Die Gartenlaube (1870)/Heft 33
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No. 33. | 1870. |
(Fortsetzung.)
Graf Ulrich war in dem Zimmer, in welchem wir ihn verließen, geblieben, bis die volle Nacht eingetreten. Dann war er gestiefelt und gespornt in den Hof hinabgegangen, nachdem er seinem Bedienten kurz und lakonisch gesagt, daß er einen Spazierritt im Mondscheine machen wolle; Joseph habe nicht auf ihn zu warten, falls er sich schlafen legen wolle. Im Hofe wandte er sich dem Stalle zu und ließ sein bestes Pferd satteln, ein Thier von ausgezeichneter Zucht und Schönheit. Auch dem Reitknecht befahl er, nicht auf seine Rückkehr zu warten, er solle nur sorgen, daß Hof- und Stallthor geöffnet bleiben; für seinen Rappen werde er, wenn er heimkomme, schon selbst sorgen.
Die beiden Diener, an solche Extravaganzen ihres Herrn gewöhnt, wenn er auch freilich bis jetzt noch nicht im Nachtdunkel – von Mondschein war in diesem Augenblicke wenig zu gewahren – seine Spazierritte gemacht, ließen ihn ziehen und hatten beide, als die Schloßuhr zehn schlug, schon ihre Schlafkammer aufgesucht.
Als diese Stunde von der großen Schloßuhr in einzelnen leise versummenden Tönen durch die stille Nacht gellte, war der Mond übrigens längst aufgegangen. Er stand jetzt voll und klar am Himmel und goß sein bläuliches mildes Licht über die schönen Kastanienwipfel auf der Terrasse hinter dem Schlosse, und mit dunkeln Schattenabsätzen zeichnete er die architektonischen Linien des Gebäudes ab, das so lautlos als ein sorgsamer Hüter geheimnißvollen schweigenden Lebens in seinem Innern dastand. Auch über zwei lebende sich bewegende Gestalten goß er sein Licht, zwei Männer, die, fern von einander, in verschiedenster Weise und verschiedenster Richtung ihren Zielen sich näherten. Der eine ging leise und geduckt; er kam aus dem ummauerten Garten, durch den wir früher die Thurmschwalbe schreiten sahen; er ging jetzt über die Planken der Laufbrücke, welche an dieser Seite über den Graben führte; aber leisen behutsamen Schrittes, wie um das Aechzen der Bretter unter seinen Füßen zu vermeiden. Dann wandte er sich links, schlich im Schatten an der Schloßwand entlang, bis er an die Ecke des großen Thurmes gelangte, und um diese sich wendend verschwand er selbst dem Auge des Mondes unter dem dichten Schatten der Kastanien.
Der andere Mann – weit davon – war hoch zu Roß; er ritt in gestrecktem Trab, über eine unchaussirte Straße, die über ein weites Blachfeld führte; rechts dehnten sich, so weit der nächtliche Horizont sich erstreckte, bleichgraue Kornfelder aus, gleich einem See, über dem sich Dächer und Baumwipfel mit ihren verschwommenen Umrissen fern und zerstreut wie einzelne Inseln hoben. Links erhob ein Höhenzug seine niedrigen Berglehnen, fast schwarz, mit dunkeln Waldkämmen darüber. Das Pferd, das ihn trug, schoß dahin, als ob es von Stahlfedern in seinen Gelenken und Fesseln fortgeschnellt würde, so regelmäßig und weit ausgreifend und schnell; und dabei warf es zuweilen wie in freudiger Erregung über sein eigenes kraftgeschwelltes Bewegen und flugartiges Dahinschießen den Kopf auf und schnob in die frische Nachtluft hinein eine Wolke von Dampf.
Der Reiter, der es nicht anders als mit weichem Schenkeldruck zu befeuern hatte, erreichte jetzt das Ende des Blachfeldes und sah sich nun auf einer sich westwärts abdachenden Höhe; eine weite Thallandschaft lag vor ihm, in die es sanft, unmerklich fast, hinabging. Die Siedelungen, die wie dunkle Schiffe über der Fluth der Kornfelder lagen, waren wenige; aber ganz fern noch, inmitten der Landschaft, erhoben sich Häuser und hohe Bäume, oder waren es Thürme? … es war nicht zu unterscheiden, man sah nur dunkle wirre Linien in nebelhaftem Duft; auch dauerte es noch lange, noch bedurfte es einer langen unausgesetzten Anstrengung des edeln Thieres, bis sich erkennen ließ, wie auf einzelnen Dächern, auf Giebeln und Essen, auf schwarzen rundbäuchigen Kappen von Thürmen der falbe Glanz des Mondes lag.
Und dann noch eine Weile, eine Zeit, die sich nur noch nach Minuten berechnete, und ein Pflaster war erreicht, und häufiger und häufiger tauchten rechts und links kleine Häuser aus rohem Ziegelbau auf, hart an der Straße, mit Höfen, auf denen Hunde anschlugen, mit kleinen Fenstern, hinter denen hie und da noch Licht schimmerte; dann kamen Hecken mit dunkeln Bohlenthüren in der Mitte, Mauern, überragt von kleinen Gartenhäusern – und endlich that sich dicht vor dem Reiter ein hohes, offenes Stadtthor auf.
Er zog die Zügel an, das Pferd ging Schritt, es schlug mit dem Hufe auf die Planken einer Brücke. unter dem Thor ging eine Schildwache auf und nieder. Sie rief dem Fremden ein „Qui vive?“ entgegen; dieser wollte anhalten und Auskunft über sich geben – die Schildwache aber schien es für überflüssig zu halten, ihn anzuhören, sie winkte verdrossen mit der Hand und der Fremde ritt weiter.
Die Straßen der Stadt schien er zu kennen; er wandte sich rechts, ritt durch einige stille und schmale Gassen, dann wieder [514] durch ein Thor und gelangte so in eine breite Baumallee, die durch eine Art Park oder Gartenanlage – rechts und links zogen sich mehrere Baumgänge, nur schmaler als der mittlere, hin – auf ein kleines Schloßgebäude zuführte. Es war ein Bauwerk im Rococo-Stil, das selbst das vergrößernde Mondlicht nicht zu etwas Imposanterem als einem mäßigen Lust- oder Jagdschloß machte. Zwei Schildwachen schritten vor demselben auf und ab – Leute in einer eigenthümlichen Uniform; die Amaranthfarbe ließ die Nacht nicht erkennen, nur das viele Troddelwerk an Tschako- und Nestelschnüren war wahrzunehmen.
Der Reiter stieg ab und schritt, sein Pferd hinter sich, auf das offene Gitterthor zu, das in den kleinen Schloßhof führte. Eine der Schildwachen hielt ihn an. Er gab eine Auskunft. Der Mann ließ ihn weiter gehen. Auf den Schloßhof fiel heller Lichtschimmer der Portallaternen; der Reiter band sein Pferd an das Hofgitter, es der Hut der Schildwachen überlassend, und schritt auf das Portal zu, um den Ring im Löwenmaul des Klopfers zu heben und bescheiden wieder niederfallen zu lassen. Eine Weile mußte er harren; dann öffnete sich das Portal, ein Thürsteher, der sich einen eben eilig übergeworfenen Rock zuknöpfte, empfing ihn mit einem verdrießlich entgegengeworfenen Rufe, einer hastigen Frage in französischer Sprache.
Noch einmal gab der Fremde eine Auskunft; der Portier öffnete darauf das Portal vor ihm, ließ ihn in die Eingangshalle treten und führte ihn in ein links liegendes Parterrezimmer, in welchem eine Lampe brannte.
„Setzen Sie sich, Monsieur, und warten Sie einige Augenblicke; ich werde den Adjutanten Seiner Hoheit benachrichtigen,“ sagte der Pförtner.
Der Mann ging, nachdem er erst zwei Wachslichter auf dem Kaminsims vor einem hohen Spiegel entzündet. Der Fremde setzte sich auf den nächsten Stuhl und lehnte sich ermüdet aufathmend zurück.
Er mochte etwa zehn Minuten gehabt haben, sich so von seinem scharfen und weiten Nachtritt auszuruhen, als der Pförtner wieder erschien, die Thür vor einem kleinen schwarzen rasch auftretenden jungen Manne zu öffnen, der mit einer höflichen Verbeugung sich dem Fremden näherte und in französischer Sprache sagte:
„Was steht so spät zu Ihren Diensten, mein Herr? Sie sind der Graf Mora … Morrau …“
„Graf Maurach ist mein Name,“ versetzte der nächtliche Reiter sich erhebend und die Verbeugung erwidernd, „ich bin seit einigen Monaten Besitzer der Herrschaft Maurach im Departement der Ruhr und Seiner Hoheit Unterthan.“
Der Adjutant verbeugte sich abermals und indem er auf den Stuhl deutete, sagte er:
„Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen und mir zu sagen, was Sie im Dienste Seiner Hoheit herführt. Sie haben ohne Zweifel eine wichtige Mittheilung im Dienste des Großherzogs zu machen …“
„In der That; und worum es sich handelt, ist dies: ich habe von meinem Vorsitzer auf der Herrschaft Maurach neben dem ganzen Gutsinventar ein Pferd von ausgezeichneter Schönheit und Tüchtigkeit geerbt. Es ist von englischem Blut, acht Jahre alt und von einer ganz seltenen Leistungsfähigkeit. Es ist namentlich ein Traber, wie es wenige giebt. Vor einigen Wochen hat eine das Land wegen der Remonteverhältnisse und zur Untersuchung des Pferdebestandes durchziehende Commission, bei welcher sich der Stallmeister Seiner Hoheit befand, das Thier gesehen; der Stallmeister hat es für den persönlichen Dienst des Großherzogs zu erwerben gewünscht und den Preis von hundertzwanzig Napoleond’or dafür geboten. Das edle Thier war mir nicht feil, aber …“
„Mein Herr,“ fiel ihm hier der Adjutant mit ziemlich verdrießlicher Miene in’s Wort, „für Roßkammgeschäfte – entschuldigen Sie den Ausdruck – wählen Sie eine ziemlich späte Stunde, und außerdem muß ich Ihnen bemerken, daß diese nicht in meine Dienstbranche gehören, sondern in die des Stallmeisters Seiner Hoheit.“
„Ich weiß, ich weiß,“ entgegnete rasch Graf Ulrich, „doch bitte ich Sie, mich bis zu Ende anzuhören. Es handelt sich nicht um ‚Roßkammgeschäfte‘; ich sagte Ihnen, daß mein Pferd mir nicht um Geld feil ist; in der That ist es für Jemand, der ein Pferd zu schätzen weiß, der ein Reiter ist, wie unser gnädigster Großherzog, mit Geld auch nicht zu bezahlen. Doch habe ich mir sagen müssen, daß Niemand in der Welt würdiger sei, es zu besitzen, als eben der beste Reiter in der Welt; und deshalb komme ich, es Seiner Hoheit als einen Ehrfurchtsbeweis seines getreuesten Unterthanen anzubieten. Das Pferd steht im Hofe, Sie hören seinen Hufschlag, mein Herr, und ich bitte Sie, es in den Marstall führen zu lassen.“
Der Adjutant, der diese Worte mit einer sich aufhellenden Miene angehört hatte, wollte einfallen, als Graf Ulrich fortfuhr:
„Nur Eines möchte ich mir dagegen ausbitten; ich besitze eine kleine Waffensammlung, und ich würde mich sehr glücklich schätzen, wenn ich für dieselbe, zugleich als ein Andenken an meinen gnädigen Souverain und einen Huldbeweis Seiner Hoheit, den Säbel zum Gegengeschenk erhalten könnte, den der Großherzog heut im Dienst getragen hat.“
„Ah, ohne Zweifel, ohne Zweifel,“ fiel lächelnd der Adjutant ein, „wird Seine Hoheit Ihnen diesen Huldbeweis gern gewähren … ich würde Ihnen nur den Vorschlag machen, Herr Graf, morgen sich zur Audienz melden zu lassen; die Stunde ist zwischen Zwölf und Eins … der Großherzog wird erfreut sein, Sie zu sehen, Ihnen seinen Dank auszusprechen und Ihnen persönlich das Andenken zu überreichen, welches Sie als Gegengabe für Ihr so kostbares Geschenk wünschen …“
„Ich sehe ein, Monsieur,“ erwiderte Graf Ulrich, „daß dies das ordnungsmäßige Verfahren wäre. Doch gebieten mir ganz ungewöhnliche Umstände, Interessen der schwerwiegendsten Art, welche morgen meine Anwesenheit daheim fordern, noch in dieser Stunde um die Gewährung meines Wunsches zu bitten. Wäre das nicht der Fall, so wäre ich sicherlich nicht in dieser Stunde der Nacht gekommen! Es ist sehr möglich, daß ich schon morgen gezwungen bin, meine Herrschaft, mein Haus zu verlassen; ich durfte darum nicht zögern, meinen Entschluß auszuführen, wenn ich das treue Thier, an dem mein Herz hängt, in den Händen sehen wollte, in denen es mir eine Befriedigung des Herzens ist, es zu sehen, und das Andenken zu erringen, an dem mir so viel gelegen …“
Der Adjutant sah einen Augenblick schwankend und unschlüssig den seltsamen Mann an, der mit einer solchen Bestimmtheit sprach und so dringend die Willfahrung in einen für ihn so nachtheiligen Handel verlangte.
„Darf ich das Pferd sehen?“ sagte er zögernd und setzte mit einem forschenden Blick in des Grafen Ulrich Züge hinzu: „Sie werden Bekannte hier am Hofe haben … Sie kennen …“
„Ah, Sie sind mißtrauisch,“ unterbrach ihn lächelnd Graf Ulrich; „ich verdenke es Ihnen nicht, da es in der That eine etwas ungewöhnliche Stunde ist, in welcher ich in dies Fürstenschloß einbreche; ich bin Graf Ulrich Maurach, wie ich Ihnen zeigen kann, ohne daß wir die Bekannten in ihrem Schlummer zu stören brauchten welche ich etwa hier am Hofe haben könnte.“
Graf Ulrich zog seine Brieftasche hervor und nahm mehrere mit seiner Adresse versehene Briefe heraus; der Adjutant lehnte ab, einen Blick darauf zu werfen, mit einer Verbeugung sagte er:
„O nein, o nein, ich müßte sehr kurzsichtig sein, wenn ich einem Herrn von so viel Distinction gegenüber an seinen Worten oder gar an seiner Identität zweifelte! – Sie wollten mich das Pferd sehen lassen!“
Graf Ulrich ging voraus zum Zimmer hinaus; draußen kam der Portier, der sich jetzt wieder sorglich in seine Livree geknöpft hatte, ihnen das Portal zu öffnen; beide schritten auf den Hof; obwohl das Mondlicht im Schwinden begriffen war, gaben die Portallaternen Helligkeit genug, die Schönheit des Thieres zu erkennen, welches ungeduldig mit den Nüstern schnob, als es seinen Herrn wahrnahm, und mit heftigem Kopfaufwerfen an den Zügeln, die es festhielten zerrte.
„Bitte,“ sagte der Adjutant, „treten Sie auf einen Augenblick wieder ein; ich will mit dem Kammerdiener Seiner Hoheit sprechen, auf daß dieser ihn von Ihrem Anliegen unterrichte; der Großherzog hat sich in seine Gemächer zurückgezogen, aber er wird noch nicht im Schlafe liegen … also gedulden Sie sich einen Augenblick, Herr Graf.“
Der Adjutant hatte Graf Ulrich an die Thür des Empfangzimmers zurückgeführt; dann, während der letztere hier wieder eintrat, wandte er sich einer teppichbelegten Treppe im Hintergrund zu und verschwand lautlosen Schrittes darauf. Ulrich hörte für eine Weile in seinem Wartezimmer nur noch den Hufschlag und [515] das Schnauben seines Pferdes im Hofe und das schwere Schreiten der Schildwachen draußen vor dem Gitterthor des Hofes.
Nach fünf Minuten kam der Adjutant zurück. Er trug einen Säbel in goldblanker Messingscheide mit goldener Troddel daran in der Hand, und ihn Ulrich mit einer Verbeugung überreichend, sagte er: „Herr Graf, ich habe die Ehre, Ihnen diese Waffe zu überreichen; Seine Hoheit ertheilt Ihnen bereitwillig dies Zeichen seiner Gewogenheit und vollen Gnade; den Dank für die Huldigung, welche Sie ihm dargebracht, wünscht er Ihnen recht bald persönlich aussprechen zu können.“
Diese kleine Rede war die officielle Redaction derjenigen, welche Joachim Murat soeben in Wirklichkeit gehalten, als der Kammerdiener in sein Schlafzimmer getreten und ihn mit dem Auftrage, den er vom Adjutanten empfangen, am Einschlafen gehindert hatte. Seine Hoheit hatte sich auf die andere Seite geworfen und geantwortet:
„Ah … das Pferd wird das sein, von dem mir St. Avignon gesprochen hat! Man will es mir schenken? Sehr gut! Aber dieser heilige Nicolaus, der seine Geschenke in der Nacht bringt, ist ein Narr. Man sollte ihm eine Narrenpritsche geben. Aber da er, wie Du sagst, einen Säbel will, gebt ihm einen. Geh’, Giles, ich will schlafen.“ –
Graf Ulrich erhielt diese Worte in jener anderen Form übermittelt; es war ziemlich gleichgültig in welcher, er hörte auch wenig darauf, als er hastig und erfreut den Säbel an sich nahm und die Kuppel sich umschnallte. Dann nahm er seinen Hut und machte eine Verbeugung, um sich zu verabschieden. Der Adjutant begleitete ihn bis an das Schloßportal, ließ noch einige höfliche Worte fallen, daß er sehr bald die Bekanntschaft des Herrn Grafen erneuern zu dürfen hoffe, daß der Herr Graf sich sicherlich sehr bald nach dem Befinden seines schönen Pferdes zu erkundigen kommen werde, und was dessen mehr war … Graf Ulrich war schon draußen, rasch davonschreitend, den Säbel Joachim Murat’s an der Seite.
