angehenden Posas und Ferdinands, den Ebolis und Louisen gewissenhaft ihre Rollen ein.

Es ist bekannt, daß Elise sich mit wenig Glück der Bühnencarrière gewidmet hatte. Sie trat bald von dieser zurück, zog als Declamatrice in Deutschland umher und errang hauptsächlich in den durch die Händel-Schütz aufgebrachten mimisch-plastischen Darstellungen große Erfolge. Aber wie die meisten Künstlernaturen dachte sie in den Zeiten der Ernte nicht an des Lebens Wintertage, und auf solche Weise sah sie sich zuletzt mit kleinlichen Sorgen beladen, die jedoch nie im Stande waren, ihren elastischen Geist zu Boden zu drücken. Bei dem geringsten freudigen Anlaß wallte ihr leichtes Blut, ihre alte Lebhaftigkeit wieder auf, und wenn auch der Körper dem Zahne der Zeit nicht Widerstand leisten konnte, der Geist erhielt sich in frischer Jugendkraft. Selbst von ihren Eigenthümlichkeiten konnte die alte Frau nicht lassen; wie sie es stets geliebt hatte, sich mit phantastischem Schmucke zu beladen, so zog sie noch jetzt die verblaßtesten, altmodischsten Kleider, wenn sie von Seide waren, einem schlichten Gewande vor; das Theatralische behielt eben immer die Oberhand bei ihr.

So wurde ihr einstmals Herr von W., ein alter Bekannter aus ihrer Hamburger Zeit, gemeldet. Schnell schlüpfte sie erst in ihr kleines Schlafkämmerlein, um sich mit dem schönsten Staatskleide und großen silbernen Haarnadeln zu schmücken. Dann erst trat sie dem Freunde mit jugendlicher Lebhaftigkeit entgegen; leider vermochte sie die einst so theuren Züge nicht mehr ganz zu erkennen, denn das Licht des Auges ward von Tag zu Tag matter bei der armen Einsamen.

Nachdem die Beiden einige Zeit miteinander geplaudert und sich vergangener Tage so gern erinnert, rief Elise ganz plötzlich: „Ich glaube gar, Sie tragen eine Perrücke!“

„Seit lange schon, liebe Professorin,“ seufzte Herr v. W.

Elise lachte, ließ stolz ihre grauen Locken durch ihre Finger gleiten und sagte: „Hergeschaut! ich habe noch echtes Haar; sehen Sie, man hält sich besser!“

„Kein Wunder, bei Ihrem Temperament conservirt man sich. Elise, Sie müssen sehr schön gewesen sein!“

„Nein, lieber Freund, es wäre unrecht, wenn ich mit Gretchen declamiren wollte: ‚Schön war ich auch, und das war mein Verderben!‘ Schönheit hat mich nie beschwert; aber ich hatte einen guten Wuchs, eine schlanke Taille, blitzende Augen und schwarzes Leonoren-Rabenhaar. Im Uebrigen hat sich mein Aussehen nicht über das Niveau des Mittelmäßigen erhoben.“

„Verzeihen Sie! diese Worte muß ich Ihrer Bescheidenheit zuschreiben. Ein Weib, das Molly vergessen machen konnte, muß ein ideales Weib gewesen sein!“

„Ach, schweigen Sie mir davon, ich bitte! Bürger hat seine Molly meinetwegen nie vergessen: Eitelkeit, Caprice, Langeweile waren es, die ihn durch jenes unselige Gedicht zu mir zogen und mich aus einem glücklich angelegten Geschöpf ein verzweifelndes, nach Betäubung suchendes Wesen werden ließen!“

„Ja, man bietet sich auch nicht ungestraft einem berühmten Dichter in verlockenden Versen zum Ehebunde an,“ versuchte Herr v. W. zu scherzen.

„Die Welt lügt, es ist nicht wahr, ich habe mich ihm nicht zur Ehe angetragen!“ rief Elise empört und leidenschaftlich. „Das Gedicht war der Ausfluß einer tollen Laune, nichts weiter. Wir saßen froh beieinander, junge Mädchen und Männer, in Stuttgart war’s, wir spielten Pfänderspiele; da gab man mir die Aufgabe, mein Pfand mit einer Antwort an Bürger, der gerade durch einen scherzhaften Aufruf die Mädchen gebeten hatte, sich seiner Wittwerschaft zu erbarmen, auszulösen. Man kannte meine Schwärmerei für den Dichter und sein tragisches Geschick. Ich war ein überspanntes Ding, außerdem übermüthig über die Maßen. Durch jene Zeilen stachelte ich zugleich die Eifersucht meiner jungen Verehrer an; stolz gab ich ihnen das schnell entstandene Gedicht, lachend mein Pfand zurücknehmend. Ohne mein [128] Wissen sind dann die Verse gedruckt erschienen; sie wurden für mich eine Quelle des Verdrusses mit meiner Familie. Bürger nahm Interesse an der Verfasserin, meine Eitelkeit jubelte, meine Einbildung erhitzte sich, die sogenannten guten Freunde kamen dazu, und ich ward in ein Verhältniß zu dem unbekannten Manne förmlich hineingesteigert und brannte danach, ihn kennen zu lernen! – Ach, schon beim ersten Anblick war meine Liebesgluth gestillt; ich kann es nicht beschreiben, wie seltsam, wie eiskalt mich sein Wesen berührte. Wie hatte ich ihn mir so anders, so ganz anders gedacht! Wie falsch hatte meine Phantasie gemalt! O, hätte ich den Muth gehabt, ihm und der Welt meine Täuschung zu gestehen!“

„Und war diese Ehe niemals glücklich?“ fragte Herr v. W. theilnahmvoll.

„Doch, doch, im Anfange, so lange mein Mitgebrachtes vorhielt, war der Herr Professor leidlich mit mir. Aber er und ich verstanden nicht hauszuhalten, und als sich nun zu der Kälte, die wir Beide gegeneinander hegten, noch Sorgen zugesellten, da waren wir elend, o wie elend! – Nun, es währte nicht lange, Sie wissen es, wir waren vernünftig genug, solch unseliges Band zu trennen! – Das lammfromme Gemüth einer Dora war mir vom Schicksal versagt; sie konnte sogar der Lebenden vergeben, ich haßte die Todte noch in ihrem Grabe! Wäre ich geliebt, heiß und innig, wie Molly, ich wäre nie geworden, was ich bin; auch ich hätte leben, athmen und vergehen können in einer einzigen großen Liebe! Aber unverstanden und ungeliebt irrte ich flatternd durch’s Leben, fried- und ruhelos! – Doch wohin sind wir gerathen!? – Fort mit so ernsten Gesprächen, vorbei ist vorbei! Noch leben wir, noch lassen Sie uns fröhlich sein! – Plaudern wir von Hamburg, mein Freund, von lustigen Geschichten. Erzählen Sie mir, wie’s dort beim Theater ist; plaudern wir von Allem, nur nicht davon, daß wir die Thorheit begehen – vergangene Dinge zu bereuen!“ –

Wie sehr sich aber auch Elisens kraftvoller Geist gegen das Unglück bäumte, endlich ward es doch größer, als sie selbst zu ertragen vermochte, und eines Tages blickte die Sonne auf eine Trostlose, die ihre Strahlen nicht mehr sehen konnte!

