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Die Gartenlaube (1871)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[341]

No. 21.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Henry machte eine Bewegung, wie um an den Wagen zu stürzen, aber er hielt plötzlich inne. Schämte er sich der unfreiwilligen Regung, oder war es die Erinnerung an das letzte Zusammentreffen, das ihn auf einmal abkühlte, genug, er bezwang sich, der Wagen blieb unbeachtet, und mit einer Ruhe, die allzu gleichgültig war, um natürlich zu sein, wendete er sich von Neuem zu Atkins.

„Und wie kommen Sie, und vor Allem Miss Forest hierher auf den Kriegsschauplatz?“

Atkins hatte die Frage kommen sehen, er war darauf gefaßt. „Wie? Nun, wir wollten uns dies jedenfalls interessante Kriegsgewühl einmal in der Nähe ansehen, haben aber bereits in acht Tagen die Sache satt bekommen und sind, wie Sie sehen, jetzt auf der Rückkehr begriffen. Mr. und Mrs. Stephan werden triumphiren, sie geriethen außer sich über die sogenannte Laune und Excentricität Miss Jane’s, und über meine Nachgiebigkeit.“

Ein kaltes, hohnvolles Lächeln umspielte Alison’s Lippen. „Ich möchte Sie denn doch ersuchen, mich in Bezug auf die Leichtgläubigkeit nicht auf eine Stufe mit Mr. und Mrs. Stephan zu stellen. Wenn ihnen der Vorwand genügte, ich kenne Miß Forest zu gut, um ihr eine so zwecklose, romantische Abenteuersucht zuzutrauen. Sie wäre die Letzte, dergleichen zu unternehmen, und auch Sie hätten sich darin schwerlich zu ihrem gehorsamen Diener gemacht.“

Atkins biß sich auf die Lippen, die Antwort wäre auch vorherzusehen gewesen.

„Wollen Sie jetzt die Güte haben, mir den Grund zu nennen, der Miß Forest herführt?“ fragte Alison noch schärfer als vorhin.

„Fragen Sie sie selbst!“ rief Atkins ärgerlich, der es vorzog, die ganze Verantwortung auf Jane zu werfen, ehe er ihrer etwaigen Entschließung vorgriff.

„Das werde ich!“ sagten Henry finster und trat an den Wagen.

Für Jane war sein Erscheinen keine Ueberraschung mehr, sie hatte ihn bereits aus dem Hause treten und mit Atkins sprechen sehen. Es war diesem endlich doch gelungen, sie von der Unmöglichkeit ihres Vorhabens zu überzeugen und zur Rückkehr zu bewegen, wenigstens zur Rückkehr bis an die nächste deutsche Grenzstation, von wo aus man die weiteren Schritte unternehmen konnte. Sie hatten N. bereits am nächsten Tage verlassen, als eine gleichzeitige Vorwärtsbewegung der sämmtlichen aus Deutschland nachrückenden Truppen sie zwang, von der Hauptstraße abzuweichen, auf der jetzt kein Vorwärtskommen möglich war, und einen anderen Weg zu nehmen, wo der Zufall sie mit Alison zusammenführen mußte, der sich im gleichen Falle befand.

Jane hatte schnell genug die Herrschaft über sich selber wieder zurückgewonnen. Was seit jener verhängnißvollen Stunde in ihrem Innern auch zucken und wühlen mochte, ihr Begleiter sah nur ein völlig unbewegtes Antlitz, das ihn endlich über jenen ihm noch immer unerklärlichen Ausbruch von Leidenschaftlichkeit beruhigte. Sie hatte sich wieder in den Eispanzer gehüllt, der sie in B. so unnahbar gemacht, und dies Eis starrte jetzt auch Henry entgegen, als er an den Wagen trat, sie zu begrüßen. Es entschied die ganze Begegnung; Alison konnte zur Noth einen Besitz erzwingen, der, wie er bereits argwohnte, nur seinem Rechte noch zugestanden ward, aber eine Neigung zu verrathen, solcher Kälte gegenüber, dazu war er zu stolz.

Mit kühler Artigkeit hob er sie aus dem Wagen, bot ihr den Arm und führte sie zu der vor dem Wirthshause befindlichen Bank, indem er sie und Atkins mit kurzen Worten unterrichtete, daß die streitige Angelegenheit bereits dem betreffenden Officier gemeldet sei, und daß er hoffe, man werde nach Durchsicht der Papiere ihrer allseitigen Weiterreise kein Hinderniß mehr in den Weg legen.

Atkins zeigte sich einverstanden, er ging zu dem Wagen zurück, um dem Kutscher einige Anweisungen zu geben; die Beiden waren allein.

Jane hatte sich auf die Bank niedergelassen, sie wußte, jetzt würde eine Erklärung von ihr verlangt werden wegen ihres Hierseins. Ob sie auch geneigt war, sie zu geben? Es sah nicht so aus.

Henry schien indessen keine Eile mit seiner Frage zu haben, nur sein Blick forschte in ihren Zügen, aber vergebens, sie hielt diesem Blicke fest und ruhig Stand.

„Es war eine grenzenlose Ueberraschung für mich, Sie hier zu finden, Jane!“ hob er endlich an.

„Auch für mich! Ich erwartete ebensowenig ein solches Zusammentreffen.“

Meine Rückkehr stand unter diesen Verhältnissen wohl zu erwarten. Ich hatte die Absicht, mich direct nach B. zu begeben, wo ich Sie sicher zu finden hoffte, es scheint aber, als besitze der Ort nur wenig Anziehungskraft für Sie?“

[342] Trotz des scharfen Forschens in seinem Tone lag doch auch etwas darin wie tiefe Genugthuung, sie verrieth unwillkürlich, daß der junge Amerikaner dies B. bei alledem gefürchtet hatte, verrieth, daß er Miß Forest, trotz der Seltsamkeit, über die ihm noch keine Aufklärung geworden, doch lieber hier sah, inmitten des Kriegsgewühls, all seinen Gefahren preisgegeben, als dort im sicheren Hause ihrer Verwandten.

Jane ward der Antwort überhoben, denn Atkins kehrte in diesem Augenblick bereits wieder zurück; Henry runzelte die Stirn, aber er schien nicht geneigt, die Sache in seiner Gegenwart zur Sprache zu bringen. Einige Minuten lang herrschte ein unbehagliches Schweigen in der kleinen Gruppe, die weiteren Fragen über das Woher und Wohin lagen so nahe, und doch scheute sich Jeder, damit fernere Erörterungen hervorzurufen. Atkins begann endlich das Gespräch mit einem anderen Thema.

„Und was sagen Sie denn zu den Ereignissen, Henry, seit wir Abschied von einander nahmen? Haben Sie je dergleichen für möglich gehalten?“

„Nein!“ lautete die kurze finstere Antwort. „Ich war auf das Gegentheil gefaßt.“

„Auch ich! Wir haben uns verrechnet, wie es scheint! Das ist das zahme, geduldige, unpraktische Volk von ‚Denkern‘! Aber, ich sagte es ja immer, in jedem dieser Deutschen steckt etwas von der Bärennatur, und die scheint jetzt bei dem ganzen Volke auf einmal durchgebrochen zu sein. Das ist ja kein Kampf mehr mit wechselndem Glück, niedergetreten, erdrückt wird Alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Ein heilloser Erfolg!“

„Wir sind noch nicht am Ende!“ sagte Henry kalt. „Die Söldnerheere sind geschlagen, aber die Republik ruft das Land zu den Waffen, jetzt steht Volk gegen Volk. Wir wollen doch sehen, ob der deutsche Bär nicht endlich seinen Meister finden wird!“

„Ich wollte, er fände ihn!“ grollte Atkins im vollsten Ingrimm. „Ich wollte, er würde über seinen Rhein zurückgejagt, damit ihm der Siegesrausch und der Siegesübermuth ein für alle Mal verginge, und er wieder so zahm und geduldig tanzen lernte, wie früher, wenn –“

Weiter kam der Amerikaner nicht in seinen frommen Wünschen für das künftige Wohl Deutschlands, denn Jane hatte sich plötzlich erhoben und stand hochaufgerichtet vor ihm, ihre Augen flammten auf den kleinen Mann nieder, als wollten sie ihn vernichten.

„Sie vergessen wohl ganz, Mr. Atkins, daß auch ich von deutschen Eltern stamme?“ fragte sie in schneidendem Ton.

Atkins stand da wie vom Donner gerührt. „Sie, Miß Jane?“ fragte er, seinen Ohren nicht trauend.

„Ja, ich! Und daß ich es nicht ertrage, von meinem Vaterlande in dieser Weise sprechen zu hören. Schmähen Sie allein, wenn Sie es jetzt noch wagen, sprechen Sie Ihre Hoffnungen zu Mr. Alison aus, er theilt ja Ihre Wünsche, aber zügeln Sie die Worte in meiner Gegenwart, ich dulde das nicht länger!“

Und mit einer Bewegung glühend edlen Zornes das Haupt zurückwerfend, drehte sie den beiden Männern den Rücken und verschwand in der Thür des Hauses.

„Was war das?“ fragte Henry nach einer secundenlangen Pause.

Atkins schien sich jetzt erst von der Bestürzung zu erholen, die die Scene in ihm hervorgerufen. „Das war wieder einmal der Vater! Mr. Forest, wie er leibt und lebt! Das war ganz sein Ton, sein Blick, mit dem er so herrisch Alles niederschlug! Ich habe nie dagegen aufkommen können, aber Sie, Henry, lassen Sie sich das bieten?“

Alison schwieg, seine Augen hatten mit einer wahrhaft verzehrenden Gluth an Jane gehangen, während der ganzen Zeit, als sie vor Atkins stand, sie hingen noch jetzt an dem Ort, wo sie verschwunden war, und es lag weit, weit mehr von Bewunderung als von Zorn in diesem Blick.

„Ich dachte, Mr. Forest haßte sein Vaterland,“ fragte er endlich langsam, „und er erzog auch die Tochter in diesem Haß?“

„O ja, er schmollte mit dem geliebten Deutschland sein Lebelang, und in der Todesstunde klammerte er sich an die Erinnerung, wie ein Verzweifelter. Wir lernen dies Volk doch niemals auskennen, Henry! Ich bin zwanzig Jahre lang im Hause der Forests gewesen, habe Leid und Freude mit ihnen getheilt, habe ihre geheimsten Angelegenheiten gekannt, und doch hat immer und ewig eins zwischen uns gelegen, dies Eine, was die bittersten Erfahrungen, der energischste Wille, was eine zwanzigjährige Gewohnheit bei dem Vater nicht bannen konnte, und was jetzt bei der Tochter, auf die das Alles vererbt ward, deren Erziehung durch und durch amerikanisch war, sich doch endlich Bahn bricht, – das deutsche Blut!“ –

Sie wurden unterbrochen, in der Dorfgasse erschien jetzt der erwartete Officier, von einem Soldaten begleitet. Henry ging ihm einige Schritte entgegen und grüßte artig; sein ganzes schlechtes Französisch zusammennehmend, begann er seine Beschwerde anzubringen, aber schon nach den ersten raschen Worten sprach er langsamer, stockte dann, begann von Neuem, stockte wieder, und schwieg endlich ganz, das Auge starr und unverwandt auf das Gesicht des Officiers gerichtet.

Auch dieser war gleich im ersten Moment befremdet einen Schritt zurückgetreten, inzwischen aber hatte sich auch Mr. Atkins genähert, der jetzt mit einem Ausdruck halb der Verwunderung und halb des Entsetzens rief: „Mr. Fernow!“

Henry zuckte zusammen, der Ausruf gab ihm die immer noch bezweifelte Gewißheit, wessen Augen es waren, die unter dem Helme ihm entgegenleuchteten. Jeder Blutstropfen wich aus dem Antlitz des jungen Amerikaners, mit einem einzigen Blick umfaßte er die ganze Erscheinung des vor ihm stehenden Officiers, ein zweiter flog nach dem Hause zurück, wo Jane jetzt weilte. Er schien etwas zu begreifen, ein wildes, halbunterdrücktes „Ah!“ entfuhr seinen Lippen, dann biß er die Zähne zusammen und schwieg.

Atkins hatte inzwischen den Lieutenant Fernow begrüßt, und dieser wendete sich jetzt mit ruhiger Artigkeit zu den beiden Herren.

„Ich bedaure, daß gerade ich es sein muß, der Ihnen eine Unannehmlichkeit ankündigt, aber die gewünschte Fortsetzung Ihrer Reise ist eine Unmöglichkeit. Es darf Niemand passiren, die Posten haben strengen Befehl, Jeden zurückzuweisen, wer es auch sei.“

„Aber, Mr. Fernow, so nehmen Sie doch Vernunft an!“ rief Atkins ärgerlich. „Wir müssen durchaus vorwärts, und Sie kennen ja uns, oder doch wenigstens mich genug, um nöthigenfalls dafür Bürgschaft leisten zu können, daß wir keine Spione sind.“

„Es handelt sich nicht darum, sondern um die Unmöglichkeit einer Ausnahme von der einmal gegebenen Ordre.“

„Aber unsere Legitimationen –“

„Nützen in diesem Falle nichts! Es thut mir leid, Mr. Atkins aber die Pässe sind gesperrt, und es darf Niemand vom Civil von dieser Seite her in’s Gebirge. Möglich, daß dieser Befehl morgen schon aufgehoben wird, da wir Verstärkung erwarten, für heute aber besteht er noch in seiner vollen Kraft.“

Atkins warf ihm einen Blick zu, in dem sich der Aerger über die erhaltene Zurückweisung mit einer Art starrer Verwunderung mischte.

„Nun, dann haben Sie wenigstens die Güte, Mr. Fernow, uns mitzutheilen, wo wir, Ihrer hohen Bestimmung gemäß, die Nacht über bleiben sollen. Zurück können wir nicht, sämmtliche Ortschaften, die wir passirten, sind mit Truppen überfüllt, vorwärts dürfen wir nicht, hier im Dorfe ist auch schwerlich auf ein Unterkommen zu rechnen. Sollen wir vielleicht im Wagen campiren?“

„Das wird nicht nöthig sein! Sie sind – allein?“

Es sollte wohl keine Frage in den Worten liegen, die Antwort war ja selbstverständlich, dennoch lag ein vielleicht unbewußtes Zögern darin.

Atkins wollte antworten, aber Henry, der jetzt zum ersten Male wieder sprach, schnitt ihm die Erwiderung ab, ohne sich an seinen verwunderten Blick zu kehren. Er hatte seinen Entschluß gefaßt.

„Ja!“ sagte er mit der größten Bestimmtheit.

„Dann glaube ich Ihnen die Gastfreundschaft meiner Cameraden verbürgen zu können. Wir haben Raum genug im Schlosse, und unsere Bekanntschaft,“ hier glitt ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht, „schürt Sie ja vor jedem etwaigen Verdachte. Entschuldigen Sie mich nur einen Augenblick.“

Er trat zu dem in der Nähe stehenden Posten und wechselte einige Worte mit ihm.

„Und das nannte sich früher Professor der Universität B.!“ [343] murmelte Atkins mit unterdrücktem Zorn. „Was der Bücherwurm für einen militärischen Anstand hat, als hätte er sein Lebelang den Degen an der Seite getragen, und von der Schwindsucht ist auch nichts mehr an ihm zu sehen! Aber jetzt sagen Sie mir um Gotteswillen, Henry, warum leugneten Sie, daß –“

„Schweigen Sie!“ unterbrach ihn Henry leise und hastig. „Kein Wort zu ihm von der Gegenwart Miß Forest’s, nicht eine Sylbe! Ich bin im Moment wieder zurück!“

Er verschwand gleichfalls im Hause, Atkins blickte ihm kopfschüttelnd nach.

Jetzt wurde auch Henry noch unbegreiflich.

Fernow war inzwischen zurückgekommen. „Ihr junger Landsmann hat uns verlassen?“ fragte er nach einem flüchtigen Umblick.