Der Portier aber lief hinter ihm über den Hof, um in den nahen Marstall den eben erhaltenen Befehl des Adjutanten zu bringen, daß man den Rappen Graf Ulrich’s abzuholen und für das schöne Thier, das so unerwarteter Weise die Zahl der Leibrosse Seiner Hoheit vermehren sollte, zu sorgen komme.
Graf Ulrich vertiefte sich unterdessen in die Schatten der Allee vor dem Schlosse, schritt dann in die Stadt hinein, und nachdem er einige Gassen durchwandert, stand er vor dem Einfahrtsthor eines an einem freien Platze liegenden Gebäudes still; über dem Thor war ein großes Schild angebracht; bei Tageslicht war darauf der kaiserliche Doppelaar zu erkennen, der trotz des Umschwungs der Zeiten noch unangetastet diese Stelle wie eine fremde Exterritorialität hütete. Das Gebäude war der noch unter fürstlich Thurn- und Taxis’scher Verwaltung stehende ehemalige Reichspoststall. Graf Ulrich klopfte mit dem Knopf seiner Reitpeitsche daran. Das Thor that sich vor ihm auf, um ihn einzulassen; nach einer Viertelstunde öffnete es sich wieder, diesmal mit weiten Flügeln, und zwei Reiter ritten daraus hervor, ein Postillon in der gelben Jacke und hohen Courierstiefeln und hinter ihm Graf Ulrich. Ein solcher Ritt mit Courierpferden oder Postkleppern war in jenen Tagen für den, welcher keine eigene Chaise, vor die er Postpferde legen lassen konnte, besaß, immer noch die beliebteste Art, sein Fortkommen zu bewerkstelligen.
Es war am andern Morgen. Graf Ulrich hatte sein Schloß wieder erreicht, als die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel stand; Schloß Maurach aber hatte noch in tiefer Stille dagelegen, von einem duftigen feuchten Morgennebel umschleiert, jenem eigenthümlich beruhigenden und beschwichtigenden Zustand der Atmosphäre, der ganz danach angethan war, das tiefe Schlafbedürfniß zu steigern, welches der ermüdete junge Mann in allen Gliedern fühlte; nicht blos in den schwer gewordenen Lidern, auch in den Schultern und Knieen und Füßen, in denen überall ein schweres Gefühl von Mattigkeit beinahe schmerzhaft wurde. Er hatte vor dem Thore seinen Postknecht abgelohnt und mit seinen Gäulen heimgeschickt, dann war er unbemerkt und unaufgehalten durch den Schloßhof und das offen gelassene Portal in seine Wohnung geschritten, hatte sich entkleidet, den Säbel Murat’s, die Trophäe seines Gewaltritts in der verflossenen Nacht, auf den Stuhl vor seinem Bette geworfen und sich zur Ruhe gelegt, um bald in einen tiefen Schlaf zu sinken.
Wie lange er in den Armen dieses erquickenden Schlummers gelegen, wußte er durchaus nicht, als er daraus geweckt wurde. Er hörte Stimmen und die raschen fest auftretenden Schritte mehrerer Männer im Hofe; sie näherten sich und verhallten dann; sie mußten in das Gebäude eingetreten sein. Jetzt glaubte er auffallend hastiges Hin- und Hergehen auch im Innern des Schlosses zu vernehmen; er wartete einen Augenblick, ob nicht Joseph eintreten um ihm zu melden, daß etwas sein Aufstehen und seine Anwesenheit erfordere. Aber Joseph kam nicht; Graf Ulrich’s Lider schlossen sich wieder: er entschlummerte noch einmal, unbekümmert um das Geräusch, das wieder erstorben war.
Als er wieder erwachte, hörte er abermals Stimmen auf dem Hofe. Er unterschied die Stimme seines Reitknechts, der ausrief:
„Aber ich kann darauf schwören, daß es nicht später als halb neun Uhr, höchstens halb neun Uhr war!“
Eine andere, Ulrich nicht bekannte Stimme antwortete in scheltendem und ungläubigem Tone etwas. Dann entfernten sie sich.
„Zankt man sich dort um die Stunde, wann ich gestern fortgeritten bin?“ fragte sich Graf Ulrich, sich ausstreckend. „Vielleicht glauben sie gar, ich sei nicht heimgekommen, weil das Pferd fehlt. Ich werde aufstehen müssen, um sie zu beruhigen!“
Trotz dieses Vorsatzes blieb Graf Ulrich ruhig liegen. Er schien nach der Anstrengung der Nacht die Ruhe, das bequeme Sichstrecken gar zu bequem zu finden. Er stützte den Kopf auf den Arm und begann in ein tiefes Sinnen zu gerathen.
„Es wird eine hübsche Ueberraschung für sie sein,“ flüsterte er für sich hin. „Welche Miene sie machen wird! Welche reizende komische Miene! Mit aufgeworfener Lippe! Mit trotzig zusammengezogenen Brauen und mit Blicken, die doch zu so viel Trotz gar nicht stimmen werden! Nicht im mindesten!“
Er lachte fröhlich auf … Die Vorstellung Melusinens, wie sie aus seiner Hand den Säbel Murat’s, den sie verlangt, entgegennehmen werde; der Kampf ihres inneren Ueberwundenseins und ihres sich sträubenden Trotzes, der sich dabei in ihren Mienen spiegeln müsse, ließ sein Herz hoch aufschlagen. Von dieser Vorstellung war er so voll, daß er nur mit Mühe seine Gedanken davon losreißen konnte; auch kehrten sie fortwährend zu dieser Scene zurück – er kostete im Voraus das ganze Glück dieses Augenblicks, trotzdem, daß er doch so viel Wichtigeres zu überdenken, sich über eine so unendlich bedeutungsvollere Angelegenheit klar zu werden hatte, noch in dieser Stunde eine Lösung dafür suchen mußte! Hatte er nicht Frau Wehrangel versprochen, an diesem Morgen zurückzukehren und mit ihr weiter über die Angelegenheit zu verhandeln, in welcher sie ihm gestern Aufschlüsse gegeben hatte? Hatte er nicht in dieser Sache einen höchst entscheidenden, für seine ganze Zukunft entscheidenden Entschluß zu fassen? Hatte er nicht gründlich und gewissenhaft zu überlegen, mit welchen Gründen er jene Frau bewegen sollte, von einem Vorhaben zurückzukommen, das sie gefaßt, das sie ihm ausgesprochen und das ihm seine Ehre gebot, in ihr bis auf’s Aeußerste zu bekämpfen? Es war sonderbar – alles das lag auf ihm, und er, er dachte doch nur mit halben Sinnen daran, und mit mehr als der andern Hälfte – an den Säbel Murat’s!
In diesem Nachdenken und seinem trägen sich im Bette Strecken wurde er plötzlich und sehr unerwartet durch mehrere Personen unterbrochen, welche rasch in sein vorderes, sein Wohn- und Arbeitszimmer traten, beinahe hereinstürmten.
Da die Verbindungsthür zwischen seinem Schlafzimmer und diesem vorderen Zimmer ein wenig geöffnet stand, erkannte er sie leicht; die geschlossenen Fensterladen in seinem Schlafzimmer ließen dagegen ihn hinter seinen Bettvorhängen den Eintretenden ganz unsichtbar bleiben.
Es waren Melusine, der Vicomte, ein Herr in mittleren Jahren, der Graf Ulrich bald nach seiner Ankunft in Maurach einen Besuch gemacht hatte, um sich ihm als den Patrimonialrichter der Herrschaft vorzustellen; ein anderer, wie ein Schreiber aussehender Mensch und hinter ihnen der Pastor Demeritus, Herr Lohoff … Joseph hielt sich scheu an der in den Saal führenden Eingangsthür.
Eine merkwürdige Hast und Unruhe lag in den Bewegungen aller dieser Menschen, das Gepräge der Aufregung und Spannung [516] auf ihren Mienen – Melusinens Züge waren ganz ungewöhnlich bleich; der Vicomte trug sein Taschentuch in der Hand, womit er sich ein Mal über das andere über die Stirn fuhr – er ließ sich, während die Uebrigen zu dem Schreibtische des Grafen Ulrich vortraten, auf einen Stuhl neben der Eingangsthür niederfallen.
Der Richter setzte sich in den Stuhl Ulrich’s und winkte seinem Schreiber.
„Setzen Sie sich und schreiben Sie, Herr Actuar!“ sagte er dabei. „Die übrigen Zeugen sollen im Saale bleiben, bis ich sie vorrufen lasse,“ fügte er, zu Joseph gewendet, hinzu. „Auch der Reitknecht soll sich nicht entfernen – Mademoiselle de la Tour, die Protokoll-Aufnahme, zu der ich schreiten muß, wird lange Zeit in Anspruch nehmen und Ihre Gegenwart ist dabei nicht erforderlich; wenn Sie also wünschen, sich zurückziehen zu dürfen …“
„Ich wünsche bleiben zu dürfen, Herr Richter,“ versetzte Melusine mit bewegter Stimme; „ich habe Ihnen nachher eine Erklärung abzugeben, wenigstens meinem Vater bei einer solchen beizustehen.“
„Wie Sie wünschen, Mademoiselle; nehmen Sie Platz unterdeß. Herr Actuar, schreiben Sie Datum und Eingang der Verhandlung.“
Der Actuar war eben beschäftigt, auf einem gebrochenen Bogen, der oben an der Spitze die gedruckten Worte „Großherzogthum Berg, Departement der Ruhr, Canton W.“ zeigte, die gewöhnliche Eingangsformel protokollarischer Aufnahmen niederzuschreiben, als sämmtliche Anwesende, wie auf’s Aeußerste betroffen, auf und in die Höhe fuhren und ein erschrockenes Ah! von allen Lippen tönte.
Der Gegenstand dieser Ueberraschung war Niemand anders als Graf Ulrich Maurach selbst, der im höchsten Grade erstaunt über den Vorgang in seinem Wohnzimmer, dessen Zeuge er war, sich erhoben und sich rasch in seine Kleider geworfen hatte und jetzt, noch beschäftigt, seinen grünen Jagd- und Morgenrock über die Schultern zu ziehen, auf der Schwelle des Schlafgemachs erschien.
Bei der ungeheuren Ueberraschung, welche sein Erscheinen hervorrief, mußte sich eine ähnliche und nicht minder große in seinen Zügen spiegeln. Er stand wenigstens einen Augenblick verstummt da, blickte auf die tiefer erbleichende Melusine, dann in das Gesicht des mit offenem Munde ihn anglotzenden Richters und rief endlich aus: „Meine Herrschaften, der Besuch, mit dem Sie mich so früh beehren, würde mir erfreulicher sein, wäre er weniger räthselhaft! Was führt Sie her, was ist geschehen, was bedeutet dies Alles?“
„Ah … und das erriethen, das wüßten Sie nicht?“ rief der Richter aus.
„In der That nicht, was Sie veranlaßte, hier eine Verhandlung in meinem Zimmer vorzunehmen … ohne nur die Güte zu haben, sich vorher bei mir erkundigen zu lassen, inwiefern mir dies genehm ist oder nicht! Feder, Tinte und Papier wird sich auch unten in der Schreibstube meines Rentmeisters finden …“
„Wir haben nicht mit Ihrem Rentmeister zu thun, sondern mit Ihnen, Herr Graf,“ versetzte der Richter, der jetzt ganz den Aplomb wiedergefunden hatte, den er für die Bethätigung seiner obrigkeitlichen Würde selbst seinem Gerichtsherrn gegenüber geboten erachtete – denn noch war Graf Ulrich sein Gerichtsherr, die Regierung Murat’s hatte bis heute erst die Administration des Landes neugebildet, die Jurisdictionsverhältnisse waren bestehen geblieben.
„Wenn das ist,“ fiel Graf Ulrich ein, „dann muß ich bitten, daß Sie Ihre Verhandlung mit mir mit einer Erklärung beginnen und zwar mit einer unumwundenen, was Sie herführte!“
„Uns führt her,“ versetzte der Richter, „das, was in der verflossenen Nacht auf Schloß Maurach geschehen ist; die Pflicht der Obrigkeit, die Absicht, den Verbrecher zu entdecken, der eine solche blutige Schandthat beging …“
Graf Ulrich sah auf, als habe er nicht recht begriffen. Er sah von Einem zum Andern. Der Richter, der diesen Blick mit zusammengezogenen Brauen beobachtete, hätte ihn abgespiegelt oder in irgend einer Weise festgehalten auf seinem noch weißen Protokollbogen fixiren mögen. … Melusine unterdeß begegnete diesem Blicke mit zornigem Aufflammen der Augen; sie rief, Ulrich einen Schritt näher tretend, aus: „Man hält Sie für den Mörder, Graf Ulrich!“
„Mörder? Mich? Wessen? Wessen Mörder?“
„Der armen Frau, der Frau Wehrangel, Herr Graf,“ sagte mit schwerer Betonung der Richter.
„Was … die Frau ist ermordet … die Frau Wehrangel ermordet? Und ich … ich soll das gethan haben?“
Der Ausruf Ulrich’s hatte etwas von so unverstellter und offenbarer Ueberraschung und ungeheucheltem Erschrecken, daß Niemand im ersten Augenblick die Anklage zu wiederholen wagte. … Der Richter, ihn groß ansehend, versetzte nur: „Die Frau Wehrangel ist diesen Morgen in ihrem Zimmer in ihren Nachtkleidern ermordet gefunden. Es sind ihr drei Wunden mit einem Dolchmesser beigebracht, eine letale in den Hals, eine zweite in den Oberarm und eine dritte ebenfalls tödtliche in die Brust …“
Graf Ulrich sah, während der Richter dies sagte, ihn noch mit demselben Blicke der Bestürzung an; dann aber drückte sich auf seinen Mienen ein auffallender Zorn aus und mit flammenden Blicken rief er aus: „Und weil dies Schreckliche geschehen, in meinem Hause geschehen, kommen Sie, um nun ohne Weiteres hier in meinem Zimmer wider mich als den Mörder zu instrumentiren?“
Allgemein war, gleich nach dem Eintreffen der französischen Kriegserklärung, die Nachricht diesseits verbreitet, daß die berühmten, oder richtiger berüchtigten, afrikanischen Truppen den Krieg zuerst über die deutsche Grenze zu tragen bestimmt seien. Schon in der letzten Woche des Juli bestätigte sich denn auch dieselbe, da preußische Vorposten mit Turcos in Plänkeleien geriethen, bei denen es die letzteren vorzogen, den Rückzug zu nehmen.
Es wird dem Leser daher gewiß genehm sein, diese mit Unrecht vielgefürchteten, ziemlich irregulären Soldatenhaufen näher kennen zu lernen, wie der Schreiber dieser Zeilen zu wiederholten Malen sie und ihre Exercitien auf der großen place d’armes im Fort de Vincennes und namentlich im Lager von Chalons aufmerksam beobachtet hat. Er urtheilt vom rein objectiven Standpunkte aus, wozu er um so mehr sich verpflichtet fühlt, als zum ersten Male der deutsche, speciell der norddeutsche und preußische Soldat, einigen der französischen Armee ausschließlich eigenen Waffengattungen gegenübersteht, die nach und nach ad hoc geschaffen wurden und alle ihre eigenthümliche, wesentlich von anderen bekannten angenommenen verschiedene Kampfesweise haben. Den ungeübten deutschen Krieger werden diese anfangs verblüffen, ihm auch wohl imponiren; für seinen erfahrenen Cameraden wird sie sich schnell als taktischer Humbug, als Uniforms-Arlequinade entpuppen.
Unter den obigen Special-Typen steht der Zuave unbedingt obenan. Sein ursprünglicher Stamm geht sicher weit in die wenig bekannte Geschichte Nordafrikas zurück. Gewiß ist, daß man schon seit länger als einem Jahrhundert einen District der späteren Provinz Constantine kannte, Zuavia genannt, dessen männliche Bewohner von Alters her den Berberfürsten, ähnlich wie die für Frankreich, Neapel und den Papst geworbenen Schweizer, als gemiethete Leibwache dienten. Ob sie den bereits im siebenten Jahrhundert eingewanderten Arabern oder den etwas später auftretenden Mauren entstammen, läßt sich, beim Mangel jeglichen historischen Anhaltepunktes, sehr schwer feststellen; wahrscheinlich sind die ursprünglichen Zuaven eine Mischlingsrace.
Als nach fast dreiwöchentlichem Kampfe General Bourmont 1830 Algier und die Casba (Citadelle) mit Sturm nahm, leistete gerade jene Miethstruppe den heftigsten Widerstand. Marschall Clauzel, der Bourmont bald ersetzte, ein erfahrener Degen aus der alt-napoleonischen Schule, die er von unten auf durchgemacht, erkannte sofort, was er an den waffengeübten zuavischen Söldlingen hatte, und brachte sie durch gute Löhnung und sonstige äußerliche Begünstigungen schnell auf französische Seite. So bildeten die Zuaven recht eigentlich den Stamm der eingeborenen Truppen. Es dauerte jedoch nicht allzulange, so setzte man ihre [517] durch eiserne Disciplin geknebelten Reihen zahlreiche Exemplare der zügellosen französischen Jugend, unter dem Collectivnamen „gamins de Paris“ bekannt. Ihre Unstätigkeit und Rauflust, in knappe Formen gepreßt, hat dem Vaterlande wesentliche Dienste geleistet, so daß unter den jetzigen (vier) Zuaven-Regimentern fast nur Franzosen und sehr wenig Eingeborene zu finden sein dürften. Den ersten (Garde-) Zuaven anzugehören, ist eine absonderliche Ehre, und dieses Regiment ergänzt sich vorzugsweise aus der Elite der drei übrigen.
