Die Gartenlaube (1871)/Heft 33
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No. 33. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Das Haideprinzeßchen.
Der Raum, der im niedersächsischen Hause sich zwischen der Tenne und den Wohnräumen hinzieht, und in welchem sich der Küchenherd befindet, heißt der Fleet. Auf dem Dierkhof erhob er sich noch nach uralter Sitte um einige Zoll über den lehmgestampften Boden der Tenne, sonst aber trennte ihn weder eine Wand, noch ein niedriger Bretterverschlag von der letzteren; man konnte somit von dieser Stelle aus die ganze Länge der Dreschdiele bis zum Hausthor und die sich zu beiden Seiten hinziehenden Viehstände bequem übersehen. Auf den Fleet mündeten ein Fenster und zwei Thüren der Wohnräume; er war mit kleinen Steinplatten sauber belegt, hatte, wie schon erwähnt, zu beiden Seiten Thüren, die in’s Freie führten, und war für mich der gemüthlichste Platz im ganzen Hause. Dort stand auch, nicht weit vom Herde, zur Sommerzeit der Eßtisch.
Als ich mit Ilse nach der Heimkehr von meiner stürmischen Abendwanderung, in diesen lauschigen Theil des Hauses trat, brannte schon die Lampe auf dem Tische, sie verlor sich in dem weiten, dunkel angerauchten Raum wie ein kleiner Funken. Durch das offene Hausthor fiel noch das fahle Dämmerlicht von draußen auf die vorderen Viehstände; sie waren leer, auf dem Dierkhofe wurde nur so viel Oekonomie betrieben, als zu unserem eigenen Lebensbedarf nöthig. Nahe dem Fleet aber, mit der Stirn nach der Tenne zu, lag Mieke wiederkäuend und hielt mir die Hörner hin – zur Nachttoilette schien ihr die baumelnde Guirlaude doch nicht wünschenswerth.
Ilse warf einen Blick auf das „feierlich geputzte“ Thier, dann wandte sie den Kopf weg und schlug mich leicht auf die Schulter – ich durfte ja beileibe nicht wissen, daß sie über meinen „ewigen Unsinn“ gar auch noch lache.
Man hatte bereits ohne mich Abendtafel gehalten. An einem mächtigen Berg von Kartoffelschalen sah ich, wo Heinz gehaust hatte. Ilse schob, diesmal ohne Strafpredigt, die kalt gewordenen Kartoffeln von meinem Teller und legte mir dafür ein Paar heiße, weichgekochte Eier hin. Draußen im Baumhof hörte ich Heinz hantiren, und Ilse lief auch emsig auf und ab, sie hatte noch „alle Hände voll zu thun“. Das war nun freilich nicht der günstigste Moment; trotz alledem fuhr mir die Frage heraus, die mir bisher auf den Lippen geschwebt hatte:
„Ilse, wie heißt das Haus, wo mein Vater jetzt wohnt?“
Sie wollte gerade an mir vorüber in den Baumhof gehen.
„Willst Du ihm schreiben?“ fragte sie überrascht stehen bleibend.
Ich lachte laut auf. „Ich? Einen Brief schreiben? Ach, Ilse, wie das lächerlich klingt! … Nein, nein, ich will nur wissen, wie die Leute heißen, bei denen mein Vater wohnt!“
„Muß es auf der Stelle sein?“
Ich wagte nicht „ja“ zu sagen; aber vielleicht las Ilse die brennende Ungeduld auf meinem Gesicht. Sie ging schweigend in die Wohnstube und schob mir gleich darauf ein Kästchen hin.
„Da, suche Dir die Adresse selber – ich hab’ sie nicht im Kopfe. Aber verliere mir nichts und stöbere nicht zu viel herum!“
Sie ging hinaus. Wie sauber und pünktlich geordnet lag die spärliche schriftliche Verbindung zwischen dem Dierkhof und der Außenwelt in dem kleinen Viereck! … Da war das dünne, verschwindend kleine Päckchen, das die Briefe meines Vaters umschloß, sie trugen sammt und sonders Ilse’s Adresse, enthielten stets nur wenige höfliche Zeilen, einen Gruß an die Großmutter und an mich, und eine bestimmt verneinende Antwort auf Ilse’s hie und da wiederkehrende Bitten, mich, der Schule wegen, vom Dierkhof hinwegzunehmen. Was an Schriftstücken von draußen herkam, ging durch Ilse’s Hand und wurde von ihr unter Seufzen und großen Mühen mit steifen Schriftzügen und lakonischer Kürze erledigt. Ich kümmerte mich nie darum; denn so flink ich im Lesen war, und so heißhungrig ich immer wieder die mir von Fräulein Streit massenhaft hinterlassenen Kinderbücher auch jetzt noch verschlang, so blutsauer wurde mir das Schreiben, und so verhaßt war es mir.
Unter dem Päckchen mit meines Vaters Briefen lag auch ein Schreiben, von welchem ich wußte, daß es ganz vor Kurzem eingelaufen war. „An Frau Räthin von Sassen. Hannover.“ stand in schlanker, graciöser Schrift auf dem Couvert; eine andere plumpe Hand hatte den Namen des dem Dierkhof zunächst gelegenen Dorfes hinzugefügt. Der Brief war an meine Großmutter – der einzige, der, so lange ich denken konnte, unter dieser Adresse in unser Haus gekommen war. Als Heinz ihn vor einigen Wochen mitbrachte und Ilse übergab, da glitten meine Augen flüchtig über die Aufschrift, und ich ging gleichgültig hinweg, ohne den Inhalt wissen zu wollen; die Welt außerhalb der Haide und was von ihr herüberkam, hatte für mich nicht die geringste Anziehungskraft. Heute war das plötzlich anders; das aufgebrochene Siegel reizte mich, einen Blick auf das Blatt drinnen zu werfen; [546] allein ich wagte es doch nicht ohne Ilse’s Erlaubniß und legte den Brief einstweilen auf die Tischecke.
Die gewünschte Adresse meines Vaters war schnell gefunden. Als ich sein letztes Schreiben mit hastiger Hand auseinanderschlug, da stand dicht unter seinem Namen: „Firma Claudius Nr. 64 in K.“ Ein jäher Stich durchfuhr mich, und ich fühlte, wie es mir flammendheiß über das Gesicht hinlief, als ich den Namen schwarz auf weiß vor mir sah, den der Professor heute wiederholt ausgesprochen hatte. Wie prächtig verstand ich auf einmal die flüchtigen, kraus durcheinander wimmelnden Schriftzüge meines Vaters zu lesen! Der Name sprang mir förmlich in die Augen. … Ich kannte den Inhalt des Briefes, Ilse hatte ihn mir mitgetheilt; und doch fing ich jetzt an, die Zeilen noch einmal zu studiren. Ach, da war wieder einmal die ganze Oede und Trockenheit, welche die Briefe meines Vaters kennzeichnete! Er fragte nicht: was macht mein Kind? Ist es gesund und denkt es an mich? … In diesem Augenblick fühlte ich zum ersten Mal, wenn auch noch dunkel, daß mein Vater ein schweres Unrecht an mir begehe.
Die nichtssagenden Zeilen schlossen mit dem Satze. „Der Brief aus Neapel wird nicht beantwortet, und daß er meiner Mutter nie zu Gesicht kommen darf, versteht sich von selbst.“ Damit war offenbar das Schreiben gemeint, das da neben mir auf dem Tisch lag; es trug das Postzeichen Neapel und war mir nun doppelt interessant.
Das dünne Blättchen in meiner Hand aber faltete ich mißmuthig und enttäuscht zusammen – Nichts über den neuen Aufenthaltsort meines Vaters, kein Wort über seine Beziehungen zu Denen, die Claudius hießen – ich sprang auf und warf den Brief in den Kasten. Ei, was kümmerten mich die fremden Leute! Da sann und grübelte ich über Menschen und Verhältnisse, die mich nichts, aber auch ganz und gar nichts angingen, und draußen brach die Nacht herein, und Heinz polterte und rumorte immer noch im Hofe herum. Sonst, wenn er über Feierabend noch einmal zu hantiren anfing, da klopfte ich ihn auf die Finger, hing mich an seinen Arm und schleppte ihn herein auf den Fleet, auf den massiven, ungepolsterten Holzstuhl, seinen unbestrittenen Platz. Dann reichte ich ihm einen brennenden Kienspahn, und gleich darauf wirbelten die Rauchwolken um sein selig schmunzelndes Gesicht. Ilse brachte ihr Nähzeug, ich aber las mit unvermindertem Enthusiasmus immer wieder die Erzählungen vor, die ich halb auswendig wußte. War es kühl oder gar stürmisch regnerisch draußen, dann wurde das Feuer im Herd neu geschürt, und Ilse goß einen heißen Thee auf. Wonnig war es dann, auf dem geschützten Fleet, unter dem Dach zu sitzen, auf das der plätschernde Regen unermüdlich niedertrommelte; dazu der Gluthschein vom Herde her und die trauliche Stille in dem weiten, von langen Streifen der Tabakswolken durchzogenen Raum der dämmernden Tenne. Dann und wann klirrte leise die Kette an Miekes Hals, hoch oben auf den Querstangen rührte sich schlaftrunken eines der Hühner, oder Spitz dehnte sich behaglich seufzend vor dem warmen Herde – Alles, was ich liebte, geborgen inmitten der festen vier Wände!
Da war es still in meiner Seele; ich hatte keinen Wunsch, kein Verlangen; mein junges Herz war nur voll von Zärtlichkeit für die Beiden zwischen denen ich saß. … Nun drängten sich auf einmal fremde Gesichter von draußen herein, und ich erröthete heiß vor mir selber, indem ich daran dachte, was heute unter ihrem plötzlichen Einflusse aus mir geworden war. Da half kein Leugnen – statt zu dem alten Freunde zu halten, den der vornehme junge Herr mit so verächtlichen Blicken gemessen, hatte ich mich feiger Weise seiner geschämt; ich war maßlos heftig geworden, hatte mit dem Fuße gestampft ihm gegenüber, der mir allzeit mit der grenzenlosesten Geduld und Nachsicht begegnete, und ihn einfältig dafür gescholten, daß er seinen einfachen Kopf anstrengte, um genau nach meinem Wunsch und Willen zu antworten. … Und warum that ich das? Weil mir auf einmal der glorreiche Einfall kam, mit meinem berühmten Vater prunken zu wollen, mit dem Vater, für den ich nicht existirte, während ich auf Heinzens Armen groß geworden war.
Ich mußte abbitten, reumüthig abbitten, und zwar auf der Stelle, und der Entschluß wurde mir leicht gemacht, denn in demselben Augenblick ging die Thür nach dem Baumhof auf, und Heinz trat, gefolgt von Spitz, auf den Fleet.
Ich flog auf ihn zu und legte meine Hände auf seine breite Brust – höher kam ich nicht.
„Heinz, Du bist furchtbar böse auf mich, gelt?“
„Ei beileibe, davon müßte ich doch auch ’was wissen, Prinzeßchen!“ brummte er neben der Pfeife heraus. Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied.
„Du weißt es auch, Heinz,“ sagte ich. „Geh’, zanke mich tüchtig aus. … Ich bin bodenlos ungezogen gewesen! … Gelt, das hättest Du nie von mir gedacht? – mit dem Fuße zu stampfen –“
„Ach, das war ja nur ein Späßchen –“
„Ein Späßchen? Glaub’ doch das nicht! Es war Ernst, nichtswürdiger Ernst! … Sei Du nur nicht so gut mit mir, Heinz – ich verdiene es nicht, und Strafe muß sein. … Kindisch bin ich und heftig und ein erbärmliches, undankbares Ding –“
„Ei ja – und was nicht noch Alles!“
„Ein Hasenfuß, Heinz! … Ja, siehst Du, das war’s eben, was mich so außer Rand und Band brachte. Da stand ich wie hingeschneit am Hügel, und alle die Köpfe wären doch ganz gewiß nach mir herumgefahren, wenn Du gesagt hättest –“
„Hab’ nichts gesagt! Hä, hä, hä! Nicht ein Wörtchen!“ – Er stippte bedeutsam den Zeigefinger gegen die Stirn. – „Ja, so schlau ist man auch – die hätten lange fragen können!“ – Mit einer schwerfälligen Bewegung griff er in die Brusttasche seines Rockes. „Aber das unmenschlich viele Geld, das da nur so auf den Boden hinkollerte, das haben die Leute nicht wieder genommen, durchaus nicht! … Ich hab’s auflesen müssen – und da ist’s, Prinzeßchen!“
Er zählte die blanken Thaler in langer Reihe auf seine Rechte. Seine kleinen Augen glitzerten und funkelten und huschten liebäugelnd darüber hin.
Fünf Silberstücke – für jede Perle eins! So war es gemeint gewesen. Das „Hier, mein Kind!“ des alten Herren hatte so selbstverständlich geklungen als seien die Dinger da von mir verlangt worden, und ich hatte die Perlen doch hinschenken wollen. Das verdroß mich jetzt erst über die Maßen.
„Ich will sie nicht, Heinz!“ grollte ich und stieß nach seiner Hand.
Das Geld rollte abermals hinab. … Was war das für ein entsetzliches Geräusch, als die schweren Metallstücke klingend und klirrend auf das harte Steinpflaster niederschmetterten! … Ich hatte es noch nie, und der Dierkhof wohl seit vielen Jahren nicht mehr gehört.
Unwillkürlich fuhr ich herum, und mein Blick zuckte scheu über das Fenster, das nach dem Fleet mündete. Hinter den halbblinden Scheiben hing ein dicker, farbenbunter Plüschteppich, den, so lange ich denken konnte, nie eine Hand von drinnen gehoben hatte – jetzt wurde er zurückgeschleudert, und die Augen meiner Großmutter funkelten heraus.
Das war ein Anblick, der dem Beherztesten Grauen einflößen konnte. Zitternd bückte ich mich, um das Geld zu sammeln; aber da flog auch schon die neben dem Fenster befindliche Thür auf – wie ein Windstoß brauste es heran – ich wurde an der Schulter gepackt und auf die Tenne hinabgestoßen.
„Nicht anrühren!“ gellte es mir in die Ohren. Welch einen erschütternden Klang hatte doch die Stimme, die seit langen Jahren für mich verstummt war! Ich schlug entsetzt die Augen auf.
Da stand die gewaltige Frau und schüttelte grimmig die Faust nach Heinz hin. „Du“ – zischte es drohend von ihren Lippen.
„Gut sein, gnädige Frau, gut sein!“ stotterte er bittend. „Ich trage ja gleich, jetzt auf der Stelle, das ganze dumme Lumpenzeug ’nüber in den Fluß!“ Er zitterte wie Espenlaub – ich sah zum ersten Male, daß diese unverwüstlich frische Gesichtsfarbe bis in die Lippen erbleichen konnte.
Sie wandte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken. Die langen, grauen Flechten peitschten ihre Hüften, und ich erwartete unter stockenden Pulsen, daß sie sich wieder auf mich stürzen werde. Da stieß ihr Fuß an eines der Geldstücke; sie fuhr zurück, als habe sie auf eine Schlange getreten. – Nun kam ein Schauspiel, das ich nie, nie vergessen kann. Kichernd schleuderte sie das Geldstück mit der Fußspitze fort, daß es weithin [547] flog und rasselnd auf die Steine niederschlug, dann ein zweites, ein drittes, und so schritt sie auf dem Fleet hin und her – ich mußte an das grausame Spiel der Katze mit der Maus denken. … Und wie grauenhaft rasch wechselte das Mienenspiel auf dem roth überflammten Gesicht! Man sah, sie stieß das Geld voll Ingrimm und Abscheu von sich, und doch, sobald es wirbelnd niederfiel, lauschte sie vorgestreckte Halses mit unverkennbarer Lust, ja mit einer Art von Begierde, dem hellen Silberklang, bis die letzte leiseste Schwingung erloschen war.
Ich rührte mich nicht von der Stelle und wagte kaum zu athmen; Spitz, der sonst so rauflustige Spitz, schlich mit eingeklemmtem Schwanz vom Herde weg und drückte sich dicht neben Heinz, der regungslos, wie festgemauert auf seinem Platze verharrte, und seine todesängstlichen Augen huschte einige Mal nach mir hinüber. … Ach, Ilse – wo blieb sie nur? … Sie war die Einzige, die Macht über meine Großmutter hatte. Hörte sie denn den Lärm gar nicht, der so unheimlich und nervenerschütternd gegen die alten Balken des Dierkhofes schlug?
Das Klingen und Springen der Silberstücke dauerte fort. Die alte Frau schien nicht mehr zu wissen, daß zwei Menschen wie Bildsäulen in ihrer Nähe standen. Sie rannte immer leidenschaftlicher auf und ab und flüsterte und gesticulirte nach etwas Unsichtbarem hin. … Da auf einmal fuhr es wie ein Ruck durch ihre Glieder; sie kam eben am Eßtisch vorüber und blieb förmlich versteinert stehen, während ihre Augen minutenlang seitwärts auf die Tischecke niederstierten – da lag der unglückselige Brief, der nach dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters ihr nie zu Gesicht kommen sollte.