„Er wollte sogleich zurückkehren,“ sagte Atkins rasch, und in der That trat Henry auch schon wieder aus der Thür. Er führte Jane am Arm und sprach zu ihr, so eifrig und angelegentlich, daß sie die Gestalt des jungen Officiers, der ihr den Rücken zukehrte, nicht eher beachtete, als bis sie dicht neben ihm stand. Da wandte Fernow sich um.

Einen Moment lang standen sich die Beiden gegenüber in stummer athemloser Ueberraschung. Dann aber überfluthete es plötzlich das Antlitz Walther’s wie heller Sonnenschein, die blauen Augen leuchteten auf in ihrem ganzen schwärmerischen Feuer, ein Strahl leidenschaftlichen, grenzenlosen Glückes brach daraus hervor, das ganze Wesen des Mannes schien zu erglühen in dieser einen stürmischen Empfindung – der Moment des Wiedersehens verrieth Alles.

Aber anders spiegelte er sich in Jane’s Zügen. Sie schwankte zurück, entsetzt und todtenbleich, und wäre in die Kniee gesunken, hätte Henry sie nicht gestützt. Sein Arm hielt den ihrigen mit eisernem Griffe gefaßt, er preßte diesen Arm gegen seine Brust, so fest und gewaltsam, als müsse er zerbrechen, sie fühlte es nicht. Sein Auge haftete durchbohrend auf den Beiden, auch nicht das Zucken einer Wimper war ihm entgangen, und eisig und unheimlich legte sich ein furchtbarer Ausdruck auf seine Züge. Es bedurfte keines Wortes, keiner Erklärung mehr – er wußte genug.

Fernow faßte sich zuerst, er hatte nur auf Jane gesehen, nicht auf Alison, nicht dessen so meisterhaft ausgeführtes Manoeuvre bemerkt, er sah nur sie allein.

„Miß Forest! Ich ahnte nicht, daß ich auch Ihnen hier begegnen würde!“

Henry fühlte es an der Hand, die auf seinem Arme lag, wie bei dem ersten Ton dieser Stimme ein Beben ihren ganzen Körper durchrieselte, er ließ langsam den Arm fallen und diese Bewegung gab ihr die Besinnung zurück.

„Mr. Fernow – in der That – wir glaubten Ihr Regiment bereits auf dem Wege nach Paris.“

Der Ton klang so herb und kalt, wie einst, und ihr Blick vermied den seinigen; Jane wußte es, wenn sie jetzt diesen Augen begegnete, so war Alles verloren.

Der Sonnenschein in Walther’s Zügen verschwand, seine Augen verschleierten sich, und die alte Düsterheit tauchte wieder darin empor. „Wir sind zurückbeordert worden, die Bergpässe zu schützen!“ Sein Blick suchte immer nach den ihrigen, und noch immer vergebens.

„Also von Ihnen ging die Zurückweisung aus, die wir erfuhren? Es mag wohl Ihre Pflicht sein, Mr. Fernow, wir fügen uns.“ Und mit dem letzten Aufwande von Kraft, die ihr noch übrig blieb, wandte Jane sich weg von ihm und zog sich hinter Atkins zurück.

Fernow’s Lippen zuckten. Das war wieder die kalte unnahbare Miß Forest, und jener Moment des Abschiedes, der im Wachen und Traum nicht aus seiner Seele wich, den er in all den Stürmen und Gefahren mit sich herumgetragen, er war vergessen, losgelöst aus ihrem Gedächtnis, sie schrak ja zurück bei seinem Anblick, wie vor etwas Feindseligem, Gehaßtem. Der Abend auf dem Ruinenberge stand wieder vor ihm und wie damals siegte der Stolz über die Bitterkeit, er wandte sich seitwärts.

„Friedrich!“

„Herr Lieutenant!“

„Du führst die Dame und die beiden Herren nach dem Schlosse zu dem Herrn Doctor, Mr. Atkins wird ihm das Nöthige mittheilen und ich lasse ihn bitten, das Weitere bei dem Herrn Major zu veranlassen. Sie kennen ja Doctor Behrend, Mr. Atkins, von B. her, ich muß Sie vorläufig seiner Fürsorge anvertrauen, mich hält meine Pflicht noch hier im Dorfe fest, ich bitte, mich damit zu entschuldigen.“

Die Hand an den Helm legend, verabschiedete er sich mit einem Gruße, der allen Dreien galt, und schritt dann rasch an dem Hause vorüber nach der Wiese hin, wo die ersten Posten standen.

Es war ein unendliches Wonnegefühl, mit dem Friedrich sich an die Spitze der „amerikanischen Sippschaft“ stellte, um sie nach dem Schlosse zu transportiren. Er hatte von der englisch geführten Unterredung natürlich nichts verstanden und war daher felsenfest überzeugt, daß die Gehaßten, die sein Lieutenant ihm übergeben, allermindestens Spione oder Verräther seien, von deren sicherer Bewachung das Heil des ganzen Regiments abhinge. Im Vollgefühl dieser ihm anvertrauten Mission schritt er in strammster militärischer Haltung mit erhobenem Haupte dahin, bereit, bei dem allergeringsten Fluchtversuche von seiner Waffe Gebrauch zu machen.

Zum Glück jedoch unternahmen die Amerikaner nichts dergleichen. Das jüngere Paar ging schweigend voran, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, nur Mr. Atkins sah die ihm beigegebene Escorte von der Seite an und sagte sarkastisch:

„Sieh da, Mr. Friedrich! Wir sind also jetzt auf Gnade und Ungnade in Ihren Händen.“

Friedrich sah mit ungeheurem Selbstbewußtsein auf ihn herab, jetzt freilich war er Herr und Meister, aber es stimmte ihn doch etwas milder, daß der hochmüthige Amerikaner seine Lage so völlig begriff.

„Mein Lieutenant hat es befohlen!“ entgegnete er nachdrücklich, „und wenn mein Lieutenant dabei ist, geschieht Ihnen nichts Unrechtes!“

„Sie nehmen mir eine Last vom Herzen!“ spottete Atkins. „Ich bin Ihnen unendlich dankbar für die Beruhigung, daß wir weder in den Keller geworfen, noch in Ketten geschlossen werden, aber mein bester Mr. Friedrich, diese Metamorphose ‚Ihres Lieutenants‘ grenzt wirklich nahezu an’s Fabelhafte. Der Herr Professor sind ja ein Kriegsheld geworden vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Hochgelahrtheit verstehen sich jetzt, wie es scheint, ganz trefflich auf’s Commandiren und haben in den sechs Wochen bereits gelernt, mit ‚Posten‘ und ‚Ordres‘ und ‚Cameraden‘ um sich zu werfen, als wären sie im Felde groß geworden statt hinter dem Büchertisch. Wo haben Hochdieselben denn ihre ehemalige Schüchternheit und Zerstreutheit gelassen?“

„In B.,“ sagte Friedrich trocken, „bei den Büchern!“

Atkins sah ihn förmlich bestürzt ob dieser Antwort an. „Jetzt wird sogar dieser Bursche intelligent!“ murmelte er mit unterdrücktem Zorn. „Das fehlte wirklich allein noch!“

Die gerühmte Intelligenz sollte jedoch bald genug eine harte Probe bestehen. Zehn Minuten später erschien Friedrich auf der Terrasse, wo mit Ausnahme des Majors, der augenblicklich im Schlosse war, noch die übrigen Officiere bei einander saßen, und marschirte sofort auf den Arzt los.

„Von Herrn Lieutenant Fernow! Er schickt dem Herrn Doctor hier drei Spione und läßt den Herrn Doctor bitten, das Weitere bei dem Herrn Major zu veranlassen.“

„Bist Du toll?“ rief der Arzt laut auflachend. „Was soll ich mit den Spionen? Sind sie verwundet?“

„Nein, sie sind alle Drei ganz heil und gesund.“

„Friedrich, das ist gewiß wieder eine von Ihren Dummheiten,“ sagte der Hauptmann, bedächtig sein Glas ausschlürfend. „Zum Herrn Major, wird der Lieutenant gesagt haben.“

„Zum Herrn Doctor soll ich sie bringen!“ beharrte Friedrich, „weil er sie von B. her kennt. Die Nichte des Herrn Doctor Stephan, die amerikanische Miß, ist auch darunter.“

„Miß Forest!“ rief der Arzt aufspringend. „Himmel und Erde, hat dieser Walther ein grenzenloses Glück! jetzt führt ihm der Zufall die Kriegsbeute entgegen, und er kümmert sich gar nicht darum, schickt sie uns per Escorte hier herauf – das konnte auf der ganzen Welt auch nur Walther Fernow fertig bekommen!“

„Miß Forest? Wer ist Miß Forest? So reden Sie doch, Doctor!“ klang es jetzt neugierig von allen Seiten.

„Halten Sie mich nicht auf, meine Herren!“ rief der Doctor eifrig. „Ich muß da, wie es scheint, einen tollen Irrthum aufklären. [344] Wer Miß Forest ist, wollen Sie wissen? Eine Anverwandte unseres ersten Arztes in B., eine junge Amerikanerin, Erbin einer Million, achtzehn Jahre alt, bildschön, ein Meteor, dem ganz B. zu Füßen lag und zu dessen unglücklichem Anbeter auch ich mich bekenne. Gnade Dir Gott, Friedrich, wenn Du Dir eine Unhöflichkeit hast zu Schulden kommen lassen!“

Er eilte fort. Die kurze Biographie aber, welche er von Miß Forest entworfen, hatte die gesammte Gesellschaft elektrisirt. Die Worte: „Millionärin, achtzehn Jahre, bildschön“, waren wie ebensoviele Zünder in die Ohren und Herzen der jüngeren Officiere gefallen, sie stürzten sämmtlich nach, um gleichfalls dieser interessanten Bekanntschaft theilhaftig zu werden. Sogar der ästhetische Adjutant erhob sich feierlich und folgte mit langen Schritten; die Sache versprach ungeheuer romantisch zu werden.

„Friedrich,“ sagte der dicke Hauptmann, der allein bei der Bowle sitzen geblieben war, in vollster Gemüthsruhe, „Friedrich, da haben Sie wieder einmal eine grenzenlose Dummheit angestiftet!“

Friedrich stand da mit offenem Munde, niedergeschmettert, völlig herabgestürzt von der Höhe seines Selbstbewußtseins. Er warf einen verwirrten Blick auf den Eingang des Parkes, wo seine „Spione“ soeben mit der respectvollsten Artigkeit in Empfang genommen wurden, einen zweiten kläglichen auf den vor ihm sitzenden Officier, und den Kopf senkend sagte er mit trauriger Ueberzeugung:

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.“




Fernow hatte in Bezug auf die Gastfreundschaft seiner Cameraden nicht zu viel versprochen. Der Major bestätigte in letzter Instanz seinen Ausspruch; die Weiterreise konnte unter keinen Umständen gestattet werden, dagegen war man gern bereit, die Fremden, die im Dorfe in der That kein Unterkommen mehr fanden, und die sich durch ihre genaue Bekanntschaft mit zweien der Officiere hinreichend legitimirten, für die Nacht im Schlosse aufzunehmen, wo noch eine Anzahl herrenloser, prachtvoll eingerichteter Zimmer zur Disposition standen. Leider wurden jedoch die Hoffnungen der jüngeren Herren auf eine nähere Bekanntschaft mit der interessanten Millionärin gründlich getäuscht. Sie sahen eben nur genug von ihr, um dem Doctor Recht zu geben, wenn er sie jung und bildschön nannte, im Uebrigen aber zeigte sich Miß Forest nicht geneigt, die Huldigungen dieses kriegerischen Cirkels entgegenzunehmen, sie war auf’s Aeußerste ermüdet, angegriffen von der Reise, und zog sich sofort nach den unvermeidlichen Begrüßungen und Vorstellungen in das ihr angewiesene Gemach zurück. Doctor Behrend zeigte eine niedergeschlagene, die Anderen eine ärgerliche Miene, aber die junge Dame hatte in der That so marmorblaß ausgesehen, und die wenigen Worte, welche sie überhaupt gesprochen, hatten sie eine so sichtliche Anstrengung gekostet, daß man ihr wohl die Ruhe gönnen mußte, deren sie augenscheinlich dringend bedürftig war. Ihre beiden Begleiter dagegen konnten sich nicht der Aufforderung entziehen, an der noch nicht beendigten Bowle theilzunehmen; Atkins glänzte wie gewöhnlich durch seine sarkastische Lebendigkeit, die heute noch brillanter war, da ihr die Aufgabe zufiel, das düstere Schweigen, in das sein Gefährte sich hüllte, vergessen zu machen. Allerdings kam Alison dabei seine Unkenntniß der deutschen Sprache zu Hülfe, aber auch der Doctor, der sich artig zum Dolmetscher hergab, vermochte dem finstern Gaste kaum die nothwendigsten Antworten abzugewinnen. Er schob die Schuld dieses fortwährenden Stockens der Unterhaltung auf sein mangelhaftes Englisch und vertröstete den Fremden auf die baldige Zurückkunft seines Freundes Fernow, der der Sprache vollkommen Herr sei. Henry’s Lippen zückten, er verbat sich mit eisiger Höflichkeit jede Bemühung seinetwegen, und Lieutenant Fernow schien auch gerade heute seine Runde in’s Unendliche auszudehnen, er kam nicht. Dagegen erhielt der Major eine dem Anschein nach wichtige Meldung, er winkte dem Adjutanten und zog sich mit ihm zurück, das war das Zeichen zum Aufbruch auch für die übrigen Herren, und die beiden Amerikaner erhielten jetzt endlich die Freiheit, sich gleichfalls zurückzuziehen.

Die Wagen waren inzwischen nachgekommen und das Gepäck war hereingebracht worden, es dämmerte bereits stark, als die Beiden in das ihnen angewiesene Zimmer traten, welches, ebenso wie das für Jane bestimmte, im ersten Stockwerk des Schlosses lag, während die Officiere sich sämmtlich im Erdgeschoß einquartiert hatten, um im Falle irgend eines Alarms im Dorfe sofort bei der Hand zu sein. Atkins warf sich mit einem Seufzer der Erleichterung, als sei er endlich eines lästigen Zwanges entbunden, in das Sopha, Henry begann schweigend im Zimmer auf und ab zu gehen. Vergebens wartete sein Gefährte auf ein Wort, auf irgend eine Aeußerung, kein Laut kam von seinen Lippen, er ging stumm nur immer auf und nieder, die Arme übereinandergeschlagen, das Haupt gesenkt – dies fortwährende Schweigen wurde für Atkins zuletzt unheimlich.

„Das kann nicht so fortgehen, Henry!“ hob er plötzlich an. „Die Sache muß doch einmal zur Sprache kommen! Sie haben so gut wie ich die seltsame Scene im Dorfe beobachtet. Was denken Sie davon?“

Alison blieb stehen und hob den Kopf. „Weshalb kamen Sie mit Miß Forest hierher?“ fragte er statt aller Antwort in schneidendem Tone.

„Henry, ich bitte Sie –“

„Weshalb kamen Sie mit Miß Forest hierher?“ wiederholte Alison, aber diesmal bebte die unterdrückte Wuth in seiner Stimme.