Der Angriff der Zuaven ist stets ein ungestümer, mit überlautem „vive l’empereur!“ verbundener; ihre frühere Weise, nach der ersten Salve zum stürmenden Bajonnetangriff überzugehen, in dem sie eine außerordentliche Wucht entfalteten, hat sich mit der Einführung der Hinterladungs-Handfeuer-Waffen natürlich geändert. Das bei ihnen sehr beliebte Handgemenge kommt jetzt kaum mehr vor; sie haben dafür schießen (anstatt wie früher knallen) und das sogenannte aufgelöste Gefecht lernen müssen. In Beidem haben sie bei ihrer unleugbaren natürlichen Anstelligkeit sich bald zurechtgefunden und sind unzweifelhaft in diesem Augenblicke die besten leichten Infanteristen der französischen Armee. Wären sie zahlreicher (man vergesse nicht, daß jene vier Regimenter, wie man auch in Paris prahlen möge, höchstens je fünfzehnhundert Mann stark sind!), so könnten sie der norddeutschen Armee stellenweise ziemlich gefährlich werden. Als wirksames Gegengewicht besitzt übrigens nach dieser Richtung hin die preußische Armee fünf Regimenter (zwanzigstes, vierundzwanzigstes, fünfunddreißigstes, sechszigstes, vierundsechszigstes) überwiegend Berliner oder doch märkische, mit Spree- oder Havelwasser getaufte, ausgetragene Kinder, die, was Bravour, Manövrirtüchtigkeit und – übermüthige Schelmenstreiche anlangt, jenen zu jeder Minute gewachsen sind und nicht mit Unrecht sich bei Düppel etc. den Namen der preußischen Zuaven erworben haben.
Der französische Zuave ist schließlich in jeder Beziehung vortrefflich ausgerüstet. Der den kurzgeschorenen Kopf umhüllende, meistens grüne Turban, die rothwollene, eng anliegende gestickte Jacke, die überaus bequemen, weiten Pumphosen, verbunden durch kurze Ledergamaschen mit den praktische Schuhen, die am Hacken mit weichem Wildleder ausgelegt sind, um das Durchreiben zu vermeiden, giebt ihm ein hübsches, wenn auch für deutsche Augen etwas theatralisches Ansehen. Was seine Waffe betrifft, so erhielt er zuerst (mit den grünen Chasseurs de Vincennes) das Chassepot-Gewehr mit dem breiten, geschweiften Haubajonnet. Wir wollen hier gleich unsere offene Meinung, die sich gar bald bestätigen dürfte, abgeben, daß diese Büchse schwerlich, auf die Länge der Zeit, dem seit Jahr und Tag ausgegebenen verbesserten Zündnadelgewehr gewachsen sein wird. Wir können, nach jahrelanger Erfahrung, kein Zutrauen zu einer Schußwaffe haben, zu deren Fertigstellung organische Stoffe (hier ein Kautschuk-Präparat, behufs luftdichter Verpackung der Explosionskammer) erforderlich sind. Ueberdies gestehen selbst geübte französische Corporale ein, daß bei dem Chassepot ziemlich häufige Versager vorkommen, was sie der mangelhaften Herstellung der Patrone, die überdies stark schleimt, zur Last legen, Mißstände, die beim Dreyse-Gewehr nie bemerkt wurden.
Jedenfalls in Anwandlung einer seltsamen Laune hat der Kaiser Napoleon gegen Ende der fünfziger Jahre jener immerhin schätzbaren Truppe einen (man verzeihe den militärischen Kraftausdruck!) „Affenschwanz” in den sogenannten Turcos gegeben. Es läßt sich dies auch nur dadurch erklären, daß der Kaiser in militärischen Dingen (und das sagen nicht wir, sondern erfahrene Genie-Officiere seiner Armee!) über den Dilettantismus nie hinausgekommen
[518] ist, selbst seine Lieblings-Fachwaffe, die Artillerie, nicht ausgenommen. Seinem corsischem Blute mochte die raffinirte Grausamkeit der im Aufstand gegen ihn begriffenen Kabylen und ihrer schwarzen Weiber imponiren, die den armen französischen Gefangenen die Ohren abschnitten, ihnen (die Tambours ausgenommen) die Daumen abhieben, die Nägel an Händen und Füßen abkniffen, sie dann in der glühendsten Sonnenhitze an Bäume festbanden und ihnen sonst noch die entsetzlichsten Folterqualen bereiteten, und er scheint dadurch auf den Gedanken gekommen zu sein, die Furchtbarkeit dieser Barbaren gegen die Civilisation auszunutzen. In der That erschienen sie 1859 auf dem österreichisch-französisch-italienischen Kriegsschauplatze zum ersten Male in Europa und flößten den naiven Natursöhnen Mährens, Böhmens, Kärnthens etc. grimmige Furcht ein. Ihr katzenartiger, springender Angriff, mit wüstem, unarticulirtem Kriegsgeheul verbunden, das Niederwerfen ihrer Opfer, denen sie dann nicht selten durch Gurgelabschneiden den Garaus machten, das Bewachen ihrer total ausgeplünderten Gefangenen mit blitzenden Augen und lechzendem Knurren, gleich wilden Hunden, ihre fast thierische Lebensweise schüchterte den ehrlichen Oesterreicher ein und ließ ihn in diesen Bastarden von verdorbenen Mauren und Arabern mit Negerweibern menschliche Ungeheuer erblicken. Erst nachdem die kaltblütigen Tiroler Kaiserjäger einige derselben in flagranti auf jenen schwer verpönten Verletzungen des Kriegsrechts civilisirter Nationen ertappten und sie folgerichtig auf der Stelle füsilirten (wovon dem Feinde durch Parlamentäre sofortige Anzeige gemacht wurde), fand es Kaiser Napoleon angethan, diese zügellose Truppe zurückzuziehen und ihr später wenigstens die Elementarregeln der Disciplin angedeihen zu lassen. Eine andere Liebhaberei jener spitzbubenhaften Truppe im italienischen Feldzuge war auch, in tollem Angriff vorzustürmen, plötzlich zurückzuweichen und so den Gegner zur raschen Verfolgung hinzureißen. Während des eilfertigen Rückzuges nun fiel da und dort einer der Turcos wie verwundet oder todt zu Boden, aber nur, um gleich darauf wieder lebendig zu werden und nun mit feiger Niedertracht den Oesterreichern, die inzwischen vorübergeeilt waren, in den Rücken zu fallen. Die Oesterreicher machten solcher Infamie, sobald sie dieselbe entdeckt hatten, einfach dadurch ein Ende, daß sie an jedem auf dem Boden liegenden Turcos die Spitze ihrer Bajonnete probirten. Als eigentliche Soldaten haben die Turcos fast gar keinen taktischen Werth, und wir zweifeln keinen Augenblick, daß einige Compagnien handfester preußischer oder sächsischer Grenadiere aus Altpreußen oder der Oberlausitz die ganze, übrigens höchstens neunhundert Mann starke Schwefelbande gelegentlich in die Pfanne hauen oder in einer halben Stunde in Grund und Boden schießen werden. – Die Ausrüstung der Turcos stimmt im Wesentlichen mit der der Zuaven überein, nur daß bei jenen die blaue Jacke an Stelle der rothen tritt und ihnen nur gestattet ist, einen weißen Turban zu tragen. Als unreinen Bastard-Muhamedanern ist ihnen die Farbe des Propheten (grün) versagt.
Was erfahrene preußische Officiere, die ihre Exercitien ebenfalls zu beobachten Gelegenheit hatten, von ihrem burlesken Gebahren halten, davon giebt eine Anekdote Zeugniß, die der alte Oberst v. P., zuletzt Commandeur eines altpreußischen Landwehrregiments, zu dem die bekannten riesigen Hünen der Danziger Kornträger gehören, geliefert hat. König Wilhelm, der davon gehört, daß der alte Haudegen in Chalons gewesen war, fragte ihn gelegentlich: „Na, alter Camerad, Sie haben ja nun auch diese furchtbaren Turcos gesehen, was halten Sie von ihnen? Was würden Sie Ihren Leuten für ein Commando geben, wenn diese afrikanischen Panther auf Sie losgesprungen kämen?“
„Das ist sehr einfach, Majestät; ich würde rufen: ‚Kinder, greift Euch doch ’mal die Affen.‘ Und ich gebe Ihnen mein Wort, Majestät, sie greifen sie feste; Majestät müßten ’mal blos die Vordertatzen von meinen Kerls genauer besehen!“
Eine fast ebenso unnütze Truppe sind die sogenannten Zephire, eine poetisch seinsollende Uebersetzung von „Windbeutel“. Von ihren ehrenwertheren Cameraden werden sie schlechtweg ebenso schmeichellos, als zweideutig „soldats-vauriens“ (Kanonenfutter) genannt. Sie recrutiren sich (ihre Effectivstärke schwankt daher zwischen beträchtlich auseinanderliegenden Ziffern) aus dem Abhub sämmtlicher französischer Regimenter. Alles, was sich schwer in die Begriffe „Mein und Dein“ finden kann, was fortgesetzt widerspenstig, dem Trunke ergeben ist und durchaus nicht gut thun will, kommt (Officiere zur Strafversetzung schwerster Art mitinbegriffen) zu diesem Strafregiment in Algerien, dem einzigen in der französischen Armee, bei dem (wir wissen das ganz bestimmt!) die Prügelstrafe noch zu den gesetzlichen Strafen gehört und auch häufig genug applicirt wird.
Im Uebrigen hat der Zephir höchstens den Muth solcher verlorene Söhne, die Nichts zu riskiren, aber Alles zu gewinnen haben – ein Umstand, der Einzelne unter ihnen, die früher in anderen Regimentern etwas gelernt hatten, zu ganz tüchtigen Soldaten macht, doch ist ihre Zahl verschwindend klein, auch vernachlässigen sie sich gar zu leicht. Vor einem festen, geschlossenen Angriff (wir haben das gelegentlich wiederholt in der Vorstadt St. Antoine bei Paris Eisenarbeitern gegenüber, die mit Zephiren in’s Raufen kamen, gesehen) ergreifen sie regelmäßig, schimpfend und schreiend, das Hasenpanier; überdies zeigen Alle, aus naheliegenden Gründen, großes Talent zum Desertiren. – Ihre Ausrüstung ist einfach und bequem: kurzer, blauer Rock, der die Mitte zwischen Waffenrock und Jacke hält, Lederriemen mit Cartouche, Miniégewehr mit Bajonnet und schwerem Seitengewehr zum Schlachten und Holzschlagen, blaue oder weiße Pumphosen mit Gamaschenschuhen und, in Rücksicht auf etwaige Beute, möglichst großer Tornister und weiter Schnappsack. Ihre Kampfesweise ist ein wüstes Durcheinander mit unaufhörlichem tollen Geschrei; zu einer geschlossenen Colonne sind sie schwer zu formiren, und man überläßt ihnen deshalb gern den sogenannten Guerilladienst, zu dem sich diese wenig muthigen Schreier auch am besten eignen.
Eine ziemlich achtbare Truppe ist dagegen die eingeborne algierische der Spahis oder Sipahis. Ausschließlich aus rein arabischem Blute entsprossen, erfreute sie sich stets besonderer Aufmerksamkeit Seitens der Gouverneure, die sie auch, ob ihres Ernstes und ihrer, wenigstens nach afrikanischen Principien, anständigen Haltung, verdient. Der in einen weißen Burnuß gehüllte, magere, aber sehnige, ausdauernde Reiter wird von einem ebenfalls schlanken und sehnigen, blitzschnellen, unverwüstlichen Pferde getragen, ein Muster für den Ordonnanz- und Vedettendienst, für welchen letzteren ihm überdies seine anerkannte Verschlagenheit zu Statten kommt. Er ist nüchtern und hat fast gar keine Bedürfnisse, die sich füglich in eine Handvoll Mais, Reis oder Datteln, ein Schälchen Kaffee und ein Beutelchen Tabak zusammenfassen lassen. Daß sie mit Nutzen im gegenwärtigen Kriege (ihre Zahl dürfte schwerlich sechshundert überschreiten) zu verwenden sind, bezweifeln wir. Ganz abgesehen davon, ob der Spahi dem deutschen, nordischen Klima widerstehen wird, so ist sein Pferd weichhufig und an kein anderes Futter als den heimischen Mais (Durrah) gewöhnt, was herbeizuschaffen sehr schwierig sein dürfte. Ihre Kampfesweise ist ein ebenso windschnelles Attaquiren wie Verschwinden, ein hübsches, aber ziemlich unschädliches Manöver. – Ihre übrigens größtentheils europäischen Officiere tragen, abweichend von ihren Untergebenen, eine rothe Husarenjacke mit fünf Reihen Schnüren, weite rothe Hosen mit Lederbesatz, einen mächtigen geraden Pallasch und Sattelpistolen. Der gemeine Spahi bewaffnet sich dagegen mit der einheimischen, fast sechs Fuß langen Flinte, dem haarscharfen breiten Handschar und langem Dolch.
Desto brauchbarer und nützlicher im Dienste, zu Roß und zu Fuß, sind die Chasseurs d’Afrique, eine geübte, im Waffendienst erprobte Truppe, zur Zeit etwas über zweitausend Mann stark und, wenn wir nicht irren, in vier oder fünf Regimenter vertheilt. Sie haben Jahre hindurch mit den wilden Eingeborenen sich herumschlagen müssen, dabei jeden Vortheil erfassen und vom Felddienst ein tüchtig Stück gelernt. Tapferkeit und Schlagfertigkeit sind ihnen in keiner Weise abzusprechen, wenn sie auch keine besseren Scharfschützen sind, als die meisten ihrer französischen Cameraden, deren lebhaftes Temperament sie immer noch viel zu viel „knallen“ und in die Luft schießen läßt. Es ist unglaublich, welch’ eine Unmasse von Munition schon bei den Manövern an einer Waffe förmlich vergeudet wird, deren Leistungsfähigkeit für einen längeren Feldzug noch nicht einmal festgestellt ist. Sonst ist der Chasseur d’Afrique ein sattelfester Reiter (dessen Pferd auch minder empfindlich, als das des Spahi) und versteht, als dressirter Fechter, seinen langen geraden Pallasch auf Hieb und Stich ziemlich sicher zu führen, d. h. wenn er dazu kommt. Er bleibt deshalb unter allen Umständen, neben dem Zuaven ein beachtenswerther Feind. Mit letzterem hält er denn auch aller [519] Orten gute Cameradschaft, was insofern zu bemerken ist, als Zuave, Turco und Zephir, wo sie sich treffen, einander zu befehden und mit fortwährenden Eifersüchteleien und Spöttereien zu verfolgen pflegen. Wie der Zuave kämpft auch der Chasseur selten in geschlossener, sondern fast immer in gelöster Colonne. Es können daher nur unsere, freilich sehr zahlreichen, kaltblütigen Scharfschützen und Füsiliere mit sicherem Erfolge gegen beide manövriren.[1]
„Es muß in der deutschen Nation das Gefühl des Unwillens erhalten werden über den Druck und die Abhängigkeit von einem fremden übermüthigen Volke!“ Also rief Stein, „der Deutschen Edelstein“, als welchen ihn Arndt pries – „le nommé Stein“, „der Namens Stein“, wie das berüchtigte Aechtungsdecret des ersten Napoleon sagte – schon im Jahre 1808, und wer einen Blick auf die reiche Literatur wirft, welche gelehrt und populär die Zeit von Deutschlands größter Erniedrigung und endlicher Befreiung zum Gegenstand ihrer eindringlichen Schilderung gemacht hat, muß zugeben, daß die Mahnung des großen Patrioten und Staatsmannes nicht ungehört verhallt ist, sondern in einer Weise fort und fort gewirkt hat, die uns, den Enkeln, nunmehr die segensreichste und herrlichste Frucht verspricht.
Das nationale Bewußtsein unseres Vaterlandes ist auf das Lebhafteste angeregt; die Begeisterung, mit welcher Deutschland im Jahre 1813 den gewaltigen Kampf mit dem großen Würger Napoleon aufnahm und von der wir immer als von einer Sache erzählen hörten, die in ihrer wahren Größe und Herrlichkeit gar nicht gedacht werden, gar nicht mehr wiederkehren könne, hat die deutschen Herzen auf’s Neue ergriffen, die Zeiten der Zersplitterung und Schwäche sind vorüber, und Deutschland ist als Weltmacht wieder in die Geschichte eingetreten. Um diesen glänzenden Ideen zum dauernden Siege zu verhelfen, ist es – und das ist der Sinn der Stein’schen Worte – nicht die schlechteste Hülfe, den Blick selbst in sturmbewegter Gegenwart nach rückwärts zu wenden und in die Erinnerung gerade die traurigsten Blätter der Geschichte zurückzuführen auf denen die Folgen nationaler Entwürdigung mit unverlöschlicher Schrift geschrieben stehen. Es wird von Nutzen sein, in dem Augenblicke, da das französische Heer, die räuberischen, blutdürstigen, mordgierigen Horden Afrikas an seiner Spitze, zum Einbruch bereit an unseren Grenzen steht, sich jener Unbilden zu erinnern, die das deutsche Volk – Dank seiner Uneinigkeit – auf seinem eigenen Boden von den Franzosen erlitten, wie diese in unserem großen, aber machtlosen Vaterlande gehaust, geplünderte Städte zerstört, Landschaften verwüstet, die Unterdrückten mit Schmach und Hohn überschüttet und ganze Länderstriche vom deutschen Reiche losgerissen haben. Die Erinnerung solcher Schmach, die, wir wiederholen es, nur durch deutsche Zwietracht möglich wurde, muß unserem Volke nun zur Wohlthat werden, wenn sie seine Herzen mit Scham und Zorn erfüllt, und darum rollen wir heute, indem wir den vortrefflichen Arbeiten A. Tellkampf’s, dann Venturini’s und Anderer folgen, vor dem Blick unserer Leser ein Bild auf, das von der höchsten Verworfenheit Zeugniß geben soll, mit welcher die französische Gewaltherrschaft unsere Zustände vergiftete.