„An Frau Räthin von Sassen!“ unterbrach sie endlich das tödtliche Schweigen und strich sich tiefaufseufzend mit der Hand über die Stirn. „Frau Räthin von Sassen! Das war ich – ich!“
Ich kämpfte mit mir selber, ob ich hinzuspringen und ihr den Brief entreißen solle, auf den sie eben die Hand legte. Aber was war ich schwaches zerbrechliches Geschöpf unter den Händen dieser Frau! Sie hätte mich ohne Weiteres zurückgeschleudert und den Besitz des verhängnißvollen Papieres erst recht behauptet. Ich machte Heinz die beredtesten Zeichen – er sah mich völlig verständnißlos an, und da geschah auch schon das Gefürchtete – meine Großmutter zog den Brief aus dem Couvert.
„Laß ’mal sehen!“ sagte sie, indem sie langsam das Blatt entfaltete.
Sie las nicht, ihr Blick fiel nur auf die Unterschrift – was mußte es wohl für ein Name sein, der eine solche Wirkung haben konnte? … Mit einem Wuthschrei zermalmte die alte Frau sofort den Brief zwischen den Fingern. „Deine Christine!“ lachte sie gellend auf, schleuderte den gestaltlosen Papierklumpen weit in die Tenne hinein und lief mit einer wildabwehrenden Bewegung in ihr Zimmer zurück – gleich darauf kreischte drinnen der vorgeschobene Riegel.
Ilse, die eben mit einem Korb voll Torfstücken aus dem Hofe kam, blieb erstaunt auf der Schwelle stehen.
„War das nicht die Großmutter?“ fragte sie halb erschrocken, halb ungläubig. Die Thür, die da eben krachend zuschlug, wurde ja nie benutzt – Schloß und Riegel mußten längst eingerostet sein.
Mir schlugen die Zähne wie im Fieber zusammen aber ich fühlte mich doch gleichsam erlöst und erzählte ihr flüsternd und athemlos den Vorgang. Ich sah wohl, wie sie zusammenschrak und sich verfärbte; aber Ilse hätte nicht Ilse sein müssen – sie sagte kein Wort, stellte ihren Korb neben den Herd und fing an, die Torfstücke auszupacken und symmetrisch aufeinanderzulegen; nur als Heinz herantrat, hob sie den Kopf – sein heiliger Respect vor den scharfen Augen war sehr begründet, sie hefteten sich vernichtend auf sein schreckerfülltes Gesicht.
„Bist ja ein Mordkerl, Heinz!“ sagte sie. „Hab’ jahrelang gesorgt, daß nicht einmal Groschengeld auf den Dierkhof gekommen ist, und jetzt macht solch ein Politikus das nette Kunststückchen und wirft mir eine ganze Handvoll Silberthaler auf die Steine! … Ei je, die Vierzig auf dem Rücken und keine Ueberlegung!“
Mir traten die Thränen in die Augen. Trotz meiner wahrheitsgetreuen Schilderung und meiner Selbstanklage bekam Heinz die Schelte, und er ließ Alles geduldig über sich ergehen, er widersprach mit keinem Wort. Ich schlug meine Arme um ihn und drückte das Gesicht in den Aermel seines alten Drellrockes.
„Ja, tröste ihn nur, Deinen Heinz! – Das hält eben immer wie die Kletten zusammen!“ sagte Ilse, aber schon war alle Schärfe aus Blick und Ton verschwunden.
Sie nahm die Lampe vom Tisch und schritt die Tenne hinab, um den Papierknäuel zu suchen, aber so viel sie auch umherleuchten mochte, er fand sich nicht.
Bis dahin hatte ich in dem Zimmer meiner Großmutter nur selten eine Lebensäußerung gehört, vielleicht nur nicht beachtet; ich mied ja auch stets instinctmäßig die nächste Umgebung desselben; jetzt drang das Murmeln einer leidenschaftlich erregten, rauhen Stimme, von Stöhnen und tiefem Aufseufzen unterbrochen, durch das teppichverhangene Fenster.
„Sie betet,“ flüsterte Heinz mir zu.
Aber dies Gebet wurde nicht knieend verrichtet. Sie ging mit so wuchtigen Schritten drinnen auf und ab, daß der Teppich hinter den Glasscheiben leise schwankte und der Boden hier draußen unter unseren Füßen nachschütterte.
„Gebt Licht herein!“ schrie sie plötzlich angstvoll auf.
„Licht?“ wiederholte Ilse. „Ich habe ja die Lampen hineingestellt.“ Sie lief nach dem engen Gang, der, an der östlichen tiefen Seite der Wohnräume hinlaufend, nach dem Garten mündete, und in welchem sich die Hauptthür des Zimmers befand.
Nicht lange darauf kam sie scheinbar beruhigt zurück. Darauf aber rasselte fast in demselben Augenblick der Pumpbrunnen, und man hörte den Wasserstrom zischend in den Trog stürzen.
„Es ist ihr schwarz vor den Augen geworden,“ antwortete Ilse kurz auf meine ängstlichen Fragen. „Das wird wieder einmal eine schöne Nacht werden!“ murmelte sie sorgenvoll vor sich hin, während sie das Geschirr vom Eßtisch wegräumte. Und das Kästchen mit den Papieren in das Wohnzimmer zurücktrug.
Also hatte sie öfter schlimme Nächte mit meiner Großmutter zu überstehen! Das war eine unheimliche Neuigkeit für mich; mein gesunder, glücklicher Schlaf hatte mich nie ahnen lassen, daß nächtlicher Weile irgend etwas im Hause vorgehe. Nun erinnerte ich mich freilich, daß ich Ilse schon gar oft des Morgens niedergeschlagen und erschöpft gefunden hatte; aber da waren stets ihre Kopfschmerzen, an denen sie häufig litt, schuld gewesen.
Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf; mir war so bang und beklommen zu Muthe, als müsse mit der Nacht draußen auch Schlimmes über den Dierkhof hereinbrechen. Fast mechanisch horchte ich auf Heinzens Schritte, der noch einmal die Runde um das Haus machte; er vermied wohlweislich den Baumhof, denn wenn auch der Schwengel des Pumpbrunnens augenblicklich ruhte, so hielt sich doch meine Großmutter jedenfalls noch dort auf. Da, wo die Umhegung des Baumhofes als scharfe Ecke in die Haide hineinschnitt, stand sie oft stundenlang und starrte in die unermeßliche Weite hinaus.
„Geh’ in Dein Bett, Kind, Du bist müde!“ sagte Ilse und strich mir mit der Hand über den Scheitel.
Ich war bis dahin, kraft meiner glücklichen Unbefangenheit, das indolenteste, eigennützigste Geschöpf der Welt gewesen – das fühlte ich tief in diesem Augenblick.
„Nein, ich gehe nicht schlafen,“ sagte ich und versuchte einen festen Ton anzuschlagen. „Ilse, ich bin heute siebzehn Jahre alt geworden, und nun groß und stark genug – ich lasse mich nicht mehr in’s Bett schicken, während Dir die Großmutter so schwer zu schaffen macht!“
Ich war aufgesprungen und stellte mich neben sie hin.
„So, das hätte mir gefehlt, daß Du mir auch noch im Wege herumstündest!“ entgegnete sie trocken; sie sah seitwärts auf mich nieder. „Hm ja, nun weiß ich doch auch, wie ein großes und starkes Frauenzimmer aussieht! Es reicht mit dem Kopf gerade über den Eßtisch und piept in die Welt hinein, wie ein Küchelchen, das eben aus dem Ei gekrochen ist –“
„Ilse, solch ein armseliges Ding bin ich doch nicht!“ unterbrach ich sie empört, aber auch kleinlaut – sie übertrieb ja nie.
„Uebrigens weiß ich gar nicht, was Du willst!“ fuhr sie unbeirrt fort. „Lächerlich! Die Großmutter steht ruhig draußen im Baumhof und wird in einer Stunde so fest schlafen, wie wir Alle. Aber das will ich Dir sagen, es regt sie stets auf, wenn sie das Licht zu lange auf dem Fleet brennen sieht.“
[548] Sie nahm ohne Weiteres die Lampe vom Tisch – und aus und vorbei war es mit meiner heroischen Anwandlung; den hätte ich sehen wollen, der auf Ilse’s letztes Wort, auf ihre energische Kopfwendung hin noch etwas zu erwidern versucht hätte.
Ich rief Heinz, der eben das Hausthor schloß, gute Nacht zu und folgte ihr pflichtschuldigst nach der Eckstube, in welcher wir Beide schliefen.
Es war dumpf und heiß in der Stube. Ilse hatte bereits die Holzläden in die zwei Eckfenster eingesetzt; und hätte sie über Vorhänge zu gebieten gehabt, sie wären sicher auch undurchdringlich übereinander gezogen gewesen.
„Hier, Du Leichtsinn, sind Deine neuen Schuhe!“ sagte sie, und zeigte unter den Stuhl, der neben meinem Bett stand. „Wäre Heinz nicht gewesen, da stünden sie noch draußen, und das Gewitter wüsche sie heute Nacht in den Fluß.“
Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden beim Anblick der zwei nägelbeschlagenen, häßlichen Unglückscameraden. Zudem fiel das Lampenlicht grell auf den alten, verräucherten Kupferstich, der an der Wand hing und Karl den Großen vorstellte. Das Bild heftete seine großen Augen unverwandt auf mich - ich wandte ihm den Rücken und stieß die Schuhe unvermerkt mit dem Fuß tief unter den Stuhl; ich mochte sie nicht mehr sehen, ich wollte nie mehr an die Fremden erinnert sein, mit deren Erscheinen eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten und neuen peinvollen Empfindungen in mein einsames, harmloses Leben hereingebrochen war.
Ilse verließ das Zimmer nicht eher, als bis sie mich im Bett wußte. Allein mit einem aufgeregt klopfenden Herzen voll schlimmer Ahnungen schläft auch die Jugend nicht ein. Ich schlüpfte wieder in meine Kleider, hob den Laden aus dem westlichen Eckfenster, das in den Baumhof sah, und setzte mich dicht neben dasselbe auf das Fußende meines Bettes. Das fast greifbare Dunkel im Zimmer lichtete sich, und ich wurde ruhiger, wenigstens verlor sich die leidige Gespensterfurcht sofort.
Geräuschlos klinkte ich das Fenster auf. Ein niedriger Ebereschenbaum draußen an der Wand, der in ihrem Schutz, zur Wonne der Vögel, sich alljährlich üppig mit seinen rothen Beerendolden behing, schob seine äußersten Zweigspitzen über die Scheiben. Hinter dem grünen Gespinst saß ich geborgen und konnte doch über Garten und Wiesen hinweg in die dämmernde Welt hineinsehen. Ilse hatte vorhin von einem drohenden Gewitter gesprochen; aber nie hatte sich der Sternenhimmel makelloser über die Haide hingebreitet! Die köstlich laue Nachtluft wehte mich an mit kaum fühlbarem Athem, nicht das kleinste Blättchen an den Bäumen hob sich vor ihm, um hinauszuflüstern in die herrschende Todesstille – für mich war sie trotzdem belebt; freilich nicht mehr durch die Geistertritte der Riesenrosse, die den greisen Hünenkönig und sein Gefolge über das Haideland trugen – den gold- und purpurstrotzenden Traum hatte heute die unbarmherzige Hacke gründlich zerstört – aber ich wußte ja, in jedem Erikastengel trieb und quoll es empor und formte in zarten Umrissen Millionen und aber Millionen Blüthenköpfchen, die in Kurzem hervorkommen sollten, um sich im Sonnenlicht die blassen Löckchen purpurn färben zu lassen. Und heute war ich droben im höchsten Eichengipfel gewesen und hatte im alten Elsternest vier Eier gezählt – da drin trieb es und dehnte sich auch und frug im emsigen Wachsen nicht, ob es Tag oder Nacht sei, bis das Schnäbelchen an die Schale pochte und Raum und Licht schaffte für zwei neue kluge Aeuglein … Ich wußte auch, daß jetzt weit drüben aus dem Waldsaum leisen Trittes die Rehe kamen und wohlig die Haideluft schlürften, die, auch über den Dierkhof hinstreichend, Wiesen und Kräuterdüfte mitbrachte.
Meine Pulse waren allmählich ruhig geworden. Unbewußt hatte ich in die glatte, friedliche Bahn meines gewohnten Denkens eingelenkt und die Interessen wieder aufgenommen, die meine anspruchslose Seele bisher vollkommen ausgefüllt.
Im Hause war es still geblieben, so still, daß ich Mieke’s Kette durch die Wand hatte klirren hören. Ilse hatte Recht gehabt mit ihrer Versicherung und konnte nun jeden Augenblick mit dem Licht in die Schlafstube treten. – Hei, wie rasch mich der Gedanke auf die Füße brachte! Ich wäre sicher binnen zwei Minuten in dem hochaufgethürmten Federbett rettungslos versunken gewesen, hätte nicht plötzlich das Zuwerfen einer fernen Thür alle Balken und Pfosten des Dierkhofes erzittern gemacht.
Ich war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, da kam es lautathmend um die Ecke, dicht am Fenster hin, so daß der gewaltige grauhaarige Kopf meiner Großmutter in erschreckender Nähe an mir vorüberfuhr.
„Es brennt, da – da!“ stöhnte sie im Vorüberlaufen und hielt beide Hände auf die Stirn gepreßt.
Ich wagte nicht, mich hinauszubiegen und ihr nachzusehen, hörte aber, wie sie gleich darauf stehen blieb, und ihre weitausgestreckten Arme kamen in das Bereich meiner Blicke.
„Denn das Fener ist angegangen durch meinen Zorn,“ sprach sie mit erhobener Stimme, in feierlich beschwörendem Pathos, „und wird brennen bis in die unterste Hölle, und wird verzehren das Land mit seinem Gewächs, und wird anzünden die Grundveste der Berge!“
Langsam schritt sie unter den Eichen hin und trat in die Ecke des Baumhofes. Sie stand mir nicht allzu fern, und es war hell genug, ich konnte sie deutlich sehen – bildete doch der Himmel mit seinem Goldgefunkel einzig und allein den Hintergrund für die kräftigen Umrisse der Gestalt. Sie hatte das Obergewand abgeworfen, die weiten Hemdärmel hingen von den Schultern und schimmerten weiß herüber, und den Rücken hinab fielen halbaufgeflochten in vereinzelten Strähnen die langen Zöpfe.
Was sie hinaussprach in die lautlos schweigende Haide – ich verstand es nicht; es war mir, als hörte ich alle die Fremdwörter des alten Professors hier in einem Fluß, aber mit eigenthümlich singender Betonung. … Plötzlich riß das Gemurmel in einem halberstickten Schrei ab; meine Großmutter fuhr herum, und die ruhelosen Füße begannen abermals, in verdoppeltem Geschwindschritt, die Wanderung. Ich meinte, sie wolle auf den Brunnen zustürmen – da lief sie blindlings gegen eine der Eichen, taumelte zurück, nahm nochmals einen Anlauf und brach zusammen, plötzlich, gewaltsam, wie niedergerissen durch unsichtbare Hände.
„Ilse, Ilse!“ schrie ich auf. Aber da stand sie schon und versuchte unter Heinzens Beistand die Gestürzte aufzurichten. Die Beiden hatten jedenfalls von der Baumhofthür aus meine Großmutter bewacht und beobachtet. Ich sprang zum Fenster hinaus.
„Sie ist todt!“ flüsterte Heinz, als ich zu ihnen trat. Er ließ muthlos den gewaltigen Körper zurücksinken, der in seiner Leblosigkeit jedenfalls furchtbar schwer war.
„Sei still!“ gebot Ilse mit erstickter Stimme. „Auf, brauche Deine Kräfte – vorwärts!“ Und sie faßte meine Großmutter unter den Armen und nahm sie mit übermenschlicher Kraft vom Boden auf, während Heinz die Füße hob.
Nie werde ich den erschütternden Anblick vergessen, als sie keuchend über den Fleet schritten, und die grauen Haarsträhnen der Leblosen über die Steinfließen hinschleiften, auf denen vor kaum einer Stunde noch die Geldstücken unter kräftigen Fußstößen umhergeflogen waren.
Ich lief voraus und öffnete die Thür im Zimmer meiner Großmutter; aber ich mußte erst noch eine hohe spanische Wand, die im Halbkreis den Eingang umstellte, zuückschieben, ehe ich in das Zimmer selbst eintreten konnte, der Einblick war den profanen Augen Vorübergehender somit vollkommen verwehrt. Ich hatte diesen Raum nie betreten dürfen, selbst als kleines Kind nicht. Bei aller Seelenangst und Gemüthserschütterung war mir doch in diesem Augenblick zu Muthe, als sähe ich mit zurückschreckenden Augen in eine neue Welt, aber in eine unsäglich düstere. Ich habe denselben Eindruck nur einmal noch empfangen, als ich eintrat in eine uralte dämmerdunkle Kirche voll halberblindeter Pracht, voller Marterbilder und erfüllt mit jenem unbeschreiblichen Gemisch von kalter eingeschlossener Kirchenluft und erstickenden Weihrauchdüften.
