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Die Gartenlaube (1869)/Heft 7

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung)



„Mann, Sie kommen aus dem Hause, wo ein Typhuskranker liegt?“ schrie Frau von Herbeck entrüstet auf, indem sie sich schützend vor die kleine Gräfin stellte und ihr Battisttaschentuch an den Mund hielt.

„Ach, machen Sie doch keine Geschichten!“ entgegnete Sievert fast knurrend und streckte mit einer sehr wenig respectvollen Bewegung seine knochige Hand nach der bebenden Gouvernante aus. „Es geht noch lange nicht an ihr Leben! … Der Hüttenmeister leidet schon gar nicht, daß Einer so mir nichts, Dir nichts in’s Pfarrhaus geht. Hab’ mich in der Gießerei erst stundenlang ausräuchern und auslüften müssen – obwohl das, so zu sagen, eine Dummheit ist – denn der Doctor hat zehn Mal gesagt, daß die Krankheit jetzt noch gar nicht ansteckt!“

Er wendete sich wieder zu Jutta. „Also ich soll ihnen ausrichten, es wär’ heute nichts mit dem Hierherkommen und der Bescheerung, weil’s unser Student eben – just in dem Moment – mit dem Sterben zu thun hat.“ Bei den letzten Worten klang die rauhe Stimme fast grell, unter dem sichtlichen Bemühen, das Brechen derselben zu verhindern.

„O Gott, der Aermste!“ rief Jutta; es blieb zweifelhaft, wen sie meinte, den Sterbenden oder ihren Bräutigam; aber fast schien es, als begreife sie, daß dies doch nicht der schickliche Moment sei, den eigenmächtigen Schritt auszuführen, den sie vorhatte – unwillkürlich wandte sich ihr Fuß, wieder treppauf zu steigen. Frau von Herbeck ergriff plötzlich ihre Hand und hielt sie fest wie unter einem Schraubstock.

„Das ist ein sehr beklagenswertes Ereigniß!“ sagte sie, und der Ton inniger Theilnahme gelang ihr vortrefflich. „Ich fühle die doppelte Verpflichtung, Sie in diesen traurigen Augenblicken nicht allein zu lassen. Kommen Sie, liebes Kind – wir dürfen auch Gisela nicht so unverantwortlich lange dem abscheulichen Zugwind hier aussetzen.“

Jutta verließ die letzte Treppenstufe.

„Sagen Sie dem Hüttenmeister, daß ich sehr unglücklich sei,“ wendete sie sich an Sievert. „Ich gehe für einige Tage nach Arnsberg und –“

„Sie gehen nach Arnsberg?“ rief er und griff an seinen Kopf, als sei ihm das Gehörte unfaßlich.

„Und warum nicht, Mann?“ frug Frau von Herbeck eisig kalt, mit jenem Ausdruck feudalen Uebergewichts, der sofort jedwede ungelegene Antwort verstummen machen will. Das imponirte indeß dem alten, verbitterten Soldaten sehr wenig. Er stieß ein rauhes Hohngelächter aus. „Nach Schloß Arnsberg, das dem Baron Fleury gehört?“ wiederholte er.

Frau von Herbeck warf einen Blick nach der Hausthür. Dort stand der Lakai unbeweglich mit abgezogenem Hut, und draußen kauerte der pelzumhüllte Kutscher auf dem Bock – sie mußten jedes Wort hören.

„Ich muß Sie dringend bitten, liebste Fräulein von Zweiflingen, dies eigentümliche Zwiegespräch abzukürzen,“ sagte sie malitiös, wenn auch mit sehr unruhig flackernden Augen. „Ich verstehe nicht, was der Mann will! –“

„Ich weiß es!' unterbrach Jutta die Dame tief erbittert, indem sie sich hoch und stolz aufrichtete. „Hofmeistern will er mich! … Er vergißt nur zu gern seine Stellung und macht sich stets der empörendsten Uebergriffe schuldig. … Aber ich sage ihnen, Sievert,“ wandte sie sich in unsäglich verächtlichem Ton und bebend vor Entrüstung an den alten Mann, „die Zeiten sind vorüber, wo Sie sich unterstehen durften, mir und meiner armen Mama ihre sogenannten Wahrheiten in’s Gesicht zu sagen und uns das Leben so unbeschreiblich schwer zu machen. … Wenn auch Mama in ihrem leidenden Zustand diese ewigen Widersprüche und Ungeschliffenheiten geduldig hingenommen hat, so war das ihre Sache – ich aber verbitte mir ihre Bevormundung hiermit für alle Zeiten!“

Damit rauschte sie weiter, aber noch einmal, und zwar mit einem unnachahmlichen Gemisch von Grazie und hocharistokratischer Würde wandte sie den Kopf zurück – sie war offenbar zum Befehlen geboren.

„Sagen Sie ihrer Herrschaft, daß ich für die Feiertage Frau von Herbeck’s Gast sein würde!“ rief sie der wortlos dastehenden Rosamunde zu, dann schritt sie mit einem leichten Kopfneigen an dem sich verbeugenden Lakaien vorüber und bestieg den Schlitten, in welchem Frau von Herbeck und die kleine Gräfin bereits Platz genommen hatten. Er flog pfeilgeschwind in die Nacht hinein – es war eine nur kurze, ebene Strecke, die er zu durchmessen hatte, und doch fuhr er über eine unausfüllbare Kluft; die Furchen, die er im Schnee zurückließ, waren die einzige und letzte Verbindung zwischen Schloß und Pfarrhaus.

Sievert war sprachlos am Fuß der Treppe stehen gebliebenen; erst das Schellengeklingel des davonsausenden Schlittens weckte ihn aus der Erstarrung, mit welcher er der dahinschwebenden jungen Dame nachgesehen hatte. Nun aber rannte er hinaus in das Dunkel. „Undank, Undank!“ murmelte er und streckte die geballten [98] Hände in unbeschreiblicher Aufregung gegen den flimmernden Himmel – dort, über dem Hüttenwerk funkelte der Sirius in feinem weißen Licht, der bleiche Liebling des alten Sternkundigen. Sein finsterer Blick haftete an dem Stern. „Ja, ja, da steht der alte Knabe und denkt wunder wie fest!“ lachte er ingrimmig. „Und ist doch auch nicht mehr roth, wie ihn die Alten gesehen haben! ‚Rrr, ein ander Bild!‘ heißt’s da droben eben so gut wie in der elenden, erbärmlichen Menschenseele! … Hei, fahre Du nur hin in’s Schloß! ‚Wohl bekomm’s!‘ sagt der alte Sievert – aber es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn’s Der da droben – gesegnen sollte!“ …


6.