Was war alles Leid, alle Qual des verflossenen Lebens gegen diesen furchtbaren Schlag, dessen Wucht das Schicksal der armen sechzigjährigen Frau zur Grabesnacht machte!

„Doctor, Doctor! ist keine Rettung mehr, soll ich die Welt, die falsche, schöne Welt niemals mehr sehen?“ jammerte Elise verzweifelt.

Dr. Schott, ihr alter treuer Arzt, untersuchte die glanzlosen Augen; dann sprach er zögernd: „Die Möglichkeit einer Operation ist wohl noch vorhanden, aber es bedürfte dazu eines Aufenthalts in der Augenklinik zu C., und wo sollen wir die Mittel zu einem solchen auftreiben?“

„Nach C. soll ich? – Doctor, das hat Ihnen Gott eingegeben. – In C. ist ja meine liebe Amalie N…, es geht ihr dort brillant, sie wird gefeiert und vom Publicum auf den Händen getragen. Mir, mir ganz allein, meinen unausgesetzten Bemühungen, meinen glänzenden Kritiken hat sie den Ruf einer großen Künstlerin zu verdanken; o, sie wird glücklich sein, mich bei sich aufnehmen zu können! Doctor, lieber Doctor, ich bin so gut wie gerettet!“

„Gebe der Himmel, daß diese Hoffnung nicht trüge,“ murmelte kopfschüttelnd Doctor Schott, aber die freudig Erregte überhörte den zweifelnden Ton.

„Geh’ hinüber zu meinem Schüler,“ gebot Elise ihrer Dienerin, „bitte ihn zu mir zu kommen, ihm will ich den Brief an Amalie dictiren.“

Jener Schüler aber, der Einzige, welcher der armen, blinden Lehrerin Liebe und Verehrung zollte, war Hermann Hendrichs, der damals am Frankfurter Stadttheater seine künstlerische Laufbahn, die so glänzend werden sollte, begann.

Er kam, schrieb den Brief, den die Blinde als Nothschrei an die Freundin sandte. O, wie bat Elise so beredt um Aufnahme in Amaliens Haus, wie versuchte sie ihr Herz zu rühren, war dieser Brief doch die letzte Karte, auf welche sie ihre Hoffnung setzte! Sie begann auszurechnen, bis wann die Antwort der Freundin eintreffen könne, die Frist bis dahin verbrachte sie in fieberhafter Erregung.

Sie mußte lange warten, die arme, alte Frau! Die Aufregung drohte sie zu verzehren und machte sie so schwach und kraftlos, daß sie am Ende laut- und klaglos in dem großen Armsessel verblieb und nur zum Leben zu erwachen schien, wenn ein Tritt auf der Treppe erschallte – ach, der ersehnte Brief mußte doch endlich, endlich kommen!

Und er kam! – Nun lag es in den zitternden Händen, das zierliche Schreiben mit den lieben Schriftzügen, die Elise nicht mehr sehen konnte, bebend drückten es die Finger an das klopfende Herz. Wieder sollte Hendrichs der Uebermittler dieser Nachricht sein, denn die alte Dienerin verstand nichts von der edeln Lesekunst und in martervoller Unruhe harrte Elise des Jünglings.

Endlich saß der Ersehnte ihr gegenüber, das blühend schöne Leben dem erlöschenden Abend, und mit der Lebhaftigkeit der Jugend löste Hendrichs schnell das Siegel und wollte zu lesen beginnen.

Da aber überfiel mit einem Male die arme, alte Frau eine zitternde Angst, wie eine böse Ahnung mahnte sie’s, den Inhalt des Schreibens lieber noch nicht zu vernehmen, und abwehrend streckte sie ihre Hände aus. „Noch nicht, noch nicht!“ rief sie angstvoll. „Wenn Amalie nein sagte, wenn der letzte Strohhalm zerreißen würde, nach dem der Ertrinkende hascht! – O Gott, mein Gott, wie elend bin ich!“ – Eine heiße Thränenfluth brach aus den blinden Augen; es war der letzte Ausbruch eines viel gemarterten Herzens!

„Jetzt lesen Sie,“ sprach sie nach einer Weile mit ruhiger Stimme, „ich glaube, jetzt kann ich Alles ertragen!“

Der Brief begann: „Mit unendlichem Bedauern, meine theure Freundin –“ – Nun, was sollen wir hier jene herzlosen Zeilen wiedergeben, in denen ein undankbares Gemüth „untröstlich war“, gerade jetzt zu einem Gastspiel reisen zu müssen, gerade jetzt der alten Freundin auch für die kürzeste Zeit kein Asyl bieten zu können, gerade jetzt auch nicht die Mittel zu einer Cur in der Klinik selbst anbieten zu können.

Genug von dieser Herzlosen! ihr Gewissen wird sie gerichtet haben! – Beim Anhören des Briefes ward Elise todtenbleich, auf die milden Trostworte Hendrichs’ hatte sie keine Erwiderung; in dem alten Sessel saß sie da, zurückgelehnt, stumm und lautlos, sichtbar nach Luft ringend.

„Mein Himmel, wie soll, wie kann ich hier helfen?“ rief der Jüngling verzweifelt.

„Gehen Sie – eilen Sie – der Arzt – o – ich sterbe, das letzte Lebensband ist zerrissen!“

In fliegender Hast stürzte Hendrichs fort; als er mit dem Doctor zurückkehrte – bedurften Elisens Augen keines irdischen Lichtstrahls mehr, hatte das unruhig gehende Herz endlich Ruhe gefunden! –

Elise Bürger ward still und prunklos an einem sonnigen Herbsttage des Jahres 1832 begraben, wenige Getreue gaben ihr das letzte Geleit.

Ihren einzigen Schatz, jenes herrliche Album, hatte sie Hermann Hendrichs versprochen; er hat es nie erhalten und sprach noch kurz vor seinem plötzlichen Tode bedauernd darüber. Es ist unbekannt, in wessen Besitz das kostbare Buch gekommen ist.

Des einsamen Grabes auf dem Frankfurter Friedhof wird selten wohl gedacht. Möchte es dieser kleinen Skizze gelingen, das Andenken Elise Bürger’s von den Schlacken zu befreien, die Engherzigkeit und Vorurtheil ihm angeheftet haben – dann ist ihr Zweck erfüllt.




 Die „Nachsichtige“.

Dort kommt er schon, er wird mich grüßen –
Bleib’ ich nun hier am Fenster steh’n?
Tret’ ich zurück? Er könnte glauben,
Daß ich sein Nah’n nicht gern geseh’n.

Nicht gern! Kaum ahnt er, wie so wonnig
Sein Bild mir schon im Herzen ruht
Und all mein Denken, all mein Träumen
Mir Ein’s nur sagt: Du bist ihm gut.