Meine Großmutter wurde auf ein Bett niedergelegt, das in der einen Ecke stand, es hatte Vorhänge, altmodische, steifseidene grüne Vorhänge, in die feine Goldblümchen eingewirkt waren. Wie das knisterte und rieselte, als sie zurückgeschlagen wurden, und wie schreckenerregend das bläuliche Gesicht mit den geschlossenen Augen unter dem harten dunkeln Grün hervorsah!
Heinz hatte sich geirrt, meine Großmutter war nicht todt. Schwerathmend lag sie da; sie rührte kein Glied, aber als Ilse in so weichflehenden Tönen, wie ich sie nie von ihr gehört, ihren
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Namen nannte, da öffnete sie für einen Moment die Lider und sah sie verständnißvoll an. Ilse schob ihr Kissen und Polster unter den Rücken und gab ihr eine sitzende Stellung im Bett; das that ihr sichtlich gut, das leise unheimliche Geräusch, das ihre Athemzüge begleitete, minderte sich.
Während dem hatte Heinz bereits den Dierkhof verlassen, um einen Arzt zu holen. Er mußte in das nächste Dorf laufen, und von da nach dem eine Stunde Wegs entfernten größeren Ort einen Wagen schicken, der den Doctor nach dem Dierkhof brachte; so konnten drei bis vier Stunden vergehen, ehe ärztlicher Beistand kam.
Mein Versuch, Ilse behülflich zu sein, wurde zurückgewiesen. Sie schob schweigend, mit einem besorglichen Blick auf die Kranke, meine Hände weg, gestattete mir aber, dazubleiben.
Ich kauerte mich, halbverdeckt durch den Vorhang, zu Füßen des Bettes auf eine kleine gepolsterte Bank nieder und sah beklommen in das fremdartige Zimmer hinein. Es war das größte im Hause und von einer saalartigen Weite; vielleicht hatte meine Großmutter eine Wand durchschlagen lassen, um den befremdend großen Raum zu gewinnen. An den Wänden hingen mit eingewobenen Gestalten bedeckte wollene Tapeten. Mein Blick kehrte immer wieder zurück auf einen lebensgroßen Kinderkörper mit einem schönen Gesicht voll Trauer und sanftmüthiger Duldung – es war der junge, auf einen Holzstoß festgebundene Isaak. Die [550] Tapeten waren uralt und von den Motten zerfressen, so daß der nervigen Gestalt Abrahams ein Auge und die hochgehobene, opferbereite Hand fehlten. … Wie eine Versammlung mürrisch schweigender Greise, in steifer Ordnung, reihten sich Stühle mit himmelhohen Lehnen und großblumigen, sammtenen Polsterbezügen an den Wänden hin. Ich habe erst späterhin diese aus den kostbarsten Hölzern geschnitzten, schwarzbraunen Säulenlehnen zu würdigen gelernt, bei ihrem ersten Erblicken jedoch stierten mich die aus Band- und Laubgewinden hervorlauschenden Thierköpfe und fabelhaften Gebilde, die auch an all den umherstehenden Spinden und Schreinen wiederkehrten, dräuend und sinnverwirrend an.
Die dunklen Farben und die tiefen Ecken allüberall sogen das Licht der zwei Lampen, die hell auf den Tischen brannten, gierig ein. Dunkel war der Teppich, auf dem meine Füße ruhten und der sich über den ganzen Boden hinbreitete, und fast schwarz der erdrückend niedrige Holzplafond. Nur das nackte Fleisch der Tapetenbilder, im Lauf der Zeit bis in’s Leichenhafte erblichen, leuchtete da und dort wie ein aufgesetzter Lichtpunkt, und ein einziger heller Gegenstand von mildem Glanze schwebte wie die versöhnende weiße Taube in das Düster herein – es war ein vielarmiger, mit weißen Wachskerzen besteckter Silberleuchter, der am Deckenbalken hing.
Es schien im Verlauf der bangen Stunde, die ich bereits am Bette verharrte, besser mit der Kranken zu werden. Sie sah sich mit weitoffenen Augen um, trank etwas frisches Wasser, und plötzlich kehrte ihr auch die Sprache zurück.
„Was ist mit mir?“ fragte sie langsam in gebrochenen, total veränderten Tönen.
Ilse bog sich, ohne zu antworten, über sie – ich glaube, der Jammer nahm ihr die Stimme – und strich ihr lind und liebkosend die Haare aus der Stirne.
„Meine alte Ilse!“ murmelte sie. Sie machte eine Anstrengung, sich zu erheben, es ging nicht – mit einem sonderbar starren, forschenden Blick streiften ihre Augen langsam an dem linken Arm nieder.
„Todt!“ seufzte sie und ließ den Kopf in das Kissen zurücksinken.
Der Ausruf flößte mir kaltes Entsetzen ein. Ich machte eine unwillkürliche Bewegung, das Polsterbänkchen rückte weiter und die Vorhänge rauschten.
„Wer ist noch im Zimmer?“ fragte meine Großmutter aufhorchend.
„Das Kind, gnädige Frau – Lenore,“ antwortete Ilse zögernd.
„Dem Wilibald sein Kind – ja wohl, ich kenne es – es springt mit den kleinen, nackten Füßen durch die Haide und singt drüben am Hügel – ich kann das Singen nicht hören, Ilse!“
Das wußte ich wohl; nie hatte auf dem Dierkhofe ein singender Laut über meine Lippen kommen dürfen – ach, und ich sang so gern! Mir war, als fliege meine Seele auf den Tönen, die mir die Brust weiteten, in die Ferne hinaus. Da sang ich denn in Heinzens Lehmhütte, daß die flaschengrünen Fensterlein zitterten, oder drüben auf dem Hügel, aber ich hatte nie gemeint, daß das die Großmutter auf dem Dierkhof hören könne.
Ich war aufgestanden und trat ihr zitternd um einen Schritt näher.
„Klein wie ihre Mutter,“ murmelte sie vor sich hin, „und hat die großen Augen und ein kaltes, enges Herz – ihr ist ja auch das Wasser über der Stirn ausgegossen worden.“
„Nein, Großmutter,“ sagte ich ruhig, „ich habe kein kaltes Herz!“
Paris auf Rädern.
Aeußere Nothwendigkeit und innere Neigung haben an dem wirbelnden Chaos, das von früh bis spät die Pariser Straßen durchrollt, einen gleich bedeutsamen Antheil. Einmal sind die Entfernungen innerhalb der städtischen Ringmauern so kolossal, daß der geflügelte Spruch „Zeit ist Geld!“ eine schnöde Unwahrheit sein müßte, wollte man seine geschäftlichen Besorgungen zu Fuße abmachen; und zweitens kennt der Franzose neben einem guten reichlichen Diner kein höheres Vergnügen, als in die Kissen eines eigenen oder gemietheten Landauers gelehnt über den Macadam gewiegt zu werden und, die Cigarre im Munde, auf das Gewühl der Fußgänger herabzuschauen, wie Zeus auf die mühselig ringenden Kämpfer im trojanischen Blachgefilde. Neidisch begafft der Ouvrier den behäbigen Bürger, der sich Sonntagnachmittags eine Ausfahrt in die Elyseischen Felder gestattet; und dieser erblickt hinwiederum in dem Besitz einer eigenen Equipage, der ihm zur Zeit noch versagt ist, das Kriterium der höchsten irdischen Glückseligkeit! Kurz, Paris ist eine wesentlich fahrende Stadt, und wenn wir hinzufügen, daß in normalen Verhältnissen allein auf dem Boulevard des Italiens täglich zwölftausend Wagen passiren, so wird sich der geneigte Leser von dem tollen sinnver wirrenden Treiben der französischen Metropole eine annähernde Vorstellung machen.
Betrachten wir die Fuhrwerke der Seinekönigin etwas näher. Ihre Mannigfaltigkeit ist ebenso überraschend wie ihre Zahl. Sie unterscheiden sich nach Form und Charakter nicht minder auffällig als nach der Natur ihrer Insassen. Ein genauer Kenner der Pariser Fuhrwerke und ihrer Geschichte würde auch ein genauer Kenner der Pariser Gesellschaft sein. Versuchen wir wenigstens, die Hauptmomente dieses interessanten culturhistorischen Vorwurfs herauszuheben.
Auf der höchsten Sprosse der socialen Leiter steht die eigene Equipage. Sie ist das ausschließliche Privilegium der Millionäre, denn sie verschlingt unglaubliche Summen. Ein Geldaristokrat vom reinsten Wasser hält sich mindestens vier Pferde, vier Wagen, zwei Lakaien, einen Kutscher und einen Stallburschen, – ein Luxus, der in Paris nicht unter zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend Francs kostet. Es sind indeß keineswegs die gediegensten Familien, die in dieser Beziehung den eclatantesten Aufwand machen. Die wohlangelegten, seit langer Zeit vom Vater auf den Sohn vererbten Capitalien, die soliden, durch redlichen Fleiß und ehrliche Speculation erworbenen Besitzthümer, kurz das gesicherte, feste Vermögen beschränkt sich auf einen mäßigen Luxus. Aber die improvisirten Goldvögel, die Börsenspieler, die heute über schwindelerregende Summen verfügen und morgen vielleicht keinen Fünffrankenthaler in der Tasche haben, die extravaganten Prinzessinnen der Halbwelt, die sprüchwörtlichen „Russen“ mehr oder minder zweideutigen Charakters: das sind die Leute, die sich in prunkenden Kaleschen, flotten Tilburys und schnaubenden Andalusiern nicht genug thun können. Ein geübtes Auge unterscheidet daher denn auch auf den ersten Blick die Equipage des Faubourg St. Germain, wo die legitimistische Aristokratie ihre Wohnsitze aufgeschlagen hat, von dem Landauer der Chaussee d’Antin oder der Rue St. Lazare. Es ist, als präge sich der Charakter der Eigenthümer in jeder Achse, in jeder Vergoldung, in jedem Ledergurt, ja selbst in der Physiognomie der Kutscher und Bedienten aus. Der Wagenlenker des adligen Faubourgs hat etwas Steifes, Würdevolles, Altfränkisches; der Automedon der vornehmen Lorette blickt keck, selbstbewußt, herausfordernd in die Welt; von dem Bocke des Parvenüs grinst ein albern hochmüthiges Geckenantlitz. Die Legitimisten lieben es, ihre Kutscher und Lakaien zu pudern; die Lorette ahmt dies nach, jedoch in lächerlich übertriebener Weise; der Emporkömmling affectirt nicht selten die höchste Geschmacksverfeinerung und kleidet seine Bediensteten in das schwarze Costüm eines Salonherrn.
Eine zweite Classe der eleganten Fuhrwerke sind die „voitures en location“. Wenn man monatlich acht- bis zwölfhundert Franken [551] bezahlt, so kann man der Welt vorspiegeln, eine fashionable Kalesche zu besitzen. Für diese Summe stellen nämlich die Equipagenvermiether großen Stils Jedermann ein Fuhrwerk sammt Pferden, Lakaien und Kutscher zur Verfügung. Die Bediensteten tragen die Livree desselben; die Wagenthüren prangen im Schmucke seines Familienwappens; kurz es sieht ganz so aus, als gehöre das Gespann ihm zu eigen, und er spart noch Geld dabei. Diese Fuhrwerke sind weit zahlreicher, als der unerfahrene Neuling glauben möchte. Von den glänzenden Kaleschen, die in normalen Zeiten so massenhaft die große Avenue der Elyseischen Felder beleben, gehören mehr als zwei Drittel in die Kategorie der „Miethswagen“. Der Kenner läßt sich freilich durch den äußern Prunk der Coupés ebenso wenig täuschen als durch die Zierlichkeit der Pferde und das Gold der Livreen. Es wohnt der äußeren Erscheinung der „voitures en location“ ein Zug von Banalität inne, der eher zu empfinden als zu definiren ist. Ihre Form ist stets dieselbe, und schon an dem monotonen, schulmäßigen Trab der Pferde erkennt der feine Beobachter, weß Geistes Kind sie sind.
Geht man im Sommer auf ein paar Monate in’s Bad, so wird die Miethe natürlich sistirt. Auch das ist ein Vortheil, der vom ökonomischen Standpunkte nicht zu unterschätzen ist.
Auf der dritten Stufe der Leiter stehen die sogenannten Remisewagen. Sie sind etwas weniger luxuriös, als die vorigen, und werden nur für eine einzelne Fahrt gemiethet. Leute, die sich der schlichten Droschke schämen, heruntergekommene Flaneurs, die für wohlhabend gelten möchten, weil sie eine rettende Partie in petto haben, Söhne aus altadligen Familien, die zwar ein hellleuchtendes Wappen, aber keine überflüssigen Banknoten besitzen, nervöse Damen, die das unsanftere Rütteln des ordinären Fiakers nicht vertragen können, kleine Bourgeois, die mit geringen Mitteln den großen Herrn „herausbeißen“ wollen, das sind die Clienten der Remisewagen. Seitdem diese Fuhrwerke indeß von Polizei wegen ihre fortlaufenden Nummern tragen müssen, ganz wie die gemeine Straßendroschke, – seitdem hat der Zuspruch, dessen sie sich erfreuten, um einen beträchtlichen Procentsatz abgenommen.
Man hat, beiläufig gesagt, constatirt, daß solche Personen, welche eigne Equipagen besitzen, im Nothfalle nie einen Remisewagen, sondern stets einen Fiaker besteigen, und zwar mit Vorliebe den schlechtesten und unscheinbarsten. Der Banquier der Rue Lafitte würde befürchten, man könnte den Remisewagen für sein Privatfuhrwerk halten, eine Verwechslung, die dem Rufe seines eleganten Hauses nachtheilig werden möchte. Die gewöhnliche Droschke ist dagegen zu kenntlich, um zu Mißverständnissen Anlaß zu geben.
Die Kutscher der Remisewagen sind genau so costümirt, wie die der „voitures en location“.
Wir steigen abermals eine Stufe abwärts. Wir befinden uns im weiten Reiche der „voitures de place,“ der Platzkutschen, wie die Pariser Fiaker amtlich benannt werden.
Die Seinestadt zählte vor den Ereignissen des Jahres 1870 bis 1871 mehr als zwölftausend dieser Allerweltsfuhrwerke. Gegenwärtig ist diese Summe nicht unbeträchtlich vermindert; die Differenz wird sich indeß zweifelsohne binnen kurzer Frist wieder ausgleichen. Die Pariser Droschken vermiethen sich, wie die Remisewagen, auf einzelne Fahrten, und zwar entweder behufs der Zurücklegung einer bestimmten Strecke, – course – oder nach der Zeit, – à l’heure.
Die wesentlichen Merkmale einer Voiture de Place bestehen in einem mehr oder minder jämmerlichen Pferde und einem mehr oder minder groben Kutscher. Der Droschkengaul fällt mehr, als er trabt. Kopf und Hals begleiten die Bewegungen seiner Vorderbeine mit jener gutmüthig-komischen Regelmäßigkeit, mit welcher das Genick eines enragirten Violoncellisten die Streichmanöver des Bogens accompagnirt. Der Droschkengaul hebt den Huf nie höher als anderthalb Centimeter, Stolpern ist sein tägliches Brod, Stürzen sein unvermeidliches Verhängniß. Fast bei jedem Spaziergang über die Boulevards oder die Rue Richelieu kann man eine lebhaft gesticulirende Menschenmenge beobachten, die sich um einen solchen gefallnen Dulder schaart.
Der Droschkenkutscher zeichnet sich seinerseits, wie bereits angedeutet, durch eine fulminante Grobheit aus. Er ist mit seltenen Ausnahmen den Spirituosen in gesundheitswidrigem Grade ergeben und beansprucht auf jeden Franken der Fahrtaxe zwanzig Centimes Trinkgeld. Sind die sogenannten Droschkenstände in einem gegebenen Augenblicke besonders reichlich assortirt, so läßt sich der Droschkenkutscher herab, Dir sein Fuhrwerk anzubieten. Ist er dagegen der Einzige auf dem Stande, so schlägt er mit vornehmer Nachlässigkeit die Arme übereinander, wirft die Lippen auf und mustert die Welt mit einem herausfordernden Blicke. Seine süffisante Haltung scheint das Publicum darauf aufmerksam machen zu sollen, daß von ihm, dem souveränen Wagenlenker, das Gelingen jener hunderttausend Pläne abhängt, die tagtäglich das große Hirn der Weltstadt durchkreuzen. Weigert der Droschkenkutscher seine Dienste, so kommt der Geschäftsmann zu spät zur Börse und verliert Tausende; der Geliebte versäumt das Rendez-vous mit der Geliebten und verliert ein tugendreiches Herz; der Schwindler erreicht nicht mehr den Bahnzug, der ihn aus der Machtsphäre der Polizeipräfectur in die Regionen der Freiheit befördern soll, und wird festgenommen. Mit einem Worte, der Kutscher der voiture de place ist eine hochwichtige Persönlichkeit, und Niemand fühlt sich von dieser Thatsache lebhafter durchdrungen, als er selber.