Schloß Arnsberg lag nicht, wie die meisten alten Thüringer Schlösser, auf dem Berge. Irgend ein adeliger Nimrod des dreizehnten Jahrhunderts, dem am wohlsten unter Bären und Wölfen gewesen sein mochte, hatte inmitten der zu jenen Zeiten fast noch undurchdringlichen Thalwildniß den gewaltigen Steinhaufen aufgeschichtet. Rauh, ohne jedweden architektonischen Schmuck, stiegen damals die klafterdicken Mauern empor, nur hie und da ein schmächtiges, unsymmetrisch hingestreutes Fenster freilassend, durch das der Waldesodem und das grüngefärbte Licht des Dickichts einschlüpfen konnten. Aber es galt nicht allein, die andringenden Bestien des Waldes abzuwehren. Der Geist der Erfindung, der zu allen Zeiten gesonnen hat, wie die Frage über das Recht und Unrecht, über das Mein und Dein, über Herrschaft und Unterwerfung am blutigsten zu schlichten sei, und der in unserem waffengesegneten Jahrhundert im Zündnadelgewehr und Hinterlader gipfelt, er war auch damals zu fürchten in seinen Wurfgeschossen, seinen Steinkugeln und Bolzen, und deshalb umgürtete sich das Schloß im Thal mit hohen Ringmauern und breiten Wassergräben. Später, als die Civilisation ihren Fuß auch in diese Wildniß setzte, als die Pflugschaar den jungfräulichen Waldboden ausriß und das volle Sonnenlicht nun aus blaublühenden Flachsfeldern und wogenden Haferähren funkelte, da zogen sich die Raubthiere scheu zurück, so gut wie sich ihre bisherigen einzigen Verfolger, das alte, einer schrankenlose Jagdlust fröhnende Geschlecht, Stück um Stück des usurpirten Waldgebietes entreißen lassen mußten von den eindringenden Menschenkindern, die so anmaßend waren, auf Gottes schöner Erde auch existiren zu wollen. Und selbst über den Horst des alten Nimrod wehte der Hauch einer netten Zeit. Der Wassergraben versumpfte, die Steine, die sich allmählich von den Ringmauern losbröckelten, wurden nicht wieder eingesetzt, und die Ketten der Zugbrücke rosteten, denn es zog sie Niemand mehr auf.

Das Schloß im Walde ging durch verschiedene Hände, und jeder neue Besitzer flickte und veränderte den alte Bau im Stil seiner Zeit, bis er schließlich den romantischen Charakter der Ritterburg völlig verloren und dafür das Gepräge eines modern behäbigen, wenn auch immerhin stolzen Landedelsitzes eingetauscht hatte. Die geschwärzten Mauern, denen man unter unsäglichen Mühen lange Fensterreihen abgerungen, bedeckte ein heller, leuchtender Kalkbewurf, um deswillen Schloß Arnsberg in der Umgegend meist „das weiße Schloß“ genannt wurde. Sorgfältig gepflegter Sammetrasen, mit Blumengruppen bestickt, lag jetzt da, wo einst das fahle, trügerische Grün der Algen geschwommen, wo die modrige Ausdünstung des stagnirenden Grabenwassers das reine Waldaroma verpestet hatte, und von den ehemaligen Befestigungswerken stand nur noch hie und da ein halbeingestürzter Thurm, oder ein kohlschwarzes Mauerstück, unter dem Schatten einer uralte Rüster oder Eiche und überwuchert von Kletterpflanzen, als schmückende Ruine des Schloßgartens. Drinnen aber hatte das alte Gemäuer seine interessante, mittelalterliche Physiognomie siegreicher zu behaupten gewußt. War auch die Zeit der Renaissance, vor Allem aber der Rococostyl mit seinen vorherrschend krummen Linien ausschmückend thätig gewesen, – das Rauhe, Schlichte und Herbe des ersten Gedankens, infolge dessen das Bauwerk entstanden, hatten sie doch nicht ganz zu verwischen vermocht. Vielleicht war es dieser versteckte Zug des streng Einfachen, was auf die eigenthümlichen Neigungen der kleinen, Putz- und Prunksucht verachtenden Gisela einen unbewußten, geheimen Reiz ausübte – das Kind blieb sehr gern in Arnsberg und verlangte nicht nach der Stadt zurück, obgleich es wie eine kleine verwunschene Prinzessin droben in den einsamen, verschneiten Bergen saß, nie mehr Gelegenheit hatte, in ein anderes kindliches Antlitz zu sehen und lediglich auf den Umgang mit Frau von Herbeck und Jutta angewiesen war. Freilich kam auch, trotz der tiefverschneiten Wege, Baron Fleury fast allwöchentlich auf einen Tag nach dem weiße Schlosse, um das Kind zu sehen. Die Welt pries diese aufopfernde Zärtlichkeit und Hingabe, die Kleine selbst aber lächelte ihm nach der beschwerlichen Fahrt niemals entgegen. Und er widersprach ihr doch so selten, ja, es schien fast, als erfülle er ihre unvernünftigsten Wünsche am liebsten. Er brachte kostbare Spielereien und Toilettengegenstände mit; freilich confiscirte er dafür einen Theil der leidenschaftlich geliebten deutschen Lese- und Märchenbücher mit dem Bemerken, die Gräfin Sturm dürfe beileibe kein Bücherwurm werden. Auf die Mittheilung der Gouvernante hin verbot er sofort jedweden Verkehr mit dem Neuenfelder Pfarrhause; er hielt ferner unerbittlich streng darauf, daß das Kind nie auch nur einen Augenblick ohne standesgemäße Begleitung sei, und doch wäre es so unbeschreiblich gern einmal allein durch die entlegeneren Gänge des Schlosses, vor Allem aber nach dem niebenutzten alten Saal gelaufen, der direct an die Schloßkirche stieß – seine Wände waren bedeckt mit vortrefflichen, uralten Frescogemälden aus der biblischen Geschichte – „gräuliches Zeug, das sie nicht sehe könne, ohne Nachts schreckhaft davon zu träumen“ – meinte Frau von Herbeck stets sich schüttelnd, indem sie ihre Begleitung dahin consequent verweigerte. … Was aber den inneren Widerspruch der kleinen Gräfin am meisten herausforderte, das waren die ihr von dem Papa und der Gouvernante octroyirten Clavierstunden bei Fräulein von Zweiflingen.