[129]

Schön Israel in Algier.
Nach dem Oelgemälde von C. L. Müller.


Und doch, verwegen muß ich’s nennen,
Wie er mich gestern angeblickt
Und mir – nicht barg ich das Erröthen –
Ein-, zweimal lächelnd zugenickt.

Das fand ich keck, und nur mit Mühe
Bezwang ich den gerechten Groll,
Hätt’ ich mich nicht noch recht erinnert,
Daß man stets Nachsicht üben soll.

[130]

Nun, diesem weisen Satz zufolge –
Ich lernt’ ihn hier erst recht versteh’n –
Bog ich mich leise aus dem Fenster
Und hab’ ihm lange nachgeseh’n.

Voll Glück und Stolz! Ich that nichts Böses,
Mein Herz belobte mich sogar,
Daß ich so fleißig Nachsicht übte
Und alten Lehren folgsam war.

 Hermann Oelschläger.




Unsere vermißten Soldaten.


(Schluß.)


Wir lassen nun die Auskunft folgen, welche auf unsere Vermißtenliste in Nr. 39 der Gartenlaube bis Mitte Januar dieses Jahres uns zugegangen ist.

1) Ueber Gustav Emil Hille (Liste Nr. 19) sind einigermaßen sich widersprechende Nachrichten eingegangen. Nach der eines früheren Feld-Assistenz-Arztes im 11. Feld-Lazareth des 12. Armeecorps, Herrn J. Krause in Leipzig, hat Hille am 1. Sept. 1870 bei Sedan einen Schuß in das linke Hüftbein mit Verletzung des Darmcanals erhalten und war in seiner Lazarethabtheilung in Douzy bis zum 9. October, wo er dem unter der Leitung des Chef-Arztes Dr. Christner stehenden 12. Feld-Lazareth daselbst übergeben und von dem Stabsarzt Dr. Viek und Feld-Assistenz-Arzt Feige behandelt wurde. Beim Abzug dieses Feld-Lazareths von Douzy übernahm der Stabs- und Polizei-Arzt Dr. Jacoby (jetzt wieder in Dresden) die Patienten des 12. Lazareths. – Diesen bestimmten Angaben eines Arztes stellen sich die Aussagen von Cameraden insofern entgegen, als diese behaupten, Hille sei am linken Oberarm verwundet; so habe sein Nebenmann im Kampfe ausgesagt, so ihn ein Krankenträger vor der Thür des Lazareths in Douzy auf einer Tragbahre und ebenso ein Unterofficier im Lazareth selbst liegen sehen. Nach der Auskunft der Lazarethverwaltung in Douzy ist Hille sogar mit einem Verwundeten-Transport nach Deutschland abgefahren. Das Vermißtsein aber erklärt die Frau Simon (in Dresden) damit, daß zwei Züge mit Verwundeten von den Franctireurs durch Wegnahme der Bahnschienen zum Stehen gebracht und genommen worden seien. Und daraus schöpft die Familie noch heute die Hoffnung, daß Hille vielleicht doch aus dieser „französischen Gefangenschaft“ noch wiederkehren könne.

2) Franz Gerisch (Liste Nr. 20). Ein sächsischer Soldat dieses Namens, aber angeblich vom 108. Regiment, aus „Ranibisgrün“ (?) bei Auerbach, kam, vor Paris verwundet, mit einem Schuß durch den linken Oberarm in das Civilkrankenhaus zu Donauwörth, wurde am 24. December amputirt und starb zwei Tage darnach. Auskunftgeber: das Central-Comité und Ritter Ed. Filchner in München.

3) Ueber Friedrich Ludwig Kaden (Liste Nr. 22) sind zwei Briefe eingegangen, welche beide die Gefangenschaft desselben auf der Insel Oléron bestätigen. Der eine ist von einem Mitgefangenen, den die Franzosen als Hülfsarzt und Dolmetscher benutzten und der ausführlich erzählt, wie Kaden als Gefangener und Typhuskranker auf Oléron angekommen, daß er ein junger Mann von kräftiger Statur, aber äußerst zartbleichem, fast mädchenhaftem Antlitz gewesen und daß er mehrere Tage fast hoffnungslos darniedergelegen. Er war auf dem Wege der Besserung, aber noch nicht transportabel, als unser Gewährsmann, am 4. März v. J., in Folge der Auswechselung Oléron verließ. Er ist erbötig, selbst bei dem Arzt und Lazarethinspector der Citadelle Erkundigung nicht nur über Kaden, sondern auch über das Schicksal der übrigen dort zurückgebliebenen deutschen Gefangenen und Kranken (nach seiner Angabe 13 Mann, nämlich: 6 Verwundete, 1 Pockenkranker, 4 Thyhuskranke und 2 an Dyssenterie Leidende) Erkundigungen einzuziehen und uns zur Veröffentlichung mitzutheilen. – Der zweite Brief, aus Deutschkatharinenberg (Sachsen), berichtet von einem andern Mitgefangenen desselben Regiments, der Kaden sehr gut gekannt und der ebenfalls bestätigt, daß derselbe bei der Auswechselung der Gefangenen noch gelebt; er habe mit zwei Preußen auf einer Stube gelegen. Von diesem Gefangenen, Soldat Friedrich Böhme aus Deutschkatharinenberg, erfahren wir zugleich, daß während seiner Gefangenschaft ungefähr siebzig deutsche Soldaten gestorben und alle mit geistlicher Begleitung begraben worden seien, und zwar habe man für jeden Todten einen Geistlichen seines Glaubens gewählt (Oléron ist größtentheils reformirt). Die Geistlichen hätten stets vor dem Begräbniß in einem Comptoir etwas niedergeschrieben, Deutsch habe jedoch keiner verstanden. Auch diese Notiz deutet auf die Möglichkeit hin, über viele Vermißte von dort bestimmte Nachricht erhalten zu können.

4) Leo Droß (Liste Nr. 23). Ueber ihn schreibt der damalige Landwehr-Stabsarzt im 47. Inf.-Regiment, Füsilier-Bataillon, jetzt prakt. Arzt in Frankenstein, Dr. Seifert, daß er in seinen auf dem Schlachtfeld gemachten Bleistiftnotizen unzweifelhaft deutlich den Namen Droß und seine Regimentsnummer 47 mit der Bemerkung „Blasenbeckenschuß“ verzeichnet finde. Er fand ihn in der Nähe der Höhe von Elsaßhausen und leistete ihm die erste ärztliche Hülfe, ist aber der Ueberzeugung, daß der so schwer Verwundete noch desselben Tags gestorben sei. „Ganz bestimmt,“ schließt der Brief, „ist ihm Beistand durch die Unsern in seinen letzten Lebensstunden zu Theil geworden, da in seiner unmittelbaren Nähe Bivouacplätze aufgeschlagen wurden und auch ärztliche Hülfe an jener Stelle hinreichend vorhanden war.“

5) Der Anhaltiner Schettler (Liste Nr. 27) ist wirklich bei einem Recognoscirungsgefecht vor Toul am 16. August auf der Stelle todt geblieben. Adresse zu weiteren Nachforschungen den Verwandten mitgetheilt. Auskunftgeber: Gymnasiast Ernst Busse zu Burg bei Magdeburg.