Die riesenhafte Größe der französischen Erpressungen in Norddeutschland ist bekannt; der Gesammtwerth derselben betrug, soweit solche durch Daru’s Hand gegangen waren, nach dessen eigener Angabe die Summe von 513,744,410 Franken und 90,483,511 Franken Werth an Lieferungen von Lebensmitteln, Bekleidungsgegenständen, Hospitalbedürfnissen etc., zusammen also 604,227,921 Franken, außer dem, was die einzelnen Orte und Einwohner den oberen Befehlshabern, den Officieren, Commissarien und Soldaten hatten geben müssen.
Was aber außer dem Druck unerschwinglicher Kriegssteuern und anderer Erpressungen im nördlichen Deutschland die Gemüther am tiefsten gegen die fremde Gewaltherrschaft erbitterte, war die polypenartig durch die ganze Bevölkerung sich verbreitende, von Paris ausgehende und zum Theil direct von dorther geleitete geheime Polizei. Mit ihrer Hülfe hoffte Napoleon jede Regung zum Versuch, das ihnen verhaßte Joch abzuschütteln, bei den in Fesseln gehaltenen Deutschen schon im Keim ersticken zu können, und nicht leugnen läßt es sich, daß unter Fouché’s Leitung das Institut seiner geheimen Polizei mit der verrufenen spanischen Inquisition glorreich wetteiferte.
Mit besonderem Erfolge entfaltete sie sich im Königreiche Westphalen, wo ein Decret vom 27. Januar 1808 den Staatsrath Pothau zum Polizeipräfecten ernannte, dem am 18. September der Chevalier Legras de Bercagny als Generaldirector der haute-police nachfolgte. Dieser Bercagny, ein feingebildeter Franzose von umfassenden Kenntnissen, dabei ein schöner Mann, liebenswürdig, wenn er wollte, und von hinreißender Beredtsamkeit, war in hohem Grade leidenschaftlich und daher zu den ärgsten Gewaltsamkeiten geneigt. Der deutschen Sprache nicht mächtig, mußte er sich auf die französischen Rapporte und Uebersetzungen seiner Untergebenen verlassen, die oft voller Ungenauigkeiten und Entstellungen waren und daher das Maß seiner Ungerechtigkeit nur steigerten.
Zu seinem Generalsecretär wählte er einen gewissen Savagner, der früher bei einem Gerichtshofe in Straßburg gestanden hatte, aber seines unordentlichen Lebens wegen entlassen war. Bald wurde er der Liebling seines Chefs, da er unruhigen Geistes und immer geschäftig, alle Triebfedern der Maschine in unaufhörlicher Bewegung erhielt und als vollendeter Roué alle Elemente der sittlichen Verkommenheit aufzuspüren und in die Dienste der hohen Polizei zu ziehen wußte. Hierin unterstützten ihn zwei Subjecte gleichen Schlages, aber wo möglich noch gemeinerer Natur, der Polizei-Inspector Würtz und der Agent Kroschky.
Letzterer, ursprünglich Mitglied einer Gaunerbande und als solcher im Gefängniß, fand durch seine Concubine Gnade bei Savagner und Anstellung als Agent der geheimen Polizei. Er zeigte sich unerschöpflich in Berichterstattungen, die ihm um so leichter und geläufiger wurden, als er sehr sinnreich in Erdichtungen zum Verderben Anderer war. Mehr bedurfte es nicht, um Savagner ganz zu gewinnen. Am Ende verwickelte sich aber Kroschky in solche Verbrechen, daß er arretirt und criminell behandelt wurde. Nie war ein öffentliches Verhör von dem gegen ihn erbitterten Publicum so überlaufen wie das seinige. Er wurde mit einem unschuldigen Bürgermädchen confrontirt, welches er durch teuflische List zu verführen gesucht; nur ein Wunder ihrer Standhaftigkeit rettete sie noch, als er sie sogar schon bedroht hatte, daß, wenn sie sich nicht in seinen Willen und in seine höheren Zwecke fügte, ihr Vater seinen Erwerb bei Hofe und ihre ganze Familie ihr Brod verlieren sollte. Deshalb und noch anderer Streiche wegen verfiel er in Gefängnißstrafe, aus der er zwar mit Hülfe seines Gönners zum allgemeinen Entsetzen wieder Freiheit fand, doch gelang es der Vorstellung der Bürgerschaft, seine Entfernung endlich dauernd zu erwirken.
Ein College und Nebenbuhler des Generalsecretärs Savagner war der Schweizer Schalch, früher Commis in einer Galanteriewaaren-Handlung in Paris, der sein Geschäft aber mehr als jener im großen Styl zu behandeln wußte und sich weniger in das schmutzige Detail der niedrigen Region einließ. Er selbst genoß sein Sündenbrod größtentheils in Unthätigkeit; denn er ließ nur immer Andere handeln, setzte sich alsdann zu Gericht, verdammte oder sprach frei, band und löste nach Willkür, oder theilte sich in den Raub, den ihm seine dienstfertigen Geister zugeführt hatten. Am längsten und liebsten verweilte er in dem Hintergebäude des Hôtels der Polizei, wo die geheimen Sachen im strengsten Sinne des Wortes geschmiedet und betrieben wurden und dessen Schwelle kein Fuß eines Profanen betreten durfte. Hier beschäftigte man sich mit Dechiffriren, mit geheimen Beantwortungen, mit Fabrication von erdichteten Briefen, die, bald von einem reisenden Kaufmanne, bald unmittelbar aus London datirt, in dem westphälischen Moniteur als echt aufgetischt und aufgedrungen wurden.
Es mag an der Vorführung der hier genannten Werkzeuge [520] der Napoleonischen Polizei genügen, um wenigstens an einzelnen Beispielen zu zeigen, welche Subjecte in jener schmachvollen Zeit der Gewaltherrschaft dazu verwendet wurden, mit der Ehre und Freiheit, ja mit der ganzen Existenz der Unterdrückten ein so ruchloses Spiel zu treiben, daß die Feder sich scheut, die Einzelheiten nach dem Berichte der glaubwürdigsten Zeugen wiederzuerzählen.
Unterstützt wurde die hohe Polizei des westphälischen Reiches durch den Obersten Bongars, der als Oberstlieutenant und Maréchal des logis dem Könige Jerome aus Frankreich gefolgt war, und der später, nach Bercagny’s Beseitigung, als General-Inspector der Gensd’armerie an die Spitze der hohen Polizei des Königreichs gestellt wurde. Dieser Bongars, ein Mann von hohem, stattlichem Wuchse und bedeutungsvollen Zügen, hatte die Verstellung so in seiner Gewalt, daß sein Gesicht im schlichten, bürgerlichen Leben nie ohne Anmuth war und selbst zur Stunde der furchtbaren Inquisition etwas Zutrauenerweckendes behielt. Er war also vermöge seines Charakters und des Aeußern ganz für die Stelle geeignet, mit welcher ihn das Vertrauen des Königs belehnt hatte. Als geborener Franzose redete er das Deutsche sehr schlecht, d. h. nur gebrochen. Verhöre pflegte er nach Fouché’s Muster gar nicht anzustellen. Hatte er aber Männer zur Inquisition, welche entweder Muth und Entschlossenheit genug besaßen, um sich dreist gegen ihn zu erklären, oder bei welchen er Geistesgegenwart und Kenntnisse genug voraussetzte, um wohlgegründete Einwürfe von ihnen erwarten zu müssen, so hielt er einen Troß seiner Gesellen in der Nähe, welche bald zugegen sein mußten, wenn er den Hauptinhalt der Anklage auftischte, bald im Zimmer auf und nieder schritten, den Verhafteten strenge in’s Auge fassen und vom Kopfe bis zu den Füßen in dem Augenblicke fixiren mußten, wo seine Vertheidigung beginnen sollte.
Nur auf Bereicherung dachte Bongars. Seine beispiellose
Frechheit hieß jedes Mittel gut, welches dahin führte. Ob durch
die schändlichen Erpressungen, die er verübte, Familien zu Grunde
gerichtet wurden oder nicht, das galt ihm gleichviel. Er setzte für
Geld Freiheit, Ehre, selbst das Leben Anderer auf das Spiel, und
hätte durch seine schändlichen, oft alles menschliche Gefühl empörenden
Handlungen, die er mit despotischer Gewalt verübte, die Strafe
grober Verbrecher auf sich geladen, und doch blieb er ungestraft,
weil er das Ohr seines furchtsamen Königs für sich hatte.
Der sogenannten hohen Polizei blieb unter Bongars nichts heilig. Man öffnete ohne Scheu Privatbriefe und las sie durch, um die Personen, an welche sie gerichtet waren, für jede noch so unbedeutende Zweideutigkeit an Gelde, Ruf und Ehre, Gesundheit und Leben zu strafen. Die Reisenden mußten sich gefallen lassen, daß die Gensd’armen ihre Kleidung durchsuchten, vorgefundene Briefe erbrachen und durchlasen.
Die Zahl der Gensd’armen belief sich auf mehr als neunhundert Mann. Sie waren im Königreiche vertheilt und zum Theil mit den schärfsten Instructionen der hohen Polizei versehen. So vertheilten sie z. B. an die Cantonmaires gedruckte Schemata zu einer Art von Conduitenliste für ihre Pflegebefohlenen und Ortsmaires; erkundigten sich sorgfältig nach den Umständen und Gesinnungen der Landgeistlichen, ihren Sitten und sogar nach dem Inhalte ihrer Kanzelvorträge. Außerdem wimmelte es im Lande von geheimen Agenten, Spionen, verrätherischen Dirnen und Polizeiknechten, die jedes nur verdächtig scheinende Wort verriethen.
[521] Daß die Pariser Polizei mit der westphälischen in genauer Verbindung stand, ist eine bekannte Sache; aber bemerkenswerth ist es, daß unter den Kasseler Polizei-Officianten sich mehrere von Frankreich besoldete Individuen befanden, die von allen Vorfallenheiten am westphälischen Hofe nach Paris Bericht erstatten mußten, und es ist zu vermuthen, daß hierin großentheils der Grund der Geringschätzung des Kaisers gegen seinen ganz charakterlosen Bruder lag. Zu diesen geheimen Referenten, die ein doppeltes Gehalt bezogen, gehörte namentlich der oben erwähnte Savagner, und die endliche Entdeckung seines doppelgängigen Spiels mußte denn zuletzt auch seinen Sturz herbeiführen. Er wurde des Landes verwiesen, Bercagny aber, der den Unwissenden spielte, mußte seine Stelle an Bongars abtreten.
Aber die französischen Gewalthaber in Deutschland begnügten sich nicht mit der ihnen zu Diensten stehenden Einwirkung der hohen Polizei, sondern trafen, wo es ihnen genehm war, selbsteigene polizeiliche Verfügungen im großartigsten Styl. Bekannte Beispiele davon sind die empörenden Verhaftungen und Hinrichtungen des Buchhändlers Palm in Nürnberg und des Herrn von Finkh in Oldenburg. Ein drittes giebt das Verfahren der Franzosen in Braunschweig durch Einmischung des Marschalls Davoust. Dort, wo seit dem Herbste 1811 das wegen seiner Bedrückungen, Bravaden, Anmaßungen und thätigen Verunglimpfungen verhaßte dritte französische Kürassierregiment garnisonirte, war der Citronenhändler Claus beschuldigt worden, den Kürassiercapitain Gaignemaille wegen ehebrecherischen Umgangs mit seinem Weibe erschossen zu haben. Claus ward, ohne Eingeständniß des Mordes, vom Criminalgerichtshofe des Ocker-Departements zum Tode verdammt und in Braunschweig hingerichtet, wogegen sich Niemand setzte. Dennoch fand der Marschall Davoust nothwendig, ein Truppencorps von sechstausend Mann nach Braunschweig zu senden, alle Thore der Stadt zu sperren, geladene Kanonen mit brennenden Lunten auf den Hauptplätzen gegen die Straßen richten, sämmtliche Bürgerschaft entwaffnen, viele schamlos Beschuldigte gefänglich einziehen und unter Mitwirkung des westphälischen Kriegsministers eine Militärcommission anordnen zu lassen, welche beauftragt wurde, über die Verbrechen und Unternehmungen gegen die Sicherheit der großen Armee in Braunschweig militärisch zu richten. Nachdem man provisorisch einige westphälische Soldaten, die Händel mit Franzosen auf dem Tanzboden gehabt, zum schreckenden Exempel todt geschossen, fand sich bei genauerer Untersuchung, daß alle Verbrechen gegen die große Armee auf lügenhafte Berichte schändlicher Buben (worunter sich auch der Obrist des dritten Kürassierregiments und einige nichtswürdige Polizeispione befunden haben sollen) hinausliefen und jenes gewaltig angekündigte Strafexempel gänzlich unnöthig sei.
Inzwischen waren die Braunschweiger, besonders ihr Maire, dergestalt eingeschüchtert worden, daß Bekanntmachungen und Ermahnungen in Menge,
gedruckt und ungedruckt, ergingen: „sich doch, um des eigenen Besten willen, ja keiner Beleidigung des französischen Militärs schuldig zu
machen und dadurch wohl gar den Zorn des großen Kaisers oder den Grimm
seines Oberfeldherrn Davoust auf die arme Stadt Braunschweig zu ziehen.“
Als durch solche Gräuel, deren die Einwohner des Fulda- und Werra-Departements schon mehrere früher erfahren, des Schreckens eiserner Thron fest gegründet zu sein schien, nahm man sogar die geheime Meinung und deren trauliche Mittheilung in gesellschaftlichen Cirkeln in Anspruch. Unterm 1. August 1812 erließ nämlich Bongars in alle Departements den Befehl, daß jeder, weß Standes und Ranges er auch sei, der sich erlaubte, Nachrichten über die Lage der Armeen im Norden zu verbreiten, welche nicht officiell und durch die im Umfange des Königreichs erlaubte öffentlichen Blätter bekannt gemacht worden, auf der Stelle arretirt, nach Kassel zur Rechenschaft gebracht und dort so lange in Verwahrung gehalten werden sollte, bis er denjenigen angegeben, von dem er die Nachricht erhalten habe. Der Polizeispione wurden täglich mehr; Männer und Weiber, vornehmen und geringen Standes, traten nun in Sold der geheimen Polizei. Das Wort, der Blick, die Mienen sogar wurden beobachtet; an öffentlichen Orten mußte vollends jeder Ausdruck bewacht werden. Auf den Pässen hatte man geheime Signalements, um sämmtlichen französischen und westphälischen Polizeibehörden jeden Reisenden gleich als unschädlich, verdächtig oder der Bewachung würdig zu bezeichnen. So ward des Schreckens Herrschaft gegründet, die Volksmoralität in ihren geheimsten Quellen vergiftet und das Landvolk selbst durch fremde und einheimische Buben, die sich dazu hergaben, bewacht. Jeder Polizeispion freute sich, wenn er irgend etwas auszuwittern vermochte, was als gefährlich nach Kassel gemeldet werden konnte, und es ist ebenso unglaublich als erwiesen, daß Väter und Mütter selbst ihre Söhne [522] fürchteten, die im Solde der Kasseler hohen Polizei standen, und mit angstvoller Heimlichkeit vertraute Freunde ermahnten, jedes Wort ja zu erwägen, wenn der spionirende Herr Sohn Polizei-Agent mit von der Gesellschaft sei.