„Wegen – einer Familienangelegenheit!“

Henry lachte bitter auf. „Sparen Sie sich die Lüge. Ich weiß jetzt Alles!“

„Dann wissen Sie in der That mehr als ich!“ erklärte Atkins ernst. „Ich wenigstens habe jene Scene nur zum Theil verstanden. Dieser Fernow – nun, seine Gefühle bedürfen schwerlich der Erklärung, er verrieth sie in der Ueberraschung deutlich genug; weshalb aber Miß Jane bei seinem Anblick mit solchem Entsetzen zurückschreckte, als sehe sie ein Gespenst vor sich, das ist mir unbegreiflich.“

„Auch mir!“ sagte Alison mit eiskaltem Hohne. „Man erschrickt gewöhnlich nicht, wenn man das so lange und mühevoll Gesuchte endlich erreicht.“

Atkins runzelte die Stirn. „Ein Glück, daß Miß Jane Sie nicht hört, diesen Verdacht vergäbe sie Ihnen niemals. Sie behaupten, sie zu genau zu kennen, um ihr eine zwecklose Abenteuersucht zuzutrauen, und jetzt beschuldigen Sie sie, mit Verleugnung aller Sitte und alles Anstandes, einem Fremden, einem Manne nachgereist zu sein! Miß Forest trauen Sie das zu? Pfui, Henry!“

Alison blieb unbeweglich bei dem Vorwurfe, der kalte Hohn lag noch immer in seinem Tone.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Musterkrankenhaus.
Von Dr. med. L. Fürst.


Wir Deutsche sind so sehr daran gewöhnt, in großen Reformen Nachtreter des Auslandes zu sein, daß wir erst allmählich die Energie gewinnen, welche zur Beseitigung veralteter Mißbräuche nothwendig ist. Man kann behaupten, daß diese Errungenschaft, zu welcher neben aller wissenschaftlichen und theoretischen Gründlichkeit doch auch Thatkraft und ein rasch erfassender, praktischer Sinn erforderlich sind, erst mit dem Aufschwunge unseres nationalen Bewußtseins so recht lebendig geworden ist. Mit der Ueberzeugung, ein großes, einheitliches, tonangebendes Volk geworden zu sein, haben wir es auch rasch gelernt, den Nationen, welchen wir jetzt politisch ebenbürtig sind, ihre besseren Eigenschaften abzulauschen. Mit der Leichtigkeit und Eleganz des Franzosen suchen wir die technische Geschicklichkeit des Engländers und das praktische Verwaltungs- und Organisationstalent des Nordamerikaners zu verbinden. Der Stolz auf unsere nationale Stellung, welche uns eine einflußreiche Stimme auf dem Gebiete der Politik sichert, hat das Streben, es in allen Einrichtungen und Neuerungen den anderen Völkern zuvorzuthun, in einem hohen Grade wachgerufen.

[345]

Das neue städtische Krankenhaus zu Leipzig.

[346] Mit der Vervollkommnung unserer Waffen und unserer Armee-Organisation, welche sich glänzend bewährt haben, ging das Streben nach Verbesserung der Krankenpflege Hand in Hand. Die Sorge für die Verwundeten war das Gegengewicht, welches die Menschlichkeit und Bruderliebe bot im Gegensatz zu der Sorgfalt, welche man den Mitteln der Zerstörung gewidmet hatte. Die Wunden, welche die eine Hand geschlagen hatte, suchte die andere zu heilen und so vereinigten sich grimme Wuth und milde Barmherzigkeit auf denselben Feldern. Vor Allem galt es, jenen unsichtbaren Feind zu bekämpfen, welcher in den Hospitälern und Lazarethen die Säle verpestete und alljährlich Hunderte, ja tausende von zusammengepferchten Verwundeten, Operirten oder Kranken dahinraffte. Daß die schlimmsten Feinde die verborgenen sind, offenbarte sich bei diesen Hospitalkrankheiten, die nicht minder verheerend als der Kugelregen unter Denjenigen wütheten, welche die Lazarethe zu ihrer Heilung betreten hatten, und die selbst in Friedenszeiten mit schauerlicher Wirkung die Gesundheit der Hospitalbewohner untergruben, die geringsten Wunden zu gefährlichen machten, den leichtesten, unter günstigen Privatverhältnissen unbedingt gefahrlosen Operationen einen oft tödtlichen Verlauf bereiteten. Die Spuren jenes in den Krankensälen offenbar vorhandenen Ansteckungsstoffes äußerten sich in bestimmten Krankheitsbildern, welche man mit den Namen Eitervergiftung, Wundrose und Hospitalbrand belegte; aber auch innere, besonders typhöse Erkrankungen schienen ihre Quelle in diesem unheimlichen Contagium zu haben, dessen Gang man verfolgen und dessen Einfluß man doch nicht bannen konnte.

Noch heute sind die Untersuchungen über das Wesen dieses Krankheitsstoffes nicht völlig abgeschlossen. Nur so viel weiß man, daß mit größter Wahrscheinlichkeit die Luft und zwar in derselben befindliche Pilzsporen die Träger sind und daß jede ungenügende Ventilation, jede übermäßige Anhäufung von Kranken oder Verwundeten in einem Raum, jedes Baumaterial, welches – wie der Abputz der Wände – schwammartig-porös ist und daher jenen Stoffen eine willkommene Aufnahme gewährt, daß alle diese Ursachen den Ausbruch solcher Leiden begünstigen. Gerade in Bezug auf solche Ursachen war aber die bisherige Krankenpflege, besonders in Kriegszeiten, schlecht bestellt.

Es würde hier zu weit führen, wollte man die geschichtliche Entwickelung des Systems rationeller Hospitalbauten betrachten. Paris mit dem Hospital Lariboisière machte 1788 den Beginn, und dennoch schlummerte die bedeutende Reform, bis im nordamerikanischen Kriege die Noth auf das Barackensystem zurückführte und der Krieg von 1866 auch in Deutschland zur Herstellung derartiger Lazarethe veranlaßte. Zur Anwendung für die Zwecke eines Krankenhauses im Frieden waren bisher Baracken in größeren Verhältnissen nicht gelangt. Da kam im Beginne des Jahres 1868 Leipzig in den Fall, an einen Neubau seines Krankenhauses gehen zu müssen, da das bisherige am Rosenthale gelegene Jakobs-Hospital für die große Krankenzahl nicht mehr ausreichte. Dasselbe, zu der Zeit der berühmten Professoren Ernst Platner und Gehler 1798 zweckmäßig umgestaltet und zu zehn Sälen mit achtzig Betten erweitert, war zwar seit dem Beginne des Jahrhunderts durch Um- und Neubauten, dem Wachsthum der Einwohnerzahl entsprechend, vergrößert worden; allein abgesehen davon, daß es im verflossenen Jahrzehnt die Zahl der Hilfsbedürftigen nicht mehr fassen konnte, erwies es sich überhaupt als untauglich, weil es in einem sumpfigen, feuchten Terrain lag und der Sitz der gefährlichsten Hospitalkrankheiten geworden war. Da sich inzwischen das Barackensystem sowohl während der jüngsten Kriege als auch in Friedenszeiten in vereinzelten Fällen gut bewährt hatte, beschloß man, diese werthvolle Verbesserung der Hospital-Hygiene hier zum ersten Male in großem Maßstabe anzuwenden und zwar derart, daß man das große, durch seine gesunde Lage ausgezeichnete neue Waisenhaus, welches bereits 1866 vortreffliche Dienste als Lazareth geleistet hatte, entsprechend umbaute und mit einem Barackenlazareth verband.

Es war ein anfangs befremdender Gedanke, beide Systeme, das bisherige und das neue, zugleich in Anwendung zu bringen. Mancher glaubte darin nur eine halbe Reform, ein Spiel des Zufalls, einen unvollkommenen Nothbehelf zu erblicken. Dennoch aber mußte man zugeben, daß diese Vereinigung eines festen großen Krankenhauses mit Baracken viel für sich habe, einmal im Hinblicke auf unsere klimatischen Verhältnisse, dann aber auf die Thatsache, daß gewisse Krankheiten sich weniger für die Behandlung in Baracken eignen. Es war daher geradezu als ein glücklicher Zufall zu bezeichnen, daß in gesündester Lage sich ein Gebäude von vorzüglichster Zweckmäßigkeit als Centralpunkt für ein daran sich schließendes großartiges Barackenhospital fand und daß die Umgebung noch ein großes, für anderweitige Universitätsbauten verwendbares Terrain darbot. Auf diesem sind in den letzteren Jahren wahre Musterbauten, das sogenannte „Lateinische Viertel“, entstanden. Ein physiologisches und ein chemisches Laboratorium von großartigen Dimensionen, von einer bis in’s Einzelne ingeniösen Ausstattung, stehen hier bereits und bilden Anziehungspunkte für die fernsten Ausländer, da die Berühmtheit ihrer Leiter, Ludwig und Kolbe, sowie die Vollendung der Einrichtung sie den ersten derartigen Anstalten zur Seite setzen.

Neben dem chemischen Laboratorium erhebt sich das imposante Krankenhaus, zunächst das feste Gebäude, welches einen Mittelbau und zwei Seitenflügel darstellt, und hieran sich schließend eine förmliche Barackenstadt von interessanter Anordnung. Der Anblick dieses Gebäudecomplexes ist besonders von einem eine Ueberschau gestattenden höheren Standpunkte ein überraschender und bietet im ersten Augenblicke durchaus nicht das Bild, das man von einem Krankenhause gewöhnt ist. Man wähnt vor einem industriellen Etablissement zu stehen und erräth erst bei genauerer Besichtigung die Bestimmung dieser für uns noch befremdenden Gebäudegruppe. Von der südöstlichen Ecke des festen Gebäudes aus erstrecken sich zwei geschlossene Gänge, der eine nach Osten, der andere nach Süden zu. An diese Gänge schließen sich östlich sechs, südlich vier Baracken, von welch letzteren eine zur Operationsbaracke bestimmt ist, während die übrigen neun mit Kranken zu belegen sind. Außerdem befinden sich an der Ostgrenze des Grundstückes mehrere isolirte Baracken, welche hauptsächlich für ansteckende Krankheiten dienen und bereits durch die gegenwärtige Pocken-Epidemie eingeweiht wurden, an der Westgrenze aber das Badehaus, Kesselhaus, Waschhaus und Eishaus. Der südwestliche Winkel ist für Wirthschaftsgebäude bestimmt. Die ganze Südseite liegt frei und gestattet der frischen Luft und dem Sonnenlichte ungehinderten Zutritt zu den Parkanlagen, welche zwischen den Baracken und in dem ganzen Mittelraume den Kranken und Reconvalescenten einen angenehmen gesunden Aufenthalt bieten sollen.

Ueberhaupt ist die Lage des Krankenhauses, auch des festen Gebäudes, eine günstige. Die beiden Höfe sind zwar von drei Seiten geschlossen und, da sie nach Norden gelegen sind, auch sonnenarm; da aber ihre offene Seite dem baumreichen Johannisthal gegenüber liegt und die hohe Lage dieses Gebäudes einen frischen Luftzug begünstigt, so ist anzunehmen, daß auch nach dieser Seite hin die Verhältnisse nicht ungünstig sind. Ein an der Straßenmauer liegendes unscheinbares, aber höchst wichtiges und in seinem Innern sehenswerthes Gebäude ist das Reservoir, in welchem der desinficirte Inhalt sämmtlicher Closets gesammelt, nach der ingeniösen Süvern’schen Methode gesondert und geklärt und wo durch diese Behandlung der Excremente jede Weiterverbreitung ansteckender Stoffe unmöglich gemacht wird. Am nordöstlichen Ende schließt sich der unzertrennliche Begleiter jedes Krankenhauses an, das pathologisch-anatomische Institut und hinter demselben der Friedhof, wo Diejenigen, welche lebend oder todt der Wissenschaft genützt haben, ihre endliche Ruhe finden.

Ist schon die Anlage dieses Hospitals im Ganzen derart, daß die Bezeichnung eines Musterkrankenhauses völlig gerechtfertigt erscheint, so gilt dies nicht minder für die innere Einrichtung, bei der Zweckmäßigkeit und Rücksicht auf alle möglichen Fragen der Hospital-Hygiene, umsichtige Benutzung und Umwandelung der gegebenen Räume und ein mit den neuesten Erfindungen ausgestatteter Comfort zu bemerken sind. Wenn irgend die sorgfältigste Erwägung aller Bequemlichkeiten und die Abhaltung aller uns bisher bekannten Schädlichkeiten genügen, um die Heilung, die Wiederherstellung und das Wohlbefinden der Kranken zu unterstützen, so darf man hier die günstigsten Erfolge erwarten. Man vergißt fast, in einem Krankenhause zu sein, so angenehm ist der Aufenthalt in diesen luftigen, lichten Räumen.

Die Leiter des Hospitales, die Kliniker Wunderlich und Thiersch, haben durch Schaffung dieser vortrefflichen Anstalt ihrem auf dem Felde der medicinischen und chirurgischen Klinik längst bewährten Namen den nicht minder ehrenvollen von Gründern und Vorkämpfern eines zum ersten Male in ausgedehntem Grade angewendeten [347] reformatorischen Systems des Krankenhaus-Baues hinzugefügt und sich besonders um die ärmere Bevölkerung, der ja ein öffentliches Krankenhaus vorzugsweise zu Gute kommt, sehr verdient gemacht. Indem sie mit diesem Humanitäts-Werke „den Besten ihrer Zeit genug gethan“, haben sie ihren Namen ein „Leben für alle Zeiten“ in der Geschichte der Stadt Leipzig und klinischer Institute überhaupt gesichert. Daß ihre Pläne eine so praktische, bis ins Detail zweckmäßige Verwirklichung fanden, ist den ganz vorzüglichen Kräften zu danken, die ihnen zur Seite standen und von denen neben dem umsichtigen Stadt-Baudirector Dost in erster Linie der Hospital-Verwalter Friedrich zu nennen ist. Wie sorgfältig besonders Letzterer bestrebt gewesen ist, bis in’s Kleinste Pläne und Absichten der genannten klinischen Autoritäten auszuführen und überall etwas Musterhaftes zu schaffen, kann man nur bei einem längeren Besuch des Hospitals würdigen.

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir ein specielles Bild des Hospitals und seiner Einrichtung geben. Für Behörden, Aerzte und solche, die sich dafür interessiren, steht eine officielle, genaue Schilderung in Aussicht. Wir können uns damit begnügen, einen flüchtigen Rundgang durch die Räume zu machen. Das Hauptgebäude enthält die für den Betrieb und die Verwaltung erforderlichen Zimmer, die Beamtenwohnungen, die Küche, Bäckerei, Vorrathsräume, Apotheke, die Kirche, und außerdem zahlreiche Privatkrankenzimmer und mehrere Krankensäle. Alles ist auf’s Zweckmäßigste durch Corridore verbunden und so angeordnet, daß der Verkehr der Kranken und des Dienstpersonals soviel wie möglich erleichtert ist. Aufzüge für Speisen und Brennmaterial vergrößern die Bequemlichkeit. Ein wahres Muster an Großartigkeit und praktischer Einrichtung ist die riesige Küche, in der ein kolossaler Füllofen mit allen erdenklichen Vorrichtungen zum Kochen, Wärmen, Braten etc. die Patienten versorgen soll. Außerdem werden noch verschiedene Dampfkessel zur Bereitung von Fleisch, Gemüse, Suppe, Kaffee, Milch etc. dienen. Nicht minder großartig sind die Heizungsvorrichtungen für die eigentlichen Räume des Krankenhauses, zwei Schuttöfen von imponirender Größe. Daß die Krankenräume luftig, hell und mit vortrefflicher Ventilation versehen sind, daß Gas- und Wasserleitung alle Räume durchziehen und daß die Desinfection der Aborte nach Süvern’s System, sowie die Fortführung der Excremente in das Reservoir eine vorzügliche ist, bedarf kaum der Erwähnung.