6) Jens Nicolai Jensen (Liste Nr. 41). Ueber Jensen haben wir drei verschiedene Nachrichten erhalten, die offenbar auf drei Soldaten dieses Namens gehen. Ein Jens Jensen, bei dem man Briefadressen fand, welche ihn als zum schlesw.-holst. Feldartill.-Reg. Nr. 9, 18. Division, gehörig bezeichnen, ist am 5. oder 6. November 1870 im Lazareth von Troyes gestorben und im Kirchhof daselbst begraben. Ein Nicolaus Jensen, Soldat bei der Munitionscolonne des Artill.-Reg. Nr. 9, ist am 4. September 1870 im Lazareth in der Mädchenschule zu Forbach an der Ruhr gestorben und im dortigen Friedhof beerdigt. Ein dritter Jensen, ebenfalls Schleswig-Holsteiner und von der Munitionscolonne des Feldartill.-Reg. Nr. 9, war noch am 22. November 1870, aber todtkrank, im Lazareth zu Hildburghausen. Wir haben den Angehörigen alle drei Briefe gesandt, die aus den ausführlichen Schilderungen derselben wohl den Rechten erkennen werden. Trost bringt keiner von ihnen. Auskunftgeber: F. Paulsen, Stud. d. Theol., in Berlin; K. Didden-Inkaln in Oldenburg.

7) Musketier Everling (Liste Nr. 46), von der 7. Comp. des 76. Reg., ist am 11. Januar 1871 zu Chartres am Unterleibstyphus gestorben und der Todtenschein richtig ausgestellt worden. Auskunftgeber: Gust. Nolte, Stud. d. R., in Hamburg.

8) Christoph Mohr (Liste Nr. 51) aus Nürnberg, ist sehr schwer verwundet am 22. September 1870 in das Aufnahme-Hospital Nr. 10 im Schloß Montvillers gekommen und dort, nachdem er als Katholik die Sacramente empfangen, am 25. September gestorben. Baarschaft ist nicht bei ihm gefunden worden. Auskunftgeber: Fr. Herterich in Würzburg und das Münchener Central-Comité.

9) Böttcher (Liste Nr. 56). Ein Gustav Böttcher, vom 108. Reg., 3. Comp., war Gefangener in Paris; ein Karl Böttcher, vom 109. Reg., Gefangener in L’Isle de Yen in der Vendée. Näheres noch nicht erlangt. Auskunftgeber: das Münchener Central-Comité.

10) Ernst Weinert (Liste Nr. 65) ist, laut Todtenschein, nachdem er am 18. August bei St. Privat durch einen Granatsplitter am Bein schwer verwundet worden, am 28. September 1870 im Lazareth zu Doncourt gestorben. Auskunftgeber: Rentier Engelmann in Mügeln bei Oschatz und Feldwebel Wagner j. in Sedan.

Ebenso unmöglich ist, wie im vorliegenden Fall gewünscht wurde, die Leiche wieder aufzufinden, denn wenn man auch den Friedhof und selbst das Grab erforscht, so werden doch stets mehrere und nicht selten viele Todte in ein großes Grab gelegt.

„Unbegreiflich“ nennt es dagegen unser Gewährsmann, „daß die Verwandten oder die Ortsbehörden, für die doch der Todtenschein eigentlich angefertigt ist, darüber im Ungewissen gelassen werden können.“

11) Ueber Gottlob Najork (Liste Nr. 68) erhalten wir folgende Nachricht von Herrn F. v. Wangenheim-Wintershaus in Potsdam, der, selbst bei Mars-la-Tour verwundet, in die Kirche von Gorze, die als Lazareth diente, transportirt worden war: „Neben mir lag auch ein Soldat des 52. Infanterie-Regiments, durch einen Schuß in die Brust anscheinend schwer verwundet; derselbe erzählte mir viel von seiner Frau und seinen ‚Kinderchen‘ und daß er bei Forst zu Hause sei; ferner theilte er mir mit, daß er am Morgen des 16. August, als wir schon vor Gorze Kanonendonner hörten, aus Aberglauben die Blechmarke fortgeworfen habe. Mein Nebenmann ist wahrscheinlich seinen Wunden erlegen, ohne daß es möglich war, seine Persönlichkeit festzustellen. In Gorze liegen so Viele gebettet, – wer kennt ihre Namen?“

12) Musquetier Julius Kornagel (Liste Nr. 71) ist zuletzt in Moyeuvre, zwischen Metz und Diedenhofen, von dem Herrn Landwehr-Cavallerie-Lieutenant und Rittergutsbesitzer Rudolph in Glondenhof bei Züssow in Pommern gesehen worden und giebt derselbe die Adressen zur Weiterforschung an.

13) Ueber Aug. Marhold (Liste Nr. 75) kann auch das Münchener Central-Comité nur berichten, daß er am 22. October 1870 noch in Orleans lag.

14) Adolf Söllner (Liste Nr. 80) wurde, nach Angabe seiner Compagnie-Cameraden, am 7. October 1870 Nachmittag durch einen Schuß in die Seite schwer verwundet, nach Metz gebracht und starb daselbst am dritten Tag darnach. Er soll eine ziemliche Baarschaft bei sich gehabt haben, weil er sich im Lager mit Graveurarbeiten beschäftigte. Auskunftgeber: Bürgermeister Wendt in Czempin.

15) Fritz Oppelt (Liste Nr. 122) ist wirklich, und zwar laut von der Lazarethinspection zu Baigneaux bei Orleans in aller Form ausgestellten Todtenscheins, am 8. December 1870 daselbst gestorben und begraben. Wir entnehmen dem Briefe des Auskunftgebers, des Herrn Dr. Steiner, praktischen Arztes zu Xanten, welcher als Assistenzarzt an jenem Lazareth thätig war, folgende Bemerkungen von allgemeinem Interesse: „Was den Nachlaß anbetrifft, so werden von den Rendanten des Lazareths nur die hinterlassenen Werthsachen, wie Geld, Uhren, Ringe und dergleichen in Verwahrung genommen und an eine vorgeschriebene Behörde (wenn ich nicht irre, an die Generalkriegscasse) abgegeben; andere Sachen, wie Notizbücher und dergleichen, deren Besitz wohl oft sehr erwünscht für die Hinterbliebenen sein mag, aufzuheben, ist in einem Feldlazareth, das den Truppen folgen muß, absolut unmöglich, denn wo sollte man mit den Sachen, die sich massenhaft anhäufen würden, bleiben, wie sollte man schließlich Alles transportiren können? Nur in einem stehenden Lazareth mag das Aufbewahren von derlei Gegenständen allenfalls angehen.“