Während ihres ganzen jungen Lebens war Jutta nur einem einzigen Menschen begegnet, der ihrem unwiderstehlichen Liebreiz zu allen Zeiten einen unbestechlichen Ernst entgegengehalten hatten – es war der alte Sievert; jetzt aber, im engeren Verkehr mit Gisela machte sie die Erfahrung zum zweiten Mal. Es war interessant zu sehen, wie dies häßliche, schwächliche Geschöpfchen der strahlend schönen jungen Dame im fortgesetzten, stillschweigenden Kampfe gegenüber stand. Der von Jutta’s Seite fast leidenschaftlich gezeigte Wunsch, die Zuneigung der kleinen Hochgeborenen zu gewinnen, scheiterte consequent an dem kalten, ungerührten Blick der klaren, rehbraunen Augen, und ließ sich das junge Mädchen ja einmal hinreißen, die zarte Hand liebkosend auf den Scheitel des Kindes zu legen, da wich der kleine Kopf entrüstet zurück und schüttelte das farblose Haar so energisch, als könne damit jede Spur der ungebetenen Berührung abgeworfen werden.

Frau von Herbeck ignorirte diese „Eigentümlichkeit“ des „Engelchens“ in ihrer lächelnden, das Unvermeidliche glatt übergehenden Weise, insgeheim aber versicherte sie Jutta, das sei der unausstehliche gräflich Völdern’sche „Dickkopf“, den leider auch die hochselige Großmama besessen und der sie innerlich manchmal bis zur Wuth bringe.

Jutta bewohnte zwei hübsch meublirte Räume am Ende der langen Zimmerreihe, welche die kleine Gräfin und ihre Gouvernante inne hatten. Wie eine Pflanze, die urplötzlich in’s rechte Licht versetzt wird, entfaltete sich die ganze Individualität der letzten stolzen Zweiflingen in der hocharistokratischen Atmosphäre des gräflichen Hauses. Der mit Silbergeschirr beladene Mittagstisch, die auf jede Wink herbeieilende Lakaien, die Ausfahrten auf den seidendamastenen Polstern des eleganten Wagens, das waren Dinge, die sie bisher hatte entbehren müssen und die sich doch ganz von selbst verstanden für den Abkömmling hochgebietender Vorfahren. Das Waldhaus lag drüben festverschlossen, wie begraben unter den eisstarren Wipfeln; hinter seinen Riegeln, im dumpfen, feuchten Thurmzimmer moderte das zurückgelassene alte, braune Wollenkleid und mit ihm alle unerquicklichen Reminiscenzen der letzten Jahre; die junge Dame wies sie zurück wie unverschämte Bettler, wenn sie sich ihr ja einmal im Contrast mit der Gegenwart aufdrängen wollten. Ebenso rasch war sie mit der Zurechtlegung des ihr ziemlich rätselhaft gebliebenen Auftrittes zwischen dem Minister und ihrer Mutter fertig geworden. Sie hatte ja schon an jenem Abend zur Seite des so leidenschaftlich angegriffenen Mannes gestanden und gelangte auch nachträglich sehr leicht zu der Ueberzeugung, daß ihre Mutter, fast bis zum Wahnwitz gereizt infolge ihrer furchtbaren körperliche Leiden und verblendet durch böswillige Einflüsterungen Anderer, dem Minister schweres Unrecht gethan habe.

[99] Diese Annahme blieb ihr auch vorläufig ungeschmälert. Der Hüttenmeister war allerdings für den ersten Augenblick tieferschrocken gewesen über Jutta’s unüberlegten Schritt, aber der Fehler war einmal geschehen und ließ sich ohne Eclat nicht mehr ändern. Der junge Mann konnte der Geliebten nicht einmal den Vorwurf der Unüberlegtheit machen, denn sie war ja nie eingeweiht worden in ihre Familienverhältnisse – um die unmittelbar vor Frau von Zweiflingen’s Tode stattgefundene heftige Scene wußte er nicht; Jutta, als alleinige Zeugin, hatte den Vorfall nie mit einem Wort berührt. Während der ersten Zeit ihres Aufenthaltes im weißen Schlosse konnte der Hüttenmeister nicht persönlich mit ihr verkehren. Berthold’s jugendkräftige Statur hatte in jener entscheidenden Krisis, die am Weihnachtsabend eingetreten, gesiegt; er blieb dem Leben erhalten, wenn er auch alle Stadien der furchtbaren Krankheit durchmachen mußte. Während dieser Zeit wußte Jutta brieflich dem Verlobten das Unverfängliche und zugleich die Nothwendigkeit ihres Schrittes sehr überzeugend darzustellen, und er hütete sich, durch unzeitige Aufklärung ihr die Unbefangenheit zu rauben, die sie zu dem nun einmal eingegangenen Verkehr mit Frau von Herbeck und der kleinen Gräfin nöthig hatte. Später, als die Gefahr der Ansteckung vorüber, ging er oft nach Arnsberg. Freilich erlebte er nicht, daß die Braut an sein Herz flüchtete, um dort ihren „starren, thränenlosen Schmerz“ endlich auszuweinen – sie war mit sich allein fertig geworden. Eine schweigende, scheinbar verzagende Nonnengestalt hatte er durch den Wald in das Pfarrhaus geleitet, und im Schlosse trat ihm ein wahrhaft königliches Weib entgegen, eine Erscheinung, die urplötzlich die letzte beengende Knospenhülle abgestreift und gleichsam über Nacht jene anmuthige Sicherheit angenommen hatte, die scheue und schüchterne Mädchenseelen meist erst nach jahrelangem Kampfe mit sich selbst erringen.