Durch den an den Parterrecorridor sich schließenden Verbindungsgang der Baracken begeben wir uns in eine solche. Wir sehen einen länglichen Saal vor uns, dessen massive Umfassungsmauern ein spitz zulaufendes, am First mit einem sogenannten Dachreiter versehenes Dach tragen. Ein solcher Saal ist fünfzig Ellen lang, sechszehn Ellen breit und hat an der Mauer eine Höhe von sieben und ein halb, in der Mitte eine solche von zehn und ein viertel Ellen. Der Fußboden ruht auf einem gemauerten Unterbau, befindet sich circa drei Ellen über dem Terrain und ist derartig construirt, daß zwischen den Pfeilern des Unterbaues die Luft eintreten und von unten, behufs Vermehrung der Ventilation, in die großen, zugleich heizenden und ventilirenden Oefen gelangen kann, deren jede Baracke drei besitzt. Der Fußboden ist mit Coaks gefüllt, damit der Schall der Tritte sowie die Schwingungen möglichst vermieden werden. Auf jeder Seite spenden bei Tage dreizehn Doppelfenster ein helles Licht, bei Nacht werden die Baracken durch Gas erhellt. Den Fensterpfeilern entsprechend stehen vierundzwanzig Krankenbetten. In den Ecken der Baracken sind kleinere Räume abgetrennt, und zwar ein Wärterzimmer, ein Badezimmer und ein Watercloset. Das heiße Badewasser wird durch eine Röhrenleitung in alle Baracken geführt. Für Thee und Umschläge sind Gaskochapparate vorhanden. Das dem Verbindungsgange entgegengesetzte Ende der Baracke führt auf eine freie Veranda, die durch hölzerne Rollläden geschützt werden kann und bei günstiger Witterung den Patienten einen angenehmen Aufenthalt bietet. Von dieser Veranda führen Stufen in den gemeinsamen Park. Der Dachreiter enthält auf jeder Seite zwölf mit leicht verstellbaren Glas-Jalousien versehene Oeffnungen, die wesentliche Dienste für die Ventilation leisten. Ueberhaupt ist diese, nächst dem gemüthlichen, wohnlichen Charakter, den die mit sauberer Verschalung und freundlichem Anstrich versehenen Pavillons bieten, der größte Vorzug, ja der Glanzpunct dieser Räume. Sie ist für jede Jahreszeit und jede Temperatur angepaßt und erfüllt auf verschiedene Art, je nach Bedürfniß, in einer leicht zu regulirenden Weise rasch und vollständig ihren Zweck, die schlechte Luft aus allen Schichten des Krankensaales zu entfernen. Wir haben also, besonders wenn wir erwägen, daß die Leipziger Baracken so solid construirt sind, daß sie den Witterungseinflüssen widerstehen, das Ideal von Krankensälen vor uns.

Nachdem wir verschiedene Baracken, auch die etwas anders eingerichteten Isolirungsbaracken und die mit Riesenfenstern versehene Operationsbaracke besichtigt haben, verfügen wir uns durch eine directe Fortsetzung des Corridors in das Badehaus, welches mit Luftheizung versehen ist und zwei Dampfbäder, sowie sechszehn Badezellen bietet. An dieses schließt sich das Kesselhaus, worin zwei imposante Dampfkessel mit je zwei Cylindern arbeiten und, gewissermaßen als das Herz dieses großen Körpers, in die gesammten Räume des Krankenhauses das heiße Wasser pumpen. Nicht minder interessant ist das Waschhaus, wo der Dampf das Alles bewegende Element ist. Zwei kleinere Waschmaschinen und eine große, ein Spülapparat, ein Centrifugalringapparat, Rolle und Schnelltrockenapparat – Alles greift hier mit Präcision ineinander. Für Wäsche von ansteckenden Kranken ist ein gesondertes Waschhaus vorhanden. Aufzüge zu dem durch sinnreiche Jalousievorrichtungen geschützten Trockenboden für Lufttrocknung erleichtern auch hier die Communication. Von dem Eishause und den zur Conservirung von Fleisch etc. daselbst angebrachten Vorrichtungen läßt sich nur sagen, daß auch hier Solidität und Umsicht den Plan leiteten.

Einer der wichtigsten Puncte nächst der Ventilation ist bei einem Krankenhause die Desinfection der Ausleerungen. Dies sofort zu bewirken, den Inhalt der Closets rasch zu entfernen und derart umzuwandeln, daß die festen Bestandtheile von den flüssigen getrennt, erstere abgefahren, letztere aber – als nunmehr unschädlich – dem städtischen Schleußensystem zugeführt werden, das ist in der Hauptsache das Princip des beim Leipziger Krankenhause im Großen angewandten praktischen Systems. Man kann das hierzu bestimmte Haus mit seiner Dampfmaschine, seinen Klärbassins und gewaltigen Vorrichtungen nicht ohne ein Gefühl des Staunens sehen, da man bisher gewohnt war, gerade diese Seite der Gesundheitspflege nur äußerst stiefmütterlich, nach dem alten Schlendrian behandelt zu sehen. Jetzt ist hier, nach dem neuesten wissenschaftlichen Standpunct, das Beste geboten.

Zugleich aber sei noch des neuen, angrenzenden Pathologisch-anatomischen Institutes, welches unter Professor Wagner’s Leitung steht, besonders gedacht, eines Musterinstitutes, welches die zweckmäßigsten und splendidesten Räume für Sectionen, mikroskopische Untersuchungen, Sammlungen, pathologisch-chemische Arbeiten, Vorlesungen u. s. w. enthält. Die klinische Schwesteranstalt findet hier ihre nothwendige Ergänzung und das Mittel, das Wesen der Krankheiten genauer zu studiren, in einem Grade hoher Vollkommenheit.

Leipzig und Sachsen kann also mit Recht auf dieses Krankenhaus, dem gegenwärtig kein ähnliches an die Seite gesetzt werden kann, stolz sein; denn es hat auf einem der wichtigsten Gebiete des Volkswohles, auf dem der Hospitalpflege, in einer großartigen Weise eine neue, voraussichtlich segensreiche Bahn betreten.

Inzwischen hat der neueste Krieg, in welchem die Baracken wie Pilze aus der Erde gewachsen sind, auf’s Neue die Trefflichkeit derselben dargethan. In wenig Wochen hat das sächsische Kriegsministerium auf dem Exercirplatze bei Leipzig ein an das dortige Militärlazareth sich anschließendes großes Barackenlazareth errichten lassen. Zahlreiche andere Barackenlazarethe in Deutschland und auf dem Kriegsschauplatze bekunden auf’s Neue die Trefflichkeit dieses Systems und sind besonders in unserer neuen Kaiserstadt Berlin als großartige Reservelazarethe entstanden.

Um die Organisation solcher Reservelazarethe zu erläutern und zu verallgemeinern, sind bereits zahlreiche Vorschläge und Entwürfe in Folge der enormen Zahl von Verwundeten in’s Leben getreten, da die moderne Kriegführung mit ihren Massenkämpfen, ihrem Schnellfeuer mit Geschütz und Kleingewehr, ihren raschen und ausgedehnten strategischen Zügen der Möglichkeit, die Opfer der Geschosse entsprechend zu behandeln, weit vorausgeeilt ist. Mehr und mehr dringen durch Wort und That, durch Belehrung und praktische Versuche die Grundsätze, auf denen dies neue System der Hospitalpflege beruht, in weitere Kreise; mehr und mehr wird die Verwirklichung wissenschaftlicher Gesetze Gemeingut des Volkskreise und trägt dazu bei, die Zahl Derjenigen zu verringern, welche dem Kriege und der Krankheit – jenen Geißeln der Menschheit – ihren Tribut zollen müssen.



[348]

Zwei Sommergeschichten.
Von Karl Wartenburg.
1. Die Oesterreicher in Leipzig.


War das ein heißer Sommer, der von 1849! Es war gut, daß der Professor Albrecht in Leipzig, Einer der Göttinger Sieben, seine Vorlesung über deutsches Staatsrecht in dem schattigen Auditorium des Kirchenflügels des Augusteums in den kühlen Vormittagsstunden hielt, wer hätte sonst im Sommer 1849 ein Colleg über deutsches Staatsrecht hören sollen? In Dresden, in der Pfalz und in Baden war soeben das neueste deutsche Staatsrecht, die deutsche Reichsverfassung, durch das Kanonenrecht antiquirt worden und in dem deutschen Kaiserstaat, wie sich die österreichisch-habsburgische Monarchie unbefugter Weise so gern nannte, regierte seit dem October 1848 das Standrecht. Fürst Windischgrätz, Haynau, der Feldzeugmeister von Welden, Gouverneur von Wien, übten eine sehr summarische Justiz aus, bei welcher der Strick und Pulver und Blei die Hauptrolle spielten.

Eine derartige Rechtspflege ist nicht nach Jedermanns Geschmack, und besonders die österreichischen Demokraten hatten alle Ursache, sich vor der geringsten Berührung mit dieser Corporaljustiz in Acht zu nehmen. So reizend die schöne blaue Donau und die Prager Moldau auch sind, an den flachen Ufern der Pleiße und Elster in Leipzig ließ sich wenigstens sicherer leben. Wie Coblenz in der großen Revolution von 1789 der Zufluchtsort der französischen Adligen und Königlichen, so war Leipzig 1848 und 1849 die gastliche Herberge der österreichischen Demokratie geworden.

Wiener Studenten, ehemalige akademische Legionäre, Nationalgarden-Officiere, ausgetretene kaiserliche Officiere, demokratische Zeitungsschreiber, Parteiführer aller slavischen Nationalitäten der habsburgischen Monarchie fand man zu jener Zeit in den Leipziger Restaurationen und Kaffeehäusern, wo man sie, wenn nicht an ihrer mehr oder minder eigenthümlichen Tracht, an ihrer Aussprache erkannte.

Besondere Gastfreundschaft fanden diese Flüchtlinge aus Oesterreich bei dem freisinnigen Theile der Studentenschaft und bei vielen Leipziger Buchhändlern, die den literarisch Gebildeten unter jenen auch Erwerbsquellen verschafften. Es lag unendlich viel deutsche Gutmüthigkeit und Unbefangenheit in dieser Gastfreundschaft. Man frug Niemanden nach seinem Glaubensbekenntniß, es genügte, daß er politischer Flüchtling war; und ob Deutscher, Pole oder Czeche – das war ganz gleichgültig. Die Jugend schwärmte damals wenigstens noch für den Völkerfrühling und die allgemeine Verbrüderung aller Nationen, von der im Februar 1848 Alphons von Lamartine vom Pariser Stadthause aus phantasirt hatte. So frug man damals in Leipzig auch nicht, ob der Flüchtling aus Oesterreich ein guter Deutscher oder ein fanatischer Böhme war, der von der Wiederaufrichtung des Reichs der Wenzelskrone und von den Siegen der Hussiten, der Prokope und des Ziska träumte. Man hielt Jeden, der das Vaterland hatte verlassen müssen, für einen Freund der Freiheit, Jeden, der zum Schießen commandirte gegen das Volk, für einen Verräther und Todfeind. So erinnere ich mich noch lebhaft der Empörung, die damals unter uns achtzehn- bis zwanzigjährigen jungen Köpfen eine Adresse hervorrief, die, wenn ich nicht ganz irre, von einem Leipziger Professor ausgegangen und an den Fürsten Windischgrätz gerichtet war. Es war eine Dankadresse für Niederwerfung des Czechen-Aufstandes in den Pfingsttagen von 1848. Die Adresse lag in den besuchtesten Kaffeehäusern aus, aber obgleich damals ein wirkliches Adressenfieber herrschte, so glaube ich nicht, daß diese von der studentischen Jugend Leipzigs zwanzig Unterschriften erhalten hat. Und doch würden die Czechen nicht viel Federlesens mit den Deutschen Böhmens gemacht haben, wenn sie damals gesiegt hätten.

Indessen solche Betrachtungen hegte man zu jener Zeit nicht und am allerwenigsten dachte ich an diesen czechischen Deutschenhaß, als mich eines Tages, eben, als ich aus einem Colleg des Professors Albrecht über deutsches Staatsrecht kam, ein Bekannter, ein flüchtiger Wiener Student der Medicin, ehemaliger Legionär, der nach der Octoberrevolution sich nach Leipzig gerettet hatte, im Barfußgäßchen mit einem Professor Arnold aus Prag bekannt machte. Wie es bei so manchen Ereignissen im Leben der Fall ist, daß man sich der Hauptsache nicht erinnert, wohl aber der Nebenumstände, so geht es mir auch mit dieser Begegnung und mit meiner ganzen sonstigen Bekanntschaft mit dem czechischen Prager Professor. Ich weiß nur noch, daß es ein heißer Sommervormittag war und daß ich dann mit ein paar Commilitonen in die damals sehr bekannte Zill’sche Restauration zum Tunnel ging, in deren Nähe wir standen. Wir plauderten dabei über Allerlei, amüsirten uns köstlich über einen Schauspieler, den die Märzrevolution aus dem Engagement gebracht und zum wüthendsten Demokratenfresser gemacht hatte, und gingen dann auseinander. Doch weiß ich heute weder mehr, worüber wir geplaudert, noch wie der Professor Arnold aussah, auch nicht, wann und wo ich ihn wiedersah. Dunkel ist mir, als ob ich ihn einmal Nachmittags im Rosenthal bei Bonorand getroffen, aber es ist dies nur eine unbestimmte Erinnerung.

Die Ereignisse jenes denkwürdigen Sommers, in welchem Rom fiel und Görgey bei Vilagos capitulirte, Radetzky Carl Albert die Lombardei wieder nahm, Manin aber seinen Heldenkampf in Venedig kämpfte, drängten sich so, daß man in der That nicht Zeit hatte, solche vorübergehende Bekanntschaften festzuhalten; und ich hatte damals auch nicht die geringste Ahnung, daß diese zufällige flüchtige Begegnung im Barfußgäßchen Gegenstand einer kriegsgerichtlichen Untersuchung werden würde.

Monate waren seit jenem Morgen, an dem ich den Professor Arnold im Barfußgäßchen gesehen, vergangen, als ich eines Tages eine Ladung erhielt, vor dem Leipziger Criminalamt zu erscheinen. Dies überraschte mich nicht, da ich, wie so viele meiner Commilitonen, auch in eine politische Untersuchung verwickelt war. Man war damals an die Gänge in das Verhörszimmer auf dem Criminalamt gewöhnt, wie an das Gehen zum Mittagstisch bei dem Restaurateur. Es war die Zeit der Maiprocesse in Sachsen und jener Reactionsperiode, die sich mit unauslöschlichen Zügen in die Tafeln der Geschichte und in das Gedächtniß des deutschen Volkes eingrub, und die so viel zu der Umwälzung beigetragen hat, die sich vom italienischen Kriege 1859 an bis 1866 in Deutschland vollzogen. Doch ich will hier nicht politische Betrachtungen anstellen, sondern nur eine Erinnerung aus jener Zeit wiedergeben.

Man mußte gewöhnlich etwas warten auf dem Criminalamte, bevor man zum Verhör kam, die Herren Assessoren und Actuare hatten vollauf mit der Masse von Hochverräthern zu thun, von denen viele noch die buntfarbige Studentenmütze trugen. Der Aufenthalt in dem Vorzimmer des Criminalamts war nicht angenehm, aber interessant. Das Gebäude, in welchem sich der Sitz der Untersuchungsbehörde befand, war das sogenannte Stockhaus auf dem Naschmarkte, in dessen oberen Räumen die Untersuchungsgefangenen verwahrt wurden. Vor dem Hause und auf der ersten Treppe stand ein Schütze mit gezogenem Hirschfänger Schildwache, während in dem Vorzimmer einige Criminaldiener die Controle führten. Man konnte damals darauf rechnen, in diesem Vorgemach, das düster und schmutzig war, und in dem es beständig nach der Latrine roch, stets eine Anzahl Studenten, Buchhändler, Schriftsteller und auch Männer anderer Berufsclassen zu finden, die in politische Untersuchungen verflochten waren.

An jenem Tage bemerkte ich dort einen jungen Leipziger Verlagsbuchhändler, der damals durch einige demokratische Zeitschriften, deren verantwortlicher Herausgeber er war, rasch zu einer Anzahl Preßprocessen gelangte, die ihn auch später in’s Gefängniß brachten. Ich war einmal auf seinem Comptoir gewesen, um ihm einen Beitrag zu einer Sammlung für die Flüchtlinge in der Schweiz, die er veranstaltet, einzuhändigen.