Die Clienten der Droschke rekrutiren sich, wie aus dem Vorstehenden erhellt, aus den verschiedenartigsten Elementen. So ziemlich alle Berufsclassen zollen der voiture de place ihren Tribut; nur der völlig Mittellose gehört zu ihren principiellen Gegnern.
Aber auch für ihn ist gesorgt! Verfügt er auch nur über drei Sous, so braucht er die endlosen Asphalttrottoirs der Riesenstadt nicht zu Fuße abzulaufen. Ihm winkt das Verdeck der Omnibusse mit einem freilich harten und unbequemen, aber doch zweckdienlichen Sitze. Für fünfzehn Centimes befördert man ihn meilenweit, und überdies hat er bei dieser luftigen Fahrt die nicht zu unterschätzende Gelegenheit, das rauschende Treiben des Pariser Straßenlebens aus der Vogelperspective zu betrachten!
Gegenwärtig durchschneiden nahezu vierzig Omnibuslinien die Stadt nach allen Richtungen. Auf jeder dieser Linien geht von fünf zu fünf Minuten ein Wagen, der im Innern vierzehn, auf dem Verdeck – („sur l’impériale“, wie das Publicum, „en l’air“, wie die Conducteure sagen) zwölf Plätze aufweist. Die Innenplätze sind doppelt so theuer, als die der Impériale.
Ein charakteristisches äußeres Merkmal der Pariser Omnibusse sind die ausgezeichneten Pferde. Diese unermüdlichen Thiere, – feurige, stämmige Normannen, ebenso muskulös als sicher und gutgeschult – schleppen die Centnerlasten der stets vollgepfropften Kolosse mit einer Leichtigkeit und Schnelle über das Pflaster hin, als sei ihnen die ganze Arbeit eher eine Erholung denn eine Anstrengung. An den Haltestellen sind sie kaum zu bändigen; schnaubend und wiehernd knirschen sie in’s Gebiß, es scheint ihnen erst wieder wohl zu sein, wenn sie zutraben dürfen. Weit, weit bleibt hinter dem lustig dahinrollenden Omnibus die träge Droschke, ja selbst der elegantere Miethswagen zurück; nur die Vollbluthengste der Millionäre vermögen mit den Rennern der Normandie gleichen Schritt zu halten.
Die Omnibuskutscher sind durchweg ordentliche, zuverlässige, nüchterne Leute. Auf zwanzig Unfälle, die dem Droschkenpublicum passiren, kommt kaum ein Omnibusunfall.
Die Pariser Omnibusse besitzen die höchst praktische Einrichtung der Correspondance. Gegen ein gratis verabfolgtes Billet kann der Passagier auf der einen Linie aussteigen und auf jeder beliebigen anderen Linie seine Fahrt fortsetzen, ohne eine weitere Taxe zu erlegen. Auf diese Weise ist fast jeder Punkt der Hauptstadt von jedem Punkte aus zu erreichen, – eine Bequemlichkeit, die wesentlich zu dem glänzenden Erfolg des Unternehmens beigetragen hat. Wäre der Passagier genöthigt, einen Theil seines Weges zu Fuße zurückzulegen, wie dies noch vielfach in deutschen Städten der Fall ist, so würden zahlreiche Personen, die sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen der Omnibusse bedienen, zu der allerdings theureren Droschke greifen, die den Fahrgast aber doch direct bis an sein Ziel befördert.
Eine Fahrt in einem dieser gewaltigen Rollkasten ist ebenso unterhaltend als belehrend. Ich kenne mehr als einen müßigen Rentier, der nur zum Zeitvertreib die Linie Madeleine-Bastille oder die von Clichy nach dem Odéon (und umgekehrt) zwei, drei Mal des Tages abfährt, und sich Abends seelenvergnügt und in dem erhebenden Bewußtsein zu Bette legt, sich köstlich amüsirt zu haben. Andere, weniger harmlose Individuen suchen im Omnibus [552] interessante Damenbekanntschaften anzuknüpfen, und beispielsweise den hübschen, kleinen Putzmacherinnen, die zu den stereotypen Fahrgästen gehören, allerlei süße Dinge in’s Ohr zu flüstern … Wieder andere setzen sich auf die Impériale, rauchen eine Cigarre und mustern das Publicum auf den Trottoiren. Aber abgesehen von allen speciellen Beweggründen empfiehlt sich eine Omnibusfahrt dem nach Paris kommenden Fremden als ein vorzügliches Mittel, die Typen der verschiedenen Gesellschaftsclassen rasch und in erheiternder Weise kennen zu lernen. Es bietet sich da die Gelegenheit zu den amüsantesten Studien; selten wird man aussteigen, ohne einige humoristische Scenen erlebt zu haben.
Die Leute „von Welt“ halten die Benutzung der Omnibusse für ungentil, ohne indeß diesem Grundsatze strenge Treue zu bewahren. Trifft es sich, daß zwei solcher Privilegirten sich in einem Omnibus begegnen, so erfordert eine stille Uebereinkunft, sich gegenseitig vollständig zu ignoriren. Man erspart sich und Anderen dadurch eine peinliche Verlegenheit.
Im Uebrigen werden die Omnibusse von der besten Gesellschaft frequentirt. Nur auf der Impériale geht es etwas sehr pêle mêle zu, und man läuft Gefahr, neben einem Burschen zu sitzen, dessen offene und verborgene Eigenschaften uns auf’s Empfindlichste berühren. Im Inneren dagegen ist das Publicum gewählter. Zu den stereotypen Gästen des Intérieur gehören immer einige Putzmacherinnen, ein Priester, ein Schneider mit Paket, eine verschleierte Dame in Trauer nebst Amme und Kind, eine kleine Ouvrière aus dem Faubourg, eine corpulente Bürgerin in höchster Toilette, ein Künstler, ein Landmann, der den Conducteur zehn Mal fragt, wo er auszusteigen hat, ein kleines mageres Frauenzimmer in den Fünfzigen. Man wird schwerlich drei Touren zurücklegen, ohne diese sämmtlichen Figuren wenigstens einmal angetroffen zu haben.
Noch eine Eigenthümlichkeit des Intérieurs verdient erwähnt zu werden. Auf die beiden Plätze am Eingange postiren sich nicht selten Taschendiebe, zumal weibliche, die den Einsteigenden die Taschen visitiren und nach einem glücklichen Griffe so rasch als möglich verschwinden. Auch die häufig wiederkehrende „Kinderbewundrerin“, eine Dame in eleganter Toilette, die der ersten besten Mutter die zärtlichsten Artigkeiten über den „kleinen Engel“ auf ihrem Schoße sagt, gehört oft in die Katerie jener Galgenvögel. Während sie durch ihre Redensarten die Aufmerksamkeit der geschmeichelten Mama absorbirt, besorgt ein Mitverschworener den Diebstahl und verläßt nach gelungener That schleunigst den Schauplatz. Wagt dann die Bestohlene bei der Entdeckung ihres Mißgeschicks der „Kinderbewundrerin“ eine verdächtige Aeußerung in’s Gesicht zu schleudern, so ist diese auf einmal wie verwandelt, ruft im Tone höchster sittlicher Entrüstung: „Comment, Madame, vous osez …?“ und verspricht eine Injurienklage. Ich entsinne mich zweier Fälle, in denen die bestohlene Mutter obendrein noch eine empfindliche Geldbuße wegen „Verleumdung“ zu erlegen hatte.
Mit den Fahrmethoden des erwachsenen Paris sind wir nun so ziemlich zu Ende – wir müßten denn der zahlreichen Geschäftswagen aller Art gedenken, die indeß in erster Linie dem Transporte von Gegenständen, nicht dem von Personen dienstbar sind. Eine aufmerksame Durchmusterung dieser Kategorie von Fuhrwerken wäre der würdige Vorwurf eines eigenen Aufsatzes; für heute müssen wir aus inneren und äußeren Gründen auf ihre Betrachtung verzichten.
Dagegen wird man uns zum Schluß noch ein paar vervollständigende Worte über die Fuhrwerke der Kinder gestatten. Der Deutsche liebt die Gründlichkeit: unsere Skizze wäre unvollständig, machten wir die Transportmittel der jugendlichen Pariser nicht wenigstens namhaft.
Zunächst, im ersten Stadium der Kindheit, benutzt der Sprößling der Metropole das sogenannte Bonnenwägelchen, ein Korbgeflecht auf Rädern, das von der „bonne“, d. h. dem Kindermädchen geschoben, nicht aber gezogen wird. Ist das vierte Lebensjahr zurückgelegt, so erfreut sich der junge Pariser, nämlich wenn er von bemittelten Eltern stammt, entweder der eigenen Pony-Equipage, oder, was die Regel ist, des auf eine einzelne Fahrt gemietheten Ziegenbockwagens, wie deren verschiedene tagtäglich in den elysäischen Feldern und anderen besuchten Anlagen zu sehen sind. Ist der Knabe schulreif, so besteigt er allmorgendlich den Schulomnibus, der ihn nach dem „Collège“ bringt und späterhin von dort wieder nach Hause befördert. Der Schulomnibus dient ausschließlich den „Messieurs les Collégiens“; andere Fahrgäste werden unter keiner Bedingung aufgenommen.
Und nun giebt es noch einen Wagen, der Allen gemeinsam ist, gleichviel ob sie alt oder jung, arm oder reich, vornehm oder gering sind. Der Bettler, der nie eine Achse bestiegen hat, der stolze Vicomte, der allwöchentlich ein Pferd zu Schanden fuhr, der Besitzer glänzender Prachtequipagen und der bescheidene Droschkenmiether – sie Alle werden schließlich von dem Wagen, den ich meine, hinausbefördert an die Endstation, wo der Conducteur Tod sein gellendes „Tout le monde descend!“ ruft. Der Leichenwagen ist der eigentliche Omnibus par excellence. Achtzig Passagiere transportirt er täglich nach den drei großen Kirchhöfen im Süden, Norden und Osten der Stadt; die Correspondenz, die er verabreicht, lautet auf das Jenseits. Wohl dem, der sein ganzes Leben hindurch so gefahren ist, daß er der letzten Tour ohne Bangen und Beben entgegenschauen kann!
Die allgemeine Beobachtung lehrt, daß in einer bestimmten Epoche des menschlichen Entwicklungsganges regelmäßig ein Ergrauen des Haupthaares eintritt. Bei ganz normalen Verhältnissen ist der Verlauf dieser Entwicklungsepoche ein solcher, daß dem Erbleichen des Haares eine Reihe anderer Greisenveränderungen des Gesammtkörpers vorausgeht; das Ergrauen ist dann naturgemäß und steht mit dem sonstigen Lebensgange des Menschen in Harmonie. Es empfindet auch ein Greis diese Veränderung seines Haares nicht als ein Uebel und die allgemeine Meinung betrachtet das graue Haar als ein ehrwürdiges.
Allein eine solche völlig normale Entwicklung ist selten.
In der Regel tritt gleichzeitig mit dem Erbleichen der Farbe eine andere, nicht als so ehrwürdig betrachtete Veränderung des Haares ein: dasselbe verliert an Länge und Dicke, und dieser Leidenszustand zeigt ebenso wie die in den früheren Aufsätzen erwähnten chronischen Haarkrankheiten einen fortschreitenden Charakter in zweifacher Weise: es verliert entweder gleichzeitig je ein Haar in allen Haarkreisen an seinen ursprünglichen Dimensionen, oder es tritt diese Verkürzung und Verdünnung bei allen Einsassen, aber nur in sehr wenigen Haarkreisen ein; im ersten Falle erfolgt eine gleichmäßige Verdünnung des gesammten Haarbodens, im zweiten entsteht eine kleine Tonsur. Zuweilen findet eine Mischung beider Processe statt.
Findet sich diese Erkrankung des Haarwuchses neben der Veränderung der Haarfarbe erst in sehr hohen Jahren, so darf sie gleich dem einfachen Ergrauen als ein unabweisbarer Entwicklungszustand angesehen werden; der Hochbetagte verlangt wegen der Veränderungen seines Haupthaares keine ärztliche Hülfe und sie könnte auch nicht geleistet werden. Tritt hingegen dieser Zustand schon im Anfange der fünfziger Jahre ein oder nimmt der Haarschwund rascher überhand als die Entfärbung, so liegt ein Leiden vor.
In früheren Epochen der Medicin hat man als unzweifelhaft feststehend angenommen: das Erbleichen des Haares im Greisenalter erfolge durch eine Veränderung an dem längst fertig gebildeten Haar; man betrachtete früher das Haar fast als etwas Feststehendes, Unwandelbares, etwa wie den Nagel; man dachte nicht an den stetigen Ausfall und den stetigen Ersatz; man kam beim Ergrauen gar nicht auf die Vermuthung, daß dieses ein neu sich bildendes Haar treffen könne, und man war nur darüber verschiedener Ansicht, ob dieser Erbleichungsproceß zuerst die Spitze oder zuerst den Wurzeltheil oder gar auf einmal das Haar in seiner ganzen [553] Ausdehnung ergreife. In unserm Jahrhundert nahm man es als ebenso feststehend an, daß farbiges Haar niemals erbleichen könne, es falle vielmehr das farbige aus und an seiner Stelle entstehe ein farbloses, es komme also das Erbleichen nur auf dem Wege des typischen Haarwechsels zu Stande.
Die Frage, welche dieser beiden Auffassungen die richtige sei, läßt sich entscheiden durch Untersuchung des Haarausfalls, durch mikroskopische Untersuchung der grauen Haare und durch Beobachtung am lebenden.
Es widerstrebt aller unbefangenen Beobachtung, anzunehmen, daß der einmal im Haar abgelagerte Farbstoff wieder verschwinden, sich auflösen könne; zwar ist es leicht, in dem vom Körper abgelösten Haar durch etwas Chlorgas oder Chlorwasser den Farbstoff zu zerstören (ein in dieser Weise behandeltes dunkles Haar erscheint sehr bald völlig farblos) – aber daß ein dem Chlor ähnlich wirkender Körper sich in der Kopfhaut selbst bilde und nun rasch in das Haar eindringe, das ist noch niemals beobachtet worden.
Es steht daher nach meinem Ansicht unzweifelhaft fest: wo die mikroskopische Untersuchung des frisch entnommenen Haares keinen Farbstoff nachweist, da ist auch nie Farbstoff gewesen.
Aber eine andere Möglichkeit liegt vor: es sind nämlich zwei Fälle ganz eigenthümlicher Haarbildung beobachtet worden, der eine in Greifswald vor vierzig Jahren, der andere vor zwei Jahren in London. Es handelte sich in jedem der beiden Fälle um jüngere Männer, deren Kopfhaar aus ziemlich regelmäßig abwechselnden Stücken gefärbten und weißen Haaren bestand; einzelne Haare waren noch vollständig (in ihrer ganzen Länge) gefärbt, keines war ganz weiß, die meisten zeigten eine Strecke hell, die andere dunkel, die folgende wieder hell und so fort. Bei Thieren findet man dergleichen geringelte Haare sehr häufig; bei Menschen gehören sie indeß zu den größten Seltenheiten; mindestens sind nur die beiden genannten Fälle veröffentlicht. Aber bei mikroskopischer Betrachtung unterschieden sich die Haare dieser beiden Fälle sehr wesentlich von den geringelten Haaren der Thiere. Sehr viele Beobachter haben diese Haare geprüft (ich selbst besitze noch durch die Liebenswürdigkeit eines verehrten Collegen zwei Haare des zweiten Falles) und sie haben übereinstimmend [554] folgendes Resultat gefunden: auch an den weißen Stellen ist der Farbstoff reich abgelagert, er macht nur auf das betrachtende Auge nicht den farbigen Eindruck, weil das Haar an seinen äußeren Rindenschichten aufgelockert ist und zwischen den gelockerten Fasern eine große Zahl feiner Luftbläschen und Luftsäulchen enthält; solche feine, in den verschiedensten Ebenen über einander gelagerte Luftsäulchen und -Bläschen reflectiren das auffallende Licht mit ziemlich starkem Glanze, lassen die Lichtstrahlen zu den farbigen Körnchen des Haares erst gar nicht hindringen und erzeugen so durch den Reflex die weiße Farbe.
Diese Beobachtung erweckt nun den Gedanken: vielleicht beruht das Ergrauen des Haares zuweilen auf einer solchen Auftreibung und Luftanfüllung des Haares; vielleicht sind namentlich die Fälle plötzlich eintretenden Ergrauens in solcher Weise zu erklären.