Jutta entwickelte sehr viel Esprit und jene meisterhafte Art, Conversation zu machen, die selbst die oberflächlichsten Plaudereien pikant und anziehend erscheinen läßt. Dabei schwebte häufig ein völlig neues, verführerisches Lächeln um ihre Lippen – es hätte dem Hüttenmeister auffallen müssen, daß er alle diese Eigenthümlichkeiten früher nicht gesehen, oder mehr noch, daß nicht er es gewesen, der sie zu erwecken vermocht hatte; allein sein eigenes goldtreues Gemüth, sein blindes Vertrauen auf Jutta’s Charakter und hingebende Liebe ließen nie auch nur eine Spur von Verdacht in ihm aufkommen. Er gab sich arglos dem neuen Zauber hin, und wenn auch das junge Mädchen jetzt weit zurückhaltender war als sonst, wenn sie ihn nicht mehr mit der lebhaften, stürmischen Freude empfing, wie ehemals im Waldhause – so entsprang dies einzig und allein der Scheu vor der neuen Umgebung, eine Auffassung, die offenbar auch Frau von Herbeck theilte, denn sie bemühte sich, durch verdoppelte Liebenswürdigkeit Jutta’s verändertes Wesen zu verdecken – diese „durch und durch respectable, prächtige“ Frau von Herbeck! – – –

So war der Winter verflossen, ein so strenger und weißer Winter, wie er den Thüringer Wald seit langen Jahren nicht heimgesucht. Das erste, lustige Flockengewimmel, welches die Pfarrerin von Neuenfeld so freudig begrüßt hatte, war der Vorläufer eines ungeheuren Schneefalles gewesen. Vorzüglich droben in den höchsten Gebirgsregionen hatte es monatelang so unermüdlich und consequent geschneit, daß die Häuser Tag für Tag tiefer einsanken in ihr weißes Grab, bis schließlich nur noch hier und da die schornsteingekrönte Holzfirst wie eine graue Linie auf dem flimmernden Weiß lag; niedrigere Hütten aber ließen nicht einmal diese Spur ihres Daseins auf der Oberfläche zurück. Die Bewohner stiegen durch den Rauchfang aus und ein, und es kam vor, daß Wanderer, die in der unkenntlich gewordenen Gegend den Weg verloren hatten, zu ihrem Entsetzen urplötzlich versanken und mit Blitzesschnelle in einen engen Schacht einfuhren, um sich drunten auf der Heerdplatte, inmitten sehr erschrockener Gesichter, wiederzufinden.

Warm war’s da unten in der tiefen Finsterniß, die der knisternde Kienspahn oder das qualmende Oellämpchen matt durchleuchteten – an Feuerung fehlte es nicht; aber der Topf, der im Ofen brodelte, enthielt kaum die Hälfte der gewohnten täglichen Mahlzeiten, ja, öfter noch stand er feiernd auf dem Küchenbret, und die eingesargten Leute gingen hungrig zu Bette. Der im vergangenen Herbst so kärglich eingeheimste Kartoffelvorrath ging rasch zu Ende, und wehe dem armen Waldbewohner, wenn ihm diese Quelle versiecht! Die Kartoffel vertritt bei ihm Fleisch und Brod; er ißt sie gebraten oder in der Pfanne gebacken zu feinem dünnen, elenden Kaffee, mit welchem die erquickende Moccabohne gewöhnlich nur noch den Namen gemein hat. Damit sättigt er sich oft monatelang, und eine einzige Mißernte läßt sofort das Gespenst der Hungersnoth auftauchen.

Nun klangen die Osterglocken durch die weißen Thäler, und als ob er nur auf diese ersten Frühlingsstimmen gewartet, flog ein warmer Thauwind auf und streifte hin über die hochgethürmten Schneezinnen der Berggipfel, über die Tausende zackengeschmückter Eispyramiden, die der Fichtenwald hoch hinauf nach den Wolken reckte. Das ist bei hohem Schneefall stets ein verhängnißvoller Moment für einzelne Thäler des Thüringer Waldes. … Es tropft leise, leise von den glitzernden Eisnadeln herab auf die Schneedecke, die außen wie ein blanker Schild, noch trotzig und scheinbar siegreich die Strahlen der heiteren Märzsonne zurückwirft, während unter ihr bereits kleine Wasseradern pulsiren. Das geräuschlose Durchsickern wandelt sich allmählich zu Rinnen und Rieseln, zu tausendfältigen schmalen Bächlein, die gnomenhaft wühlend thaleinwärts streben. Die häuserhohe Schneeschicht sinkt ein, ihre marmorglatte, zu körnigem Eis erhärtete Oberfläche zerberstet, und aus den Spalten steigen gurgelnd und brodelnd die unterirdischen, schmutzig gelben Wasser. … Nun dringt auch das Tageslicht wieder durch die Hüttenfenster, aber mit bangklopfendem Herzen sehen die Bewohner den schäumenden Wasserschwall von den Bergen stürzen. Wohl mündet er anfänglich in den kleinen Fluß, der über die Thalsohle hinrauscht und friedlich die Mühlen treibt – eine kurze Zeit wälzen sich die trüben, losgerissene Felsstücke und entwurzelte Bäume mitschleppenden Wogen in dem schmalen Bett, allein sie schwellen und steigen beharrlich.

Immer breiter und vielseitiger quellen die mißfarbenen Bänder droben aus dem Walddickicht; die Frühlingssonne sieht das Verderben mit ihnen herabstürzen und saugt lächelnd ihren glühenden Kuß immer fester an das Thalgelände – sie will Blumen wecken und schreitet dabei unerbittlich über Menschenwerk und Menschenwohlfahrt. Der Boden schluckt den zerronnenen Schnee nicht mehr, es quillt und wogt nun auch auf Ackerland und Wiesengründen, der Fluß schwillt über – und nun möge sich Gott erbarmen! – „Wassersnoth auf dem Walde!“ rufen bestürzt die Bewohner der Niederungen, wenn die von droben herabtosenden, hochangeschwollenen Flüsse Häusertrümmer und Geräthschaften auf ihrem Rücken mitbringen.

Die Neuenfelder Gegend war diesen Gefahren weniger ausgesetzt, sie erstreckte sich nicht bis in jene unheimlichen Regionen. Der kleine Fluß jedoch, der so anmuthig das Thal durchschnitt und im Sommer oft allzu sanftmüthig und unschuldig über das Wehr hinabfloß, war zur Frühlingszeit ein heimtückisches, mit den Hochfluthen der oberen Berge correspondirendes Gewässer. Er trat dann auch leicht über die steilen Ufer und nahm mit, was sich an Mühlen, Brücken und Stegen irgend losreißen ließ.