Von diesem kurzen Besuche datirte sich unsere Bekanntschaft.

Ich frug ihn, was ihn hierher geführt. Er zuckte die Achseln.

„Ich soll als Zeuge vernommen werden – worüber, weiß ich nicht, ich habe durchaus keine Vermuthung. Und Sie?“

Die Reihe des Achselzuckens war an mir. In dem Augenblick trat ein Diener heran und rief den Buchhändler zu seiner Vernehmung durch den Actuar Beyer ab. Das Verhör, welches er zu bestehen hatte, dauerte ziemlich lange. Als er herauskam, blieb mir nur soviel Zeit, um einen flüchtigen Gruß mit ihm zu wechseln, dann mußte ich dem Diener folgen, der mich zu demselben Untersuchungsrichter führte.

[349] Es war ein langes, schmales, düsteres Zimmer, in welchem dieser saß. Obgleich es erst gegen vier Uhr im Monat Februar war, so brannten doch schon die Lampen und warfen ihren matten Schein unter den großen Blechschirmen hervor auf die Bank an der Wand, auf welcher die sogenannten Gerichtsschöppen, lebensmüde Leipziger Schuhmacher und Schneider, saßen und schlaftrunken vor sich hinblickten. Oben am grünen Tische saß der Untersuchungsrichter und neben ihm erblickte ich noch zwei Personen. Der Aeltere, es mochte ein hoher Fünfziger sein, hatte eine Raubvogelphysiognomie und erinnerte mich an einen Bankhalter, den ich in einem Badeort gesehen hatte. In dem Knopfloche trug er ein Ordensbändchen. Der Andere war ein junger, dunkelblonder, etwa dreißigjähriger Mann von angenehmem Aeußeren.

Der Actuar lud mich ein Platz zu nehmen und eröffnete mir unter einigem verlegenen Husten und Räuspern, daß er mir zuvörderst eine Verordnung des königlichen Justizministeriums in Dresden mitzutheilen habe, wonach es den beiden anwesenden Herren, dem kaiserlich königlich österreichischen Kriegsrath und dem kaiserlich königlichen Auditeur X. X. aus Prag – die slavisch klingenden Namen blieben meinem Ohr unverständlich – gestattet sei, dem mit mir anzustellenden Verhöre beizuwohnen.

Nach dem Gerichtsbrauch war das eigentlich nicht statthaft, aber es war dies eine Gefälligkeit, die Herr von Beust, der damals schon die Seele des sächsischen Ministeriums war, dem österreichischen Gouvernement erwies, eine Gefälligkeit in einer Sache, bei der es sich, wie sich später herausstellte, um Leben und Tod eines Menschen handelte.

Ich zerbrach mir noch den Kopf, wo hinaus das Alles wohl gehe, als mich der Actuar frug, was ich mit dem Professor Arnold an jenem Morgen im Barfußgäßchen gesprochen habe, woher ich ihn kenne und ob mir nicht zwei Brüder Strachow aus Prag, Studenten der Theologie, bekannt wären. Es sind, wie gesagt, seit jener Zeit zwanzig Jahre vergangen und ich weiß heute nicht mehr, nach welchen tausend anderen Kleinigkeiten noch mich die Herren frugen, denn auch der Herr Kriegsrath betheiligte sich anfänglich an dem Inquisitorium, bis ich ihm bemerkte, daß ihm zwar gestattet sei, dem Verhör beizuwohnen, daß er aber kein Recht habe, unmittelbar Fragen an mich zu stellen. Wie ich nachher erfahr, hatte der Herr Kriegsrath sich gleiche Ungehörigkeiten bereits bei dem Verhöre des Buchhändlers herausgenommen, war aber damals schon – zur Ehre des sächsischen Richterstandes sei dies erwähnt – von dem Actuar Beyer in energischer Weise zurecht gewiesen worden. Nach fünf Viertelstunden etwa wurde ich entlassen.

Eine höchst drollige Episode hatte sich bei dem Verhör des Verlagsbuchhändlers ereignet. Der Herr Kriegsrath frug den Zeugen nämlich, ob der Professor Arnold oder die unter diesem Namen auftretende Persönlichkeit auch Hosen getragen habe, eine Frage, die der Gefragte mit ironischem Lächeln und der Bemerkung beantwortete, daß es in Leipzig keine Sansculotten gebe und hier zu Lande jeder Mann Hosen zu tragen pflege, eine Ironie, die dem Herrn Kriegsrath das Blut nach dem Kopfe trieb und ihn von seinem Sitze mit den Worten: „Was schaffen’s mit den Hosen?“ hoch aufschießen ließ. Selbst der Verhörsrichter mußte in das Lächeln des Zeugen einstimmen. Die Frage war indessen nicht so lächerlich, wie sie für den ersten Augenblick erschien, wie denn überhaupt die ganze Geschichte nicht lächerlich, sondern sehr tragisch war. Arnold war ein czechischer Parteiführer und die Czechen trugen nicht die langen weiten deutschen Beinkleider, sondern eng anliegende lederne Hosen in kleinen ungarischen Stiefeln. Ueber Arnold und sein Schicksal habe ich etwas ganz Bestimmtes nie erfahren können. Er war kurz nach jener Unterredung, die ich mit ihm gehabt, in Leipzig auf österreichische Requisition verhaftet und nach Prag ausgeliefert worden, wo er lange Zeit in Untersuchungshaft saß und auch mit Bakunin confrontirt wurde. Später erzählte man sich in Leipzig, daß Arnold zum Tode verurtheilt und gehängt worden sei. Ob das Urtheil wirklich vollzogen wurde, ob man ihn nach Kufstein, nach dem Spielberg oder Munkacs geschickt hat, ich habe, wie gesagt, nie wieder etwas über ihn erfahren können. Wahrscheinlich ist, daß er gehängt wurde. Es wurde zu jener Zeit im österreichischen Kaiserstaat so viel erschossen und gehängt, daß es dabei auf Einen mehr oder weniger nicht ankam.

Einer mehr oder weniger! Der Todte von Queretaro, der jetzt in der Gruft bei den Capuzinern in Wien liegt, war auch nur Einer, und welche Thränen sind um ihn, der auch als Hochverräther von der mexicanischen Republik verurtheilt standrechtlich hingerichtet wurde, in Oesterreich geweint worden!

Ich habe, als ich die blutige Nachricht aus Mexico gelesen, oft an den armen Professor Arnold aus Prag gedacht, an ihn und an die ungarischen Generale, die man am 6. October 1849 in Arad aufhängte und wie die Hunde einscharrte.

Nicht wahr, das ist ein trauriges Ende der Sommergeschichte aus dem Jahre 1849? Und ich möchte nicht gern mit einem düsteren Eindruck schließen. Vielleicht gelingt es der zweiten Sommergeschichte, die allerdings zehn Jahre früher spielt, die trübe Stimmung zu verscheuchen, welche der Gedanke an die Galgen in Oesterreich hervorgerufen hat. Ich erzähle deshalb schnell noch die zweite Geschichte, die ich nennen will


2. Die Armee im Ballsaal.

Es war im Sommer von 1839. Fürst Metternich und der Bundestag regierten in Deutschland und Fürst Heinrich der Zweiundsiebenzigste herrschte über Lobenstein-Ebersdorf und in Gemeinschaft mit seinem Vetter Heinrich dem Zweiundsechszigsten über Gera. Das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 war eine merkwürdige Zeit, die für unser heutiges Geschlecht kaum verständlich ist, obwohl sie noch nicht lange hinter uns liegt. Selbst Denen von uns, deren erste Jugend noch in jene Zeit fällt, die wir sie noch mit erlebt haben, erscheint sie heute schon mit dem bläulichen Nebelduft der Sage überhaucht, und man muß sich erst wieder in sie hineinleben, wie der Geschichtsforscher in längst entschwundene Perioden der Weltgeschichte, um sie sich wieder gegenständlich und klar zu machen. Zum Verständniß des Nachstehenden ist daher eine kurze Charakteristik dieser Zeit nöthig.

Der Donner der Pariser Julirevolution hatte seinen Wiederhall in Deutschland gefunden. Kassel, Hannover, Göttingen, Braunschweig, Leipzig, Dresden und eine Anzahl Hauptstädte der kleinen thüringischen Staaten hatten ihre „große Woche“ gehabt. Das Hambacher Fest und der Ueberfall der Frankfurter Hauptwache, dieser romantische Einfall einer Anzahl Burschenschafter und anderer patriotischer Hitzköpfe, der mit der Gefangennahme des nichtsnutzigen Bundestags und der Proclamirung des deutschen Kaiserreichs enden sollte, waren die letzten heftigen Zuckungen des unterdrückten, nach Freiheit und nationaler Einheit lechzenden Volksgeistes gewesen. Es war sehr still in Deutschland geworden, zumal im Norden und in den mittleren Theilen unseres Vaterlandes. Die Karlsbader Beschlüsse, der kaiserlich königliche Haus- und Staatskanzler und die bundestäglichen Polizeileute in Frankfurt am Main sorgten dafür, daß diese Stille und Ruhe nicht gestört wurden. Die Redekämpfe in den süddeutschen Kammern waren immer unbedeutender geworden und die sächsische Zweite Kammer mit ihrer auserwählten Schaar von Vorkämpfern der Freiheit hatte noch nicht die Bedeutung, welche sie im Anfange der vierziger Jahre gewann; in Preußen herrschte jene dumpfe Ruhe, welche die letzten Regierungsjahre Friedrich Wilhelm des Dritten charakterisirt. Der erste deutsche Staat hatte damals seinen Beruf noch nicht erkannt, an die Spitze der Nation zu treten, und ließ sich noch zum Schmerz aller wahren Freunde des Vaterlandes in das Schlepptau Metternich-Habsburgischer Hauspolitik nehmen. Die Presse war über innere deutsche Angelegenheiten entweder stumm wie ein Trappist und zitterte vor dem Rothstift des Censors, oder war verfolgt wie ein Thier des Waldes, auf dessen Fersen die Jäger sind. Höchstens daß sich im Mantel der Anonymität ein fliegendes Blatt oder aus der Schweiz ein Heftchen des „Tribun“ von Karl Heinzen mit einer scharfen Kritik unserer öffentlichen Zustände hervorwagte, um verstohlen bei den Gleichgesinnten von Hand zu Hand zu gehen.

Das war die goldene Zeit der Sängerinnen, Schauspieler, Ballettänzerinnen und Virtuosen. Es gehörte diese politische Grabesstille dazu, um das Publicum durch spaltenlange Feuilletons, über einen neuen Tenor, eine junge Primadonna oder eine reizende Ballerina zu fesseln. Ich glaube, daß viele Berühmtheiten jener Zeit spurlos vorübergegangen wären, wenn sie nicht eben in einer Periode aufgetreten wären, in welcher man sogar Herrn von Dingelstedt, „den politischen Nachtwächter mit den langen Fortschrittsbeinen“, für einen gefährlichen Demagogen hielt. Abgesehen von den Katzbalgereien unten im südwestlichsten Winkel unseres Erdtheils zwischen Carlisten und Christinos war es in den Jahren nach der Julirevolution nicht nur in Deutschland,

[350] sondern auch im übrigen Europa still. In Paris hielt man zwar Kammerreden, in der Rue Transnonain wurden auch eines Tages von einer Handvoll schwärmerischer Idealpolitiker, welche in der Republik Frankreichs Heil und in Louis Philipp nichts als einen pfiffigen Börsenmäkler und Geldmacher erblickten, Barricaden gebaut und Flintenschüsse mit den Truppen gewechselt; aber schließlich waren doch diese Reden der Herren Deputirten weiter nichts als Zungenraketen, oratorische Feuerwerke, die einen Augenblick prasselnd aufstiegen, um in der nächsten Minute spurlos zu verpuffen, und das Häuflein Republikaner in der Straße Transnonain wurde durch Kartätschen für immer still gemacht. Herr A. Thiers verdiente sich gegen sie seine ersten Sporen. …

Es war im Sommer 1839, im Monat Juni, zur Zeit der thüringischen großen und kleinen Vogelschießen. Diese kleinen Vogelschießen, bei welchen man mit einem eisernen Stoßvogel einen hölzernen Adler abschießt, sind heute noch bei den meisten geselligen Vereinen im Thüringerlande die beliebtesten Sommervergnügen. So hielt auch eine Gesellschaft in Gera, die den idyllischen Namen „Eintracht und Frohsinn“ führte, ihr Vogelschießen in einem öffentlichen Vergnügungsgarten ab und hatte dazu Fürst Heinrich den Zweiundsiebzigsten mit höherer Dienerschaft, wie die Einladung lautete, eingeladen. Serenissimus hatte geruht, dieselbe huldvoll anzunehmen. Es war ein prächtiger Juni-Sonntag, Bier und Speisen vortrefflich und die Stimmung der Gäste die rosenfarbenste, als Se. Durchlaucht mit seiner Suite erschien. Heinrich der Zweiundsiebzigste war ein schöner Mann in seinen jüngeren Jahren und konnte sehr liebenswürdig sein. Er war unverheirathet, ein Freund des schönen Geschlechts und lebenslustig. Nachdem er sich eine Weile unter seinen getreuen Unterthanen vergnügt hatte, entfernte er sich, nur von seinem Adjutanten, einem Grafen Beust begleitet, die Mehrzahl seiner Diener, Reitknechte und Jäger zurücklassend. Kaum war der Fürst fort, als sich diese unter die Ballgäste mischten und zu tanzen begannen. Die sonst so loyalen Bürger fühlten sich darüber empört. Ihre Frauen und Töchter mit Bedienten tanzen zu sehen, das machte ihr Blut heiß. Die Vorsteher der Gesellschaft erklärten den Unverschämten, daß sie wohl Se. Durchlaucht mit höherer Dienerschaft, nicht aber seine Reitknechte und Kutscher eingeladen hätten. Die Bedienten Serenissimi empfahlen sich mit Ingrimm und Rachegelüsten im Herzen und berichteten die Sache dem Adjutanten Grafen Beust, der jedenfalls den Vorfall dem Fürsten in den schwärzesten Farben als eine Art Hochverrath oder zum Mindesten Majestätsbeleidigung dargestellt haben muß. Heinrich der Zweiundsiebzigste war außer sich und schrieb sofort eine Cabinetsordre an den Kanzler. Am andern Morgen wurde der Vorstand der Gesellschaft auf das Landrathsamt beschieden und ihm hier auf allerhöchsten Befehl Sr. Durchlaucht die Abhaltung des Balles, der am Abend stattfinden sollte, untersagt.