Ueber die Wirksamkeit der geheimen Polizei in Magdeburg haben Papiere des dortigen General-Polizeicommissärs Schulze, eines Schlesiers von Geburt, Aufschluß gegeben, deren man habhaft wurde, als die französische Garnison (1814) abziehen mußte. Sie bewiesen, wenn es überhaupt dazu eines schriftlichen Beweises bedurfte, wie die Einwohner der so arg gemißhandelten Stadt bei jeder ihrer Klagen über den Druck, unter dem sie seufzten, bei dem leisesten Wunsche, dem Staate wieder anzugehören, unter dessen Regierung sie so glückliche Tage verlebt hatten, der Gefahr bloßgestellt waren, von irgend einem feilen Buben angeklagt und ihrer Aemter, ihres Vermögens, ihrer Freiheit beraubt zu werden. In jenen Papieren erstattet Schulze Bericht von dem, was seine Helfershelfer gegen ihre Mitbürger ausgespäht hatten. Zur Empfehlung des Einen sagt er: „Sein Geschäft verpflichtet ihn, den ganzen Tag über am Packhofe gegenwärtig zu sein, und hat er mithin Gelegenheit, die Gesinnungen der Kaufleute, Handlungsdiener, Schiffer, Schiffsknechte, Fuhrleute, Packhofsarbeiter zu erforschen.“ Zur Empfehlung eines Zweiten: „Er besucht täglich die von den Bürgern der Mittelclasse frequentirten Tabagien und Weinkeller, sowie die vier ersten Freudenhäuser etc.“ Er lieferte ferner eine Charakteristik von sechsundsiebenzig Einwohnern Magdeburgs und deren Umgebungen aus der Zahl der Staatsbeamten, Domänenpächter, Gutsbesitzer und angesehener Kaufleute. In dieser Schilderung, welche doch nur die Tendenz hatte, den Chef des Polizeiwesens von ihren Gesinnungen gegen König und Staat zu unterrichten, sprach er auch von ihren Vorzügen, Mängeln und Gebrechen in Beziehung auf Kopf und Herz; ja, er mischte sogar dasjenige ein, was von diesen Personen, deren Frauen und Töchtern die scandalöse Chronik sagte. Dadurch setzte er aber seinem niedrigen Geschäfte die Krone auf, daß er vorschlug, ob man nicht Domestiken zu Agenten der geheimen Polizei annehmen und ihnen zur Pflicht machen wollte, die dem Staate nachtheiligen Aeußerungen ihrer Herrschaften und der sie Besuchenden zu referiren.
Anfangs wurden die Agenten der geheimen Polizei – vereidigt. In diesem Eide hieß es unter Anderm: „Ich – schwöre: daß ich laut der vom Herrn Maire mir gegebenen Vocation und Instruction dem Könige, dem Staate und der Stadt gewissenhaft dienen, mit Klugheit und Vorsicht auf Entdeckung aller Verbrechen gegen König und Staat mich legen will, – so wahr mir Gott helfe und ich selig zu werden wünsche.“
Einige Staatsbeamte und andere Einwohner einer westphälischen Stadt feierten 1813 den Geburtstag des Königs von Preußen. In der Nacht des 27. August wurden sie verhaftet. Man führte sie nach Kassel, warf sie in’s Castell und ließ sie unter Beraubung aller Bequemlichkeiten wochenlang im Kerker schmachten. Unstreitig würden sie nach Frankreich abgeführt worden sein und dort ein hartes Schicksal erfahren haben, wenn sie nicht durch die am 28. September unter dem Befehl des Generals Tschernischef in Kassel eingerückten russischen Truppen befreit worden wären. Später hat es sich aufgeklärt, daß ein in ihrem Wohnorte angestellter Staatsbeamter – ein Agent der geheimen Polizei – ihr Ankläger gewesen war. Von der stattgehabten Geburtstagsfeier hatte er nicht nur dem General-Polizeicommissär Moisez, sondern auch gleichzeitig dem Chef der Polizei in Kassel Anzeige gemacht, damit der erstere doch ja nicht die Frevler mit einer Warnung entlasse, welche Milde er bei ähnlichen ihm gemachten geheimen Anzeigen beobachtet hatte.
Das Wichtigste unter den dem General-Polizeicommissär Schulze abgenommenen Papieren war ein von ihm geführtes Journal, woraus sich ergab, welcher Personen er zur Ausforschung der Stellungen der Verbündeten und ähnlicher Kundschafterei, zur Beförderung von Briefen nach auswärtigen Oertern etc. sich bedient hatte. Die Zahl der deshalb zur Untersuchung gezogenen Personen belief sich auf fünfzig. An Douceurgeldern hatte er mehr als fünftausend Thaler in Ausgabe gebracht. Diesen Fond erhielt er theils vom Gouverneur, theils aus der Stadtcasse, theils vom französischen Hauptspionsbureau, welches in Dresden seinen Sitz und vom 1. Januar bis 8. September 1813 die Summe von 259,823 Franken verausgabt hatte.
Nirgends aber war die hohe Polizei Napoleon’s sorgfältiger organisirt als in Hamburg, wo man den geheimen Verbindungen Deutschlands mit England auf die Spur zu kommen suchte. Hier, wo der Marschall Davoust, Fürst von Eckmühl, als General-Gouverneur seit 1810 residirte und d’Aubignosc – früher in Hannover – zum Generaldirector der hohen Polizei ernannt war, hatte ein Conseil spécial die ausdrückliche Bestimmung, dem geheimen Verkehr mit England nachzuspüren, ihn zu unterdrücken und alle englischen Waaren verbrennen zu lassen. Freilich hinderte dies nicht, daß dieselben in Menge eingeschmuggelt wurden, da Bourienne, der als ministre plénipotentiaire in Hamburg weilte, seine Stellung vortrefflich zu seiner Bereicherung zu benutzen wußte, indem er für klingende Münze Erlaubnißscheine zum Eingang der Waaren ausstellte.
Am schlimmsten erging es den Angeklagten unter den deutschen Bewohnern Hamburgs, seit man der Generaldirection der hohen Polizei von Paris aus zwei Subjecte als Gehülfen zugesandt hatte, die wegen Mißbrauchs ihrer Stellung entlassen waren, einen gewissen Verteuil und Lassaussay, früher Unterpräfect zu Nantes. Diese beiden nur auf Raub ausgehende Menschen, denen die verworfensten unter den subalternen Agenten der Polizei sehr bald ihren eifrigsten Beistand leisteten, wußten Befehle zu Arrestationen und Confiscationen zu erschleichen und erlaubten sich alle möglichen Bedrückungen bei Ausführung der Maßregeln gegen den englischen Handel, sowie unter dem Vorwande, Verschwörungen und die Verbreitung aufrührerischer Schriften zu wittern.
Doch es sei genug an den angeführten Beispielen, um zu zeigen, wie das Institut der hohen französischen Polizei vor Allem das nördliche Deutschland umsponnen und überall die verworfensten Subjecte zu seinen Diensten hatte. Ein Glück, daß, von der Noth getrieben, für seine Familie Brod zu erwerben, auch mancher rechtliche Mann zu einem Polizeiamte sich bequemen mußte, wo er Gelegenheit fand, durch Rath und Warnung Viele vor Verfolgung und Unglück zu schützen und überhaupt die Härten der von Paris vorgezeichneten Maßregeln in der Ausführung nach Möglichkeit zu mildern.
Als ich vor etwa zwölf Jahren zum ersten Male als hier Angesiedelter in schöner Mondnacht über den stillen Marktplatz schritt, über den Markt von Leipzig, traten mir aus der Vergangenheit desselben Zug um Zug hochragende Gestalten und bunte Menschenwogen vor das geistige Auge, die in dem Bilde der Weltgeschichte an uns vorüberziehen, und mit Ehrfurcht beschritt ich diese Stätte, wie ein Heiligthum des Völkergeschicks, denn jedes große europäische Verhängniß seit mehr als drei Jahrhunderten führte Freund und Feind über unsern Markt.
Luther und Kaiser Karl den Fünften, Tilly und Wallenstein, Gustav Adolf und Herzog Bernhard, Karl den Zwölften und Friedrich den Großen – sie Alle sah dieser Markt und noch Hunderte, die die Geschichte nennt, und Hunderttausende, die nur als Menge zählten. Doch über alle diese Fürsten und Führer und ihre Getreuen [523] und Völker eilte in der damaligen Stimmung meiner Seele der Blick den ewigen Weihetagen unserer Nation, den blutigen Siegen zu, die sie draußen auf den Feldern dieser Stadt errungen. Wie rasselt’s und dröhnt’s auf dem Pflaster des Markts! Ganz Frankreich auf der Flucht! Und dort, die Grimmaische Straße her, sprengt der Reiter mit dem kleinen Hütchen tief in der Stirn. Da hält er am „Königshause“, – zum letzten Abschied von dem König, den er zu Grunde gerichtet. Mit „Adieu, Herrn Sächser!“ scheidet er von seinen geschlagensten Verbündeten – und fort mit der hastigen Suite der Hainstraße zu. Sie ist verstopft, der flüchtige Kaiser kehrt das Roß, noch einmal sieht er den Markt von Leipzig, die Petersstraße hinauf folgen ihm seine Trabanten – um den Graben jagt die Schaar, hinter dem geretteten Selbstling fliegt die Elsterbrücke in die Luft und der Fluch von Millionen folgt dem vervehmten Verbrecher an der Menschheit.
Und nun – der Siegesjubel so vieler Völker, er steigt hinauf zum Himmel, zu demselben Himmel, zu welchem rings auf kaltem, blutigem Grunde tausend brechende Augen blicken, tausend Jammerschreie und Klagen der Verwundeten dringen. Und das Alles zu dem Einen Himmel, hinauf zu dem Einen Gott! – –
Und aller Jubel und alles Wehe zog herein in’s Herz der Stadt, auf ihren Markt, aber der Sieg blieb Herr, er blieb der Stolz der deutschen Nation, und über dem Namen „Leipzig“ schwebt der Eichenkranz durch alle kommenden Jahrhunderte der Weltgeschichte. –
So schwärmte ich in jener Mondnacht; das Hochgefühl des Deutschen im Widerglanz jener Tage in der Brust, – aber der Blick ging weiter, und der Kummer über all die Täuschungen, die das treue deutsche Volk dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahre lang zu tragen hatte, quoll mir im verbitterten Herzen auf. „Wann wird der Tag kommen, wo in Deutschland Ein Geist wieder Alle erhebt, Alle einigt zu Einer That und nach Einem Ziele?“ – Die verdunkelte Nacht hatte keine Antwort für meine Frage.
Nur ein Trost ging damals mit den Vaterlandsfreunden zur Ruhe und stand mit ihnen auf: das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen war geweckt, und kein Reactionsdruck hatte es wieder ersticken können. Und weil sich keine That bot, klammerten wir uns an die großen Erinnerungen an und huldigten dem Ideal in deutschen Nationalfesten. Das Schiller- und das Leipziger Schlachtfest erreichten für die Entwickelung des deutschen Geistes den Werth von Thaten. Nur Eines fehlte zur Vollendung der nationalen Einigkeit: die einträchtig mitschaffende Hand der Fürsten. Jedermann weiß, was dem deutschen Volke ein Jahr nach der großen Volks- und Turnerverbrüderung in Leipzig geschah, und was wiederum zwei Jahre darnach ihm für Rosen blühten auf Schlachtfeldern im Vaterlande.
Und Alles, Alles, Alles dies – heute, im großen Sturmsommer von 1870, ruft’s ganz Deutschland aus: es war unsers Herrgotts Schule für Fürsten und Völker, und heute haben wir ausgelernt, die Prüfung ist bestanden, wir treten mündig ein in’s große Völkerleben als die Macht, die wir nicht eher werden konnten, als bis unsere Zwietracht überwunden war. –
Und Leipzig? Es thut wohl, gerade dies in Leipzig schreiben zu können: der Geist der Bürger in der Stadt der großen deutschen Schlachten und Feste ist nicht hinter dieser Zeit zurückgeblieben. Wir können getrost erzählen, wie hier an der allgemeinen Erhebung Theil genommen wurde.
Noch mitten im Sturme der ersten Begeisterung nach dem Trompetenstoße von der Seine leitete der praktische Tact des vorherrschenden Handels- und Industriegeistes der Bevölkerung zur Arbeit für das Vaterland. Nach vier Richtungen machte sich sofortige und rascheste Thätigkeit nöthig: da Leipzig 1866 Lazarethstadt war, so lag der Gedanke der Vorsorge für die Verwundeten am Nächsten; die Mobilmachung der Landwehr und Reserve lenkte die Theilnahme auf die Frauen und Kinder der vielen Aermeren dieser Wehrclassen hin; daß der Krieg viele von ihnen zu Wittwen und Waisen machen werde, rief eine neue Sorge wach; gleichzeitig mußten Vorbereitungen für die Bewirthung der von hier ab- und der hier durchmarschirenden Truppe getroffen werden.
Wir dürfen es uns nicht versagen, auf Einzelnes einzugehen. Für die Vorsorge zur Pflege der Verwundeten trat zuerst der „sächsische internationale Hülfsverein“, dessen Protectorin die Kronprinzessin Carola von Sachsen ist, auf. Er wandte sich vor Allem an die Frauen und Jungfrauen Sachsens, und um strengste Ordnung in diesen wichtigen Theil der Kriegsvorbereitungen zu bringen; erschien eine gedrängte und klare Belehrung unter der Ueberschrift: „Rathschläge für die Hülfsvereine, Anschaffung und Verarbeitung von Hülfsmitteln für die Kriegslazarethe betreffend“ in allen Localblättern. Und so tüchtig erwies sich die Vaterlands- und Menschenliebe der Leipziger Frauenwelt, daß schon nach wenigen Tagen ihnen ein Dank für nicht unbedeutende Lieferungen von Verbandsmitteln aller Art ausgesprochen werden konnte. Diese Opferfreudigkeit wirkt rastlos weiter, und das ist um so höher zu schätzen, als sie nicht erst durch die jammernde Noth aufgeregt wurde.
Herzergreifend zeigte sich vom ersten Augenblick der Kriegsgefahr an die Auffassung der Unterstützung der Angehörigen unserer Reserve- und Landwehrmänner. Sie galt sofort als nationale Pflicht, und Alt und Jung, Vereine und Einzelne, Männer und Frauen boten die Hand zur nachhaltigsten Erfüllung derselben, und zwar ganz im Geiste unseres Aufrufs im ersten Beiblatt der Gartenlaube. Die Sammlungen dazu ergaben schon nach wenigen Tagen in Leipzig allein über sechstausend Thaler. Nicht wenige Principale und sonstige Arbeitgeber lassen den Gehalt der einberufenen Männer deren Familien zukommen und verpflichteten sich dazu für die ganze Dauer des Kriegs; und während der nach Zöllner benannte Sängerbund dem Zwecke allein tausend Thaler aus der Bundescasse opferte, machten, zunächst für ein Vierteljahr, fünfzig Bäcker sich verbindlich, wöchentlich je zwölf bis fünfzehn Pfund Brod durchschnittlich zu liefern; diese etwa sechshundert Pfund Brod wöchentlich haben bereits manche Thräne trocknen, manche Sorge lindern helfen. Auch dieses Beispiel Leipzigs ging auf alle Nachbardörfer über; immer weiter hinaus vom Mittelpunkte ergehen die Aufrufe, die ihren warmen Ursprung in edlen Herzen fanden. Und wahrlich; es bedurfte nur eines Ganges zu den Sammelplätzen der Abmarschirenden und auf die Bahnhöfe; um die Theilnahme für die Lieben der Männer, welche in ihrer Armuth dem Vaterlande das größte persönliche Opfer bringen, immer lebendiger werden zu lassen. Auf dem Wageplatze unweit des Thüringer Bahnhofs stand eine Compagnie solcher Wehrmänner. Man konnte sie schon von Weitem, auch ohne die Montur zu prüfen, als solche an den vielen Frauen und Kindern erkennen, welche gleichsam ein drittes Glied der beiden Soldatenreihen bildeten. So lange es nur immer der Dienst erlaubte, hielten viele der Männer noch die jüngsten Kindchen auf dem Arme und ließen die andere Hand auf den Häuptern der anderen Kinder liebkosend ruhen. Eines der Kindchen war außer sich vor Freude über den Tornister des Papa und wandte ihm all’ seine streichende und patschende Zärtlichkeit zu. Auch beim Abmarsch wich diese Begleitung nicht von Reih’ und Glied bis zum Bahnhof und bis der letzte Befehl zum Einsteigen Alles auseinanderriß, was Himmel, Kirche und Natur für ewig verbunden hatte. – Ein Wort aus einem solchen Frauenmund des Volks war’s, das alle Umstehenden tief ergriff: „Ach, was gilt nun unter den Tausenden dort mein einziger Mann, der mir Alles, Alles in der Welt ist!“ –
Ist es wirklich jetzt für solche Frauen ein Trost, daß sie täglich lesen, wie eifrig für sie als Wittwen gesorgt wird? – Und doch ist diese Sorge so edel und so gebieterisch. Guten Müttern wird sie auch ein Trost sein; wenn sie ihr Auge auf ihre Kinder richten, die ein furchtbares Geschick zu Waisen bestimmt haben kann.
Diese Beziehungen der Scheidenden und Zurückbleibenden gaben dem kriegerischen Bahnhofleben einen ganz andern Charakter, als der spätere Durchmarsch anderer norddeutscher Regimenter bot. Trotz aller ungeschwächten Begeisterung für den großen Entscheidungskampf um Deutschlands und Europas Zukunft war die Trauer und der Schmerz aus der Stille des Hauses, wo sie sonst sich hinter das Thränentuch in’s Abgeschiedene und Dunkle verkriechen, mit hinaus in’s wogende Gedränge gezogen. Das Weib war herausgerissen aus seiner natürlichen Scheu vor der Oeffentlichkeit, und Liebe und Treue; Freundschaft und Eheglück traten frei hinaus mit allen ihren Aeußerungen. Umarmung, Kuß und Thräne, Alles ist frei; und manche verborgene Liebe verräth jetzt ungescheut die Jungfrau mit dem ersten Blumenstrauß, den sie jetzt – vielleicht als letzten – dem waffengerüsteten Jüngling reicht. Väter und Mütter stehen dabei und ahnen, vom eigenen Schmerz übermannt, nicht, welche süßaufkeimenden Lebensknospen hier vor der Vernichtung zittern. Und die sich nun nicht mehr noch einmal Hand und Mund zum letzten und allerletzten Abschied reichen können, drinnen in den Wagen die Väter und Männer, Söhne und Brüder, Geliebten [524] und Freunde – und draußen, die Hände auf die Herzen gepreßt, die Gattinnen und Mütter, die Schwestern und Kinder, die Bräute und Geliebten – wie hängen mit den letzten Blicken da die Augen aneinander! Wie brennt da das Herz, dem letzten Riß und Ruck entgegenbebend! O, es ist groß, welche Stärke im Menschenherzen ruht, welche Stürme es überstehen kann!