Am dritten Osterfeiertag Nachmittags wanderte der Hüttenmeister in Begleitung des Studenten nach Schloß Arnsberg. Berthold war völlig wiederhergestellt und sollte in den nächsten Tagen nach der Universität zurückkehren. Er hatte es bis dahin consequent verweigert, sich der Braut seines Bruders vorstellen zu lassen. Niemand wußte, daß dies junge, feurige Gemüth alle Qualen tödtlicher Eifersucht durchlitt, daß es eine Art von Haß in sich trug gegen das Wesen, das den ernsten, abgöttisch geliebten Bruder berückt hatte und seine ganze Seele erfüllte. Dabei war ihm Jutta’s adelige Abkunft stets ein Gegenstand des Mißtrauens gewesen und dieser Argwohn erhielt reichliche Nahrung durch die Uebersiedelung der jungen Dame nach dem weißen Schlosse. Er ahnte in Sievert einen Verbündeten, und wenn auch der Alte in Rücksicht aus den Hüttenmeister und gestützt auf die Erfahrung, daß seine Warnungen stets Oel in’s Feuer gegossen, consequent schwieg, so gab es doch Momente, wo sein unauslöschlicher Groll rückhaltslos durchdrang und in dem Studenten die Besorgniß, sein Bruder könne unglücklich werden, bis zur namenlosen Angst steigerte.

Er schritt jetzt schweigend neben dem Hüttenmeister her, der endlich, um der vermeintlichen Schüchternheit des jungen Menschen zu Hülfe zu kommen, einen Machtspruch gethan und ihn zu einem Besuch bei Jutta gezwungen hatte.

[100] War der Contrast zwischen den zwei Brüdern schon früher ein auffallender gewesen, so ließen sie sich jetzt, wo Berthold’s Erscheinung noch sehr unvortheilhafte Spuren der überstandenen Krankheit trug, in gar keiner Weise mehr vergleichen. Die überschlanke Gestalt des Studenten bog sich noch immer ziemlich matt und haltlos vornüber. Sein mageres, scharfgeschnittenes Gesicht mit der durchsichtigen Blässe und den sehr großgewordenen dunklen Augen erschien fast gespenstig, und das schmucke Cereviskäppchen, das früher keck über einer wahrhaft prächtigen Lockenfülle geschwebt hatte, saß jetzt fast trübselig auf dünngewordenen, spärlichen Haarringeln – im Vergleich zu der tadellos schönen Männergestalt des Hüttenmeisters sah der junge Mann verkommen, ja, beinahe häßlich aus.

In dem Flußbett, neben welchem die Beiden eine kurze Strecke hingingen, tobte eine lehmfarbene Wassermasse; das Ufergebüsch war zum größten Theil verschwunden, und nur noch die oberen Zweige der elastischen Weide ragten wildgepeitscht aus dem Schwalle. Das Wasser stieg von Stunde zu Stande. … Auf der Jochbrücke, die ein Stück oberhalb des Wehres über den Fluß führte, blieb der Hüttenmeister einen Augenblick stehen und verfolgte tiefbesorgt die Gegenstände, die in rasender Geschwindigkeit heranschwammen – es waren bis jetzt nur Baumstämme und weggeschwemmtes Scheitholz, die mit wuchtigen Stößen gegen die Brückenpfähle fuhren und das altersmorsche Bauwerk in allen Fugen krachen ließen.

Wie anders war die Scenerie hinter dem altmodischen, eisernen Gitterthor des Arnsberger Schloßgartens! … Wo der Schnee den intensiven Sonnenstrahlen nicht hatte weichen wollen, war er durch Menschenhände weggeräumt worden. In den langen Lindenalleen leuchtete der trockene, weißgebleichte Kies, die violetten Sterne der Leberblümchen und die gelben Krokuskelche guckten aus dem schwarzen Erdreich der Rondels, und über den weiten Rasenflächen lag der erste wunderfeine Anhauch der hervorkeimenden Grasspitzen. Hinter der Glaswand des großartigen Treibhauses aber dufteten und schimmerten alle Blüthenformen und -Farben, vom dunkeläugigen Veilchen an bis hinauf zur formenschönen, aristokratischen, aber seelenlosen Camellie.

Der Hüttenmeister bemerkte nicht, wie sich der Blick des Studenten verfinsterte, als das weiße Schloß hinter den blätterlosen Baumgruppen aufleuchtete – und es sah doch so gastlich aus; es hatte seine sämmtlichen Fensterläden aufgeschlagen, alle Balconthüren standen weit offen, Lehnstühle und Tabourets waren in ihr Bereich gerückt, und in die sonnengesättigten Lüfte hinaus kreischten Papageien und andere buntschimmernde Exemplare einer exotischen Vogelwelt, die auf ihrem Ring balancirend oder auch in der engeren Haft des Messingkäfigs aus den Balcons standen.

Im Hof, der, inmitten der drei Schloßflügel liegend, durch ein schwarzes Eisengitter vom Garten geschieden wurde, herrschte reges Leben. Der Minister war gestern angekommen und wollte heute noch nach A. zurück, wo für den Abend großer Hofball angesagt war. Wahrscheinlich stand der Moment der Abfahrt nahe bevor; die Stallbedienung schob verschiedene Wagen aus den Remisen und lief geschäftig von einer Thür in die andere. Im vollkommenen Gegensatz zu diesem Treiben lungerten zwei Lakaien in dem Portal, das nach dem Vestibüle führte. Offenbar beim Mittagstisch servirend – sie hatten Servietten über die rechte Schulter geschlagen – ließen sie sich während der Pause zwischen zwei Gängen von der Sonne bescheinen. Sie lehnten den Rücken gegen die Thüreinfassung und streckte die in Kniehosen und weißen Strümpfen steckende Beine lang hin. Keiner hielt es für nöthig, seine nachlässige Stellung zu verändern, ja, auch nur die unverschämt vorgeschobenen Fußspitzen ein wenig zurückzuziehen, als die beiden jungen Leute über die Schwelle schritten. Der Student maß ihre stupid hochmüthigen Gesichter mit einem funkelnden Blick und schlug sich mittels einer hastigen Bewegung das Käppchen fester auf den Kopf.

Droben an der Thür, die einen Corridor verschloß, blieb der Hüttenmeister einen Augenblick stehen, ehe er die Hand auf den Drücker legte.