[131] 16) Ueber Julius Schwarz (Liste Nr. 123), den Sohn der armen unglücklichen Wittwe, deren einzige Stütze er war, für sie und seine vier jüngeren Geschwister, – erhalten wir eine Berichtigung unserer Angabe. „Das 56. Regiment“ – schreibt uns der Fabrikbesitzer Herr Heuer in Lichtenstein bei Osterode am Harz, dessen Sohn, der Stud. der Chem. Wilhelm Heuer, bei demselben Regiment gestanden – „hat den Feind nicht bis zur schweizer Grenze verfolgt, sondern von Orleans bis Laval. Die Schlacht am 9. Jan. d. J. war nicht bei Pierrere, sondern bei St. Pierre vor Le Mans. Die dort Verwundeten kamen nach Vendôme oder Le Mans. Uebrigens erinnert sich mein Sohn, daß an jenem Tage das 56. Regiment durch einen verhauenen Wald hat vordringen müssen und daß es stark schneite, so daß ein Verwundeter oder Todter leicht unbemerkt liegen bleiben konnte.“ – Gegenwärtig steht das 56. Regiment in Köln und Wesel.

17) Ueber Friedrich Carl (Liste Nr. 125) sind vier Briefe eingegangen. Herr Bataillonsarzt Dr. Deininger in München berichtet, daß Carl am 16. Sept. 1870 in das Lazareth zu Rozoy-en-Brie, unweit Corbeil, als Ruhrkranker gekommen sei, und nennt die Namen von sechs Soldaten desselben Regiments, bei welchen vielleicht weitere Kunde über den Vermißten zu erlangen sei. Herr Oberlieutenant Bedall in München passirte „Rozoy-en-Brie am Yères“, wie er unser „Rosoy (?)“ berichtigt, am 11. Octbr. 1870 als Führer der Avantgarde eines größeren Ersatztransportes und erfuhr, daß daselbst Typhus und schwarze Blattern grassirten und deshalb keine Garnison dort gewesen sei; im Spital der barmherzigen Schwestern habe man, nach Aussage der Einwohner, viele deutsche Soldaten verpflegt, von denen anfangs die meisten rasch gestorben und nur noch einige preußische und bairische Typhus- und Ruhrkranke damals übrig gewesen seien. Herr Husaren-Wachtmeister Schulz in Lissa ertheilt den Rath, Nachforschung bei seinem freundlichen dortigen Quartiergeber, Monsieur Maillard, anzustellen, Herr Dr. med. Hucklenbroich in Bedburg kam auf dem Marsche nach Paris am 9. Novbr. v. J. nach Rozoy und besuchte gegen Abend das Nonnenkloster, der Pfarrkirche gegenüber, um nach den dort liegenden kranken deutschen Soldaten zu sehen. Er schreibt: „Ich fand dort einen bairischen Infanteristen, dessen Namen und Regiment ich leider nicht weiß. Er hatte augenscheinlich einen schweren Typhus überstanden, war aber jetzt in der Reconvalescenz und recht munter. Er konnte nicht genug die Liebe und Sorgfalt der Schwestern rühmen; behandelt hatte ihn der Arzt des Städtchens mit ebenso großer Theilnahme. Trotz dieser guten und wirklich rührenden Pflege der Nonnen, die ich selbst beobachtete, kann der Arme doch einem Rückfall erlegen sein. Jedenfalls haben dann wahrhaftig Engel an seinem Todeslager gestanden.“

18) Julius Richard Lange (Liste Nr. 127). Feldwebel Emil Wagner von der 3. Comp. des Reg. 108 berichtet, daß die betreffende Feldpostkarte von keinem Mann der Compagnie an die Eltern geschickt worden sei.

19) Moritz Herb (Liste Nr. 134) wurde in dem Gefechte bei Patay am 4. Dec. 1870 vermißt, ist aber nunmehr vom Regiment als dort begraben bezeichnet.

20) Christian Schulz (Liste Nr. 137) wurde am 7. Oct 1870 vor Metz so schwer verwundet, daß er, als unrettbar, gleich von dem Verbandplatz, der in einem Gehöft in Maizières bei Metz war, in den Garten neben die Mauer gelegt wurde, wo er gleich darauf starb. Zugleich mit drei anderen Cameraden begrub man ihn in einem Blumengarten und der Feldgeistliche der dritten Reserve-Division gab ihnen den Segen.

21) Friedrich Lorenz (Liste Nr. 146) betreffend, erhalten wir die Nachricht, daß auf dem Weißenburger Gottesacker aus Wanfried ein Heinrich Bohr begraben liegt, kein Lorenz.

22) Johann Max Hollerith (Liste Nr. 155) betreffend, giebt ein Brief mit unlesbarer Unterschrift eine Adresse zur Weiterforschung in Pau an.

Unsere Leser werden, wenn sie der vorstehenden Auskunft ihre Beachtung geschenkt haben, mit uns darin übereinstimmen, daß es, nach diesem Erfolg unserer Nachfragen nach unseren Kriegsvermißten, ein Unrecht wäre, die Flinte schon in’s Korn zu werfen. In runder Zahl kamen auf 150 Anfragen 20 Antworten. Und dabei sind wir auf den Kreis unserer Leser beschränkt gewesen. Der Erfolg würde sicherlich ein größerer geworden sein, wenn namentlich die politischen Tageszeitungen auf unsere Vermißtenliste aufmerksam gemacht hätten. Vielleicht geschieht dies jetzt, wo der Gegenstand durch die Interpellation auf die Tagesordnung gebracht war. Eine Frist müssen aber auch wir diesen Listen setzen, und wir bestimmen dazu den Augenblick, an welchem für alle Vermißten die Todeserklärung ausgesprochen ist. Es ist schwerlich zu befürchten, daß viele Leser der Gartenlaube diese Sorge und Rücksicht für die kummervollen Angehörigen unserer so unheimlich verschwundenen oder verschollenen Soldaten als störende Raumvergeudung der Redaction zum Vorwurf machen werden.




Blätter und Blüthen.


Am Grabe eines Dichters. (Mit Abbildung.) „Mögen die Nachkommen Dir gerechter werden, als die Zeitgenossen!“ Diesen Wunsch sprach das Diplom aus, mit welchem die Universität Leipzig am großen Schillerfesttage Franz Grillparzer, den größten österreichischen Dichter Deutschlands, zum Ehrendoctor der Philosophie[WS 2] erhob. Und der Wunsch ging in Erfüllung, gleich nachdem der Dichter todt war.

Vier Stock hoch mußte er im Sarge herabgeholt werden in einer engen Gasse der innern Vorstadt Wien, wohin sich vielleicht noch keiner der vornehmen Herren verirrt hatte, die nun in der Augustinerkirche auf ihn warteten. Hätte er die Blumen alle gesehen, welche die guten Wiener zu Kränzen gewunden in seinem sonst so einsamen Zimmer niederlegten, wie hätte er sich gefreut, denn er hatte, als echter Dichter, die Blumen so lieb!