Dieser Cabinetsbefehl Serenissimi flog auf den schnellen Fittigen des Gerüchts in Kurzem durch die gute Stadt Gera. Schon in den ersten Nachmittagsstunden war der Garten, in welchem die Gesellschaft ihr Vogelschießen abhielt, überfüllt – man ahnte irgend etwas Besonderes. Der Tag war noch reizender, als der vorhergehende. Ein wolkenloser Himmel, eine glänzende Sonne, blühende Büsche und Sträucher, Musik und gutes Bier versetzten das zahlreiche Publicum in eine heitere Stimmung und ließen es die Ungnade Seiner Durchlaucht, die wie eine drohende Wetterwolke über dem Feste hing, allmählich vergessen. Es wurde Abend, es dunkelte bereits, man fing an, sich auf die Illumination im Garten vorzubereiten, und auf dem Orchester im Ballsaal stimmten die Musikanten schon ihre Instrumente – denn wer dachte noch an das Verbot? Da schallten vom Eingang des Gartens her plötzlich die Tritte einer heranmarschirenden Colonne. Bajonnete blitzten, Commandoworte wurden hörbar und auf einmal schimmerten die weißen Uniformen – das fürstlich reußische Bundescontingent war damals ähnlich wie das österreichische Militär gekleidet – durch die Räume. „Halt!“ „Gewehr bei Fuß!“ Darauf wurden die Gewehre in Pyramiden zusammengestellt und die militärische Macht Sr. Durchlaucht machte es sich in einer großen schattigen Laube, die vor dem Balllocal befindlich und gewissermaßen das Entrée zu demselben bildete, bequem. Der Commandant erklärte aber dem Gesellschaftsvorstand kurzweg, daß er hier sei, um die Abhaltung des Balles zu verhindern. Die Araber haben ein Sprüchwort: „Man kann keine Säbelklingen essen“. Aehnliches dachten wahrscheinlich auch die Geraer Bürger, stumm fügten sie sich der Gewalt der Bajonnete, das Tanzen unterblieb, die Streitmacht Sr. Durchlaucht aber bivouakirte die Sommernacht in der Laube, bewirthet von dem harmlosesten Gesellschaftspublicum mit Bier, Grog und Bratwürsten. Das ist die Geschichte von der Armee im Balllocal. Neun Jahre später brach die Märzrevolution von 1848 aus, die auch Heinrich’s des Zweiundsiebzigsten Thronentsagung herbeiführte. …

Es sind kaum dreißig Jahre seit jener Zeit verflossen, in welcher ein fürstlicher Machtspruch hinreichte, in der willkürlichsten Weise ein unschuldiges Vergnügen friedlicher Bürger zu verbieten. Doch die Zustände, welche solche Vorkommnisse in Deutschland möglich machten, sind für immer beseitigt. Mit dem alten Bundestag, der seine letzten Tage, würdig seiner Vergangenheit, auf der Flucht in einem Augsburger Gasthof beschloß, fiel auch die letzte Stütze der kleinfürstlichen Allmacht. Die meisten davon hatte freilich in der Mehrzahl der deutschen Staaten die Bewegung von 1848 zerbrochen.

Zustände und Vorkommnisse, wie die in den „Oesterreichern in Leipzig“ und in der „Armee im Balllocal“ geschilderten, sind heute unmöglich – vorbei für immer, und darum – Hurrah Germania!




Die neue Künstler-Herberge in Berlin.
Von Rudolf Löwenstein.


Was giebt es Schöneres als ein eigenes Heim? Wer sehnte sich nicht, aus der Knechtschaft und Zinsbarkeit des Miethsstandes erlöst zu werden und eine Stätte zu finden, da er Herr sein dürfe? Was ist der Miether, trotz seiner Freizügigkeit, Anderes als der Miethling des Haustyrannen, den Launen, Schrullen und der Hausordnung des Gestrengen unterthan? Wie glücklich, wer nach Irrfahrten und Umzügen eines unwirthlichen, der vierteljährlichen Kündigung ausgesetzten Lebens in den wirthlichen Hafen des Grundbesitzes einlaufen kann!

Auch der „Verein Berliner Künstler“ hat nach dem Ziele bürgerlicher Seßhaftigkeit gestrebt; aber – „es irrt der Mensch, so lang er strebt“. Was den Künstlern von München, Düsseldorf und Karlsruhe schon seit Jahren vergönnt ist, das blieb den Künstlern der kaiserlich königlichen Residenzstadt Berlin versagt – ein eigenes Heim. In Spree-Athen, der Stadt der Musentempel, Paläste und Casernen, ist kein Raum für ein Künstlerhaus. Die Künstler bilden hier eine zwar nicht gerade verachtete, aber eine „etwas schief von Oben angesehene“ Kaste, die bis in die neueste Zeit schwere Kämpfe zu bestehen hatte gegen die oberste Kaste der – Cultusdiener. Die Akademie, die Hochschule der Kunst, ist seit Schadow’s Tode, also seit einundzwanzig Jahren, verurtheilt, eine Körperschaft zu sein ohne Haupt, und die Glieder dieser Körperschaft leiden unter dem Drucke adelheidnischer Verordnungen von 1790 und 1871. Herr von Mühler liegt in offener Fehde mit den Akademikern, denen er die Anmaßung, das Unbeschreibliche, ewig Weibliche in natürlicher Wahrheitsschöne darstellen zu wollen, auf’s Strengste verwiesen hat. Die Göttinnen, als da sind Frau Venus, Hebe und Galathea, die Nymphen, Bacchantinnen, Grazien etc., sind verbannt aus den akademischen Hallen, wo sie die schaulustige Menge zu sündhaften Gedanken verführt, und die Musen sollen flüchten in ein härenes Büßerhemdchen. Kein Wunder, daß auch den Söhnen der Musen nicht verstattet ward, sich häuslich einzurichten, und daß Excellenz Fiscus alle Gesuche um Ueberlassung eines Bauplatzes zu einem Künstlerhause bisher abgewiesen hat.

Der „Verein Berliner Künstler“ mußte fürlieb nehmen mit den bescheidenen Räumen, welche ihm einmal in jeder Woche vom Tempelpächter der „Urania“ hergeliehen wurden. Er wanderte später zur Straße der Mohren in das Englische Haus, und die Götter mögen wissen, wie lange und wohin er noch ruhelos gewandert [351] wäre, wenn er nicht den kühnen Entschluß gefaßt hätte, sich mit einem Manne der Industrie zu verbünden, um, wenn auch nicht ein eigenes Haus, doch eine stattliche, der Berliner Künstlergesellschaft würdige Herberge zu begründen.

In der That gehörte Muth zu dem Wagniß, welches den Verein zur Zahlung von dreitausend Thalern Jahresmiethe verpflichtete. Die Künstler mußten, um diese Summe zu erschwingen, aus dem Reiche des Idealen hinabsteigen in das praktische Leben, aus harmloser Beschaulichkeit in das sorgenvolle Getriebe geschäftlicher Speculation. Sie haben sich – wie wir gleich hier bemerken wollen – als tüchtige Praktiker bewährt: durch die Zulassung außerordentlicher, dem Künstlerstande nicht angehöriger Mitglieder haben sie ihre Einnahmen erhöht, durch die Eröffnung einer permanenten Kunstausstellung ein erträgliches, mit den Kunsthändlern erfolgreich und zum Vortheile der Kunst concurrirendes Geschäft begründet. Trotz des bösen Kriegsjahres kann der Finanzminister des Künstlerstaates, der berühmte Marinemaler H. Eschke, sich rühmen, daß er nicht bloß ohne Deficit, ohne Anleihen und Steuererhöhungen durchgekommen sei, sondern daß er noch einen Ueberschuß erzielt und den Credit des Vereins beträchtlich erhöht habe.

Das Geber’sche Industriegebäude, in welchem sich die neue Künstlerherberge befindet, ist bereits in Nr. 18 des vorigen Jahrgangs[WS 1] der Gartenlaube abgebildet. Die Façade des Prachtbaues läßt nicht erkennen, daß diese Mauern einst zur Caserne gedient haben und daß – lediglich durch kunstvolle Bauflickarbeit – die düstere Wohnung des Kriegsgottes Mars in einen lichten Tempel der kunstschützenden Minerva umgewandelt worden ist; nur die seltsamen Festungsthürmchen, welche in die großen, einst dem Exercitium geweihten Höfe niederschauen, erinnern an die frühere Bestimmung des Gebäudes.

Ein weites Portal und eine breite Treppe führen in das „Geschäftslocal“, das im Vorderhause befindlich und durch das Schild „Permanente Ausstellung des Vereins Berliner Künstler“ bezeichnet ist. An einen kleinen, mit den Bureauzimmern in Verbindung stehenden und hauptsächlich für Aquarelle und Handzeichnungen bestimmten Vorsaal schließt sich die große, von Oberlicht erhellte Ausstellungshalle. Die eigentliche „Herberge“ ist nur während der Geschäftsstunden auf bequemem Wege zu erreichen; des Abends müssen wir über den Hof und durch eines jener seltsamen Thürmchen schreiten, und die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zur Herberge führt. Haben wir aber die richtige Thür gefunden, dann merken wir auf den ersten Blick, daß wir die Stätte betreten, da die Söhne der Musen sich nach vollbrachtem Tagewerk lagern zu süßer Rast, um sich zu stärken zu neuem Schaffen durch die Spenden der Ceres und des Bacchus, und um die Herzen zu erfreuen an Bild und Rede, Spiel und Gesang. Von den Wänden rings grüßen uns, Kopf an Kopf gereiht, freundliche Künstlergesichter, denn es ist Vereinsgesetz, daß männiglich sein Conterfei auf die Leinwand werfen und zum Schmucke der Herberge aufhängen lasse. Da sehen wir vor uns in üppiger Lockenfülle und bestrahlt von der Morgensonne der Jugend gar manchen Künstler, der heute als würdiges akademisches Haupt in silbernem Mondenschein einherwandelt; da haftet unser Auge schmerzlich an manchem lieben Genossen, der, ach schon seit langer Zeit dem Künstlerkreise entrissen ist; da sagen uns die frischen Lorbeerkränze unter den Portraits von Brücke und Hagen von neuem Leid, das den Verein betroffen, und der vertrocknete Todtenkranz unter dem Bilde von Eduard Hildebrandt verkündet uns, daß der berühmte Weltumsegler und Beherrscher des Lichts seine letzte größte Reise in das Reich des ewigen Lichts schon vor Jahren angetreten hat. Doch fort mit trüben Gedanken und hinein in die lustige Tafelrunde, an der wir, wenn wir just Glück haben, den Meistersingern des Vereins, Schwarz und Naumann lauschen können, wie sie uns schnaderhüpflig betheuern: „Aber so Zwei wie wir Zwei, die find’t man nit bald,“ und wie sie alle Vorwürfe von wegen der Rauf- und andern Boldigkeit abwehren mit der Versicherung: „denn wir sind ja zwei ord’ntliche Leut’.“

An jedem Dienstage, wenn die ernsten Berathungen geschlossen, entfaltet die heitere Kunst der Töne ihre Schwingen und bald ist es das lustige Jodlerpaar, bald ein nur von Menschenstimmen executirter Leierkasten, bald ein sinniges Quartett, oder das Kartoffel-Puppenkomödienspiel des höheren Blödsinns, an dem sich die Künstler ergötzen. Der Humor, der hier zur Geltung kommt, hat Nichts von der kaustischen Schärfe des Berliner Witzes, desto mehr aber von der Frische und Naivetät süddeutscher Harmlosigkeit. Die Possenspiele, die dann und wann verübt werden auf den Festen des Vereines, tragen zumeist diesen süddeutschen Charakter, die Musik aber, die hier in Vocal- und Streichquartetten geübt wird, ist von universellem, künstlerischem Werthe. Es ist eigenthümlich, daß viele Mitglieder der Künstlerschaft ebenso tüchtige Meister im Reiche der Töne als in dem der Farben sind. Carl Becker, der große Virtuos der Farbentöne, beherrscht mit gleicher Meisterschaft die Töne der Geige, Theuerkauff, Anton Werner und Begas illustriren mit ihren Instrumenten die Werke Mozart’s und Beethoven’s, wie sie mit Stift, Pinsel und Meißel die Weltgeschichte illustriren, Paul Meyerheim und Gustav Heil sind als vielsaitige Talente bewährt, Hertel, Bennewitz von Löthen, Amberg und Feckert, die Landschafts- und Genrezeichner par excellence, würden dem Quartette jedes Hoftheaters zur Zierde gereichen, und Wilhelm Scholz, der Zeichner des „Kladderadatsch“, eifert mit contrapünktlicher Gewissenhaftigkeit den großen Vorbildern der Tonwelt nach.

Da wir einmal Namen zu nennen begonnen haben, so wollen wir erwähnen, daß über theils höchst- und hochberühmte, theils bekannte oder nach Berühmtheit strebende Männer das Mitglieder-Verzeichniß des Vereins folgenden Aufschluß giebt: die Welt der Farben ist vertreten durch „Schwarz“, „Weiß“, „Grün“ und „Pinkert“, die der Töne durch den ausgezeichneten „Blaser“ aus Köln und einen selbst im Orient bekannten „Fiedler“. Der Verein erfreut sich des Beistandes der biblischen Männer „Lucae“, „Thomas“, „Jonas“, „Simon“, „Simson“, „Michaelis“ und „Jacob“, aber trotzdem gehören zu ihm noch zwei „Heyden“. Er hat einen „Magnus“ und seinen kleinen „George“. Es herrschen in ihm „Schnee“, „Schauer“ und „Brausewetter“; aber es ist gut dafür gesorgt, daß der „Winter“ zu „Ende“ gehe, jeder „Vogel“ im Lenz seinen „Baum“ und auch „Körner“ finde. Gegen jeden „Dorn“ und „Hader“ ist hier „Heil“ und in allen Nöthen ein „Nothnagel“ zu finden. Von auswärtigen Völkerschaften sind repräsentirt „Grönland“ und die Stadt der „Römer“, von nachbarlichen und heimischen der „Pohle“, „Westphal“, „Hesse“, „Sachs“, „Friedländer“ und „Meißner“, und von den Städten sind vertreten: „Worms“, „Jüterbogk“, „Henneberg“ und „Lüben“. Der Verein hat zwar zwei Männer „Vollgold“ zu Ehrenmitgliedern, aber er besitzt doch nur einen „Schilling“.

Der Verein hat einen „Kaiser“, einen „Printz“ und einen „Marschall“, in seinem Schilde führt er als Wappengethiere den „Schwan“, den „Storch“, den „Geier“, den „Steinbock“ und drei Wölfe, von denen ein „Wolf“ immer größer ist als der andere. Seine Devise ist „Bleibtreu“. Der Künstlerstaat hat gar berühmte Bürger und „Burger“, drei „Richter“, einen „Kaufmann“ und einen „Kunde“, einen „Fläschner“, einen „Pfannenschmidt“, einen „Fischer“, einen „Seemann“, einige „Weber“, „Becker“ und „Kretschmer“, zwei „Müller“, aber (was für Berlin schier merkwürdig) keinen Schultze. Für die Hungrigen ist stets ein „Koch“ und für die Durstigen ein „Seidel“ da. Und der Durst ist manchmal groß unter den von Meister Steffeck beherrschten munteren Gesellen, zumal wenn Quartal, d. h. eine Generalversammlung auf der Herberge angesetzt ist. Dann hat Herr Weiß, der Herbergsvater und Verwalter der Bundeslade, genannt „Sparbüchse des eisernen Fonds“, alle Hände voll zu thun, damit den Künstlern auch kunstgerecht die Bowle gebrauet werde, denn: „Zu gutem Werk ein guter Trunk macht Meister und Gesellen jung.“

Die Spruchweisheit, welche in dem Getäfel der Decke geschrieben steht, enthält manche gute Lehr und Fürbitt. Sie spricht dem Künstler Muth zu durch die Worte:

Hast du ein Bild im Geist erschaut –
Nur frisch der eignen Kraft vertraut!
Zur Wahrheit wird dem Traumgesicht,
Und sieh: dein Bild, es lebt und spricht!

In einem andern Sprüchlein heißt es:

Gott gab dem Lehm einst Lebenshauch.
Versucht es nur – ihr könnt es auch!

Und in einem dritten:

Ob ihr mit Meißel oder Pinsel schafft –
Wie klein das Werkzeug, wie groß die Kraft!

Wer schaut – so fragt der Herbergsdichter –

[352]

Das neue Heim des Berliner Künstler-Vereins. Originalzeichnung von Ludwig Loeffler.

[353] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [354]

Wer schaut dem Marmorblock wohl an,
Was für ein Gott d’raus werden kann?

Welch schöner Dienst, der Gottheit fröhnen
Im ewig lichten Reich des Schönen!

Aber man muß ihr dienen im Geist, denn:

Der Geist belebt und nicht der Text.
Der Eine malt, der Andre klext.

Man muß ihr dienen um ihrer selbst willen, darum:

Tracht’ nicht nach Ruhm und Menschengunst,
Kurz ist das Leben, lang die Kunst.

Man soll ihr dienen mit Beharrlichkeit, denn:

Festes Aug’ und sichre Hand
Preisen allwärts Leut’ und Land.