„Nein, wenn das so fortgeht, da kann Unsereins factisch nicht mehr bleiben!“ sagte drin eine, weibliche Stimme, fast erstickt vor Aerger. „Na, die hochselige Gräfin sollte nur ’mal kommen und den Scandal mit ansehen! … Vom Tische fortgeschickt! Hat man so ’was schon erlebt? – Die kleine Gräfin Sturm vom Tische fortgeschickt, weil sie nicht um Verzeihung bitten will – und wen, frage ich? … Hören Sie, Charlotte, ich weiß noch recht gut, wie sie am Weihnachtsabend ankam in der gnädigen Frau ihrem blauen Sammetmantel, weil sie selber nicht einmal ein Mäntelchen auf dem Leibe hatte – Unsereins hätte sich zu Tode geschämt, so anzukommen. … Die eingebildete Person! Bei ihrer Mutter hat sie Hunger und Kummer leiden müssen. … Mir hat der Forstgehülfe Müller selbst erzählt, daß er gar manches Mal ein Auge zugedrückt hätte, wenn der alte Sievert Holz mitgenommen –“

In diesem Augenblick stieß der Hüttenmeister, flammendroth im Gesicht, die Thür auf. Lena, die hübsche Kammerjungfer der kleinen Gräfin, fuhr erschrocken zurück und schrie laut auf, wobei ihr die daneben stehende Collegin secundirte. Allein die kleine Dame hatte sich an Umgang mit Hofleuten gebildet und verlor lieber ein Stückchen persönlicher Ehre, als ihren guten Ruf hinsichtlich der Formgewandtheit; demgemäß hatte sie sich sofort wieder gefaßt. Anmuthig lächelnd legte sie die kleine, beringte Hand kokett auf ihr erschrockenes Herz, schritt aber dabei nach einer Thür zurück, deren einen Flügel sie einladend öffnete.

„Bitte, treten Sie einstweilen ein, Herr Hüttenmeister!“ sagte sie freundlich. „Fräulein von Zweiflingen ist noch bei Tische – es wird heute drunten im weißen Zimmer bei Seiner Excellenz dinirt.“

Der junge Mann war schweigend an ihr vorübergeschritten – auf der Schwelle aber wich er überrascht zurück; der geöffnete Thürflügel war breit genug, um auch dem nachfolgenden Studenten einen Einblick in das Zimmer zu gewähren. … Das Tageslicht, das draußen so golden auf Berg und Thal lag, schwamm grün, gleichsam als smaragdener Duft da drinnen – es drang durch leuchtend grüne, seidene Gardinen. Mit solch’ grünem Zauber umspinnt die Sage den Meeresboden – ein dichterischer Gedanke, den üppige Phantasie und ein raffinirter Geschmack der Ausschmückung dieses Zimmers zu Grunde gelegt hatte. Der strahlende Seidenstoff der Vorhänge rauschte auch über Thüren und Wände und lag auf den schwellenden Polstern der muschelförmig geschweiften Fauteuils und Causeusen, deren Contouren eine schmale, mit Perlmutter ausgelegte Holzeinfassung bezeichnete. … Bleiche Marmorgestalten, Nereiden und schilfumrankte Tritonen, hoben sich aus der Wanddraperie, und das grüne Licht spielte hin über die weißen Leiber, wie die leichte Schaumwelle des Meeres. Auf dem Fußboden lag ein dunkler Smyrnateppich, bedeckt mit Seelilien und langen Schilfblättern; Gruppen von Korallen und Muscheln rafften die Vorhänge und Portieren zurück, und an der Decke schwebte als Ampel eine riesige Lotosblume aus weißem Milchglas.

„Treten Sie nur näher, Herr Hüttenmeister!“ wiederholte die Kammerjungfer – ihr freundliches Lächeln wandelte sich zu einem unsäglich boshaften; sie schien sich an dem Befremden des jungen Mannes zu weiden. „Es ist ja ganz gewiß Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer – nur ein klein Bischen verändert. … Excellenz haben gestern gefunden, daß die Motten in den wolldamastenen Möbeln seien, und da ist die Einrichtung aus dem Lieblingszimmer der hochseligen Frau Gräfin Völdern heraufgeschafft worden.“

Die schlanke, geschmeidige Gestalt des unseligen Weibes hatte einst auf diesen Polstern geruht – über ihr Nixenhaupt mit dem strahlenden, goldblonden Haar und den verlockenden Augen war der grüne Meereszauber hingeflossen. …

Der Student warf einen forschenden Blick auf das Gesicht seines Bruders – war es einzig und allein die Wirkung des bleichenden Lichtes da drinnen, unter der mit einemmal die Züge des Hüttenmeisters so statuenhaft starr und marmorweiß erschienen? … Er trat mechanisch auf die Schwelle, und der Student folgte ihm.

(Fortsetzung folgt.)

Protest.
Nach den traurigen Erfahrungen, welche die Verfasserin mit den Dramatisirungen ihrer frühere Erzählungen gemacht hat, müssen wir im Auftrage derselben von vornherein gegen jede Dramatisirung der gegenwärtigen Novelle „Reichsgräfin Gisela“ Protest einlegen.
Die Redaction.
[101]

Ein preußischer Richter.

Charakterbild von Siegfried.

Vor vierzehn Tagen wurde in den Berliner Bezirksvereinen ein seltenes Fest begangen: Die Gedächtnißfeier für einen Todten. Nicht für einen jener gigantischen Heroen, die einen blutigen Lorbeer auf ihre Stirn drücken, nicht für einen Helden der Wissenschaft und Kunst, dessen Wirksamkeit bleibende Spuren in großen Werken hinterlassen hat, nein, für einen Mann, der die Verehrung eines dankbaren Volkes einzig und allein der treuen Pflichterfüllung verdankt, mit welcher er das ihm von seinem Staate und Könige übertragene Amt verwaltete, ohne Rücksicht auf die Stömungen der Zeit, ohne Rücksicht auf die Winke der Gewalt, ohne Rücksicht auf die Lockungen der Macht. Der Gefeierte war der Repräsentant des alten unabhängigen Gerechtigkeitssinnes geworden, der seit dem großen Könige den Ruhm des preußischen Richterstandes gebildet hat. Von ihm mehr als von Anderen gilt das Dichterwort:

Denn wer den Besten seiner Zeit genug gethan,
Der hat gelebt für alle Zeiten.