Unserm Künstler verdanken wir das Bild einer solchen Scheidescene auf dem Dresdener Bahnhof. Damals befanden sich auch viele Leipziger Studenten beim Zuge, um sich dem Heere anzuschließen. Ihnen gab der berühmte akademische Gesangverein der „Pauliner“ das Comitat. Da erscholl noch manches wehmüthige und frischmuthige Lied, und am hingebenden Leben der blühendsten Jugend erhob sich da manches niedergedrückte Herz. Es war eine rechte gegenseitige Jugendschmückung, die Studenten mit ihren Liedern, die Mädchen mit ihren Blumen – das warf selbst auf das herbe Weh noch einen Rosenschimmer.
Wieder ein anderes, aber nicht weniger fesselndes Bild gewährte der Abschied unserer beiden Garnison-Bataillone. Viele der Angehörigen unserer Soldaten waren herzugekommen. Die Scheidescenen wurden gleichwohl, nach dem Charakter unseres Volks, mit stillerer Gemüthlichkeit verlaufen sein, wenn nicht die zarten Beziehungen der Dienstmädchen zu dieser Truppe buntes Leben und aufregende Bewegung hineingebracht hätten. Nie aber wich aus diesen Gruppen ein Hauch von Feierlichkeit; der Schmerz heiligt. Erst einige Eisenbahnstunden vom Orte der Trennung entfernt ist der scheidende Mann mit der ersten Verwindung der heimischen Gefühle fertig; er packt sie zusammen, um sie vor der eisernen Hand des Berufs für gelegenere Zeiten – „Steh’ ich in finstrer Mitternacht etc.“ – aufzubewahren.
Auch die kirchliche Weihe der Scheidenden fand – wie im Jahre Dreizehn überall – jetzt hie und da statt. In Lindenau, dem als letzte Raststätte Bonaparte’s nach der Völkerschlacht bekannten [525] Dorfe bei Leipzig, kündigte der Pastor (Dr. Schütz) eiligst noch für den Abend vor dem Ausmarschtag einen Gottesdienst mit Communion für die zur Fahne einberufenen Krieger, deren Frauen und Kinder Eltern und Geschwister an; es waren Dreihundert, die daran Theil nahmen, und auch hier schlossen noch mehrere Brautpaare den Ehebund vor der Trennung durch diesen Krieg.
Während all’ dieser Vorgänge und Arbeiten hatten in aller Eile die Vorbereitungen für den Durchmarsch bedeutender Truppenmassen vollendet werden müssen. Sie zerfielen von selbst in obrigkeitliche und freiwillig-bürgerliche. Erstere betrafen namentlich Bauten von Ställen für größere Pferdemassen, letztere die Bewirthung unserer in’s Feld ziehenden Soldaten des norddeutschen Bundes.
Die Aufregung des Augenblicks wie die Gleichgültigkeit der Gewohnheit lassen jetzt Manches übersehen, was der Beachtung werth ist. Ich führe den Leser zu den Baracken für dreihundertfünfzig Pferde auf dem Floßplatze. Sie nehmen eine Länge von dreihundertfünfzehn Ellen so ein, daß zwischen zwei großen Baracken für die Pferde eine kleinere für die Futtervorräthe isolirt steht, irgendwelcher Feuersgefahr wegen. Hier zeigt sich, was einer Stadt mit so trefflicher Wasser- und Gasleitung auch für solche Augenblicksbauten möglich ist, wenn es gilt, durch höchste Reinlichkeit für die Gesundheit von Mann und Roß zu sorgen. Die Wasserleitung versorgt sie nicht nur mit einem immerfrischen guten Trunk, sondern sie hilft auch den Abfluß der Jauche beschleunigen, die aus den Ställen in gebrannte Thonröhren abfließt und durch sie den Hauptschleußen des Platzes zugeführt wird. Und wie räumlich, blank und wohlversorgt stehen die einzelnen Abtheilungen bald für acht, bald für sechszehn Pferde da! Alles, bis zur scheinbaren Kleinigkeit, am rechten Ort, die Krippen und Raufen, dort der Futterkasten, die Siebe, die Schwingen zum Futtermischen, die Wassereimer und sogar die Futtermäßchen – Alles funkelneu und jedes an seinem Platz. In solchen Räumen mußten Roß und Mann, wenn noch so abgemattet angekommen, freudig aufathmen, und das war der Zweck, der damit erreicht werden sollte.
Derselben Aufmerksamkeit bis zu den anscheinlichen Kleinigkeiten herab begegneten wir auf den Bahnhöfen, wo der Verpflegungsverein für die durchmarschirenden Truppen eine wahrhaft großartige Thätigkeit entfaltete.
Mit militärischer Kürze hatte sein Aufruf gelautet: „Einwohner Leipzigs und der Umgegend! Unseren deutschen Truppen stehen schwere Tage bevor! Laßt diejenigen, welche unsere Stadt berühren, nicht ohne äußere Zeichen unserer Theilnahme von uns scheiden. Um den in’s Feld rückenden Soldaten, welche in unseren Mauern eine kurze Rast haben, Erfrischungen bieten zu können, richten wir an Euch die Bitte, uns schleunigst mit entsprechenden Beiträgen an Geld und Naturalien zu unterstützen. Oeffentliche Quittung wird später erfolgen.“ –
An vierundzwanzig Annahmestellen für Geldbeiträge und einer Stelle für Naturalien, namentlich Wein, Bier und Cigarren, sammelten sich in wenigen Tagen Vorräthe, mit welchen viele tausend Mann erquickt werden konnten.
Ein Bahnhof giebt uns das Bild der Einrichtung und Bewirthung für alle anderen. Wir eilen zum Thüringer, dessen Räumlichkeiten allezeit den unverwehrten Zutritt der begrüßenden Bevölkerung gestatten. Ein Verein von neunzig Bürgern leitete die Verpflegung und die Vertheilung der Gaben. Wir berichten noch über die Masse des Dargebotenen, wenn am Schluß der Durchmärsche die Zusammenstellung derselben geschieht.
Längs der Güterhalle stehen unabsehbare Wagenreihen auf dem Geleise, welches mit der sogenannten Verbindungsbahn zusammenhängt, einer Gürtelbahn, welche die vier Bahnhöfe im Norden der Stadt, den Berliner, Thüringer, Magdeburger und Dresdener, mit dem bairischen Bahnhofe im Süden verbindet. Zwischen den Wagenreihen und den Güterhallen sind Wasserbehälter angebracht. Die Güterhalle selbst ist zu einem riesigen Speisesaal umgewandelt, und jenseits der Halle dampft und kocht es in einer unter Bretterschutz improvisirten Küche mit zwei Kochheerden von je sechs Kesseln vom größten Kaliber. Vor der Küche die Bretterbude zur Reinigung des Speisegeschirrs für Bataillone von Tischgästen. Auch hier konnte nur durch Wasser- und Gasleitung früher Unglaubliches möglich gemacht werden.
Während wir noch bei frühem Morgenbesuch uns am Kaffeeduft der Küche labten, erscholl draußen zum Pfeifen und Donnern des herankommenden Zuges das Hoch der jubelnden Volksmenge. Bataillone des achtundfünfzigsten Linienregiments kamen von böser Nachtfahrt in den dichtgefüllten Wagen. Jetzt ward uns der Zweck der vielen Wasserbehälter klar. So viel der abgematteten Soldaten es nur vermochten, drängten sich um diese Behälter, um Gesicht und Hände durch eine Waschung zu erfrischen. Das Wonnige dieses Wohlgefühls strahlte von allen Gesichtern. Und nun in geordnetem Zuge zu den Tischen in der Halle. An aufwartenden Händen fehlte es nicht, die Bedienung war musterhaft, wie das Aufgetragene massenhaft. Und sobald der Tyrann Magen beruhigt war und jeder Mann sein Theil an Cigarren oder Tabak und, eine Zugabe des guten Geistes dieser Tage, ein Gratis-Liederbüchlein mit alten und neuen Gesängen für den Herzbedarf der Gegenwart in Empfang genommen, begann an allen Tischen und in allen Gängen die mittheilselige Lust; aber Musik und Gesang behielten die Oberhand. Die Regimentsmusik begann mit der rasch zum Nationallied emporgeschwungenen „Wacht am Rhein“, und alle Soldaten- und Volkskehlen stimmten mit ein. Die halbstündige Rast war wie in wenigen Minuten vorüber, wie zum Dank und zur Ermuthigung schmetterte die Musik den „Pariser Einzugsmarsch“ aus den Wagen heraus, mit der Minute war das Einsteigen vollendet, das Commando schrillte, die Locomotiven keuchten und pfiffen und fort ging’s wieder, von Hochruf und Tücher- und Hüteschwenken begleitet – fort in den furchtbarsten Kampf des Jahrhunderts. – Und so ging’s Tag und Nacht und ununterbrochen, auf die Minute genau, und Tag und Nacht blieben die Bahnhöfe die Wallfahrtstätten der Bevölkerung von Stadt und Land. Selbst der Kronprinz von Preußen, den als Feldherrn der Süddeutschen eine besondere Verehrung auszeichnete, gehorchte dem Commando des Militärzuges, mit dem er zu seinen Armeen fuhr. Dafür ließ er uns die ruhige Zuversichtlichkeit seines Ausspruchs zurück: „Einen moralischen Sieg haben wir bereits über Frankreich errungen, zu dem andern wollen wir unser Bestes aufbieten!“ –
Die Züge nach dem Rhein folgten theils der Thüringer, theils der bairischen Bahn; zu letzterer führte sie, wie bemerkt, die Verbindungsbahn, die u. A. auch das größte Dorf Sachsens, Reudnitz, durchschneidet. Hier hatte man für eine besondere allnächtliche Ueberraschung der durchfahrenden Soldaten gesorgt: jeder Zug wurde durch Raketen und andere Feuerwerksstücke begrüßt und dann auf ziemlich langer mit deutschen und norddeutschen Bundesfahnen geschmückten Strecke bengalisch beleuchtet und mit kräftigem Hoch ihm im selben Augenblick Willkommen und Lebewohl gebracht.
Die Armen unterstützen, die Klagenden trösten, die Verzagenden aufrecht halten, an den Muthigen sich stärken, mit den Hoffnungsfrohen sich freuen und für die gemeinsame Sache keine Arbeit und kein Opfer scheuen, Besseres kann der Daheimbleibende jetzt nicht leisten – und hat man Das in Leipzig redlich vollbracht, so gönne man uns draußen das Gefühl der Genugthuung, daß wir bis auf Weiteres unsre Schuldigkeit gethan haben.
In der zwölften Stunde. Auf dem Wege nach dem Kriegsschauplatz
erhalten wir von einem unserer Berichterstatter folgende aus Aschaffenburg
vom 27. Juli datirte Zeilen: Noch haben wir das Schwert in der
Scheide, und schon ist der schönste Sieg, den wir je zu hoffen gewagt, errungen! Wir sehen vor unseren freudeglühenden Augen ein Deutschland,
ein starkes, kampfesmuthiges Deutschland! Da dieses Resultat erzielt, ist
alles Andere Nebensache, ist alles Andere von weniger Bedeutung!
Die zwölfte Stunde hat geschlagen! Deutschland ist endlich unser, und vom Fels zum Meere haben sich die Männer aller Gauen erhoben, schwingen ihr scharfes Schwert und stürzen mit todesmuthigem Schlachtenruf in das blutige Getümmel – – … „Deutschland ist unser – soll unser bleiben!“ –
Da ziehen sie vor meinen Augen vorüber – die, welche ich, Mann mit noch nicht ganz ergrauten Haaren, nie gehofft hatte, unter einer Fahne dem Feinde entgegentreten zu sehen! Das ist schlesische Landwehr, welche die baierischen Festungen vertheidigen soll, und die bärtigen Gesellen mit dem scharfen Laute in der Sprache strecken die kräftigen Hände den schwäbischen Brüdern entgegen, die gen Norden ziehen, um mit ihren Brüsten einen Wall gegen die Anmaßungen des Feindes aufzuthürmen. Dort schreitet mit breitem behäbigem Schritt der riesige Pommer daher und sein staunendes Auge kann sich nicht von den rebenbekränzten Hügeln trennen, die sich in ihrer grünen Heiterkeit vor ihm erheben.
„Und das ist Alles unser – und das wollen sie uns nehmen?“ murmelt sein Mund, und dabei ballt sich seine Faust und sein Blick leuchtet; doch augenblicklich lächelt er wieder gutmüthig vor sich hin. „Da müssen wir doch auch dabei sein!“ meint er.
Ein Baier begegnet ihm. „Grüß’ Gott!“ ruft er ihm freundlich zu. Jener legt ihm die Hand freundlich auf die Schulter. „Na, alter Junge,“ sagt er, „das ist recht, daß Du nicht mehr böse bist von 1866 her; ich sage Dir, wenn’s nach uns gegangen wäre, wäre es Alles anders gekommen, aber die da oben … na komm’, trink’ ’mal, da ist meine Flasche – Deutschland soll leben!“
„Wir sind eijentlich janz jemeine Kerls,“ ertönt weiterhin die Stimme eines Berliners im allbekannten Berlinerdeutsch. „Keener von uns hat bis jetzt daran jedacht, den Napoleon hoch leben zu lassen, und er ist doch unser allerbester Freund! Wären wir in zehn Jahren diätenloses Discuriren wohl so weit jekommen, wie der Mann uns in vierzehn Tage jebracht hat? Jungens, ick schlage vor, wenn sie ihn in Frankreich ’rausjeschmissen haben, dann zahlt ihm das einige Deutschland eine Pension!“
Man lacht, man zieht weiter. Der Schleswig-Holsteiner, der Sachse, der Hannoveraner, kampfermuthigt leuchten ihre Augen; daß man je in der Weltrechnung die Jahreszahl 1866 geschrieben hat, haben sie gänzlich vergessen.
Ein herrliches, erhebendes Schauspiel, beim Himmel! Man muß es uns verzeihen, wenn uns der Stolz, heute ein Deutscher zu sein, wie Cyperwein in den Kopf steigt und uns Dinge sagen läßt, die vielleicht nicht ganz gerechtfertigt sind. Wir sind ein eigenthümliches Volk; Kriegeslust begeistert uns nicht im Geringsten, wie unsern heutigen Feind; aber das Gefühl, für das Vaterland zu kämpfen, das theure uns für ewig zu bewahren, erhebt uns zu einer solchen Begeisterung, daß nüchterne Geister … doch, wo giebt es denn heute überhaupt nüchterne Geister?
Denken wir in der verhängnißschweren Stunde Derer, die wir so vaterlandstrunken auf die blutige Wahlstatt ausziehen sahen – und die nicht wiederkehren werden! Von Allem, was der Mensch auf Erden liebt, haben sie sich losgerissen, sind hingegangen, um für uns zu kämpfen und zu sterben! Ihr, die Ihr zurückbleibt, habt Ihr wohl bedacht, welch ein Vermächtniß von den blutgetränkten Gefilden Euch übersandt ist?
Nicht wahr, Ihr habt es begriffen, daß jener scheidende Blick Euch eine so heilige Pflicht auferlegt, wie es keine zweite auf Erden giebt? … Nicht wahr – ich, der ich in wenigen Tagen, als kalter Beschauer so viele Todeskämpfe mit ansehen werde – Ihr gebt mir Alle, Ihr Hunderttausende von Lesern dieses Blattes, die Vollmacht, dem in seiner vollen Manneskraft für’s Vaterland Dahinscheidenden sagen zu können: „Stirb in Frieden, deutscher Mann! Die Waisen, die um Dich weinen, ob Weib oder Kind, ob Eltern oder Geschwister sind im Voraus von Deutschland an Kindesstatt angenommen! Schmach, ewige Schmach unserem ganzen Geschlechte, wenn wir Denen, die Du auf Erden geliebt, nicht wenigstens vom materiellen Standpunkte aus den ersetzen, der gestorben ist, um uns ein Vaterland zu erkämpfen! Und wenn die Regierungen fortfahren in ihrer Tendenz, nur die überlebenden Helden zu belohnen und denen, welche den Verblichenen theuer waren, nur ein karges Stück Brod zuzumessen – … stirb dennoch in Frieden! Diese oder jene Regierung ist nicht Deutschland! Deutschland ist einzig und allein das deutsche Volk, und das wird das Vermächtniß seiner Helden hoch und theuer halten und ehren!“
Nicht wahr – so muß ich in Eurem Namen sprechen, Ihr Leser – und Ihr werdet das Versprechen halten – das weiß ich bestimmt! –
Nur noch wenige Meilen trennen mich von der Stätte, wo allen Muthmaßungen nach in wenigen Tagen der blutige Tanz beginnt! Ich werde Dir, mein Leser, über das Thun Deiner bewaffneten Brüder – ich weiß es mit Gewißheit – mit stolzen Worten berichten können; ich werde Dir Heldenthaten erzählen, die ich gesehen, die Dir die Brust bis zum Zerspringen schwellen machen werden! Ich werde aber auch – und das vor allen Dingen – wahr sein! Und darum mußt Du mir eine Bitte gestatten – eine Bitte, Deiner würdig, mein deutscher Leser! Ich werde nie meine Feder dazu hergeben, den Gegner zu verringern, zu verkleinern, zu beleidigen! Alles, was ich Gutes, Großes und des Gedächtnisses Würdiges von unsern Kämpfern höre, wirst Du erfahren: aber es giebt auch noch unter den heutigen Franzosen Männer, die es werth sind, selbst wenn sie eine schlechte Sache vertheidigen, daß der Schriftsteller von ihnen spricht. Auch der hohen Thaten der Gegner mußt Du mir zu erwähnen erlauben, wenn sie sich ereignen sollten.