Die Maler sollen stets eingedenk sein der Lehre:

Sitzt sie nicht am rechten Fleck,
Ist die schönste Farbe – Dr…!

Die Künstler sollen sein:

In Lust und Leid getreu allzeit.

Wenn sie zum Becher greifen, sollen sie aber vorher sprechen:

Hör’, Maler Bacchus, meine Bitt’:
Mal’ mir zu roth die Nase nit!

Im Leid aber sollen sie sich getrösten, denn:

Den Künstlern winkt einst reicher Lohn,
Sanct Lucas ist ihr Schutzpatron.

Sie dürfen jedoch bitten:

Sanct Lucas, schau’ schon diesseits drein!
Man wird nicht satt vom Ruhm allein.

Sie sollen sich endlich, so oft sie entweder den Tannenbaum schmücken zu ihrem Weihnachtsfeste, oder den Waldmeister pflücken zum Frühlingsfeste, bewähren als:

Ohn’ Falsch und Fehl, von ganzer Seel’, allweil fidel!

Die Wände sind geschmückt mit heiteren, auf „Wein, Weib, Gesang“ und Spiel bezüglichen Bildern von Spangenberg, Heyden, Lulvès, Gentsch und anderen Meistern. Zwei derselben haben wir in unserm Holzschnitte skizzirt: links „Karten spielende Grenadiere“ (von O. Wisniewski), eine Mahnung an die Vergänglichkeit des Glücks, rechts, über der schlummernden Künstlerwerkstatt, eine bei schwelgerischem Mahle entschlummerte Gruppe (von Brausewetter), bei welcher sich unbemerkt, um von den Speiseresten zu naschen, bereits ein furchtbarer – Kater eingeschlichen hat.

An den Hauptsaal schließt sich auf der einen Seite das Spielzimmer, auf den andern der Sitzungssaal, zu dem wir einige Stufen hinabsteigen. Hier werden unter den Augen der in lebensgroßen Figuren dargestellten Meister der früheren Zeiten die parlamentarischen Kämpfe der Künstler ausgefochten, sowohl untereinander als gemeinsam, wider den bösen Geist des „grünen Tisches“; hier wurden die Proteste geschweißt gegen den Mann, der eine neue Kleiderordnung für Venus und Kallisto octroyrt hatte. Die Herren Holbein, Albrecht Dürer, Peter Vischer, Erwin von Steinbach und Rubens sollen damals ein gar verwundert Gesicht gemacht haben zu der mittelalterlichen Cultusverordnung; die Herren Schlüter, Schmidt, Chodowiecki und Sennefelder sollen ein herzhaft Gelächter aufgeschlagen, der alte Schadow aber, aus dem Rahmen hervortretend, den Bekennern der nackten Wahrheit ein lautes Bravo zugerufen haben.

In einer Ecke des Sitzungssaales steht – welch seltsames Möbel in einem Parlaments! – eine Kanzel, mit Figuren im Holbein’schen Stile, mit Aureolen, Drachen und allerlei gothischen Schnörkeln ebenso zierlich als wunderlich bemalt. Wie kommt sie hierher? Ist sie etwa auch, gleich dem Kaiserstuhle von Goslar, aus einem Schlößlein oder Kirchlein einer weiland kaiserlichen Residenz nach Berlin überführt worden? Die Jahreszahl unter dem Ritter Jürge belehrt uns, daß sie erst in neuester Zeit erbaut worden, und dennoch hat sie einen hohen historischen Werth: sie erinnert daran, daß das Jahr 1871 das erste und einzige gewesen seit dem Bestehen des Vereins, da – der ernsten Zeiten wegen – kein Carnevalsfest gefeiert werden, kein lustiger Frater die Narrenkanzel besteigen durfte, um den Schellenbrüdern zu predigen. Sie erinnert aber auch an das herrlichste Fest, das der Verein am 22. Februar des vergangenen Jahres begangen hat, und an den heitern Syllabus, der von dieser Kanzel verkündet worden ist. Damals – es war wenige Tage, nachdem die römischen Verfluchungen bekannt geworden – sprach der Pater Abraham a Sancta Clara der Künstlerschaft also zu der närrischen Gemeinde:

„Wer heut’ – so steht von kund’ger Hand geschrieben an der Kanzel
     Wand – Wer’s heut’ mit Narrheit nicht versucht, der sei – ver-
     flucht, verflucht, verflucht!

Wer heut’ den Kopf griesgrämlich senkt, wer Mücken seih’t und Grillen
     fängt und sich nicht fügt der lust’gen Zucht, der sei – verfl…!

Wer hungrig sitzt beim leckren Mahl, und, wenn er leidet Durstes Qual,
     nicht seinen Durst zu löschen sucht, der sei – verfl…!

Wer nicht des Liebchens Lippen küßt, wenn es nach Küssen trägt Gelüst,
     und wer sein Liebchen täuscht verrucht, der sei – verfl…!

Wer für des Nächsten Gram und Schmerz nicht hat ein volles, warmes
     Herz, wer nur des Nächsten Fehler bucht, der sei – verfl…!

Wer nur an ird’schen Vortheil denkt, nach Gold nur giert, am Gold nur
     hängt und frömmelnd doch zum Himmel lugt, der sei – verfl…!

Wer heut’ hier sagt: ich spiel’ nicht mit! und wer, so lang’ er nicht im
     Tritt, nicht doch in Tritt zu kommen sucht, der sei – verfl…!

Doch wer hier von des Tages Last sich eine Herberg’ sucht zur Rast
     in treuer, deutscher Freunde Zahl, der sei gegrüßt viel tausendmal!“




Die Industrie im Waldbache.


Aus dem fernen Indien kam mir neulich ein Bericht über die verschiedenen Grade von Körper- und Geisteskraft der Bewohner zu. Leute an großen Flüssen und am Meeresgestade erwiesen sich arbeitsamer und einsichtsvoller als die, welche ohne Nahrung aus dem Wasser größtentheils von Reis und sonstiger Pflanzenkost lebten. Der betreffende englische Beamte fordert deshalb, man solle letzteren durch besondere Maßregeln, namentlich verbesserte Wege und Stege, Fisch- und Fleischnahrung zugänglicher machen.

Wir können freilich den Beweis näher haben, daß schlechtgenährte Völker weder geistig noch körperlich viel taugen und ohne Freiheit von drückenden Nahrungs- und Abgabesorgen auch die politische, gesellschaftliche und persönliche Freiheit nicht gedeihen kann.

Ich habe deshalb seit Jahren für Erweiterung und Bereicherung materieller Lebensbefriedigungsmittel als einer wesentlichen Grundlage aller Cultur Anregungen und Nachweise gegeben und namentlich in der Bewirthschaftung des Wassers eine unerschöpfliche, in Deutschland aber am meisten vernachlässigte Quelle dieser besseren Ernährung zugleich auch für den Geist nachgewiesen. „Neue Werke und Winke für die Bewirthschaftung des Wassers“, unlängst erschienen, machen uns mit den Anfängen und ersten Erfolgen dieses flüssigen Ackerbaues in Deutschland bekannt, namentlich mit den Plänen und Vorarbeiten des deutschen Fischereivereins, der sich unter dem Vorsitze des Kronprinzen von Preußen gebildet hat und unter seinen mehr als dreihundert Mitgliedern viele Gewährsmänner der Fischerei und als Vorsteher seiner fünf Commissionen den Oberregierungsrath Greif, die Professoren Virchow und Peters und den Dr. v. Bunsen aufweisen kann. Der Krieg hat zwar viele ihrer Pläne, wenn nicht vereitelt, so doch aufgeschoben. Wir hoffen deshalb um so freudiger, daß ein gründlicher, dauernder Friede uns in der Aufnahme vernachlässigter Culturarbeiten begünstige.

Das Wasser ist vielfach fruchtbarer als der beste Acker. Wir haben es bis jetzt beispiellos vernachlässigt und müssen uns besonders schämen, wenn wir in den „neuen Werken und Winken“ von vielen hundert blühenden, sich mit Hunderten von Procenten lohnenden Anstalten für künstliche Forellenzucht in Amerika und nur von schwachen Anfängen in Deutschland lesen.

Die Bachforelle, von Brehm unter die Thiere deutscher Wälder mit aufgenommen, ist, wie unser Wald, ein echt deutscher Vorzug. Auf unseren Tischen kommt sie nur ausnahmsweise als theurer und winziger Leckerbissen vor. Unzählige muntere Berg- und Waldflüßchen, die unter künstlicher Pflege die reichlichsten Ernten dieser schmackhaftesten aller Fische liefern würden, harren noch vergebens der Cultur, wie sie in Amerika in Hunderten von künstlichen Zuchtanstalten Blüthe und Früchte trägt.

[355] Um zur Belebung dieses flüssigen Ackerbaues gerade für Forellenzucht beizutragen, wollen wir hier die Erfahrungen und Lehren eines der ersten und sorgfältigsten Forellenzüchter im Wesentlichen mittheilen.

Unter dem wissenschaftlichen Beistande Brehm’s legte der unternehmende Berliner Capitalist Herr Stahlschmidt vor etwa drei Jahren eine künstliche Forellenzuchtanstalt in den Teichen und Flüssen zwischen Kämmerswalde und Sayda in Schlesien an und gewann für die praktische Ausführung und Leitung den Lehrer Herrn Ernst Maier zu Neuwernsdorf. Dieser nun schickte unlängst an Brehm einen Bericht über seine Erfahrungen und Beobachtungen, aus welchem wir hier für weitere Anregung und für den praktischen Gebrauch folgende wesentliche Thatsachen zum Besten geben.

Um die Forellenzucht wissenschaftlich und mit Erfolg zu betreiben, ist künstliche Befruchtung unerläßlich. Die Forellen laichen mit herannahendem Winter, und dies ist die Zeit, wo ihnen die Kunst zu Hülfe kommen muß. Diese ist nicht leicht auszuüben, da es gilt, die streichfähigen Exemplare gegen das Wasser schwimmend aus ihren Schlupfwinkeln im kalten Wasser, vielleicht gar unter dem Eise hervor herauszufischen. Besser ist es daher, sie schon vorher gelegentlich abzufangen und sie in größeren Behältern mit gekochten Blutkuchen, gewiegtem Fleisch, Quark oder noch besser mit kleinen Elritzen und Schmerlen zu füttern. Da sie sehr gefräßig sind und selbst kleinere unter sich nicht schonen, muß man sie so sortiren, daß möglichst gleiche zusammenkommen. Auch ist Trennung nach dem Geschlecht unerläßlich, wenn das künstliche Streichen gelingen soll. Ferner ist Classification nach der Verschiedenheit erlangter Reife sehr zu empfehlen. Diese ist an der Entwickelung der Farben zu erkennen. Je näher der Laichzeit, desto prächtiger entwickelt sich bei dem Männchen die dunkelnde Farbe, die zuletzt fast rußig überhaucht wird. Der sonst silberne oder gelblichweiße Bauch wird bläulichgrau. Die Weibchen sehen geschwollen aus, und die dunkelrothe Scheide tritt mehr und mehr heraus. Den Rogen fühlt man bei vollkommener Reife im Bauche wie Erbsen in einem Säckchen.

Jetzt ist die Zeit zum künstlichen Streichen gekommen. Die ausersehenen Fische bringe man einige Stunden vor der Handlung in das Wasser, in welches der Laich während und nach der Befruchtung kommen soll. Bei dem Streichacte sind zwei Personen nöthig. Man greift zuerst mit beiden Händen nach der ausersehenen Forelle, faßt sie mit dem Zeigefinger und Daumen der linken Hand dicht hinter den Kiemen und drückt nur wenig mit dem Mittelfinger unterhalb des Schlunges. Der Gehülfe hat inzwischen zur Verhütung des Schnellens den Schwanztheil fest gepackt und etwas nach oben gebogen. Jetzt streicht man mit der freigebliebenen rechten Hand durch leisen Druck mit Daumen und Zeigefinger, womit man die Forelle ringförmig umspannt, von oben nach unten, zuerst in der Nähe des Afters, dann immer weiter von vorn her, bis aller Laich zwanglos zu Tage gefördert ist. Werden dabei die Eier noch vom Netze zusammengehalten, so gebe man die Sache sofort auf, denn es würden keine reifen Eier zum Vorschein kommen. Dasselbe gilt von den Milchnern. Beide Geschlechter behalten oft nach dem Streichen noch etwas Laich zurück, so daß man nach drei, vier Tagen neue Versuche machen kann. Die Milch ist desto besser, je ähnlicher sie der einer gemolkenen Kuh herausstrahlt.

Zu dieser künstlichen Befruchtung sind terrinenähnliche Gefäße je nach der Zahl der zu behandelnden Forellen so in Größe zu wählen, daß sie ziemlich mit Wasser gefüllt und mit der Milch zweier Männchen gemischt eine weißliche Flüssigkeit geben. Zur Mischung dient die Fahne einer Feder oder ein weicher Pinsel. In dieses Gemenge streicht man so schnell wie möglich den Rogen von sechs bis acht Forellen. Die befruchtenden Keime der Milch werden nun rasch von den Eiern aufgesogen, und die künstliche Befruchtung kann nach etwa fünfzehn Minuten als vollendet gelten. Die leicht getrübten Eier erscheinen jetzt in der gequollenen Milch wie mit weißen Ringen umgeben. Man muß nun das ganze Gemisch ohne Verzug in den bereitgehaltenen Brutapparat mit fließendem Wasser bringen. Man lasse sich nicht durch die verschiedene Färbung der Eier, vom citronengelben bis zum rothweinfarbigen und fast ganz farblosen, stören. Nur die undurchsichtige weiße, käsige Farbe ist ein Zeichen der Unfruchtbarkeit oder Krankheit, und Eier dieser Art müssen möglichst durch tägliche genaue Untersuchung, am besten mit einer federnden Zwinge, deren Schenkelspitzen einer ausgehöhlten Halbkugel gleichen, entfernt werden. Auch kann man mit Vorsicht gewöhnliche Pincetten brauchen.

Die Zeit bis zum Auskriechen der jungen Fischchen ist die wichtigste. Man darf sich deshalb die Mühe nicht verdrießen lassen, die Keime gehörig zu schützen und zu pflegen. Hauptsache ist, daß stets reines Quell- oder Waldbachwasser von vier bis acht Grad R. durch den Brutapparat fließe und dieser gegen grelles Licht und sonstige Feinde möglichst geschützt sei und bleibe. Zu letzteren gehört besonders der Schimmel an unbefruchteten und verwesenden Eiern, welche, wenn nicht immer rechtzeitig entfernt, auch die andern anstecken und verderben. Man mache deshalb nur alle Tage einmal mit einer guten Lupe Jagd auf diese blassen und undurchsichtigen Leichen. Mit gutem Auge und einiger Uebung und in einem geeigneten Brutapparate braucht man dazu nicht mehr als zehn bis fünfzehn Minuten.

Je nach der Wärme brauchen die befruchteten Eier zwölf bis sechszehn Wochen, um die darin schlummernden Fischkeime bis zum Durchbruche und Entschlüpfen zu bringen. Man glaube aber nicht, daß, je größer die Wärme, desto schneller die Entwickelung sei. Alle Lachsarten, wozu die Forellen gehören, laichen im kalten Herbst und Winter; sie lieben die Frische und Kühle, also ein Wasser von vier bis sieben Grad Réaumur.