„Es giebt noch Richter in Berlin!“ Wer von den Tausenden, die am 23. November 1868 am Grabe eines der edelsten Bürger der preußischen Hauptstadt standen, erinnerte sich nicht dieses stolzen Wortes, das dereinst die glänzendste Devise der absoluten preußischen Monarchie bildete? Ja, der Geheime Justizrath Taddel, dessen sterbliche Ueberreste an diesem Tage der Erde übergeben wurden, war einer dieser „Berliner Richter“; er gehörte jener altpreußischen Richterschule an, welche schon ein Friedrich der Große wohl zu brechen, aber nicht zu biegen vermochte. Der große König war wohl im Stande, die Mitglieder seines Kammergerichts auf die Festung zu schicken, aber nicht einen ungerechten Spruch von ihnen zu erzwingen! An dem Grabe des Verewigten stand auch jener Mann, dessen Proceß durch den Tod des greisen Taddel in der Erinnerung seiner Zeitgenossen wieder erweckt worden ist, welcher den altpreußischen Ruhm gewissenhafter Pflichttreue und richterlicher Unabhängigkeit in neuem Glanze erstrahlen ließ.

Gustav Ferdinand von Taddel.

Es war eine der trübsten Perioden der preußischen Geschichte, als nach der Auflösung der Nationalversammlung, nach der Ablehnung der Kaiserkrone im Jahre 1849 der Belagerungszustand über Berlin verhängt war. Es war die Zeit der politischen Processe, einer rastlosen Verfolgungssucht die sich an die Fersen aller derer heftete, welche sich an der Bewegung betheiligt hatten. In Berlin herrschte, selbst über den Willen der Minister hinaus, der allmächtige Wille eines Hinckeldey. Gott sei Dank, derartige Zustände können und werden nicht wiederkehren!

Ein Mann nur schien vor jeder Verfolgung geschützt, weil ein makelloses Leben, das selbst der Verleumdung keinen Spielraum gewährte, weil ein streng-parlamentarisches Wirken keine Handhabe bot, ihn anzugreifen. Allein die im Finstern schleichende Lüge und der grimme Haß der Reaction wußten auch hier Rath. Auf Grund gefälschter Schriftstücke wurde der Führer der äußersten Linken in der Nationalversammlung, der Obertribunalsrath Waldeck, am 16. Mai 1849 verhaftet und mit einem elenden Spion, dem Handlungsdiener Ohm, nach fast siebenmonatlicher Haft unter der Anklage vor die Geschworenen gestellt: von einem hochverrätherischen Unternehmen, das den Umsturz der Verfassung und die Gründung einer social-demokratischen Republik beabsichtigte und gleichzeitig gegen das Leben des Königs von Preußen gerichtet war, Kenntniß gehabt zu haben, ohne dieses Unternehmen der Behörde pflichtmäßig anzuzeigen.

[102] Die Strafe, mit welcher das damals noch geltende Strafgesetz ein solches Verbrechen bedrohte, war der Tod. Die Regierung nahm einen solchen Antheil an dem Fortgange des Processes, daß sie sogar einen stenographischen Bericht über die Verhandlungen aufnehmen ließ. Dieser stenographische Bericht aber sollte sich in ein Ehrendenkmal für den Angeklagten Waldeck, für den altpreußischen Richterstand verwandeln. Freilich, wer die Anklage gelesen hatte, mußte sich von vornherein sagen, daß ihr ganzes Fundament morsch und hinfällig, daß eine Verurtheilung Waldeck’s unmöglich sei. Aber die Beweisaufnahme vor den Geschworenen ergab nicht nur in glänzender Weise die Unschuld Waldeck’s, sondern stellte ihn gleichzeitig als einen der edelsten Männer Deutschlands hin und ließ seine politischen Bestrebungen in dem reinsten Lichte erscheinen. Nicht genug damit: sie enthüllte auch klar und deutlich die Pläne derer, die keine Mittel scheuten, um ihre politischen Gegner zu vernichten; sie enthüllte klar und deutlich, daß die ganze demokratische Partei in seiner Person an den Pranger gestellt werden sollte!

Der Staatsanwalt sah sich am Schlusse der Verhandlung genöthigt, selbst das „Nichtschuldig“ gegen Waldeck zu beantragen und das Zugeständniß auszusprechen, daß die Anklage auf Grund von Schriftstücken erhoben sei, die er als „ein Bubenstück“ bezeichnete, „angefertigt, um einen Mann zu verderben“.

Nur zehn Minuten brauchten die Geschworenen, um den edlen Dulder seiner Familie, seinen Freunden zurück zu geben.

Bis zu dem Augenblicke, wo es bekannt wurde, daß Taddel den Vorsitz in dem Proceß gegen Waldeck führen würde, war er in den weiteren Kreisen der Bevölkerung unbekannt. Seinen Bezirksgenossen galt er für einen Mann von streng conservativer Gesinnung, da er sich bereits im Jahre 1848 einem conservativen Bezirksverein angeschlossen hatte, zu dessen Spitzen der hochconservative Präsident von Kleist gehörte. Taddel theilte zwar nicht die schroffen Anschauungen dieses Mannes, aber er gehörte jenem Kreise von Beamten an, der im absoluten Staate fast allein die freisinnige Richtung vertreten und darum gewissermaßen eine Verfassung ersetzt hatte, welcher indeß die weit über den vormärzlichen Liberalismus hinausgehende, durch die Revolution hervorgerufene Bewegung mißverstand.

Gustav Ferdinand von Taddel, in Küstrin einen Monat nach Friedrich’s des Großen Tode geboren und zum Juristen gebildet, begleitete im Jahre 1809 das Justizcollegium seiner Vaterstadt, die damals von den Franzosen als Pfand für die Kriegscontributionen besetzt gehalten wurde, nach Soldin, wo er im Jahre 1810 die Referendariatsprüfung bestand. An der Zurücklegung des dritten Examens wurde Taddel durch den Ausbruch der Befreiungskriege verhindert, „da er es für eines jeden Preußen Pflicht hielt, sein Privatinteresse der Befreiung des Vaterlandes vom französischen Joch nachzusetzen“. Diese Worte sind einem Privatbriefe des Verstorbenen entnommen. Der vierundzwanzigjährige Jüngling, obgleich gesetzlich vom Militärdienst befreit, trat in das Jägerdetachement des Pommerschen Husarenregiments ein (gegenwärtig Fürst Blücher), wo er von seinen Cameraden sehr bald zum Officier gewählt wurde. Als solcher machte er die Feldzüge von 1813 und 1814 mit. In der Schlacht bei Dennewitz wurde ihm beim Angriff auf ein Quarré ein Pferd unter dem Leibe erschossen. Er stand mit dem Bülow’schen Corps vor Maubeuge, als der Friede geschlossen wurde.