Was aber würde er zu dem Aufzug gesagt haben, der in der engen Gasse ihn empfing? Wien besitzt mehrere Leichenbestattungsgesellschaften, von denen zwei, „La Piété“ und „L’entreprise des pompes funèbres“, nicht nur diese französischen Benennungen tragen, sondern ihre Mitglieder auch hinsichtlich der Hüte, Epauletten und Hosen in französische Generalsuniform gesteckt haben; noch „geschmackvoller und eleganter“ ist der „Tegetthoff-Veteranen-Verein“ herausgeputzt, man kann bei seinem Anblick nicht anders glauben, als daß österreichische Marineofficiere es sich zur Aufgabe gestellt hätten, die Wiener Todten zum letzten Land zu bringen; nur die runden, niedrigen, betreßten Hüte unterscheiden diese Tegetthoffianer von den ernsten Männern der See.

Erhebend war das übrige Geleite: die gesammte Jugend der höheren und höchsten Wiener Bildungsanstalten und alle Künstler und Schriftsteller der alten Kaiserstadt, an der Spitze der letzteren Bauernfeld, Laube und Dingelstedt. Dann der Leichenwagen, reich geschmückt, zuoberst eine Blumenkrone, ringsherum Kranz an Kranz, viele mit seidenen Bändern, auch einige in den „deutschen Farben“, worunter das noch für sein Deutschthum kämpfende Oesterreich die „des deutschen Geistes“, nicht die des neuen Reichs versteht. Daneben und dahinter abermals „Piété“ und „Tegetthoff“ und endlich eine lange Reihe Trauerkutschen.

Die höchste Ehre erwartete den guten bescheidenen Franz Grillparzer in der Augustinerkirche: hier boten der Kaiserhof und der Staat ihm den letzten Gruß. Hier waren versammelt: ein Stellvertreter des Kaisers, drei Erzherzöge mit ihren Oberst-Hofmeistern, die Oberst-Hofmeister aller übrigen Mitglieder des Kaiserhauses, ein Prinz Koburg, sämmtliche Reichsminister, die Mitglieder des Herrenhauses, der Präsident und viele Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die stets von ihren Spitzen geführten Deputationen des Wiener Gemeinderaths, der Universität, aller Akademien Vereine, Stiftungen, Gremien und Kammern der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, der Generalität und des Officiercorps, die deutschen Gesandtschaften mit ihrem Personal, die hohe Aristokratie in glänzender Vertretung und zum Schluß, wie überall, das Volk.

Nachdem der Hofburgpfarrer den Leichnam, dessen Geist längst bei Gott war, eingesegnet hatte, bewegte sich der volkumwogte, fast unendliche Zug zum kleinen Währinger Friedhof, und hier widerfuhr dem Einundachtzigjährigen, der alle Blumen, folglich auch die Kinder so lieb hatte, noch die heimliche Freude, neben einem einjährigen Kindchen seine stille Schlummerstätte zu finden.

Am Grabe sprach zuerst Dingelstedt, während ein Mann der „Piété“ eine Fahne über den Sarg hielt und zwei Tegetthoffianer zur Rechten und Linken desselben auf Kissen einen Lorbeerkranz und die Ordenszeichen des Todten trugen.

Dingelstedt sagte unter Anderem: „Durch alle Stämme des völkerreichen Oesterreichs, in allen Blättern weht ein Hauch der Klage, weithin hallend über die Grenzen des deutschen Gesammtvaterlandes hinaus. Die österreichische Jugend, an Deiner Gruft steht sie mit leuchtenden Augen und blutendem Herzen. Alle Stände, Krieger, Bürger, Gelehrte, Dichter, sie haben den heutigen Tag als ein Fest allgemeiner Trauer, tiefen gemeinsamen Leides empfunden.“

Schade, daß der Redner es nicht vorzog, an diesem Grabe der Wahrheit allein die Ehre zu geben, statt sich im Pathos allgemeiner Schmeichelei zu ergehen. Ein so „tiefes allgemeines Leid“ setzt doch wohl eine ebenso allgemeine Liebe und Verehrung voraus; aber wo hat sich diese denn im Leben des Dichters bethätigt? Wer hat von den Tausenden, die in den Theatern den Stücken Franz Grillparzer’s ihren Beifall zuklatschten, danach gefragt: wovon und wie existirt der Dichter? Wien allein besitzt Straßen und Palästereihen, in welchen unermeßlicher Reichthum von Fürsten des Bluts und des Geldkastens wohnt; hat Einer von allen Diesen sich bis zu dem Gedanken emporgeschwungen, daß ein Dichter der „Ahnfrau“, der „Sappho“, von „des Meeres und der Liebe Wellen“ etc. höher an Geist als sie Alle stehe und darum auch eine dieser Höhe würdige äußere Stellung einnehmen müsse? Und lassen wir Dingelstedt’s Phrase von „allen Stämmen des völkerreichen Oesterreichs“ bei Seite – denn wie weit die Verehrung Grillparzer’s bei Slovenen, Croaten, Serben, Czechen, Ruthenen, Polen, Magyaren, Szeklern, Walachen und Slovaken etc. reichen konnte, sollte man doch wohl in Wien am besten wissen! – halten wir uns nur an alle Stände, Krieger, Bürger etc. Deutsch-Oesterreichs, so liegt wohl die Frage nahe: wie ist’s möglich, daß der größte Dramendichter desselben Oesterreichs nach sechszigjähriger Arbeit im Verhältniß zu seiner Berühmtheit ein armer Mann blieb? Er hat bis an sein Lebensende im vierten Stock wohnen, er hat sich auf’s Bescheidenste einrichten müssen, um, nicht von seinen Dichtereinnahmen – denn die hätten ihn verhungern lassen –, sondern von seinem Beamtengehalte für seine drei treuen Lebensgefährtinnen das doch wahrlich sehr mäßige Capital von „zehntausend Gulden“ zusammenzusparen.

Und nach solch einem Arbeitserfolg am Grabe eine solche Lobhudelei Derer, die den Dichter im Leben so theilnahmlos seinem Schicksal überließen? Man ehrt und unterstützt zugleich einen Dichter nur dadurch, daß man seine Werke kauft! Wie ehrte man ihn in Wien? Man gab zu seinem achtzigsten Geburtstag ein kleines Seitenstück zum großen Schillerfest: ein Grillparzerfest! Festtafeln, köstliche Speisen und Getränke, glänzende Bälle! Alles zum eigenen Vergnügen. Während im Schillerfestjahr [132] von Schiller’s Werken Hunderttausende von Exemplaren Eigenthum des Volks bis in die einfachste Bürgerwohnung geworden, wurde im ganzen Jahr des Grillparzerfestes im ganzen Buchhandel von Grillparzer’s Werken nur ein Buch für anderthalb Gulden verkauft! Ja, das „Neue Wiener Tageblatt“ setzt zu dieser Jammernotiz noch hinzu: „Ein zweites Exemplar wäre fast verkauft worden. Eine blaustrümpfige Aristokratin fragte darnach, als sie aber hörte, daß es die Riesensumme von einem Gulden fünfzig Kreuzer Papier koste, wies sie es entrüstet mit den Worten zurück: ‚Was, anderthalb Gulden? Jetzt habe ich gerade fünfzehn Gulden für einen Sitz zur Festvorstellung bezahlt, und da soll ich noch anderthalb Gulden für das Buch ausgeben? Nein, das ist zu viel!‘ Sprach’s und ging.“

Nur eine, Geber und Nehmer gleich hoch ehrende Ausnahme von dieser allgemeinen Rücksichtslosigkeit gegen den Erwerb Grillparzer’s machte – der Kaiser: er legte dem pensionirten Beamten noch eine Dichterpension von tausend Gulden zu; das hat ihm den Lebensabend schön erhellt.