Es wird nämlich, wie ja wohl allgemein bekannt, wiederholt berichtet, daß bei einzelnen Personen nach außergewöhnlich starken Gemüthsbewegungen das Haupthaar in einer Nacht oder in wenigen Tagen erbleicht sei. Am bekanntesten ist das Beispiel der Königin Marie Antoinette: sobald sie ihre Verurtheilung zum Tode erfahren, wurde ihr Haar innerhalb weniger Stunden oder Tage grau. Im vorigen Jahre wurde von einem Arzt in Hamburg folgender Fall berichtet. Beim Ueberfluthen der Elbe in Hamburg wurde eine eigenthümlich gebaute Kellerwohnung plötzlich unter Wasser gesetzt; in dem Keller wohnten ein Mann in mittleren Jahren und sein kleiner Sohn, der im tiefen Genesungsschlaf nach einer schweren Krankheit sich befand; in der allgemeinen durch das plötzliche Steigen des Wassers bedingten Aufregung dachte keiner der Hausbewohner an die Unglücklichen im Keller. Das Wasser stieg immer höher, der Vater saß auf dem Bett, den Knaben in seinen Armen, das Wasser reichte ihm bis über die Kniee; das Zimmer war so niedrig, daß der Mann nicht aufrecht stehen konnte; die Fluth stieg stetig weiter. Der Vater gab sich und sein Kind verloren – indeß im letzten Moment kam noch Hülfe. Der Knabe genas vollständig, der Vater überstand die entsetzliche doppelte Todesangst, aber sein bis dahin dunkles Haar war in der einen Nacht grau geworden. Leider hat der Arzt das Haar nicht mikroskopisch untersucht. Eine solche Untersuchung hat meines Wissens unter den hierher gehörigen Fällen nur einmal stattgefunden und zwar Seitens eines namhaften Fachmannes in Greifswald. Es betraf einen Mann in jüngeren Jahren, der mehrere Tage im Trinkerwahnsinn eine hohe Aufregung überstand und während dieser Tage ergraute; das Mikroskop zeigte an den ergrauten Stellen den Farbstoff vorhanden, aber das Haar war daselbst auseinandergefasert und mit Luft erfüllt: also völlig derselbe Zustand wie in den beiden oben erwähnten Fällen. Die Bekannten des Kranken, welche ihn nach seiner Genesung im Hospital besuchten, waren äußerst erstaunt, ihn mit Greisenhaar wiederzufinden.
Leider beseitigt auch diese Beobachtung, welche im Uebrigen den Anforderungen exacter Wissenschaftlichkeit entspricht, nicht den hauptsächlichsten Zweifel, der allen diesen Mittheilungen gegenüber besteht. Es liegt nämlich folgende Vermuthung nahe: das graue Haar war schon Jahre lang da, bevor die aufregenden Tage eintraten, nur wurde, um das unlieb angesehene Grau zu verbergen, ein Farbstoff angewendet; in den Tagen der Aufregung hatte der Mann oder die Frau keine Gelegenheit, die färbende Pomade zu brauchen, oder er verlor gegenüber den großen Erschütterungen die Lust dazu, weil es ihm nicht mehr lohnend schien, das Zeichen vorzeitigen Alters zu verhüllen, oder weil er es für klug fand, nun, da etwas Außergewöhnliches ihn betroffen hatte, dieses Außergewöhnliche auch für die Ursache seiner (wie seine Umgebung glaubt) plötzlich entstandenen Haarveränderung anzugeben.
Diese Vermuthung ist nicht abzuweisen: in keinem der berichteten Fälle war das Haar vor dem Eintritt des aufregenden Ereignisses von einem zuverlässigen Fachmanne mikroskopisch untersucht worden; man war mithin auf die Angaben des Betroffenen allein angewiesen. Bloße subjective Angaben in einer solchen Lage, in welcher eine kleine Lüge nicht für unrecht gehalten wird, bilden aber keine Basis für die wissenschaftliche Feststellung einer zweifelhaften Thatsache.
Wenn aber ein solches plötzliches Ergrauen des fertig gebildeten farbigen Haares wirklich möglich sein sollte, so kommt es jedenfalls außerordentlich selten vor. Und ich will nach den Erfahrungen, welche ich wiederholt gemacht habe, noch auf eine Irrthumsquelle hinweisen. Wenn einem Manne in mittleren Jahren die Gattin nach einer mehrwöchentlichen Krankheit dahinstirbt, oder einer Mutter der bis zum Ausbruch der Krankheit blühende Sohn, oder wenn ein Kaufmann durch den unerwartet ausgebrochenen Bankerott eines Geschäftsfreundes sein eigenes Vermögen und seine kaufmännische Ehre bedroht sieht und nun einige Wochen hindurch die tiefsten Gemüthsbewegungen und die höchsten Anspannungen des Geistes zu überstehen hat, dann geschieht es wohl, daß die gewaltige Erschütterung des Gesammtorganismus auch die Haarbildungsstätte umwühlt: ein Theil des Haares, welches fortan gebildet wird, enthält keinen Farbstoff mehr. Die Angehörigen und Bekannten sagen dann: „Sein Haar ist darüber grau geworden!“ Prüft man aufmerksam ein solches Haar, so sieht man, daß vielfach dasjenige Stück des Haares, welches dicht an der Kopfhaut sich befindet, farblos ist; niemals habe ich in einem solchen Falle (falls eben nicht schon vorher graues Haar vorhanden war) auch nur ein einziges Haar in seiner ganzen Ausdehnung oder an einer von der Kopfhaut mehr entfernten Stelle grau gefunden; und bei der mikroskopischen Untersuchung ergab sich, daß an den farblos erscheinenden Partieen der Farbstoff auch wirklich fehlte.
Nach meiner Meinung steht diese sehr interessante Frage folgendermaßen: es ist noch nicht ein einziges Mal zuverlässig festgestellt, daß ein farbiges Haupthaar in seiner ganzen Ausdehnung oder auch nur in einem Stück desselben weiß geworden wäre; es erfolgt vielmehr die Entfärbung, soweit die genaue Beobachtung reicht, stets in der Weise, daß das später wachsende Stück des Haares farblos gebildet wird, oder (was für den in Rede stehenden Punkt auf dasselbe hinausläuft) so, daß das gefärbte Haar ausfällt und der neu sprossende Nachwuchs grau erscheint. Ich sage: es ist eine andere Art des Ergrauens des Haupthaares auch nicht ein einziges Mal zuverlässig festgestellt. Und wenn mich Jemand, wie das oft geschieht, fragt: „Glauben Sie an das plötzliche Ergrauen?“ so antworte ich ihm stets: „In naturwissenschaftlichen Dingen soll man nicht sagen: ich glaube oder ich glaube nicht! Man soll beobachten und forschen, um zur Erkenntniß, zur Wahrheit zu kommen! Man soll keinen Glauben darüber haben; man soll sich wenigstens mit dem Glauben nie genügen lassen!“
Die in Rede stehende Frage ist durch Beobachtung ganz sicher zu lösen. Und ich habe (nach den vielen, mir über die früheren Aufsätze aus allen Ländern zugegangenen Briefen) die Hoffnung, es werden sehr viele Leser dieser Zeilen sich für die Frage interessiren und selbst Beobachter werden. Aber richtige Beobachter, das heißt Beobachter mit unbefangenem Auge, ohne Voreingenommenheit. Wer einen bezüglichen, aufklärenden Fall wahrzunehmen glaubt, der controlire seine eigene Wahrnehmung durch Heranziehen eines Sachverständigen oder theile mir freundlich einige Zeilen mit, denn eine einzige vollständig constatirte Thatsache würde diese Frage, über welche die Aerzte seit zweitausenddreihundert Jahren schwankender und verschiedener Meinung sind, definitiv lösen. Aber der Sachverständige, das heißt der Fachmann muß hinzugezogen werden, damit eine genaue mikroskopische Untersuchung angestellt werde und damit die Mittheilung auch die verlangte wissenschaftliche Glaubwürdigkeit erhalte.
Es ist nämlich die Möglichkeit des Ergrauens eines fertig gebildeten, bis dahin farbigen Haares nicht abzustreiten und es liegt hierüber eine Mittheilung vor, die große Beachtung verdient. Ein zuverlässiger französischer Beobachter, Brown-Sequard, (ich nenne in diesem Falle den Namen; oben habe ich aus guten Gründen einige Autoren nicht namentlich bezeichnet) hat vor einem Jahre etwa Folgendes über sich berichtet: er fand an seinem dunklen Barte eines Morgens an einer umschriebenen Stelle einige Haare grau; es überraschte ihn diese Wahrnehmung und um festzustellen, wie es mit dem Ergrauen zugehe, zog er die entfärbten Haare mit einer Pincette sorgfältig aus; am nächsten Tage fanden sich in der nächsten Nachbarschaft jener ersten Stelle wiederum einige Haare ganz grau, er zog auch diese aus und am nächsten Morgen sah er abermals einige Haare entfärbt. Leider ist diese Beobachtung, obwohl sie von einem sehr angesehenen Fachmanne ausgeht, auch den Forderungen exacter Wissenschaftlichkeit nicht voll entsprechend, es fehlt nämlich die Angabe über die Länge der bezüglichen Haare (dies zu wissen, ist durchaus nöthig) und es [555] fehlt die mikroskopische Untersuchung. Ich hoffe, es werden viele Leser die Beobachtung von Brown-Sequard an sich und ihren Bekannten controliren; es wäre die mikroskopische Untersuchung eines solchen Haares von großer Wichtigkeit. Wenn, wie ich vermuthe, in einem solchem Haar der Farbstoff sich völlig erhalten zeigte, so schiene die Möglichkeit, es könne sich etwas Analoges am Haupthaar finden, etwas größer; mehr dürfte man allerdings nicht sagen, denn der Bau des Barthaares ist ein anderer als der des Kopfhaares; jener ermöglicht nämlich in weit ausgedehnterem Maße ein Auseinanderweichen seiner Rindenschichten, also auch das Eindringen kleiner Luftbläschen und Luftsäulchen.
Für das seit jeher gefürchtete Uebel, das vorzeitige Ergrauen, über welches ich im nächsten Aufsatz sprechen werde, hat die Luftentwicklung im Haare jedenfalls nur eine äußerst geringe Bedeutung; ich habe sie noch nie bei diesen Zuständen gesehen; vielmehr ergab die Untersuchung in allen Fällen eine mehr oder weniger vollständige Abwesenheit des Farbstoffs.
Da die Beschaffenheit des Gesammthaares bei einfachem Ergrauen und bei der Verbindung von Ergrauen mit Haarschwund sich in dem täglichen Haarausfall spiegelt, so stelle ich nachträglich in einer kleinen Tabelle die Zahlen zweier solcher Fälle nebeneinander. Der Leser möge sich von der langen Reihe von Zahlen nicht abschrecken lassen, er möge sie aufmerksam durchlesen und er wird finden, daß ihm namentlich über „das vorzeitige Ergrauen des Haupthaares“ daraus erst die rechte klare Einsicht aufgehen wird.
Zur Feststellung aller auf das Haupthaar bezüglichen Verhältnisse eignet sich nur das ungekürzt getragene Frauenhaar, weil wir allein bei ihm den ganzen Entwicklungsgang zu übersehen vermögen; es ist aber die Kenntniß dieses ganzen Entwicklungsganges nöthig, wenn man sich vor falschen Schlüssen bewahren will. Die eingeklammerten Zahlen der Tabelle bedeuten den Procentsatz der betreffenden Hauptzahl.
Ausfall von drei Tagen. | ||||
A. Dame von 60 Jahren: Einfaches Ergrauen des Kopfhaares |
B. Dame von 60 Jahren: Ergrauen des Kopfhaares neben gleichzeitigem Leiden des Haarschwundes. | |||
1. Gesammtausfall | 451 | 438 | ||
Darunter zwischen 1-2 Zoll | 38 | (8%)*1 | 157 | (36) |
" " 2-6 " | 153 | (34) | 175 | (40) |
" über 6 " | 260 | (58) | 106 | (24) |
2. Es hatten unter den Haaren des Gesammtausfalls eine deutliche Spitze |
205 | (45)*2 | 324 | (74) |
Darunter zwischen 1-2 Zoll | 20 | (53%)*3 | 133 | (85) |
" " 2-6 " | 87 | (57) | 139 | (80) |
" über 6 " | 98 | (38) | 52 | (49) |
3. Der Gesammtausfalls enthielt starke Haare |
207 | (46) | 171 | (39) |
Darunter zwischen 1-2 Zoll | 13 | (6) | 45 | (26) |
" " 2-6 " | 36 | (17) | 47 | (28) |
" über 6 " | 158 | (76) | 79 | (46) |
Mittelstarke Haare | 109 | (24) | 138 | (31) |
Darunter zwischen 1/2-2 Zoll | 16 | (15) | 41 | (30) |
" " 2-6 " | 30 | (27) | 72 | (52) |
" über 6 " | 63 | (58) | 25 | (18) |
Feine Haare | 135 | (30) | 129 | (30) |
Darunter zwischen 1/2-2 Zoll | 9 | (7) | 74 | (58) |
" " 2-6 " | 91 | (68) | 53 | (41) |
" über 6 " | 35 | (25) | 2 | (1) |
*1 Das heißt 8% vom Gesammtausfall (451)
*2 " " 45% vom Gesammtausfall (451)
*3 " " 53% von den gesammten Haaren zwischen 1-2 Zoll (38).
Ich gebe eine kurze Erläuterung zu dieser Tabelle:
Zumeist wird es die meisten Leser überraschen, daß bei der ersten haargesunden Dame der Gesammtausfall (451) größer war als bei der zweiten (438), welche neben dem Ergrauen noch an einem beginnenden Haarschwund litt. Ich bemerke hierauf zunächst gegen eine irrige Ansicht, welche ich sehr oft habe aussprechen hören: es ist die kleinere Zahl des Gesammtausfalls bei der zweiten Dame nicht etwa so zu erklären, als hätte dieselbe in Folge ihres Haarleidens nicht mehr so viel Haare wie früher oder wie die erste Dame; zwischen der Haarmenge bestanden keine Differenzen, aber der Haarwuchs der zweiten Dame sah dünner aus, weil schon eine beträchtliche Zahl der einzelnen Haare an ihrer Dicke eingebüßt hatte. Dann wiederhole ich, was ich schon im ersten Aufsatze gesagt habe: nicht die absolute Menge des Haarausfalls zeigt die beginnende oder bestehende chronische Haarkrankheit an, sondern die Qualität desselben (viel kurze oder viel dünne Haare).
Wenn das Haar bei seinem Ausfallen seine deutliche Spitze behalten hat, so ist das ein Beweis für eine ursprünglich große Festigkeit seines Gefüges; so ist das Haar der zweiten Dame gewesen: 74 % ihrer Haare hatten ihre Spitze erhalten, bei der ersten Dame nur 45 %; die größte Differenz zeigt sich bei den kurzen Haaren, 85 % und 53 %; bei den langen Haaren wird der Unterschied geringer: hier konnte die Krankheitsursache der ursprünglichen Kräftigkeit längere Zeit entgegenwirken.
Das Vorhandensein dieses Krankheitszustandes erhellt aus zwei Momenten:
- 1) aus der großen Zahl der kurzen Haare sie betragen – sie betragen 76 % des Gesammtausfalls (bei der ersten Dame nur 42 %);
- 2) aus dem geringen Dickendurchmesser der ausgefallenen Haare.
Die normale Stärke fand sich bei der ersten Dame in 46 %, bei der zweiten nur in 39 %; die feinen, ganz dünnen Haare waren zwar bei beiden in gleichem Procentsatz vertreten (30 %), aber im zweiten Falle war die größere Hälfte derselben (58 %) ganz kurz, also wirkliches Wollhaar: Feinheit und Kürze waren hier nicht Resultat natürlicher Anlage (wie an der Grenze des Haarwuchses nach Gesicht und Nacken hin), sondern Resultat der Krankheit; im ersten Falle fanden sich solche Haare nur 7 %; dafür erreichten in diesem unter den feinen Haaren 25 % eine Länge über 6 Zoll, im zweiten nur 2 Zoll.
Ueber den Stand des Haarausfalls, soweit er hierher gehört, giebt folgende kleine Tabelle Auskunft:
1. Dame. Haarausfall von 3 Tagen |
2. Dame. Haarausfall von 4 Tagen | |||
Summarischer Haarausfall | 437 | 514 | ||
a) Darunter ganz weiß | 138 | (31%) | 53 | (10%) |
" von 1-2 Zoll | 9 | (7) | 10 | (19) |
" " 2-6 Zoll | 43 | (31) | 34 | (64) |
" über 6 Zoll | 86 | (62) | 9 | (17) |
b) Die Wurzel allein ganz weiß | 34 | (8%) | 7 | (1,3%) |
" " 2-6 Zoll | 3 | - | - | |
" über 6 Zoll | 31 | 7 | ||
c) Die Spitzen allein weiß | 7 | (1,6%) | 4 | (0,8%) |
" " 2-6 Zoll | 1 | 4 | - | |
" über 6 Zoll | 6 | - | - | |
d) Spitze und Wurzel weiß, Das Mittelstück gefärbt |
3 | (0,7%) | - | - |
e) Mitte allein weiß, Spitze und Wurzel gefärbt |
3 | (0,7%) | - | - |
f) Wiederholter Farbwechsel | 1 | (0,23%) | - | - |
Diese Tabelle zeigt, daß unter den theilweise oder ganz
weißen Haaren die meisten in ihrer ganzen Ausdehnung weiß
waren, sie enthielten bei der mikroskopischen Untersuchung fast gar
keinen Farbstoff, es unterliegt danach nicht dem geringsten Zweifel,
daß sie an Stelle der früher gefärbten Haare nach dem Ausfallen
derselben gleich vom Hause aus weiß gebildet worden waren.