Nicht blos der Naturforscher, auch der gebildete Liebhaber wird Freude daran finden, die langsame Entwickelung der Eier bis zu den zartesten Fischchen und dieser bis zu den kühnen Raubrittern, die sie sind, mit scharfem Auge und vergrößerndem Glase zu verfolgen. Nach sechs, sieben Wochen werden die Augen im Eie sichtbar und gleich darauf rothe Aederchen gleichsam als künftiges Knochengerüst. Wer befruchtete Eier versenden will, thue es jetzt, aber nur in guter Verpackung zwischen sorgfältig gereinigten Moosschichten in fein durchlöcherten Schachteln.[1]

Die durchsichtigen, kaum mit bloßen Augen bemerkbaren Fischchen, die aus den Eiern entschlüpfen, liegen zunächst mit ihrem harztropfenähnlichen Dottersacke, ihrer Speisekammer für die nächsten sechs Wochen, wie todt auf einem Flecke. Erst später lernen sie munter umherfahren und Versuche zum Entwischen machen. Dagegen muß man sie überall durch fein durchgitterten Verschluß bewahren, da sie sonst allen möglichen lauernden Feinden zum Opfer fallen würden. Man bringe sie später in größere, lebhaft durchflossene Behälter und füttere sie mit den feinsten Leckerbissen von staubartig zermalmtem Fleisch, Eiern, Blut, Quark und sonstiger Kost thierischen Ursprungs, bis sie stark genug sind, sich selber zu schützen und zu nähren. Wer diese Sorge und Mühe scheut, bringe sie in einen sandigen, ruhig fließenden, im Zickzack laufenden, flachen, mit Gittern sorgsam verwahrten Bach oder Graben möglichst unter dichte Wasserpflanzen, von wo ihnen Nahrung herabfällt und sie sich vor Feinden flüchten und verstecken können.

Nimmt man Gelegenheit, sie hier zu beobachten, so wird man sehen, wie ängstlich sie am Rande umherschießen, theils um zu rauben, theils um Räubern zu entschlüpfen. Sie unterscheiden sich vorläufig von Elritzen und Schmerlen hauptsächlich nur durch ihre schnellere, gegen und nicht miteinander schwimmende muntere, furchtlose Beweglichkeit. Nur später und in der Nähe merkt man die röthlichen Fleckchen und rothen Punkte, die ihnen eigen sind. In ihrer Flinkigkeit und Verschmitztheit geberden sie sich trotz des ihnen noch anhängenden Zulpes im Vergleich zu anderen Fischen wie Ritter ohne Furcht und Tadel, stehen hin- und herwackelnd, und zielen und schießen blitzartig auf Alles, was ihrer Gefräßigkeit zu Gute kommen könnte. Dabei behauptet jeder dieser Räuber gern ein eigenes Jagdgebiet und kennt keine Freundschaft.

Will man sie schnell wachsen und gedeihen lassen, so ist es gut, sie ziemlich regelmäßig mit zerhackten Fleisch- und Fischabfällen zu unterstützen und später in größeren Flußausweitungen oder Teichen dafür zu sorgen, daß schlammige Bodensätze nicht überhand nehmen.

Ist die Brut ein Jahr alt, so setze man sie, nach der Größe geschieden, in gut durchflossene und umschattete Teiche, wo sie bald gewitzigt genug sind, sich selbst zu schützen und zu nähren. Da sie sich freilich leicht fangen lassen und Diebe selten fehlen, sind für gedeihliche und lohnende Zucht sicher umhegte und bewachte [356] Flußteiche und Gräben unerläßlich. Um nun auf dem kleinsten Raume möglichst viel fließendes Wasser zusammenzudrängen und viel Spielraum zu bieten, ist es praktisch, den Teich in Form von sich hin- und herschlängelnden Gräben zwischen äußeren Gräben, welche zum Abschluß etwaiger Uebermenge dienen, und zwischen Berg und Wald anzulegen. Oben möglichst nahe am Ursprunge der Zufluß in die geschlängelten Gräben, deren Zwischenräume mit Baum- und Buschwerk, Sumpf- und Wasserpflanzen geschmückt sein müssen. Ausfluß in einen großen Teich für größere Forellen. An diesen mögen sich anderweitige größere Behälter für Zucht und Mästung der Forellen für den Markt schließen.

Weitere Einzelheiten, namentlich auch für andere Fische, Veredelung derselben und Einbürgerung von ausländischen Eß- und Edelfischen, muß man schon in meinem Buche: „Die Bewirthschaftung des Wassers und die Ernten daraus“ nachlesen. Wenigstens ist mir kein Werk bekannt, in welchem alle betreffenden Thatsachen und Anweisungen so umfangreich und faßlich dargestellt sind, wie in diesem.

Wir haben mindestens viele Hunderte von Berg- und Waldbächen in Deutschland, in welchen sich mit verhältnißmäßig wenig Anlagekapital, Arbeit, Einsicht und Geduld die köstlichsten aller deutschen Fische züchten und zu einer ziemlich billigen Volksnahrung vermehren ließen. Wir können deshalb nur dringend bitten, diese Anregung hier zu benutzen und nach Kräften zu verwerthen. Wo es an geeigneten Quell- und Waldbächen fehlt, finden wir wenigstens fast überall auf den Tausenden von Geviertmeilen Deutschlands Seen, Teiche, Tümpel, Gräben, Gerinne und Sümpfe. Alle diese werthlosen und sogar schädlichen Theile der Oberfläche sind irgend einer Bewirthschaftung und Verwerthung fähig. Freilich wird sich schwer Capital und Einsicht dafür finden. Wer aber irgendwie über Wasser mit Fischen gebieten kann, sollte für das Nächste und Nützlichste, Einbürgerung und Züchtung besserer Eß- und Edelfische sorgen. Die gewöhnlichen Süßwasserproletarier, Bleie, Barsche und Plötzen etc. sind nicht im Stande, gebildete Gaumen zu reizen und Geld und Geist für höhere Bewirthschaftung des Wassers flüssig zu machen.
H. Beta.




Blätter und Blüthen.


Wie Mühlhausen Fabrikstadt geworden ist. Einem Elsässer, Herrn D. Z., verdanken wir nachstehende Erzählung, die er uns als ein Seitenstück zu dem Artikel: „Wie Mühlhausen französisch wurde“ mittheilt.

Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts lernte in Bar le Duc ein als Handlungsdiener dort lebender junger Mann aus Mühlhausen im Elsaß die gedruckten „Indiennes“ kennen. Er überzeugte sich bald von der Vortheilhaftigkeit dieses Fabrikats und beschloß, dasselbe als einen Erwerbszweig in seine Vaterstadt zu verpflanzen. So entstand im Jahre 1746 die erste Indiennes-Fabrik unter der Firma: „Köchlin, Schmalzer u. Comp.“

Auch hier zeigte sich’s, wie schwer oft der Anfang, namentlich von solchen industriellen Unternehmungen, ist. Trotz alles Aufwandes von Capital mißlang Versuch um Versuch in der Färbung, der Mißmuth stieg, der Muth sank, und endlich machte Schmalzer den Vorschlag, die aussichtslose Fabrik zu schließen. Frau Köchlin sollte dies ihrem abwesenden Manne brieflich mittheilen und sie war eben im Begriff an dieses traurige Geschäft zu gehen, als sie seltsam darin gestört wurde. Ihr Dienstmädchen meldete ihr, des Zunftmeisters Anna Maria stehe draußen mit einem armen Handwerksburschen, dessen Mutter todtkrank und hülflos in Riedisheim, nicht weit von Mühlhausen, darnieder liege.

Dieser Weg zu Frau Elisabeth Köchlin war aber nicht so schnurgerade eingeschlagen worden. Es war ein Weg der höchsten Noth, der indessen zum schönsten Glück führte. Der arme Handwerksbursche war ein junger Hamburger Färber. Nach seines Vaters Tod war seine Mutter nach Straßburg im Elsaß zu ihrer dort verheiratheten Tochter gezogen. Als aber auch diese bald nachher starb, fühlte die alte Frau sich bei ihrem Tochtermann nicht mehr wohl, zum Kummer kam Aerger und verleidete ihr das Leben dort so, daß sie ihren Sohn dringend bat, ihr einen anderen Aufenthaltsort zu verschaffen. Der treue Sohn eilte, ihren Wunsch zu erfüllen; er war eben mit ihr auf der Reise nach Neufchatel, wo er in einer Kattunfabrik Arbeit erhalten hatte.

Da geschah’s nun, daß die Hochbetagte den Aufregungen der letzten Zeit und den Anstrengungen der Reise erlag; ein Fieber ergriff sie, und zu allem Unglück weigerte der Gastwirth, bei dem sie Einkehr gesucht, sich mit harten Worten, sie länger bei sich zu behalten. Da stand nun der arme Sohn händeringend im Hofe und wußte seines Elends keinen Rath. Dies sah ein Mühlhäuser Mädchen, eben jene Anna Maria des Zunftmeisters, und erinnerte den Jüngling, nach Mühlhausen um Hülfe zu gehen. Sie führte ihn selbst erst zu ihrer Mutter, aber da kamen Beide sehr schlecht an. Die Tochter wurde gescholten wegen ihres Fortlaufens und dem Handwerksburschen wurde als einem Landstreicher des Zimmermanns Loch gewiesen. Aber das brave Mädchen mußte eine Zukunftsahnung haben; sie verließ den Armen nicht, sondern zeigte ihm den Weg zur Frau Köchlin, von der es allbekannt war, daß sie noch keinen Unglücklichen verstoßen habe.

Frau Elisabeth ließ sofort den Handwerksburschen vor sich kommen und sagte zu ihm mit dem herzgewinnenden Tone der Theilnahme:

„Woher und weß Handwerks, mein Freund?“

„Kattunfärber aus Hamburg,“ antwortete schüchtern der Jüngling.

Der Frau aber entfuhr’s fast wie freudige Verwunderung:

„Kattunfärber? Ei, da könnte ich Euch vielleicht selbst Arbeit verschaffen. Aber vor allen Dingen wünscht Ihr doch Hülfe für Eure kranke Mutter. Beruhigt Euch, sie soll ihr zu Theil werden. Ich werde sie hierher schaffen und pflegen lassen. Was war übrigens denn Euer Reiseziel?“

„Neufchatel,“ antwortete der Handwerksbursch. „Dort sollte ich Arbeit finden.“

Ein Hamburger, der nach Neufchatel kommen soll, so sagte sich Frau Elisabeth, der muß seine Sache verstehen. Sie holte einige Kattunmusterchen ihrer Fabrik und fragte, wie sie ihm gefielen und was wohl daran fehle.

Der Handwerksbursch lächelte erst, dann meinte er, das Rothe getraue er sich doch besser herzustellen.

„Das kommt auf einen Versuch an!“ erwiderte die entschlossene Frau und wandte sich offen und ehrlich an ihn mit der Frage, ob er für Geld und gute Worte ihr sein Geheimniß mittheilen wollte. Schon aus Dankbarkeit für die seiner Mutter zugesagte Hülfe willigte er ein und so kam der merkwürdige Augenblick, wo Frau Elisabeth eigenhändig in das geheime Notizenbuch ihres Gatten das neue Recept der Alaun- oder sogenannten rothen Beize einschrieb. Gleich die ersten Versuche gelangen ausgezeichnet, und so war nun natürlich keine Rede mehr von Abreisen: Sohn und Mutter hatten eine neue Heimath gefunden und der Brief, welcher Herrn Köchlin die Auflösung der Fabrik anzeigen sollte, blieb ungeschrieben.

Das erste nach dem neuen Recept von dem Hamburger roth gefärbte Tuch erhielt Frau Elisabeth als Andenken an ihre kluge That, und bald nachher konnte sie die Wiege ihres Erstgeborenen damit schmücken. Sie hielt es werth und erzählte in späteren Tagen den Ihrigen noch oftmals die Geschichte von dem Hamburger Handwerksburschen und dem harten Riedisheimer Wirth, die beide die Ursache waren, daß die kaum versuchte Kattunfabrikation in ihrer Vaterstadt nicht sofort wieder abstarb, sondern dort heimischen Boden fand und zur möglichsten Großartigkeit aufblühte.

Der Hamburger aber saß nach wenigen Jahren schon so warm in Mühlhausen, daß er seiner Mutter eine Schwiegertochter in’s Haus führte, und das war natürlich Niemand anders, als jenes Mädchen, das ihn nach Mühlhausen geführt, des Zunftmeisters Anna Maria.

Mühlhausen war bekanntlich damals und bis 1798 ein kleines Schweizerstädtchen von etwa fünftausend Einwohnern; dann kam es an Frankreich. Köchlin-Schmalzer’s Indiennes-Fabrik wurde die Wiege einer industriellen Thätigkeit, welche die Stadt mit amerikanischem Wachsthum erfüllte und zu einer der wichtigsten Industriestädte Frankreichs erhob. Mit demselben Rang tritt Mühlhausen in das deutsche Reich ein und der deutsche Name Köchlin wird nun eine der angesehensten Firmen Deutschlands zieren.




Wo befindet sich der Sattler Friedrich Buchholz? Der Mann dieses Namens und Handwerks ist am 2. September vorigen Jahres als Deutscher aus Paris ausgewiesen worden, wo er seine Gattin, eine geborene Pariserin, die ihrer abermaligen Entbindung entgegensah, und seine drei Knaben, der älteste noch nicht zehn Jahre alt, zurücklassen mußte. Herr Buchholz wandte sich zunächst nach Darmstadt und gab von da den Seinigen beruhigende Nachricht. Jedenfalls um für seine Ledertaschenarbeit, seine Specialität, lohnendere Beschäftigung zu suchen, verließ er nach kurzer Zeit Darmstadt und hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Dagegen langte plötzlich Mitte April seine Gattin mit ihren vier Kindern, das jüngste fünf Monate alt, mit weniger geretteten Habe an Kleidern und Weißzeug, und durch die Reisekosten um alle Mittel gebracht, in Darmstadt an, wo die Gattin den Mann, die Kinder den Vater wiederzusehen hofften. Man denke sich den Jammer, die Verzweiflung der armen Verlassenen! Selbstverständlich nahm man, als dieser Vorfall in Darmstadt bekannt wurde, von allen Seiten sich der hülflosen Familie an. Ist nun auch durch die Hand der Liebe für sie und ihre Kinder vor der Hand gesorgt, so gilt es jetzt doch vor Allem, den Vater und Gatten über den Aufenthaltsort der Seinigen zu unterrichten. Deshalb bitten wir hiermit Jedermann, der’s vermag, Nachrichten über Herrn Buchholz an den Gasdirector Herrn Dr. Bracht in Darmstadt oder an die Redaction der Gartenlaube zu adressiren.




Für den Componisten der „Wacht am Rhein“, Carl Wilhelm,
gingen bis heute ein: H. Hindorf und G. König in Ruhrort 45 Thlr.; Ergebniß einer Verloosung von weiblichen Arbeiten durch Ed. B–d in Carlsruhe 71 Thlr. 12 Ngr. 7 Pf.; E. S. in Leipzig 2 Thlr.; gesammelt durch L. Weniger in Oschersleben 4 Thlr. 25 Ngr.; Turnverein in Colberg 3 Thlr.; aus einem Vocalconcert in Colberg 5 Thlr.; Sammlung in Iserlohn durch J. Baedeker 20 Thlr.; Sammlung eines Vereins in Barmen 30 Thlr. 16 Ngr.; Liedertafel in Dresden 30 Thlr.; Turnverein in Zittau 2 Thlr.; bei der Feier eines Sieges gesammelt von C. H. Schöpfer in Gilnhausen 14 Thlr. 7 Ngr.; Liederkranz in Neubrandenburg 15 Thlr. 10 Ngr.; E. R. in Hamburg 1 Thlr.; der Musikverein in Meerane 14 Thlr.; A. E. Schmidt in Unterlindow 5 Thlr. 10 Ngr.; Männergesangverein Orpheus in Lennep 5 Thlr.; W. Peters in Hamburg 5 Thlr.; durch die Expedition der Nordhäuser Zeitung 4 Thlr. 5 Ngr.; Gesangverein Orpheus in Greiz 2 Thlr.; Männergesangverein in Riga 50 Thlr.; Sammlung des Tageblattes in Schweinfurt 17 fl. rh.; durch Bürgermeister Schmidt in Verraden 1 Thlr. 13 Ngr.; E. S. in Crefeld 10 Thlr.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Herr Maier versendet befruchtete Forelleneier.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 8