Trotz alledem war er ein armer Kreuzträger, unser Franz Grillparzer. Hat er doch das Aergste ertragen müssen: österreichischer Dichter zu sein unter einem Metternich! Das war mehr als Höllenqual für einen freien, redlichen, echt deutschen Geist. Dem Minister, welchem Oesterreich sein Unglück verdankt, hat man Millionen und dazu – den besten Weinberg der Welt zum Lohn gegeben. Du, armer Franz, hast wohl nie einen Tropfen Johannisberger geschmeckt! Aber sei nur gut, Du bist viel glänzender begraben worden, als Dein alter Feind Metternich, und die Deutschen überall, soweit die deutsche Zunge klingt, werden Dich lieb behalten, Du Dichterherz!

Fr. Hfm.




Ein Telegraph ohne Mechanismus und ohne Benutzung des Lichtes, der Elektricität und des Magnetismus. Alle bisher bekannt gewordenen Telegraphen zeigen uns einen mehr oder weniger complicirten Mechanismus, durch welchen die zu gebenden Zeichen – abgesehen von dem sie fortpflanzenden (leitenden) Theile des Apparates – producirt und reproducirt werden müssen, und bedürfen der Anwendung der eben erwähnten physikalischen Agentien, denn die alten optischen Telegraphen bedurften des Tageslichtes und die neueren benutzen bekanntlich die Elektricität und den Elektro-Magnetismus.

Dem gegenüber ist eine von Professor Weinhold in Chemnitz angegebene und durch sehr günstig ausgefallene Versuche bewährte telegraphische Einrichtung schon darum von Interesse, weil sie nichts als einige einfache hölzerne Kästchen und einen Draht erfordert.

Weinhold’s Vorrichtung stützt sich nur auf die Gesetze des Schalles, ist also ein akustischer Telegraph, und pflanzt direct die Laute der menschlichen Sprache (natürlich aber auch andere Töne) in die Ferne fort. Wir haben hier also einen wirklichen „Sprechapparat“ vor uns, während die elektrischen Telegraphen nur sehr uneigentlich so genannt worden sind.

Daß sich Schallschwingungen – seien sie nun Laute oder Töne ober blos Geräusche – auf weitere Entfernungen fortpflanzen lassen, ist an sich freilich nichts Neues. Schon der englische Physiker Wheatstone bereitete seinen Gästen ein „unsichtbares Concert“, indem er im Keller seines Hauses ein Clavier, eine Violine, ein Violoncelle und eine Clarinette mit vier Stangen von Tannenholz in Verbindung brachte, die er durch die Wölbungen und Decken nach dem Gesellschaftszimmer des oberen Stockes leiten ließ, wo die Musik der unten gespielten Instrumente dann deutlich erklang. Vielen unserer Leser wird auch das von Dr. Paul Reis in Mainz erfundene „Telephon“ bekannt geworden sein, bei welchem der elektrische Strom die Vermittelung der Schallfortpflanzung übernimmt. Beiderlei Vorrichtungen sind aber zu umständlich, und bei dem Telephon ist, wie gesagt, die Anwendung der Elektricität und ein ziemlich difficiler Apparat erforderlich; dabei ist die Wirkung nur schwach.

Weinhold’s Vorschlag empfiehlt sich dagegen durch seine große Einfachheit und Billigkeit für die praktische Anwendung: er erfordert nur zwei „Resonanzkästchen“ und einen Eisendraht. Unter einem Resonanzkästchen hat man einen kleinen Kasten aus dünnem, trockenem Holze zu verstehen. der aber nicht, wie unsere gewöhnlichen Schiebekästen, oben offen, sondern hier mit einer dünnen Holzplatte, dem „Resonanzboden“, verschlossen, dagegen an der vordern (bei einem Schiebkasten zum Aufziehee bestimmten) Seite, sowie an der dieser gegenüberstehenden hintern Seit offen ist – also gewissermaßen eine viereckige hölzerne Röhre. Wird nun ein tönender Körper mit dem Resonanzboden eines solchen Kästchens in Verbindung gebracht, so geräth die in dem Kasten befindliche Luft in starke Mitschwingungen, welche der umgebenden Luft mitgetheilt werden und so unser Ohr erreichen. Und treffen andererseits Schallschwingungen eines tönenden Körpers, zum Beispiel der Luft, den Resonanzboden des Kästchens, so werden sie durch einen mit demselben fest verbundenen Schallleiter weiter fortgepflanzt.

Ein solches Kästchen wurde nun in dem Bodenraume eines isolirt stehenden Hauses an einen Leiter befestigt, ein zweites im Dachraume eines etwa eine Zwölftel Meile entfernten Hauses an vier Schnüren aufgehängt und beide durch einen nicht ganz sieben Zehntel Millimeter starken Eisendraht verbunden. Der Draht ging durch die Resonanzböden der beiden Kästchen hindurch und war mit jedem Ende außerhalb des betreffenden Kästchens um ein Stück Kupferdraht gewunden. Die Kästen waren so aufgehängt, daß der Eisendraht dadurch gehörig gespannt wurde, wodurch die Kupferdrahtstücke sich fest gegen die Resonanzböden anlegen mußten. Das ist die ganze Vorkehrung!

Der Draht war übrigens geglüht und bestand aus fünf Stücken, die durch sorgfältiges Zusammendrehen ihrer Enden vereinigt waren. Der horizontale Abstand der beiden Drahtenden betrug sechshundertsechsundvierzig und ein halbes Meter; doch war der Draht selbst natürlich etwas länger, da ja bekanntlich weder ein Seil, noch ein Draht und dergleichen in eine gerade Linie gespannt werden kann, sondern stets einen Bogen, eine sogenannte „Kettenlinie“ bildet; der senkrechte Abstand des tiefsten Punktes derselben von der geraden Verbindungslinie der Drahtenden betrug im Mittel sechzehn und ein halbes Meter.