Ein kleiner Theil der weißen Haare zeigte die Spitze und eine weite Strecke des Haares farbig und nur das Wurzelende weiß, es fand sich an diesem weißen Wurzelstück bei der mikroskopischen Untersuchung gleichfalls sehr wenig Farbstoff; es ist sonach gleichfalls unzweifelhaft, daß die haarbildende Stätte im Lauf der Bildung ein und desselben Haares die Fähigkeit zur Production von Farbstoff eingebüßt hatte.
Ein noch kleinerer Theil zeigte die Spitze weiß, die ganze übrige Strecke des Haares farbig; in der weißen Spitze fehlte der Farbstoff.
Sehr vereinzelt kam es vor, daß Spitze und Wurzel weiß erschienen, das Mittelstück hingegen farbig, oder umgekehrt, daß Spitze und Wurzel dunkel waren und nur das Mittelstück weiß,
[556] und nur bei einem einzigen Haare habe ich einen mehrfachen Farbenwechsel gesehen: das Haar war vierundzwanzig Zoll lang, sein Spitzenstück drei Zoll weiß, dann neun Zoll dunkel, dann fünf Zoll weiß, dann vier Zoll dunkel und das Ende etwas heller, aber immer noch gefärbt. In allen diesen Fällen fehlte der Farbstoff in den weißen Partien; es war mithin der Farbstoff am Ort der ersten Bildung und während dieser Bildung des Haares bald abgelagert worden, bald nicht.
Thiers hat in einer seiner jüngsten Parlamentsreden den „westphälischen Frieden“ als eine der „bewunderungswürdigsten“ Thaten der Politik Frankreichs gepriesen. Vom französisch-chauvinistischen Standpunkt mit vollem Recht. Mit demselben Rechte beklagen wir jenen Frieden als die Quelle all der Uebel, welche Deutschland bis zu den Befreiungskriegen auf die unterste Stufe nationaler Würde und Macht niedergedrückt hatten und deren Einfluß aus den höheren Regionen erst durch unsern letzten Krieg gegen Frankreich völlig verbannt worden ist – wie wir im neuen deutschen Reich wenigstens erwarten.
Der schlimmste Artikel jenes Friedens ist derjenige, welcher auf Frankreichs Betreiben den Reichsfürsten fortan uneingeschränkte Landeshoheit verlieh. Dafür waren die Fürsten dem Franzosenkönige auch dankbarer, als sie sich für die größten deutschen Kaisergnaden je bezeigt hatten: sie wurden größtentheils selbst sammt ihrem ganzen Gefolge Zöglinge und Lehrjungen in der Schule des Franzosenthums, und es gab Manche, die es darin bis zur Meisterschaft gebracht haben.
Französisch wurde die Sprache, die Sitte, die Kleidung, die Erziehung, kurz Haus und – Herz der gesammten „höheren und höchsten“ Gesellschaft, die über dem ungeheuren „Pöbelhaufen“ des deutschen Volks im Olymp der „Schlösser“ schwebte; so ziemlich jedes Schloß ward eine Heimstätte des Franzosenthums. Die Ausnahmen waren so selten, daß sie zu den Auffälligkeiten gehörten, welche die Geschichte besonders vermerkt hat.
Diese völlige Loslösung der „höhern Gesellschaft“ vom Volke führte dieselbe, soweit sie nicht in der sclavischen Nachahmung französischen Wesens aufging, zu kosmopolitischen Anschauungen hin, mit welchen ihre Vaterlandslosigkeit leidlich aufgeputzt wurde. Gewonnen hatten diese Kreise allerdings an feineren Lebensformen, und wer die Rohheit, die an den meisten deutschen Fürstenhöfen in den Zeiten vor dem dreißigjährigen Krieg und während desselben herrschte, betrachtet, giebt gern zu, daß sie etwas Schliff sehr nothwendig hatten. Wenn nun mit diesen veredelten Lebensformen sich zugleich ein der Pflege der schönen Künste und Wissenschaften huldigender Geist vereinigte, so konnten dadurch wohl auch Erscheinungen gedeihen, auf die wir heute, nachdem so Vieles überwunden ist, mit ruhigerer Theilnahme zurückblicken können. Bedingung dafür ist aber freilich, daß wir nicht die Förderung politischer oder gar patriotischer Bestrebungen bei ihnen suchen. Selbst wo wir Männern, deren Namen jetzt im populärsten Glanze strahlen, in jenen exclusiven Cirkeln begegnen, ist an keine nationale und liberale Anschauung in unserem Geiste zu denken. Wer in den höheren Kreis hinaufgehoben wurde oder hinaufstieg, fand sich in dem kosmopolitischen Dunstkreis daheim; die wenigen Männer von deutschem Charakter vor den Befreiungskriegen waren zu eckige Gestalten für diese Welt ungestörter Anmuth.
Ein Muster solch feingeistigen Hofhalts war der der zwei merkwürdigen Frauen, deren Andenken wir diesen Artikel widmen – der Mutter, die als letzte Herzogin von Kurland, und der Tochter, die als Herzogin von Sagan in den Geschichten der gefeiertsten Schriftsteller und Diplomaten ihrer Zeiten eine große Rolle spielen.
Ueber die Herzogin Dorothea von Kurland und ihre schön-geistige Hofhaltung zu Löbichau, ihrem Landschlosse zwischen Ronneburg und Gera, hat bereits ein ausführlicher Artikel, mit einer Abbildung des Löbichauer Schlosses und Parks, im Jahrgang 1859 der Gartenlaube gehandelt. Ueber sie selbst haben wir hier noch Manches zum ersten Artikel nachzutragen; unsere besondere Aufmerksamkeit gilt aber der schönen gleichnamigen Tochter derselben, deren Bildniß diesen Artikel schmückt, welches der mittleren Epoche ihrer Schönheit angehört und dessen Mittheilung wir der A. Leesenberg’schen historischen Portraitsammlung in Berlin verdanken.
Man hat die beiden Dorotheen von Kurland und Sagan sehr oft verwechselt, obwohl sie Mutter und Tochter waren; ihre Jugend lag zwar weit auseinander, aber in ihren Charakteren und in ihren Schicksalen fand allerdings so viel Aehnlichkeit statt, daß eine Verwechslung begreiflich ist.
Der Vater der Ersteren, der Reichsgraf von Medem, gehörte zu den ältesten und geachtetsten Adelsgeschlechtern in Kurland, aber er dachte doch nicht daran, daß seine jüngste Tochter einmal seine Landesherrin werden könnte. Es war dies ein Werk seiner dritten Frau, einer Wittwe, Freifrau von der Recke, die eine kluge, freundliche, aber sehr ehrgeizige und herrschsüchtige Dame war. Mit den Kindern aus der ersten Ehe des Grafen entzweite sie sich sehr bald, der Sohn Friedrich trat in offene Feindschaft mit ihr und seine Klagebriefe über ihr Benehmen gegen ihn sind seltsamerweise von einem seiner Universitätsfreunde 1792 in Straßburg dem Druck übergeben worden, wodurch der neugierigen Mitwelt ein tiefer Einblick in die Zustände einer der vornehmsten Familien gestattet wurde.
Die schöne Dorothea wurde sehr bald der Liebling der Stiefmutter, die in ihr die Erfüllung ihrer ehrgeizige Pläne voraussehen mochte und ihr eine frühzeitige Anleitung gab, um in der Welt und vor Allem am Hofe zu Mitau zu glänzen.
Zu dieser Zeit verweilte der Abenteurer Cagliostro in Kurland und machte seinen Einfluß auch am Hofe des Grafen Medem geltend. Namentlich war Dorothea’s Stiefmutter, wie alle alternde Frauen, von Cagliostro beherrscht, denn er verhieß ihnen ein jugendlichmachendes Geheimmittel; sie vergaß darüber das junge Mädchen hinreichend zu bewachen, und da dessen Herz ebenso frühreif war als ihr Geist, so konnte es nicht ausbleiben, daß sie einige Liebesregungen empfand. Zweimal verlobte Dorothea sich heimlich, aber sie wagte nie die Einwilligung der Eltern zu erbitten, deren Ehrgeiz ihr nicht unbekannt war.
Mittlerweile war Herzog Peter von Kurland aufmerksam auf sie geworden; er sondirte erst, ob Graf Medem geneigt sein würde, ihm eine geheime Ehe mit seiner Tochter zu gestatten. Der Graf Medem lehnte diesen Antrag stolz ab; die kluge Gattin aber bearbeitete die Stieftochter dahin, daß sie eine geheime Verlobung mit dem Herzoge einging, und richtete dann eine sehr öffentliche pomphafte Trauung in’s Werk. Der ganze Adel Kurlands wurde zu einem Hoffeste in’s Schloß geladen, und als man sich untereinander neugierig fragte, was die Veranlassung sein könnte, wurden die Flügelthüren zur Schloßcapelle aufgerissen, in der wie ein lebendes Bild die reizende Braut neben dem alternden Herzog vor dem Traualtar stand. Sie war erst eben neunzehn Jahr alt geworden, fand sich aber so rasch in ihre Rolle als Landesmutter, daß sie ohne alle Verlegenheit den Ständen eine Rede hielt, als sie zur Beglückwünschung vor ihr erschienen.
Trotz aller freundlichen Beziehung zur Kaiserin Katharina gelang es indessen der jungen Herzogin nicht, ihrem Gemahl die Krone von Kurland zu erhalten, er mußte 1795 derselben feierlich entsagen und sein Land dem russischen Scepter überlassen. Er zog sich nach seiner Besitzung Nachod in Böhmen zurück, lebte auch öfter auf der von ihm erkauften Herrschaft Sagan und starb 1800.
Fünf Töchter und ein Sohn waren dieser Ehe entsprossen; der letztere hatte einen Augenblick die Hoffnungen auf die Fortdauer Kurlands belebt und wurde mit mehr Wichtigkeit behandelt als der Erbe des größten Reichs; indessen starb er in zarter Kindheit, die Krisis seines Erbländchens nur noch beschleunigend. Von den Töchtern war Dorothea von Sagan die jüngste, sie wurde am 21. August 1793 geboren.
Die Mutter Dorothea war in ihrem Enthusiasmus für große Männer zuletzt bis zu Napoleon emporgestiegen. Es sei hier noch eingeschaltet, daß auch Friedrich der Große, trotz seines Greisenalters [557] und seiner Gicht, so bezaubert von den ihm dargebrachten Huldigungen der schönen Herzogin gewesen ist, daß er ihr noch eigenhändige Zettelchen schrieb und ihr die herrlichsten Blumen und Früchte aus Sanssouci senden ließ.
Auf das Schicksal ihrer Tochter sollte diese Napoleon-Verehrung der Herzogin den nachhaltigsten Einfluß ausüben, denn die erblühende Jungfrau lernte von der Mutter sehr bald, sich ebenfalls für Napoleon zu begeistern. Die persönliche Bekanntschaft derselben mit dem Kaiser Alexander, der ja ebenfalls eine unbegreifliche Bewunderung für Napoleon hegte, steigerte nur noch die ihrige und der hohe Herr bekam durchaus keinen Korb, als er als Gast nach Löbichau kam und der Herzogin-Mutter den Antrag Talleyrand’s mittheilte, der für seinen Neffen, den damaligen Grafen Perigord, um Dorothea’s Hand werben ließ; schon im April 1809 fand die Trauung des Paars in Frankfurt am Main statt. Der Fürstbischof Dalberg vollzog dieselbe. Es war keine glückverheißende, und wie oft mögen Mutter und Tochter diese kosmopolitische Ehe bereut haben!
Napoleon’s Kriege in Spanien und Rußland stürzten ihn doch endlich vom Herzensaltar der alten Dame; sie kehrte wenigstens aus Paris nach ihren Besitzungen in Deutschland zurück. Als jedoch die Verbündeten in Paris einzogen, forderte der kluge Fürst Talleyrand sie dringend auf, dorthin zu kommen, um die fremden Souveräne durch ihre milde Vermittlung nachsichtiger zu stimmen. Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm der Dritte ließen sich gern von ihr die Honneurs in Paris machen.[1] – Seit dieser Zeit lebte sie abwechselnd in Deutschland oder in Frankreich. Das Hin- und Herreisen war ihr so zur Gewohnheit geworden, daß sie die weitesten Entfernungen nicht scheute, sie reiste auch mehrmals nach Petersburg und nach Mitau, ihrer einstigen Residenz, wo sie stets wie eine wirkliche Herrscherin empfangen und gefeiert wurde. Am liebsten verweilte sie aber in Löbichau, wo am 20. August 1821 ein Nervenschlag unerwartet ihrem Leben ein Ende machte.
Ihre Tochter Dorothea wurde durch ihren Tod veranlaßt, öfter nach Deutschland zu kommen, weil die große Erbschaft ihre Anwesenheit nöthig machte; sie gefiel sich dort so gut, namentlich in Berlin, daß sie mehr dort, als in Paris lebte. Ihre Beziehungen zum Hof gestalteten sich ganz besonders angenehm, der geistreiche Friedrich Wilhelm der Vierte, damals noch Kronprinz, und seine reichbegabten Brüder huldigten der jungen Herzogin in [558] ritterlicher Weise. Konnte doch eine so glänzende Erscheinung, wie die Herzogin von Dino – damals führte sie noch diesen Titel und nannte sich erst später nach der von den beiden älteren Schwestern erworbenen Besitzung Sagan – nicht ohne großes Aufsehen durch die Welt der Gesellschaft gehen; sie stand in der Blüthe der Schönheit, war voll Geist und Phantasie und besaß Rang und Reichthum. Man betrachtete sie wie ein Meteor, und die Bewunderung war anfangs noch größer als der Neid. In Paris wurde sie ebenso gefeiert, als in Berlin, der Hof der Bourbonen hatte ihr die Sympathien ihrer Mutter für Napoleon vergeben, obwohl sie selbst dieselben getheilt und sogar ihren Erstgeborenen Napoleon Ludwig taufen ließ. Der berühmte schlaue Oheim ihres Gemahls, Fürst Talleyrand, verstand meisterhaft die Kunst, alle politischen Systeme zu seinem Nutzen zu beherrschen, was ihr zu Gute kam. Er liebte diese Nichte überhaupt sehr und ernannte sie zur Universalerbin seines kolossalen Vermögens, seinen eigenen Neffen, ihren Gemahl, dabei übergehend. Es ist bekannt, wie groß seine Schwärmerei für den Zauber der Weiblichkeit war. Frau von Staël und Julie Recamier sind von ihm glühend bewundert worden, doch hat er, wie Goethe, vorgezogen, eine Haushälterin zu heirathen, wobei er das brutale Wort gesagt hat: „Man muß einen Geist wie Frau von Staël geliebt haben, um das Vergnügen zu begreifen, eine Gans lieben zu können.“ Man erzählte sich die lächerlichsten Verlegenheiten, die ihm letztere in geselliger Hinsicht bereitete. Es ist deshalb sehr erklärlich, daß er sich doch wieder nach einem Geist sehnte und seine schöne geistreiche Nichte zum Ideal seines alten Herzens machte.
Im Jahre 1844 wurde Dorothea Herzogin von Sagan; sie vergaß jedoch nie, ihren Titeln auch den herzoglichen von Kurland beizufügen. Der glänzendste Hofstaat wurde in Sagan errichtet, und das Schloß wurde nie leer von hohen und berühmten Gästen. Das merkwürdige Gebäude ist theilweise noch von Wallenstein erbaut worden, theilweise vom Fürsten Lobkowitz. Der Herzog Peter von Kurland hat den Bau vollendet und seine Töchter haben ihn so prachtvoll und kunstsinnig ausgeschmückt, daß er eine Monographie verdiente.