Noch vor wenigen Tagen sagte ein Mann, von dem wir in diesem Augenblicke Alles erwarten: „Wenn man auf der Mensur ist, beleidigt man seinen Gegner nicht mehr! Das, was die Journale von der Schwäche der französischen Armee fabeln, ist nur dazu angethan, die Lorbeeren, die zu erringen uns gewiß sehr sauer werden wird, schon im Voraus zu verkleinern, und eine mögliche Niederlage von den bedenklichsten Folgen zu machen!“
So sprach der Chef des Deutschen Generalstabes, der General v. Moltke, und ich kann die Authenticität dieser Worte verbürgen!
Und nun Gott befohlen, mein Leser, nach der ersten Schlacht werden wir uns hier wieder finden! Der blutige Reigen hat begonnen … Gott schütze unser deutsches Land!
Ein preußischer Kriegsreservist. Während der Mobilmachung der preußischen Armee zu dem gegenwärtigen Kriege mit Frankreich wünschte mich eines Vormittags ein Landmann aus dem unserer Stadt nahe gelegenen Dorfe S. in einer Privatangelegenheit zu sprechen. Nach Erledigung seines Anliegens theilte mir derselbe noch mit, daß er mit dem am künftigen Morgen abgehenden Personenzuge der ostpreußischen Südbahn die Reise nach Königsberg antreten müsse, weil er nach der in vergangener Nacht erhaltenen Ordre sich dort bei seinem Regimente zu gestellen habe.
„Diese Einberufung,“ fuhr der Mann fort, „trifft mich zu einer Zeit, in welcher ich in meiner Wirthschaft vollständig unentbehrlich bin. Seit Kurzem erst habe ich den Bau eines Wohnhauses unternommen, welches kaum zur Hälfte fertig ist, und mit nächster Woche wollte ich die Getreideernte beginnen. Meine kleine Besitzung, überhaupt meine pecuniären Verhältnisse gestatten es nicht, einen Stellvertreter anzunehmen, und meine Frau, welche in der Regel während meiner sonstigen Abwesenheit die Wirthschaft führte, sieht ihrer nahen Entbindung entgegen.“ Indem ich dem Manne mein Bedauern über seine mißliche Lage zu erkennen gab, fragte ich ihn gleichzeitig, ob er nicht den Versuch zu einer Reclamation gemacht habe.
„Das würde ich dieses Mal auf keinen Fall thun,“ erwiderte hastig der junge Landmann, „denn in dem Kriege mit Frankreich finde ich Gelegenheit, ein meinem verstorbenen Vater gegebenes Versprechen zu erfüllen.“ Diese von einer besonderen Begeisterung begleiteten Worte des Sprechers machten mich aufmerksamer, weshalb ich den Wunsch ausdrückte, zu erfahren, welcher Art das Versprechen sei.
„Mein Vater,“ fuhr derselbe fort, „kämpfte bereits im Jahre 1806 gegen die Franzosen und gerieth während der Schlacht bei Jena in französische Gefangenschaft. Sowohl die Erniedrigung des Vaterlandes als auch die schimpfliche und barbarische Behandlung, welche ihm und seinen gefangenen Cameraden und Landsleuten in Frankreich zu Theil wurde, hatten einen unauslöschlichen Franzosenhaß in ihm erweckt, welcher bis zu seinem Tode fortdauerte. Freudig und voll Hoffnung, die erlittene Schmach zu rächen, rückte er mit dem Beginn der Freiheitskriege wiederum in’s Feld, wurde jedoch bei Leipzig schwer verwundet und dadurch gehindert, an der weitern Fortsetzung des Kampfes Theil zu nehmen. Der in Paris 1815 erfolgte Friedensschluß entsprach seinen Erwartungen durchaus nicht, indem nach seiner Ansicht die verbündeten Fürsten mit Frankreich und den Franzosen die Sache viel zu glimpflich und gelinde abgemacht hätten. ‚Eine solche Schonung und Rücksicht hat Frankreich nicht verdient,‘ äußerte er oft, ‚und da man unterlassen hat, das Franzosenvolk in der rechten Weise zu züchtigen, so wird seine Ruhe Deutschland gegenüber gewiß nur von kurzer Dauer sein.‘ Von seinen fünf Söhnen ließ er sich noch kurz vor seinem Tode das Versprechen geben, daß alle, sobald es zum Kriege mit Frankreich käme, nach Kräften bemüht sein sollten, den Franzosen den Kopf zu waschen und die erlittene Schmach ihres Vaterlandes und ihres Vaters als wackere Soldaten zu rächen. Leider ist nun schon einer meiner Brüder vor Düppel, der andre bei Trautenau gefallen, ohne dem Wunsche des Vaters gerecht werden zu können. So viel ich indeß weiß, sind meine beiden noch lebenden Brüder schon nach dem Rheine abmarschirt, den ich wohl auch in Kurzem begrüßen werde. Gott schütze mein Weib und meine Kinder!“
Bei diesen Worten reichte mir der Mann die Hand zum Abschiede, welche ich bewegt durch den Gedanken, es könnte dieses ein Scheidegruß für Zeit und Ewigkeit sein, ergriff, dem Abziehenden in tief empfundener Theilnahme den göttlichen Beistand wünschend.
Rhein, im Juli 1870.
Unverhofftes Wiedersehen. Jetzt, wo abermals ein Krieg, und mit dem furchtbarsten Ernst, über uns gekommen ist, wendet der aufgeregte Geist sich gern zu den Erinnerungen an den jüngsten deutschen Krieg und läßt sich auch die harmloseren Partien desselben zur augenblicklichen Erheiterung gefallen. Dazu gehört folgender Vorfall. Ein sächsischer Signalist besaß ein Horn von ganz besonderer Schönheit, es war das Leibstück seines Besitzers, der es, wie sich selbst, glücklich durch alle Gefechte und Schlachten der sächsischen Armee bis Nechanitz gebracht hatte. Hier jedoch kam auch seine Kugel und schwer verwundet stürzte er zusammen. Man mochte ihn für todt gehalten haben, denn er blieb nach dem Abzug der Seinen liegen. So fanden ihn zwei Mann vom zwölften westphälischen Jäger-Bataillon. Seltsamerweise war es das hübsche Horn, das er fest in der Hand hielt, welches die beiden Jäger zu ihm hinzog, und bei dem Bemühen es demselben zu entreißen, spürten sie noch Leben in dem Sachsen. Sofort regte sich das bessere Gefühl in Beiden, sie trugen den nahzu verschmachteten Feind zum nächsten Verbandplatz, nahmen aber das Horn als ein Andenken an das Erlebniß mit.
Der Signalist war in gute Hände gerathen, und doch begrüßte er das [527] ihm von Neuem geschenkte Leben mit den bittersten Klagen, denn die erste Frage, die das wiedererlangte Bewußtsein ihm gestattete: „Wo ist mein Horn?“ – erhielt die für ihn trostlose Antwort: „Mit fort!“ Wer konnte es dem Armen verargen, daß der Ausdruck seiner Dankbarkeit gegen seine ihm übrigens völlig unbekannten Lebensretter ein total verfehlter genannt werden mußte? Das Horn kam dem Mann nicht aus dem Kopf, auch nachdem er, aus der Gefangenschaft entlassen und heimgekehrt, in dem erzgebirgischen Städtchen Schneeberg seiner völligen Genesung entgegenharrte.
Damals war bekanntlich das Königreich Sachsen von den Preußen völlig besetzt, und auch von den aus Böhmen und Oesterreich heimkehrenden Truppen kamen viele als Besatzung in das eroberte Land. In Zwickau marschirte eine Abtheilung des zwölften westphälischen Jägerbataillons ein, und zwei Mann davon erhielt ein Maurermeister F. als Einquartierung. Es gab damals schon verständige Menschen genug in Sachsen, welche in der Förderung des Preußenhasses keine politische Weisheit erkannten, am wenigsten aber siegreich heimkehrenden Soldaten gegenüber. Auch unser Gesellchäftchen saß bald in guter Unterhaltung, wenn auch nur beim Gläschen Bier und den vorschriftsmäßigen Cigarren beisammen. Dabei kramten die Jäger ihre Tornister aus, um das Waffen- und Kleiderputzzeug in Bewegung zu setzen, und eben dabei kam auch ein Signalistenhorn zum Vorschein, das des Meisters regste Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Und als nun gar die mittheilsamen Westphalen umständlich und mit genauester Personalbeschreibung erzählt hatten, auf welche Weise das Horn an sie gekommen, da rannte der Mann strahlenden Auges davon und ließ Weib, Kinder und Einquartierung in kopfschüttelndem, aber freudigem Erstaunen zurück.
Es dauerte eine gute Weile, bis die Thür sich wieder öffnete und unser Meister wohlbepackt hereintrat. Nicht blos ganz einladende Schinken- und Wurstpakete erstanden aus den Tiefen seiner Rocktaschen, sondern auch einige Flaschen Wein und ein Bund viel feinerer Cigarren, als vorher der „Einquartierung“ geboten worden waren. Und nun ging ein Fest an, das eigentlich Niemand verstand, als der Mann allein, der aber jeder Erklärung auswich und nur seine Gäste in die Einzelheiten des Gefechts bei Nechanitz und die Schicksale dieses sächsischen Signalistenhorns immer eifriger hineinführte.
Längst hatte unser freudevoller Maurermeister mit augenscheinlich wachsender Ungeduld zur Thür hingelauscht. Da ging sie endlich auf – und drei große Schreie, zwei der Verwunderung und einer der Freude, erfüllten die kleine Stube. Die Westphalen erkannten den sächsischen Signalisten von Nechanitz und dieser sah sein Horn wieder, und was nun für ein Händedrücken und Erzählen, Danken und Weinen und Brüderschaftmachen losging, und wie die Westphalen ihrem alten Feind und neuen Freund das Horn wieder förmlich aufdrängen mußten, das Alles braucht nicht erzählt zu werden. Nur die Erklärung über die schier wunderbare „Wirkung in die Ferne“, d. h. von Zwickau nach Schneeberg, sind wir unseren Lesern noch schuldig: der Maurermeister F. ist der Bruder des Signalisten und hatte diesen mittelst des Telegraphen herbeigerufen. Es ist das wohl eine ganz einfache Geschichte, aber doch hat sie ein paar Menschen für ein paar der kurzen Erdenstunden sehr glücklich gemacht, – und darum darf sie hier stehen.
Wachteln in der Wüste. Gegenüber den in letzter Zeit viel genannten Bocche di Cattaro liegt auf einem kleinen Felseneiland das österreichische Fort Punto d’Ostro. In Folge des Aufstandes der Bocchesen gegenwärtig stärker besetzt, als in früheren Jahren, enthält es zur Zeit eine Besatzung von hundertfünfzig Mann deutsch-österreichischer Soldaten, größtentheils Steirer. Diese Besatzung wird monatlich abgelöst und von acht zu acht Tagen mit allem Nöthigen versorgt. Beides geschieht von Cattaro aus, vermittelst kleiner Boote, weil das von den Wogen wild umbrauste Felsenriff – denn ein solches ist, streng genommen, gedachtes Eiland – für größere Schiffe gänzlich unnahbar ist. Bei heftigem Winde vermögen auf Punto d’Ostro auch kleine Boote nicht zu landen, und die Verbindung mit dem Festlande wird dann einzig und allein durch ein Telegraphenkabel vermittelt.
Ende April dieses Jahres lagen unter dem Befehle des Hauptmann Kaufmann etwa hundertvierzig Mann auf Punto d’Ostro. Das auch im adriatischen Meere überaus ungünstige Frühlingswetter wandte sich zum Bessern, und die halb eingekerkerten Krieger erhofften mit Sehnsucht den Letzten des Monats, welcher bestimmt war, sie nach dem Festlande zurückzuführen. Ihre entsagungsvolle Ausdauer sollte jedoch noch für einige Zeit auf die Probe gestellt werden. Der 29. April war festgesetzt, Ersatzmannschaften und neue Vorräthe zu bringen; zwei Tage vorher aber hatte sich Sirocco eingestellt, war im Laufe der Zeit zum Sturme angewachsen und wüthete ungeschwächt weiter.
Auf Punto d’Ostro sah es übel aus. Die Wellen umschäumten Eiland und Fort, bäumten sich zu immer größerer Höhe vor demselben auf, schlugen bis zur Laterne des Leuchtthurms empor und sandten ihre Sprühregen bis in das Innere des Forts. Die Besatzung machte sich auf längeres Verweilen gefaßt, willig zwar, jedoch keineswegs ohne Besorgniß, denn der Sturm schien noch immer im vollsten Wachsen zu sein, und die Nahrungsvorräthe waren fast gänzlich erschöpft. Drüben in Cattaro theilte man die Besorgniß.
„Wie geht es Euch, Cameraden?“ blitzte der Draht herüber, „habt Ihr noch Nahrung? Es ist unmöglich, Euch zu helfen.“
Die Antwort lautete, daß außer zwei mit Reis gefüllten Säcken noch ein wenig Brod vorhanden, alles Uebrige dagegen aufgezehrt sei; doch habe man glücklicher Weise wenigstens noch Wein und auch Tabak. Sobald eine Landung möglich erscheine, wolle man Kunde geben; zur Zeit sehe man ein, daß man in das Unvermeidliche sich fügen müsse, da kein Boot dem Felsen sich nähern könne.
Sehr unruhig wurde man in Cattaro, als auch am folgenden Tage der Sturm noch ebenso heftig tobte wie gestern und die Tage vorher, als von drüben immer noch keine Kunde kam, als man sich ausrechnete, wieviel wohl noch vorhanden sein könnte von den wenigen Nahrungsmitteln, mit denen das Volk in der Wüste gespeist werden solle, und die Besorgniß wuchs, als der nächste Tag noch stürmischer wurde als sein Vorgänger.
„Wie geht’s Euch, Cameraden?“ frug man hinüber wie Tags zuvor, obgleich man im Voraus überzeugt war, daß die Antwort nur ungünstig lauten könnte. Man bezweckte auch nichts Anderes, als den Kriegsgenossen wärmste Theilnahme auszudrücken. „Wie geht’s Euch, Cameraden?“
„Wir leben herrlich und in Freuden,“ lautete die Antwort, „der Tabak ist zu Ende und der Wein auf die Neige gegangen; aber an Nahrung fehlt es uns nicht mehr. Wir haben Fleisch in Hülle und Fülle schon seit gestern und sparen den Reis, so viel als immer möglich. Sie sind zu uns gekommen, die Wachteln in die Wüste. In allen Zimmern, auf allen Gängen sitzen die Leute, um die uns gewordenen Vögel zu rupfen, zu sieden, zu braten und mit Reis vermischt zu köstlichem Pilau zu verwenden.“
Und noch drei Tage lang blieb die Antwort dieselbe, drei Tage lang hatte man Lebensmittel genug; und als endlich am vierten Tage das Meer sich beruhigt und die Erlösten glücklich in Cattaro gelandet waren, da brachte jeder Einzelne noch reiche Beute mit sich. Und Hauptmann Kaufmann erzählte: Am Abend des 30. April vernahm die Mannschaft plötzlich, trotz des Sturmes, ein eigenthümliches, klappendes Geräusch vor den Fenstern, und als man nachsah, was es gäbe, bemerkte man auf allen Gesimsen ermattete, halbtodte und durch Anprallen an das Glas getödtete Wachteln. Und immer von Neuem brauste es heran, und als man die Fenster geöffnet, schwärmte es zu Dutzenden und zu Hunderte in die Zimmer herein, wahrscheinlich angezogen durch den hinausstrahlenden Lichtschimmer. Die Züge wiederholten sich im Laufe der Nacht noch mehrere Male, und die Menge der glücklich erbeutete Thiere war schon bei Anbruch des Morgens so groß, daß sie zur Nahrung der gesammten Mannschaft für mindestens zwei Tage ausreichen konnte. Als man am anderen Morgen die Runde machte auf dem Felsenriff, fand man es buchstäblich bedeckt von Wachteln In jeder Felsenritze, an jedem Stein saßen sie einzeln, paarweise, zu Dutzenden, in so hohem Grade ermattet von ihrem Kampfe mit Sturm und Wellen, daß sie sich ruhig greifen ließen oder höchstens laufend zu entkommen suchten. Es begann nunmehr eine allgemeine eifrige Jagd oder richtiger ein sorgfältiges Absuchen des Eilandes, dessen Ergebniß war, daß man die willkommene Beute scheffelweise nach Hause schleppen konnte. Die Wachteln in der Wüste hatten das Volk, wenn auch nicht vom Hungertode gerettet, so doch vor schwerer Entbehrung bewahrt.
„Du Adler im Tann!“
Ein Eichbaum grenzt an den Tann im Süd
Und streckt hinein einen Zweig –
Der Eichenzweig, der im Tannwald blüht,
Er heißt „Deutsch-Oesterreich“.
Und auf dem Zweige horstet ein Aar,
Der Herrscher im weiten Tann,
Indeß sein Bruder und Grenznachbar
Den Wipfel der Eiche gewann.