Stellten sich nun zwei Personen in den beiden Stationen in geringer Entfernung von den Resonanzkästen auf, so konnten sie sich trotz der bedeutenden Entfernung (nach altem Maß über zweitausendzweihundertundvierundachtzig leipziger Fuß) bei ruhiger Luft bequem unterhalten, ohne die Stimme bedeutend mehr erheben zu müssen, als beim gewöhnlichen Sprechen. Die Stimmen verschiedener Personen, jeder Wechsel in der Tonstärke und Höhe der Stimme in der einen Station konnten auf das Genaueste in der andern unterschieden werden. Der Mund des Sprechenden befand sich hierbei in einem Abstand von dem Resonanzkästchen, der von fünf bis zu fünfzehn Centimeter variirte; aber selbst Personen, die bis ein Meter von dem Kästchen entfernt standen, konnten die am andern Ende gesprochenen Worte noch deutlich hören. Nur bei starkem Winde wurden die Versuche durch zu starkes Tönen des durch den Wind in Schwingungen versetzten Drahts gestört; indeß konnte man auch dann noch durch Klopfen mit einem Bleistift auf den Resonanzboden verständliche Zeichen geben. Gegen dies durch die Lust bewirkte Tönen des Drahts könnte man sich, wo es der Kostenpunkt erlaubt, dadurch schützen, daß der Draht in eine an oder unter der Erde liegende Röhrenleitung eingeschlossen würde, wie dies ja auch für die unterirdische Stromleitung der älteren elektrischen Telegraphen geschah.

Es liegt auf der Hand, daß man auf diese Weise eine gesprochene Depesche auch auf erheblich größere Entfernungen fortleiten kann, wobei natürlich der Draht, der in dem geschilderten Versuche nur an seinen Enden befestigt war, noch durch Aufhängen an verschiedenen Zwischenpunkten unterstützt werden müßte. Richtet man außerdem eine größere Anzahl von Stationen mit Resonanzkästen ein, so eignet sich dies Verfahren selbst für bedeutende Distanzen.

Wir sind zwar nicht der Meinung, daß das Weinhold’sche Verfahren die elektrischen Telegraphen verdrängen werde, wenn man aber die große Einfachheit und die sehr erhebliche Verminderung der Kosten im Vergleich mit anderen Telegraphen in’s Auge faßt, so dürfte ein solcher „phonischer Telegraph“[2] aus dem engen Rahmen eines physikalischen Versuches heraustreten und für nicht zu großartige Verhältnisse sich wohl zur praktischen Einführung empfehlen. Kann doch auch noch der Umstand, daß sich unterscheiden läßt, wer die Depesche giebt, in manchen Fällen von Nutzen sein.

Wir wollen schließlich noch bemerken, daß es für geringere Entfernungen, bis zu hundertfünfzig Meter, schon genügt, zwischen den in den Händen gehaltenen Resonanzböden einen Bindfaden auszuspannen, so daß man sich durch einen Versuch im Kleinen, z. B. durch Fortpflanzung eines Stimmgabeltons, der Musik einer Spieldose etc., ohne große Kosten und Umstände von der Richtigkeit der Thatsache überzeugen kann.



  1. Wir bringen mit Obigem ein Lebenszeichen von einem Mann, dessen hervorragende Betheiligung am ersten deutschen Parlament, wie an der badischen Revolution, wo er eine Zeitlang an der Spitze der revolutionären Regierung gestanden, einen Platz in der deutschen Geschichte gefunden. Er lebt jetzt in der Schweiz, nachdem er bei dem Brande von Chicago Alles verloren.
    Die Redaction.
  2. Ehrlich deutsch: „Fernsprecher“, wenn’s erlaubt ist, so Etwas deutsch zu benennen.
    D. Red.




Kleiner Briefkasten.


K. V. in S. Es ist so, wie Sie voraussagten. Der große Scandal, welcher in wahrhaft ungeheuerlicher Weise – die Lehrerin Emilie Riedel in Reichenbach sollte mit gräßlichen Scheltworten einem Kinde einhundertsechsundzwanzig Stockstreiche gegeben haben! – in einem Theile der Presse angerührt und verbreitet wurde, löste vor dem Criminalgericht sich in eine große Lüge auf. Nur schade, daß das Verleumden viel leichter ist und rascher vor sich geht, als das Reinwaschen – und daß nicht wenige Blätter sich bei Weitem nicht so beeilen, ein Unrecht wieder gut zu machen, als nach einer „pikanten Notiz“ zu raffen. Fräulein Riedel ist von all’ diesen Anschuldigungen freigesprochen worden.

R. in Solingen. Ein sehr gelungenes Portrait ist längst fertig und ebenso eine feingearbeitete Charakteristik des Patrioten, nur warten wir auf eine Gelegenheit, wo der Betreffende wieder etwas in den Vordergrund tritt, um dann sofort das Gewünschte zu veröffentlichen.




Zum Nationaldank für Ludwig Feuerbach.


gingen ferner ein: Sammlung durch Albrecht, deutsch-katholischen Prediger in Ulm 24 Thlr.; Bauer M. in M. bei Leisnig 1 Thlr.; Wagner und Halberstädter aus Beuthen 1 Thlr. 10 Ngr.; Schmiesekamp in Bielefeld 1 Thlr.; Ludwig Bolborn in Berlin 10 Thlr.; Sammlung von J. Heuberger in Aarau 120 Frcs.; Ungenannt aus Nördlingen 6 Thlr.; B. B. in Wählitz 3 Thlr.; von einer Studentin des Diesseits in Ludwigshafen 4 Thlr.; C. A. S. in Lohmen 2 Thlr.; L. S. in Crenze 3 Thlr. 10 Ngr.; aus Franzensbad 10 fl.; L. G. in Geithain 1 Thlr.; F. in W. 1 Thlr.; von einem Juristen und einem Mediciner in Köln 5 Thlr.; Schlünker in Köln 4 Thlr.; von einer Frau 2 fl. rh.: B … in Meran 5 Thlr.; L. und A. Hugo in Karlsruhe 2 Thlr.; gesammelt in Magdeburg in Stadt Prag 12 Thlr.; M. W. in Königsberg 2 Thlr., vom Vorstand der freireligiösen Gemeinde in Heidelberg 10 Thlr.; G. Hansemann 25 Thlr.; T. R. in H. 1 Thlr.; Doctor D. in Meißen 3 Thlr.; Sammlung aus München-Gladbach 31 Thlr. 20 Ngr.; R. C. in Landsberg 2 Thlr.; Häubner in Görlitz 1 Thlr.; Einige Tischgäste zum Hôtel Adler in Weimar 6 Thlr.; C. R. in Prag 25 fl.; L. und N. G. in Augsburg 5 Thlr.; zur Erinnerung an mein liebstes Schneewittchen in Zittau 2 fl. 15 Kr. rh.; W. Schröder in Bremen 25 Thlr.; v. Kriegsheim in Greifwald 10 Thlr.; A. E. in Dresden 3 Thlr.; Spielcassenertrag einer Sonntagsgesellschaft in Neustadt a. H., durch Roerer 5 Thlr.; B. E. H. in Berlin 30 Thlr.; W. M. in Naumburg 2 Thlr.

Redaction der Gartenlaube.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Unterhuldingen
  2. Vorlage: Philophie