Obwohl schon im fünfzigsten Jahre um diese Zeit stehend, war Dorothea von Sagan noch eine berühmte Schönheit; ein boshafter Schriftsteller nannte sie zwar ein schönes „Kunstwerk“ und verglich sie bald mit einem weiblichen Ulysses, bald mit einer Circe. Es war A. von Sternberg, dessen Urtheil in diesem Falle jedoch nicht ganz glaubhaft ist, weil er die Herzogin persönlich haßte in Folge einer Abweisung, die sie ihm allerdings sehr rücksichtslos hatte zugehen lassen. Was das „Kunstwerk“ betrifft, so war der Glaube freilich allgemein verbreitet, daß die wohlerhaltene seltene Schönheit der Herzogin auf künstlichen Mitteln beruhe. Man erzählte sich die unglaublichsten Fabeln davon; es sollte ein Mechanismus existiren, womit sie die Stirnhaut glatt ziehen lasse, und der Hals nebst Büste sollte aus einer Pariser Fabrik weiblicher Reize verschrieben sein, unter einem kostbaren Perlenhalsband sei der Ansatz verborgen hieß es. Die Herzogin hatte davon gehört und machte sich den Scherz, einmal bei einer großen Festlichkeit, wo viele Zuschauer versammelt waren, das besagte Perlenhalsband zu lösen, so daß es mit Geräusch zu Boden fiel. Das Publicum blickte mit der sichtbarsten Spannung nach ihr hin und war fest überzeugt, der künstliche Halsapparat würde nun auch abfallen. Man wartete jedoch vergeblich darauf, denn die Herzogin besaß diese Reize in natürlicher Fülle, sie bedurfte durchaus keiner künstlichen Nachhülfe. Ihre Gestalt war wie aus fleischgewordenem Marmor gemeißelt, blendend weiß und fest rundeten sich ihre Formen. Die Magerkeit ihrer Jugend hatte sich gänzlich verloren, ohne in die Fettleibigkeit überzugehen, die allerdings bei älteren Frauen häufig ist. Ihr Haar war noch glänzend schwarz und ihre Zähne glänzend weiß, weil sie die Pflege der Schönheit verstanden hatte, nicht weil sie künstliche Mittel anwendete. Ihr regelmäßiger Gesichtsschnitt, der bezaubernde wechselvolle Ausdruck ihres Mienenspiels und ihre herrliche Haltung machten ihre Erscheinung zu einer wahrhaft überraschenden. Als wir sie bei einer Hoffestlichkeit erblickten, trug sie einen weißen Hermelinmantel über Purpursammet geworfen und sah vollkommen aus wie ein stolzes Frauenbild von Paul Veronese gemalt.
Ziemlich um dieselbe Zeit wurde zuerst sehr viel über ihr Verhältniß zu dem Fürsten Felix Lichnowsky gesprochen. Sie war fast zwanzig Jahre älter als er und bereits Großmutter, als sie ihn kennen lernte. Darum schien der Traum des Frauenherzens, eine ideale Männerfreundschaft, für den sich Georges Sand einst begeisterte, auch der Herzogin Dorothea durch den Fürsten Felix in Erfüllung gegangen zu sein. Er erschien ihr zuerst im Lichte der Romantik durch seine Abenteuer in Portugal und in Spanien, zu denen ihn sein Jugendmuth und Thatendrang getrieben hatte. Er glich einem fahrenden Ritter des Mittelalters; Kreuzzüge und Turnier, Frauendienst und Minnegesang würden ihn glücklich und berühmt gemacht haben. Wie wenig ahnte er, daß er, der nach Kränzen von Lorbeeren und Myrthen sich sehnte, dereinst eine Märtyrerkrone auf seiner schönen jungen Stirn tragen würde! Er hatte dem Tode oft genug in’s Auge gesehen auf seinen kriegerischen Streifzügen, sogar einst einem ähnlichen schrecklichen, wie er ihn später wirklich erleiden mußte.
Die Anziehungskraft seiner Persönlichkeit wurde durch große körperliche Schönheit und ein lebhaftes keckes Benehmen unterstützt; er sprudelte von Geist und Witz, liebte es aber auch, Paradoxen zu vertheidigen und seine Gegner zu erbittern durch scharfe verletzende Worte. So hat er sich ebenfalls die Feindschaft Sternberg’s zugezogen, obwohl derselbe eigentlich ein Gesinnungsgenosse von ihm war und auch sonst manche Aehnlichkeit mit ihm besaß. Sternberg galt auch für einen schönen Mann und hatte ebensoviel Anlage zum Abenteurer als der Fürst Felix. Es ist also wohl wahrscheinlich, daß eine Art von neidischer Nebenbuhlerschaft Sternberg’s Urtheil über denselben dictirt hat. Er sagt ziemlich derb:
„Wenn man zur Gräfin Hahn-Hahn kam, fand man immer den unerträglichen Flegel, den Fürsten Lichnowsky dort, der der wahre Gegensatz zu dem Freunde der Gräfin, dem stillen bescheidenen anspruchlosen Bistram war. Dieser herumtreibende Fürst strebte danach, in die Mäuler der Leute zu kommen, und wußte dazu kein geeigneteres Mittel, als auf eine Weise unverschämt und tolldreist zu sein, daß Männer kaum anders mit ihm zu verkehren wußten als mit der Degenspitze oder dem Pistolenlauf, Frauen kein anderes Mittel hatten ihn fern zu halten, als ewig verschlossene Thüren und abweisende Diener, die er jedoch oft über den Haufen warf und doch eindrang. Dabei hatte er kein übles Aussehen, man konnte ihn sogar, wenn er sich ruhig verhielt und nicht sprach, für einen sanften Jüngling halten, der eine kokette Toilette gemacht hatte. Aber sowie er die Lippen öffnete, verschwand dieser Reiz und die personificirte Unverschämtheit kam zu Tage. Frech und zügellos in jedem seiner Worte, war er es ebenso in jeder Miene und Bewegung. Alles, was nur vornehme und nicht vornehme Laster heißt, hatte er seinem jungen Körper zugemuthet und war dennoch leidlich davongekommen. Nicht so gut war es seinem Beutel ergangen, der bis auf das letzte Goldstück geleert war. Er wurde für seine Gläubiger eine sehr anziehende Person, bis die bekannte befreiende Gottheit für ihn auftrat.“
Mit diesen Worten haben wir so ziemlich die Quintessenz der Verurtheilungen gegeben, die Fürst Felix damals von vielen Seiten zu erfahren gewohnt war.
Daß die Herzogin von Sagan die „befreiende Gottheit“ für den Fürsten Felix geworden war, soll übrigens nicht in Abrede gestellt werden. Seine Schulden hat sie allerdings bezahlt; er gab ihr jedoch dafür sein herrliches Allodialbesitzthum Schloß Grätz bei Troppau in Oberschlesien. Es war sein Lieblingsaufenthalt und er kehrte nach allen Vergnügungsreisen immer wieder dahin zurück; auch als es der Herzogin gehörte, liebte er es, dort alle Schätze aufzuhäufen, die er mit großem Kunstfleiß sammelte. Er hatte ein vollständiges Museum in den Schloßräumen angelegt; der merkwürdigste Inhalt desselben ist jetzt aber die Sammlung von Reliquien seines Todes!
Wir hatten einstmals in Baden-Baden den Fürsten Felix in einer heitern Gesellschaft getroffen; ihm schien das Glück sein sonnigstes Lächeln zu spenden; er überstrahlte alle Cavaliere an Schönheit, Kraft und Liebenswürdigkeit; sie und alle Damen, die aus dem altfranzösischen Ritterroman der Rose entnommen zu sein schienen, schwärmten für ihn. Trotzdem seines Herzens sicher, ruhten die schönen Augen der Herzogin von Sagan, mit Befriedigung auf seinem Antlitze, das sobald im Todeskampfe zucken sollte. Es wird uns ein unvergeßlicher Abend sein; der Mondschein lag wie geschmolzenes Silber über der alten Schloßruine [559] von Baden-Baden, Windlichter flackerten auf der Tafel der lustigen Gesellschaft und spiegelten sich in goldenem Rheinwein und rosigem Champagner. Alles lachte und scherzte, Niemand sah das Gespenst des Jahrhunderts, den Bürgerkrieg, obwohl sein Leichentuch in Frankreich schon ausgebreitet war – man schlug dort soeben die Junischlacht von 1848. Damals stand das unbefreite Deutschland aber noch unter dem französischen Geistesjoch und war nur zu geneigt, in allen Wahnsinnsausbrüchen dem Franzmanne zu folgen. Kaum acht Wochen später wurden Fürst Lichnowsky und General Auerswald vom Volke zerrissen. Die Einzelheiten dieses Mordes zu erzählen ist hier nicht der Ort.
Ein Jahr später kamen wir nach Schloß Grätz, wo wir schon einmal als Gast der Herzogin geweilt hatten; sie war nicht mehr dort und hatte das einst so geliebte Besitzthum verschenkt. Der jüngere Bruder des Fürsten, Graf Robert, ihm körperlich und geistig sehr ähnlich, hatte es von ihr erhalten mit der Bedingung, die Erinnerungen an den gemordeten Fürsten darin aufzubewahren. Der Schloßwart führte uns auf vieles Bitten in die dazu bestimmten Räume, denn eigentlich war es nicht erlaubt, dieselben zu besichtigen.
Mit Schauder betrachteten wir die blutigen Kleider, die in Glaskästen aufbewahrt werden. Das blutige Battisthemd mit halb abgerissener Manschette – wir sahen noch die schöne feine Hand, die den vollen Lebensbecher gehalten hatte und nun zerschmettert war – machte einen ganz besonders furchtbaren Eindruck auf uns. Ebenso der feine graue Sommerhut, unter dem wir noch die dichten schwarzen Locken flattern gesehen hatten, zertreten, mit Fäusten eingedrückt. Neben der Todtenmaske von Gyps lag auch eine Abbildung der linken Hand, die unversehrt geblieben war. Auch ein Stückchen Holz aus der Pappel, an die sich der unglückliche Felix lehnte, als die Cannibalen ihm den Leib aufgeschlitzt hatten, lag da, sowie einige Steine aus der Kellerwand, die ihm anfangs einigen Schutz gewährte. Der welken Todtenkränze waren so viele gewesen, daß von jedem nur ein Blatt aufgehoben werden konnte. Die Briefe und Tagebücher, schwarzversiegelt, füllte einen besondern Schrank. In diese melancholische Erinnerungswelt voll Schmerz und Erdenstaub schaute das lebensgroße Bild des einst so glücklichen Fürsten von den Wänden herab, sowie eine große Anzahl von Portraits aus seiner Kindheit, die Liebe beweisend, die seine Eltern für den schönen Knaben hegten.
Die Hand aber, die alle seine Erinnerungszeichen gesammelt und geweiht hatte, war die der Herzogin Dorothea. Wir sahen sie später und öfter wieder, aber niemals wagten wir von dem gemordeten Liebling mit ihr zu reden. Wenn sie nur annähernd an ihn erinnert wurde, flog ein Schatten unheilbaren Schmerzes über ihr immer noch schönes Gesicht. „Sie mußte weiter leben ohne Klagen, fühlt auch ihr Herz sie tief zerschlagen,“ wie eine englische Dichterin sagte. Beinahe vierzehn Jahre überlebte sie dieses Ereigniß; wir sahen sie zuletzt in Schlangenbad, wo sie mit der schmerzhaftesten Todeskrankheit rang. Sie starb am 13. September 1862.
Wunderbarer Weise lebt ihr Gemahl, von dem man so selten etwas hörte, noch als hochbetagter Greis in Florenz; er vermählte sich zwei Jahre nach dem Tode Dorothea’s mit der Wittwe eines Engländers, einer gebornen Fräulein von Ulrich aus Dänemark.
Der jetzige Besitzer von Sagan ist Dorothea’s ältester Sohn, Napoleon Ludwig, Herzog von Talleyrand-Périgord; er ist 1811 geboren und vermählte sich mit der Wittwe des preußischen Gesandten in Paris, Grafen Hatzfeld, die eine geborne Gräfin Castellane ist. Der zweite Sohn Dorothea’s hatte von Kaiser Napoleon dem Dritten den Herzogstitel und Namen der alten Familie von Montmorency erhalten, eine ihrer Töchter ist an den Grafen Castellane verheirathet, eine ihrer Enkelinnen mit dem Fürsten Radziwil, demselben, der die historisch denkwürdige Abweisung Benedetti’s in Ems zu besorgen hatte, da er gerade Dienst als Flügeladjutant des Königs Wilhelm in Abwesenheit des Grafen Lehndorff hatte.
Die Sympathien mit Frankreich können in der herzogliche Familie von Sagan noch nicht völlig ausgestorben sein; doch hat sie so viel Loyalität bewiesen, daß dieselben nicht zu fürchten sind, wenn es sich um das Wohl ihres Adoptivvaterlandes, Deutschland, handelt.
Wie der große Kurfürst seine Generale und Minister dotirte. Es ist nicht die Absicht dieser Zeilen, die Dotation, die Kaiser Wilhelm verdienten deutschen Generalen und Staatsmännern soeben zuwendet, irgendwie zu kritisiren, noch die in politischen Tageszeitungen viel ventilirten Gründe für und wider diese Schenkungen nochmals zu erwägen. Es soll vielmehr die oft und wiederholt ausgesprochene Behauptung, die Dotationen nach den Kriegen von 1866 und 1870–1871 fänden in der Geschichte Preußens kein Beispiel und Kaiser Wilhelm ahme in dieser Beziehung nur Napoleon dem Ersten nach, mit historischen Daten widerlegt und das Gegentheil bewiesen werden.
Es dürfte wohl überflüssig sein, darauf hinzuweisen, daß der große Kurfürst Friedrich Wilhelm der eigentliche Begründer der heutigen Machtstellung Preußens und in Folge dessen auch des deutschen Reiches ist. Daß er dieses sein Werk, dessen ruhmreiche Durchführung ihm den Namen des „Großen“ beilegte, hauptsächlich nur durch Errichtung eines stehenden Heeres in’s Leben rufen konnte, ist ebenso bekannt. Als Friedrich Wilhelm im Jahre 1640 die Regierung über seine Lande übernahm, führte er zwar den Titel: „Wir, Friedrich Wilhelm, Markgraf zu Brandenburg, des heiligen Römischen Reiches Erzkämmerer und Kurfürst, Herzog in Preußen, Jülich, Cleve, Berg, Stettin, der Pommern, Cassuben und Vandalen, sowie in Schlesien, zu Crossen und Jägerndorf Herzog, Burggraf zu Nürnberg, Fürst zu Rügen, Graf zu Mark und Ravensberg, Herr zu Ravenstein etc.“, allein das waren größtentheils nichts weiter, als eben nur leere Titel. Das ihm hinterkommene Erbe bestand nur aus dem Herzogthum Preußen, damals ein Lehen der Krone Polen, aus dem Fürstenthum Hinterpommern und dem Herzogthum Cammin, den Herrschaften Lauenburg und Bütow und aus der Mark Brandenburg. Die Herzogthümer Jülich, Cleve und Berg und die Herrschaft Ravenstein besaß er mit dem Pfalzgrafen von Pfalz-Neuburg gemeinschaftlich. In allen diesen Landen jedoch gehörte ihm in Wirklichkeit fast kein Fuß breit Erde, da ein großer Theil derselben durch die entsetzliche Furie des dreißigjährigen Krieges zur völligen Wüste gemacht, ein anderer Theil hingegen von den Feinden noch hartnäckig besetzt gehalten und das Uebrige ihm von den Freunden vorenthalten wurde. Nur durch eigene Kraft und Klugheit, durch die Errichtung eines schlagfertigen stehenden Heeres und durch seinen Scharfblick, vermöge dessen er tüchtige Generale und Staatsmänner gewinnen und heranbilden konnte, befreite er sein Erbe von Feinden und Freunden, schlug er die Schweden, Polen, Tataren, Frankreich etc. und erwarb er sich neue Gebietstheile.
Friedrich Wilhelm fand bei seinem Regierungsantritt ein Erbe von 1300 Quadratmeilen mit 800,000 Einwohnern und ein Heer von 2500 Mann, das zum Theil dem Kaiser geschworen hatte, vor. Die geringen Einnahmen flossen zum Theil in die königlich schwedischen, königlich polnischen und in die kaiserlichen Cassen. Dagegen hinterließ der große Kurfürst seinem Sohne einen Staat von 1932 Quadratmeilen mit 1,500,000 Einwohnern, ein Heer von ungefähr 30,000 Mann (Friedensfuß), nämlich 5320 Reitern und 24,560 Mann Infanterie und Artillerie, dabei regelmäßige jährliche Einkünfte von 2,540,000 Thalern, wovon jedoch nichts in ausländische Cassen floß. Ein großer Theil der letzteren, nämlich 1,110,000 Thaler, wurden für das Heer verwendet. Es ist bekannt, daß sich der große Kurfürst fortwährend in großen Geldverlegenheiten befand, da das verhältnißmäßig zu bedeutende stehende Heer, die vielen Kriege, die Geschenke, die er vielfach an fremde Diplomaten ausgeben mußte, um seine Zwecke zu erreichen, ungeheure Summen verschlangen. Die Stände der verschiedenen Länder, besonders Preußens, sträubten sich regelmäßig gegen neue Auflagen und drangen wiederholt und manchmal sogar in ungehörigen Ausdrücken auf Reducirung der Alles verschlingenden Soldatesca.
Doch Friedrich Wilhelm ließ sich, sein großes Ziel stets fest im Auge behaltend, durch diese Quereleien nicht irre machen. Er fand sogar noch Mittel, seine verdienten Generale und Staatsmänner zu dotiren und sie dadurch noch fester an sich und seinen Staat zu ketten.