Da, siehe, erspäht sich ein Geier die Zeit,
Zu nisten im Eichenlaub,
Längst weiß er die mächtigen Brüder entzweit
Und hofft auf leichten Raub.
Und Kriegsruf schallt durch den Eichenwald
Und zündet weit und breit –
Nur Einer, der Adler im Tann, bleibt kalt,
Ihm kämpft im Herzen ein Streit.
Du Adler im Tann, was blickst du so stier?
Zückst du im Stillen den Fang,
Weil der Bruder in blutigem Kampfe mit dir
Sich auf den Eichbaum schwang?
Gedenkst du im Herzen: „Er kränkte mich,
Es brennen die Wunden mir noch!“
O denke: Zwei Brüder schlagen sich
Und bleiben Brüder doch!
Und schlugt ihr euch auch die Flügel wund,
Thut’s nicht dem Geier zu Nutz,
Schließt lieber zusamm’ einen Bruderbund,
Einen Bund zu Schutz und Trutz!
Du Adler im Tann, entschließe dich recht,
Befrage dein edeles Blut,
Denn Adler, sie sind vom Königsgeschlecht,
Doch Geier sind Räuberbrut.
Und nisten sie sich, was Gott verhüt’,
Im deutschen Eichenwald ein,
So wird, o Adler, dein Tann im Süd
Ihr nächstes Opfer sein!
G. v. Meyern.
[528] Die „Demoiselles“ der französischen Armee. Im Augenblick, da diese Zeilen unseren Lesern vor das Gesicht kommen, hat das Wundergeschütz, mit welchem Napoleon Tod und Verderben in die deutschen Schlachtreihen zu senden gedenkt, vermuthlich schon sein Probestück abgelegt, und die Welt weiß bereits, was sie von dieser neuesten Ausgeburt französischer „Civilisation“, an deren Spitze bekanntlich der Kaiser marschirt, zu halten hat. Unsere Leser haben dann wohl selbst Gelegenheit, zu entscheiden, wie weit alle die Angaben auf dem Grunde der Wahrheit fußten, die über das Wundergeschütz bis zum heutigen Tage noch verbreitet sind, und die auch wir im Nachstehenden unter allem Vorbehalt geben. Wir können keine Bürgschaft für sie übernehmen, ebensowenig als für die Zeichnung, welche wir nach Mittheilungen französischer Blätter herstellen ließen und heute unseren Lesern vorlegen. Hoffen wollen wir indeß, daß jene Stimmen Recht behalten, welche der „Mitrailleuse“ oder „Kugelspritze“ auf die Dauer jede entscheidende Wirkung absprechen und in ihr nur eines jener Spielzeuge sehen wollen, mit denen der französische Kaiser der großen Masse seines Volkes von je zu imponiren suchte.
Die Mitrailleuse besteht aus einem massiven Lauf mit einunddreißig, nach andern Angaben mit fünfundzwanzig Bohrungen gewöhnlichen Gewehrkalibers, jede mit einem Stiftschloß versehen. Dieses Bündel von Gewehrläufen hat die Form eines dicken Geschützrohres und ruht wie dieses auf einer Laffette mit Rädern. Die einzelnen Läufe werden durch eine mechanische Vorrichtung mit Patronen geladen und durch Beugung einer Sicherheitsplatte abgefeuert, was so rasch geschehen kann, daß die einunddreißig Schüsse zu gleicher Zeit abgefeuert werden. Die Patronen liegen in einem Vorrathskasten am hintern Theile des Gesammtrohres in Reihen geordnet. Eine auf der rechten Seite der Verschlußplatte befindliche Kurbel setzt die Mechanik in Bewegung, d. h. die Spann- oder Sicherheitsplatte wird durch sie momentan auf die Seite gerückt und macht auf solche Weise successive die Schlößchen der einzelnen Läufe frei. Diese Schlößchen bestehen aus je einer stählernen Spiralfeder, in welcher mittelst eines Bundes ein cylindrischer Bolzen befestigt ist. Dieser letztere schnellt bei der Bewegung der Spannplatte gegen die cylindrischen Enden eines in der Verschlußplatte liegenden Schlagbolzen und treibt diesen mit seinem spitzen Theile in den Boden der Patrone. Zwischen dem Feuern und dem Drehen der Kurbel soll kaum eine Secunde Zeit liegen. Wird die Kurbel rascher gedreht, so knallen auch die Läufe rascher nach einander ab; ja, es ist, wie gesagt, möglich, auf solche Weise ein gleichzeitiges Abfeuern sämmtlicher Läufe herbeizuführen. Ebenso schnell soll die Ladung bewerkstelligt werden können. Das Gesammtrohr ist durch eine Handhabe um seine Längenachse drehbar, im Uebrigen wie ein Geschützrohr beweglich. Die Tragweite soll die des Infanterie-Hinterladungsgewehres sein, das Kaliber aber eher kleiner als größer, weil es darauf ankommt, viele Läufe verwenden zu können.
Soweit wäre Alles schön und gut, und der Gedanke, daß eine solche Maschine Tausende von Kugeln in sehr kurzer Zeit verschießen kann, könnte uns wirklich bedenklich und stutzig machen.
Aber die praktische Anwendung der Mitrailleuse ist vor Allem durch die Fortbewegung in Frage gestellt, die denn auch wirklich Mannschaft und Pferde einer vierpfündigen Batterie für sich in Anspruch nimmt. Auseinandernehmen läßt sich die Mitrailleuse nicht oder nur mit großer Mühe und vielen Umständen, denn ihr Mechanismus ist, wie wir gesehen haben, nichts weniger als einfach und trotz der größten Vollkommenheit steten Unregelmäßigkeiten und Störungen ausgesetzt. Die Mitrailleuse vermag endlich der Infanterie, deren Begleitung doch ihr eigentlicher Zweck ist, auf schwierigem Terrain gar nicht zu folgen, sie hat einen großen Vorrath von Kugeln nöthig, was ihren Transport sehr erschwert, sie kann während der Fortbewegung nicht feuern, hindert die freie Bewegung der Infanterie-Colonnen und kann im Gedränge ihren eigenen Truppen gefährlich werden. Jedes andere Geschütz hat eine bedeutendere Wirkung und Tragweite, und ein einziger wohlgezielter Schuß kann mehr Unheil anrichten, als tausend Mitrailleusenkugeln; die Bauart der Mitrailleuse aber ist zu allem Ueberfluß eine sehr schwache, ihrer nothwendigen Leichtigkeit wegen, und außerdem macht ihre nothwendig sichtbare und auffallende Aufstellung bei Infanterie-Colonnen sie jedem Geschütz zu einem willkommenen und leicht erreichbaren Object.
Was mag also noch Wunderbares und Großes von der Kugelspritze Napoleon’s übrig bleiben? Die französischen Soldaten haben den Mitrailleusen, weil sie so sorgfältig gehütet werden und sich profanen Augen nur verschleiert und verdeckt zeigen, den Spottnamen „Demoiselles“ gegeben. Nun, wir hoffen, unsere deutschen Geschütze werden den Demoiselles der französischen Armee auf dem Schlachtfeld den Tact so grob aufspielen, daß diesen bald die Lust zum Weitertanzen vergangen sein wird.
Die schöne Rheinbrücke bei Kehl ist, unsere Leser wissen es bereits,
dem Kriege zum Opfer gefallen; das Zeichen, welches die dauernde
Verbrüderung der romanischen und germanischen Nation zu bedeuten schien und
auch bedeuten sollte, liegt zertrümmert; das Joch auf deutscher Seite ist
gesprengt, der Thurm in sich zusammengestürzt, die Schienen gebrochen und
ungebändigt fließen wieder die Wogen des deutschen Stromes das deutsche
Ufer entlang. Wie die Brücke jetzt sich darstellt, ist sie mit ihren Trümmern
ein trauriges Symbol für uns nach mehr als einer Seite hin: wie sie ist
zwischen uns und Frankreich auch das Band gesprengt, welches, nach den
Grundsätzen der Humanität, von Nation zu Nation sich schlingen und niemals
zerreißen sollte; wie sie ist auch der Handel zerstört, die Wege des
Verkehrs sind geschädigt und die Gewerbe liegen darnieder. Doch im Geiste
sehen wir heute schon den Tag, der auch diese Brücke wieder herstellt wie
zuvor, der auch dieses Joch wieder aufbaut wie ehedem, der das Schienengeleise
wieder hinüberschlägt, so fest und sicher wie früher und, hoffen wir,
nur mit dem Einen Unterscheide, daß es den Reisenden dann über die
Wogen des Rheines trägt von deutschem zu deutschem Ufer.
Ueber die Sprengung der Brücke selbst erhalten wir aus Kehl nähere Mittheilungen: „Die Angst und der Schrecken,“ schreibt man uns, „war groß in Kehl; die Einwohner befürchteten, daß mindestens die nächstgelegenen Häuser mit in die Luft fliegen würden. Zudem wurde die Sprengung der Brücke erst in der letzten halben Stunde angesagt, und da floh denn, was fliehen konnte. Trotzdem ist Alles gut abgelaufen und nicht eine einzige Fensterscheibe in der Stadt gesprungen. Eisen und Steine flogen Hunderte von Pfunden schwer auf weite Strecken durch die Luft, doch meist in der Richtung des Rheines. Den 22. Juli um vier Uhr sieben Minuten sprang das schöne Werk in die Luft und schon um fünf Uhr war der wackere Photograph Döller auf dem Platze, das Werk der Zerstörung zu fixiren.“ Ein junger Pionnier, Namens Felder, hatte die Mine entzündet, und ein Stück von dem Draht, der den zündenden Funken in die Tiefe leitete, ist uns von dem Freunde der Gartenlaube, dem wir auch die vorstehenden Notizen verdanken, eingesandt worden. „In Kehl selbst sind jetzt alle Läden geschlossen,“ heißt es in dem Briefe weiter, „und viele Einwohner, namentlich Frauen und Kinder, sind in die nahen Berge geflohen. Die Bürger versehen Tag und Nacht den Wachtdienst, da die Stadt von Truppen völlig entblößt ist; doch herrscht ein guter, braver, deutscher Geist in Kehl, und,“ schließt der schlicht und treuherzig gehaltene Brief, „wir hoffen bestimmt von unsern deutschen Heeren, daß sie Straßburg wieder zu einer deutschen Stadt machen werden.“
Die erste Kriegsbeute, die den preußischen Vorposten in die Hände
gefallen, ist komischer Weise genug ein toll und voll getrunkener Zuave
gewesen. Gemüthlich zechend war er in einem auf deutscher Seite gelegenen
Wirthshause überrascht und von der unbarmherzigen Patrouille mit nach
Saarbrücken genommen worden. Dort, auf dem Wege in’s Gefängniß,
geberdete er sich wie wüthend, focht, die Mütze tief in den Nacken geschoben,
mit den Armen in der Luft umher und schalt unaufhörlich auf die Preußen,
die sein stilles Vergnügen so jäh unterbrochen hatten. Vielleicht hatte er nur auf das Wohl seines Kaisers getrunken; vielleicht war ihm mitsammt
dem Wein auch schon die Gloire in den Kopf gestiegen. Jedenfalls aber kann
er heute schon davon erzählen, wie schnell die Deutschen ihre Feinde nüchtern zu
machen vermögen, ob sie nun vom Wein oder vom Ruhme trunken sind.
finden wir überall offene Herzen und offene Börsen. Trotz des vollständigen Geschäftsstillstandes und der gestörten Verkehrswege gingen in den letzten Tagen doch wieder bei uns ein:
Gott schütze meinen Paul 10 Thlr.; H. Cunit 5 Thlr.; H. Schuster in Ronneburg 3 Thlr.; Prof. Greiffenhahn in Tharand 2 Thlr.; Born 1 Thlr.; bei einem Geburtstage gesammelt 1 Thlr. 1 Ngr.; H. Kl. 5 Thlr.; Schullehrer Weide in Vieselbach 3 Thlr. und dessen Sohn in Kleinmölsen 2 Thlr.; Moelders in Lüttich 10 Thlr.; Gebhardt 1 Thlr., Frau Hahn 2 Thlr. und G. R. in Gotha 10 Ngr.; Järschke in Lähn 10 Thlr; Sowack in Gr. Glogau 2 Thlr.; V. Rudeck in Eleonorenthal 3 Thlr.; Lasse die rechte Hand nicht wissen, was die linke thut, 5 Thlr.; Sophie in Burgjoß 1 Thlr.; Diaconus Behr in Köstritz 3 Thlr.; A. B. in Z. 3 Thlr.; vom Mittwochskegelclub der Kleinen Funkenburg 12 Thlr.; Cassirer Bauer 1 Thlr.; Sammlung in der Fabrik von D. Magnus in Eutritzsch 16 Thlr. 10½ Ngr.; Fr. Seefeld 1 Thlr.; Oscar Erdmann in Smiechow 10 Thlr.; B. Fekete in Pest 4 Thlr.; M. J. in Gera 3 Thlr.; vom Hainberg (Asch) 3 Thlr.; Ernst und Karl M., Süddeutsche in Prag, 40 Thlr., da die österreichische Regierung die Sammlung für die deutschen Krieger verboten hat; August Wehrfritz in Höchst 1 Thlr.; A. Brendel 5 Thlr., Marie und Helene Brendel 1 Thlr.; Schüler Görwitz 10 Ngr., Schüler Basemann 10 Ngr. und Schüler Benndorf 10 Ngr. (Bravo!); Ed. Grützmacher und Albert Schulz 20 Thlr.; Leopold Gebhardt 80 Franken; wenig mit Liebe von Bertha in M. 3 Thlr.; A. C. 15 Ngr. und dessen Kinder 15 Ngr.; Gust. Fiedler in Teplitz 10 Thlr.; F. W. Reuß in Dewsbury (England) 33 Thlr. 6 Ngr.; Fr. Grosse in Olmütz 20 Fl.; A. K. in Reichenberg 2 Fl. und 7½ Ngr.; Ministerialrath Adolf Neumann 5 Thlr.; Rich. Th. 3 Thlr.; O. R. W. pro Juli 1 Thlr.; Frz. Br. für Monat Juli 1 Thlr.; Theodor Schwerd 1 Thlr.; „Deutschland über Alles“, vulgo Schlimpert, 5 Thlr.; August Heinau in Klingenherg: „Gott mag weiter helfen“ 5 Thlr.; Paul Schneider in Gröppendorf 5 Thlr.; Th. Schnackenberg in Ulfen 10 Thlr.; Emma P. in Fr. 5 Thlr. 20 Ngr.; Layki in Bialla 1 Thlr.; Anton Schauer 3 Thlr.; vom Spieltisch der Gesellschaft „Apetitlia“ mit dem Motto: Nieder mit Bonaparte 1 Thlr. 10 Ngr.; Ferd. Mühler in Alt-Mittweida 5 Thlr.; Barth. Senff 5 Thlr.; Geißler in Glauchau 1 Thlr.; aus Friedberg 2 Thlr.; Scatgesellschaft A. H. S. Z. 21 Thlr. 6 Ngr. 3 Pf.; Ellrich, ein armer Fischer in Leipzig 1 Thlr.; Carl Ambros. Barth in Leipzig 10 Thlr.; Hanstein in Friedberg 2 Thlr.; Familie Rahm in Mautern 10 Fl. ö. W. und der Knecht Jacob Oblasser aus preuß. Schlesien 1 Fl. ö. W.; Gesellschaft in Kiesel’s Restauration in Zielenzig 5 Thlr.; A. Wolff in Gößnitz 3 Thlr.; Sammlung der Schulkinder in Wenig-Walditz durch Lehrer Voigt 3 Thlr.; Dr. Schulten in Gaudernheim 100 Fl. rhein. (57 Thlr. 4 Ngr.); M. M. v. Weber 100 Fl.; Georg Thorey in Leipzig 100 Thlr.
Durch die Schriftgießerei von J. G. Schelter und Giesecke in Leipzig 26 Thlr. 14 Ngr. erster Wochenbeitrag. Eine sichere Garantie auf noch für mehrere Monate ausdauernde Arbeit hat das Arbeiterpersonal zu dem Entschlusse vermocht, von jedem nicht unter 3 Thlr. betragenden Wochenlohne je 1 Ngr. von jedem verdienten Thaler als freiwillige Steuer zu obigem Zweck abzugeben. Zur Summe legt die Firma die gleiche Summe hinzu, und der volle Betrag wird jeden Montag bei der Gartenlaube eintreffen. Dank den braven Arbeitern und den Geschäftsherren; möge ihnen die Ehre recht zahlreicher Nachahmung zu Theil werden!
- ↑ Der Vollständigkeit wegen theilen wir im Anschluß an diesen Artikel aus einem früheren Jahrgange eine Illustration des bekannten Malers Fikentscher mit, welcher bei einem Besuche des Lagers von Chalons Gelegenheit hatte, persönlich die einzelnen Truppengattungen der französischen Armee kennen zu lernen. Die Redaction.
- ↑ Wir haben in unserem vorigen Artikel schon angedeutet, daß wir in diesen ersten Schilderungen unserer großen Zeit nur Einleitendes geben können, das selten über den Rahmen des Lebensbildes unserer Stadt hinausgeht, eben weil in diesem Bilde im Kleinen die ganze große Bewegung unseres Vaterlandes sich widerspiegelt. Wir liefern damit allerdings nur Material für die künftige Geschichtschreibung; dasselbe wird aber um so werthvoller sein, je treuer wir im beschränkten Kreise auf Wahrheit und Klarheit halten. Und das wollen wir.