So beschenkte er den Generalfeldmarschall Otto Christoph, Freiherrn von Sparr, der den dritten Tag der Schlacht bei Warschau (Sonntag, den 26. Juli 1656) durch seine äußerst geschickt placirte Artillerie entschied, das Haus Nr. 21 in der Spandauer-Straße in Berlin und ernannte ihn zum Generalfeldmarschall. Sparr war der erste brandenburgische Officier, der diese Würde erhielt. Jenes Haus in der Spandauer-Straße trägt an seinem Hintergebäude heute noch das Bildniß von Sparr’s nebst einer Inschrift.
Die bedeutendsten Dotationen erhielten jedoch der Generalfeldmarschall von Derfflinger und der Minister Otto von Schwerin. Nachdem der Erstere schon mehrfache Auszeichnungen und Gunstgaben selbst bis zu zehntausend Thaler genossen, erhielt er nach der Schlacht bei Fehrbellin abermals zehntausend Thaler. Die größte Dotation wurde ihm während des pommerschen Feldzuges zu Theil: der Kurfürst verschrieb ihm nämlich hundertzwanzigtausend Thaler auf die Comthurei des Johanniterordens Wildenbruch, dann gab er ihm nach der Eroberung der Insel Rügen eine Anweisung von fünfzigtausend Thalern auf die spanischen Hülfsgelder, die er in dem folgenden Jahre auf zweiundsechszigtausend Thaler erhöhte, außerdem ließ er ihm durch seinen Hofbaumeister Nehring in Berlin ein „stattliches“ Haus am Köllnischen Markte, dem Schlosse gegenüber, bauen.
Derfflinger, der als blutarmer Schneidergesell in die Welt gewandert war, hinterließ nach den damaligen Verhältnissen ein kolossales Vermögen, nämlich die Güter Gusow, Platkow, Wulkow, Kerkow, Hermsdorf, Theeren, Kraneiche, Schildberg und Quitemen, dann das bereits erwähnte Haus in [560] Berlin am Köllnischen Markt und außerdem noch viel baares Geld. Friedrich Wilhelm wendete sich sogar einmal betreffs eines Anlehens an Derfflinger und schreibt darüber an den Statthalter der Mark, den Fürsten von Anhalt: „Wir haben wegen eines benöthigten Anlehens unsern General-Feldzeugmeister Derfflinger gnädigst ansprechen lassen und hat sich derselbe unter andern auf zweitausend Thaler, so er von Ew. Liebden zu empfangen, erboten.“
Dem Marschall Friedrich Grafen von Schomburg schenkte der Kurfürst ein neues ebenfalls von Nehring auf dem Friedrichswerder zu Berlin erbautes Palais.
Der erste Minister und Oberpräsident des Geheimen Raths, Otto von Schwerin, ein um das kurfürstliche Haus hochverdienter Staatsmann, der sich bei vielen Friedensschlüssen und bei schwierigen diplomatischen Missionen besonders ausgezeichnet, wurde nicht nur mit der Herrschaft Alt-Landsberg in der Kurmark beliehen, sondern Friedrich Wilhelm schenkte ihm auch noch „mehrere Güter“ in Preußen, Pommern und Cleve.
Die Zeit des großen Kurfürsten bietet viele interessante Vergleiche mit der gegenwärtigen, und wir empfehlen unsern Lesern zum Studium recht nachdrücklich das vortreffliche Werk: „Dr. Förster, der große Kurfürst und seine Zeit“.Sieger-Einzug in’s Dörfchen. (Mit Illustration, S. 553.) Ja, das war reine, himmelklare, selige Lust! Nur Freude und nichts als Glück in jedem Antlitz! Ich kam in das neupreußische, mehrere Stunden abseits der Eisenbahn an der hessisch-thüringischen Grenze liegende Kirchdorf M., um meinen alten Studiengenossen, den dortigen Pfarrer, mit meinem Besuch zu überraschen, und ich ward dagegen mit einem Feste überrascht, das ich am wenigsten in dieser Abgeschiedenheit von den eisernen Weltstraßen erwartet hätte.
Mein rasches Geschirr holte auf dem Wege dahin einen festlichen Zug ein: mit Kränzen und Fahnen geschmückte Leiterwagen, von fröhlichem Landvolk umwogt und von etlichen reitenden Bauernburschen angeführt, brachten eine Schaar aus Frankreich heimgekehrter Krieger in ihr Dorf zurück. Es waren wohl ein Dutzend Soldaten, stramme Burschen und Männer, Infanteristen und Cavalleristen, die allein den ersten Wagen einnahmen, dann kam die Musik mit allen Anderen, jüngeren Männern, Burschen und Mädchen. Ueberall, wo ein Dörfchen, Weiler oder Haus am Wege stand, Gruß, Winken und Freudenruf.
Da lag endlich das Dorf M., die Fahne wehte vom Kirchthurm und die Glocken, die alten Heimathglocken, grüßten schon aus der Ferne die wiederkehrende Schaar. Ich sah’s mit tiefer Rührung, wie mächtig der Glockenton ihre Herzen erregte. Aller Blicke waren dem Thurme zugekehrt, Hände drückten sich und Thränen rannen. Die Heimath grüßte sie mit ihrer herrlichsten Weihe.
Noch weit vor dem Dorfe stiegen die Soldaten ab, es litt sie nicht mehr auf dem Wagen, denn nun streckten sich erst gar liebe Hände ihnen entgegen. Da kamen die Alten und Mütter und Kinder, und da wurde die Freude stumm, die Worte erstickten in der überströmenden Wonne, Hände und Augen thaten Alles allein. Nur die Mädchen blieben standhaft bei der Pflicht: sie schmückten die Krieger mit Kränzen und Gewinden zum feierlichen Empfang vom Ortsvorstand. Ein Zelt war aufgeschlagen und beflaggt und bekränzt. Dort stand der alte Schultheiß mit den Gemeindeältesten. Er hielt gewiß eine wackere Ansprache, aber hören konnte ich sie nicht, ich sah nur, wie er schließlich den großen „Willkomm“ ihnen entgegenbrachte, und hörte, wie Alles in ein mächtiges Hoch ausbrach. Meine Augen suchten lange vergeblich nach meinem alten Freund. Endlich sah ich ihn; er stand hinter der Schuljugend, die mit ihrer Fahne den Zug von der Friedhofmauer herab begrüßte, vor der Sacristei seiner Kirche. Dorthin bewegte sich nun auch der Zug, die Krieger voran.
Alter, deine Stimme hat gezittert, als du die Worte sprachst: „Willkommen, Ihr Braven! Willkommen in der Heimath und an den Herzen Eurer Lieben! Willkommen auf dem Friedhof, wo Eure Voreltern ruhen! Willkommen vor dem Kirchlein, das Euch für das Leben geweihet und bei Eurem Auszug gesegnet hat und in welchem unsere Gebete für Euch und für das liebe Vaterland zum Himmel emporgestiegen sind. Der Herr hat unser Flehen erhört, der Herr hat Euren Arm geführt und Euren Leib beschützt! Der Herr hat durch Euren Sieg uns das lange und schmerzlich ersehnte freie, große, einige Vaterland bescheert! Der Herr sei gelobet in Ewigkeit! Amen.“
Und als wir am Abend allein von derselben Friedhofmauer auf das jubelnde Volksfest herabblickten, da sprachst du: „Gottlob, daß wir’s erlebt haben! Gewollt haben wir alten Burschenschafter ganz dasselbe schon vor vierundfünfzig Jahren. Du weißt, wie klar der Paragraph des Jahn’schen Statuten-Entwurfs die Verfassung des deutschen Reichs darstellte, – fast genau so, wie es heute geworden ist. Und als sie uns damals verhöhnten, verfolgten und grausam bestraften, weil wir gegen den Willen der Mächtigen um ein einiges Deutschland, um Kaiser und Reich rangen, wer von uns hätte in seinem Schmerz geglaubt, daß wir noch Kaiser und Reich feiern würden nach einem solchen Siege? Aber wir behaupten mit Recht unsern Ehrenantheil an ihm. Wir haben treu und fest im Volke weitergekämpft, wir haben den Vaterlandsgedanken nicht aussterben lassen – und er hat endlich gesiegt! Unsere Farben sind freilich beseitigt. – Trösten wir uns. Es war des neuen Kaisers Recht, dem neuen Reich die Farben zu bestimmen – wie früher es unser Recht gewesen ist, der zerrissenen sechsunddreißigfarbigen Nation die Fahne zu geben, unter welcher die Einheit und Freiheit siegen sollte. Wer nicht blind gegen die Bedeutung dieses Geisteskampfes eines halben Jahrhunderts ist und dennoch nicht jedes Vaterlandsfest mit beiden Fahnen feiert, begeht einen schweren Undank. Ehre und Friede, und ein heiliges Andenken unsern Mitkämpfern in den Gräbern! Wir aber haben mitgekämpft und mitgesiegt! Komm’, wir wollen uns auch mit freuen! –“Die Geheimnisse der Theater-Claque. Der nicht eingeweihte Theil des Theaterpublicums sieht bei seinen Besuchen der Bühnenvorstellungen nur die Erfolge der großen Künstler und Künstlerinnen; welche Mittel aber häufig angewandt werden, die Ovationen hervorzurufen oder mindestens zu steigern, davon lassen Tausende sich nichts träumen. In Berlin ist die Claque eine wohlorganisirte, an der Spitze derselben stehen einige handfeste Subjecte, die ihr Handschuhleder je nach dem Preise zerhauen. Einer der „Chefs“ that mir bei einem Glase Wein sein ganzes Herz auf.
„Sehen Sie,“ sagte er, „wir haben die Künstler am Fädchen – bezahlen Sie, wird geklatscht und herausgerufen; bezahlen sie nicht – auch gut, dann wird gezischt, auch wohl gepfiffen.“
„Wie viel haben Ihnen die einzelnen Künstler für die ‚Unterstützung in der Kunst‘ zu zahlen?“
„Das wird nach den Vermögensverhältnissen und nach dem Umfange der Arbeit bestimmt. Fest engagirte Künstler abonniren bei uns gleich auf’s Jahr; kommen Gäste, die haben für die Saison zu zahlen.“
„Wollen Sie mir nicht einige Beispiele zur Uebung vorlegen?“
„Wenn es Sie interessirt, mit Vergnügen. Sehen Sie, da ist zum Beispiel die ***, die werden Sie wohl kennen?“
„O gewiß!“
„Diese Künstlerin gastirte in Berlin als ‚Jungfrau von Orleans‘. Ich stellte mich ihr vor und bot ihr meine Dienste an. Das Erste, was sie mich frug, war: ‚Wie oft denken Sie mich zu rufen?‘ Ja, sagte ich, Fräulein, die Augsberger haben wir als ‚Jungfrau‘ zwölf Mal herausgeholt. ‚Dann müssen Sie mich mindestens vierzehn Mal rufen!‘ sagte die *** rasch. ‚Ich zahle Ihnen zwei Friedrichsd’or und gebe Ihnen die nöthigen Billets für Ihre Helfer, aber nur unter der Bedingung, daß ich zwei Mal öfter als Fräulein Augsberger gerufen werde.‘ Das läßt sich leicht machen, gab ich zur Antwort, wenn Sie uns die Kettenscene nicht verderben. Nach der Kettenscene wurde die Augsberger drei Mal gerufen, und für das Uebrige bei Ihnen, Fräulein ***, noch elf Mal, das wäre Kleinigkeit. Aber wie gesagt, die Kettenscene.“
„Was hat es mit dieser Kettenscene für eine Bewandtniß?“
„Sehen Sie, werther Herr, das ist nämlich der Schluß der elften Scene im fünften Act,“ belehrte mich der kundige Thebaner, „Johanna sitzt gefangen im Thurm, mit Ketten belastet. Der Soldat, der auf der Ausluge steht, ruft: ‚Triumph, Triumph! Die Unsern siegen!‘ Darauf höhnt die Isabeau unsere Jungfrau mit den Worten: ‚Jetzt ist es Zeit, jetzt, Retterin, errette!‘ Da stürzt Johanna auf die Kniee und betet inbrünstig:
‚Zu dir, o Himmel, send’ ich meine Bitte!
Du kannst die Fäden eines Spinngewebs
Stark machen, wie die Taue eines Schiffs,
Leicht ist es deiner Allmacht, eh’rne Bande
In dünnes Spinngewebe zu verwandeln –
Du willst und diese Ketten fallen ab.‘
In diesem Augenblick ruft der Soldat: ‚Hurrah! der König ist gefangen!‘ Das giebt bei der Johanna den Ausschlag, auf springt sie und mit dem Ruf: ‚So sei Gott uns gnädig!‘ zerreißt sie die Ketten, stürzt sich auf einen Soldaten, entreißt dem seinen Säbel und ‚ab‘ durch die Mitte. Alle sehen ihr mit starrem Erstaunen nach. Sehen Sie, mein Herr, das giebt einen Knalleffect, der mit dreimal Herausrufen nicht zu theuer bezahlt wird. Bei der *** ist es uns sogar viermal gelungen.“
„Aber würde das Publicum, hingerissen von der Situation, nicht von selbst den Hervorruf bewirken?“
„Einmal, ja, aber für das zweite und dritte Mal muß das Publicum ‚annemirt‘ werden, sonst legt es die Hände in den Schooß, wir bekommen auch hauptsächlich für’s ‚Annemiren‘ bezahlt.“
„Sie sprachen vorhin von der V–i.“
„Ja, die reist, wie Sie wissen werden, als männlicher Hamlet. Die wollte Blumen und Kränze geworfen haben. Ich verlangte dazu zwanzig Thaler; das fand sie für einen Abend zu viel. Aber ich machte ihr den Standpunkt klar. ‚Madame,‘ sagte ich, ‚die zwanzig Thaler reichen für zweimal ganz gut aus. Heute Abend werden Ihnen die Bouquets durch mich und meine Garde aus den Logen zugeworfen. Nach Schluß der Vorstellung nehme ich die Blumen in einem Waschkorb mit nach Hause, lege sie in’s Wasser und lasse sie die Nacht und den morgenden Tag über darin liegen, dann merkt morgen Abend kein Mensch im Publicum, daß die Bouquets schon einmal gedient haben.‘ Darauf rückte sie denn die verlangte Summe heraus.“
„Sie sind wirklich ein praktischer Mann!“ rief ich voll Erstaunen dem „Chef der Claque“ zu, der sich von mir verabschiedete, weil er noch am selben Abend Fräulein David im Ballet zu „empfangen“ versprochen hatte.Für die Ueberschwemmten in Tachau gingen hier ein: Ovaler Tisch bei Kaltschmidt in Leipzig 50 Thlr.; Red. d. Gartenl. 25 Thlr.; Max May in Meiningen 5 fl. österr.; Herbig in Roda 4 Thlr.; C. H. in Eschwege 2 Thlr.; Siemens Großenbusch in Beuel 5 Thlr.; Frau Stolz in Detmold 4 Thlr.; D. K. in Berlin 3 Thlr.; Robert Löwe in Steinau 5 Thlr.; B. u. S. in Eisenach 1 Thlr.; Fr. in Neudorf 2 Thlr.; A. G. in Oberfrohna 1 Thr.; E. A. in Ulm 2 fl. südd.; aus Berlin 2 Thlr.; Ungenannt 1 Thlr.; O. R. 1 Thlr.; N. N. 5 Thlr.; aus Böhrigen C. R. 3 Thlr. 10 Ngr.; F. R. in G. 1 Thlr.; Helene R. in Pest 2 fl. österr.; P. K. in Dresden 1 Thlr.; Männer-Turnverein in Arendsee 5 Thlr.; Frl. Schreiber in Breslau 1 Thlr.; Emilie Zisarsky in Wien 3 fl. österr.; aus Markt Leuthern von drei S. à 5 Thlr. – 15 Thlr.; aus Bad Soden 10 fl. südd.; P. R. in Forst 1 Thlr.; A. B. in Langensalza 1 Thlr.; ein Leser der Gartenlaube 10 Thlr.; aus Frohburg 1 Thlr.; Wenig mit Liebe 1 Thlr.; aus Köthen 1 Thlr.; K. u. L. 5 Thlr.
- ↑ Wie geistvoll auch die junge Herzogin von Sagan war, geht aus einem Berichte Villemain’s hervor über die Briefe, welche sie für den Fürsten Talleyrand schrieb. „Man erkannte in ihnen die lebhaften und zarten Wendungen, die geschickten und scharfsinnigen Argumente eines weiblichen Diplomaten; ihr Styl war dabei einfach und edel, ihr Geist zeigte so frühreife Universalität, daß Niemand sich wunderte, wenn die Wirksamkeit unfehlbar war.“ Die Souveräne, welche sich von diesen Briefen leiten ließen, ahnten nicht, weshalb sie so schnell überzeugt davon waren. Hätten sie gewußt, daß eine junge schöne Frau die Concepte geschrieben und Talleyrand sie nur copirte, würden sie sich eines Lächelns nicht haben erwehren können.