Nach dem letztern in den Civilstand zurückgetreten, wurde Taddel im Jahre 1821 zum Oberlandesgerichtsrath in Frankfurt an der Oder ernannt und nahm noch im selben Jahre als Mitglied des zweiten Senates an dem Erkenntniß Theil, durch welches der in erster Instanz zu dritthalb Jahren Festungsstrafe verurtheilte Turnrath Jahn freigesprochen wurde. Der Beweis des Verbrechens, welches dem alten Manne zur Last gelegt war, bestand in nichts weiter, als in nachgeschriebenen Collegienheften. Die Referenten beantragten vorläufige Freisprechung, aber das Collegium sprach den Angeklagten vollständig frei. Der ehrgeizige Präsident, der den damals erledigten Posten eines Justizministers zu erhalten hoffte, wenn er der Regierung sich gefällig zeigte, drückte nach der Abstimmung unwillig sein Bedauern aus, daß das Collegium das ihm durch Uebertragung des Richterspruches geschenkte Vertrauen nicht gerechtfertigt habe, und reiste mit Courierpferden nach Berlin, um sich bei Friedrich Wilhelm dem Dritten zu rechtfertigen. Er hielt dem König Vortrag und entschuldigte sich wegen des freisprechenden Votums. Der König aber unterbrach ihn mit den schönen Worten: „Dummes Zeug! Die Gerichte müssen ihren Willen haben!“ Die Hoffnung des Präsidenten auf das erledigte Ministerportefeuille ging nicht in Erfüllung, aber freilich auch die Beförderung der Richter, welche das freisprechende Urtheil gefällt, erlitt eine Unterbrechung, die selbstverständlich nicht sowohl dem König, als vielmehr der Umgebung desselben zur Last zu legen ist.

Seit 1833 am Kammergerichte in Berlin angestellt, hatte Taddel soeben das dreiundsechzigste Jahr erreicht, als ihm der Vorsitz in dem Schwurgericht übertragen wurde, vor welchem der gegen Waldeck eingeleitete Hochverrathsproceß verhandelt werden sollte. Nur mit Widerstreben nahm er den ihm ertheilten Auftrag an und erklärte sofort, er werde den Proceß nicht als einen politischen, sondern als einen gewöhnlichen Criminalproceß behandeln. Diesen Grundsatz befolgte der Vorsitzende des Schwurgerichts während des ganzen Laufes der Verhandlungen, und dieser strengen Befolgung ist es zu danken, daß das schändliche Bubenstück entlarvt wurde und daß auch die Staatsbehörde sich gezwungen sah, ihre Verfolgung gegen den hochgeachteten Führer der demokratischen Partei aufzugeben. Es kann nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein, ein detaillirtes Bild des Waldecks’chen Processes aufzurollen, der allerdings noch seines getreuen Berichterstatters harrt. Für den Zweck dieses Charakterbildes wird es genügen, die Hauptzüge desselben in’s Gedächtniß zurückzurufen um darzuthun, welch’ hohe Verdienste der Vorsitzende des Schwurgerichts durch seine klare und lichtvolle Leitung der Verhandlungen, durch seine mannhafte und unerschrockene Haltung um die Enthüllung der Wahrheit und um den Triumph des Rechts sich erworben hat. Wir verweisen übrigens auf den stenographischen Bericht, der unter dem Titel „Der Waldeck’sche Proceß“ in Berlin erschienen ist.

Die Anklage baute, um gegen Waldeck den Beweis der Mitwisserschaft eines hochverrätherischen Unternehmens zu führen, auf den Ereignissen des Jahres 1848 und den Aufständen, welche die Ablehnung der Kaiserkrone im darauf folgenden Jahre in den verschiedenen Gegenden Deutschlands herbeigeführt hatte, einen revolutionären Hintergrund auf, der in Verbindung mit der parlamentarischen Thätigkeit Waldeck’s zunächst darthun sollte, daß ein hochverrätherisches Unternehmen in dem Sinne der Anklage existire, daß der Abgeordnete D’Ester an demselben beteiligt gewesen sei und daß Waldeck’s politische Thätigkeit ihn als einen solchen Mann darstelle, der von diesem hochverrätherischen Unternehmen wohl Kenntniß gehabt haben könnte. Den speciellen Beweis für das Verbrechen sollte ein angeblicher Brief liefern, welcher von D’Ester an den Handlungsdiener Ohm gerichtet und bei demselben unter verdächtigen Umständen bei seiner Verhaftung am 16. Mai 1849 gefunden sein sollte. Ohm war am Tage seiner Verhaftung zu dem Polizei-Präsidenten von Hinckeldey geführt worden und dort mit dem Postsecretär a. D. Gödsche zusammengekommen. Durch eine Hinterthür in der Wohnung des Polizei-Präsidenten war Ohm auf eine unerklärliche Weise entwichen und nach Hamburg geflohen. Auf Requisition des Untersuchungsrichters wurde Ohm später verhaftet und, da er sich im Gefängniß auf’s Leugnen verlegte, die Anklage des Hochverraths auch gegen ihn erhoben. Die Beweise für eine Anklage gegen Waldeck waren indeß so schwach, daß er nicht einmal, wie die Kreuzzeitung gefordert, vor das Kriegsgericht gestellt werden konnte, welches am 15. März eingesetzt worden war. Der Verlauf der Beweisaufnahme ergab folgende Hauptresultate, die wir kurz registriren wollen:

Daß ein hochverrätherisches Unternehmen zur gewaltsamen Einführung der Republik in Deutschland überhaupt nicht bestanden hat; daß Waldeck’s politische Wirksamkeit lediglich auf Herstellung einer aufrichtig gehandhabten, demokratisch-constitutionellen Monarchie gerichtet war; daß der Angeklagte Ohm ein Spion sei, der sich in demokratische Kreise geschlichen, um gewisse reactionäre Blätter mit Enthüllungen über angebliche Umsturzpläne der europäischen Revolutionspartei zu versorgen; daß dieselben Enthüllungen dem Polizeipräsidenten von Hinckeldey und dem Minister von Manteuffel übermittelt wurden und sogar dazu gedient hatten, in der aufgelösten Zweiten Kammer das rothe Gespenst an die Wand zu malen, um den über Berlin verhängten Belagerungszustand zu rechtfertigen; daß endlich das Hauptfundament der Anklage, der bei Ohm gefundene Brief D’Ester’s, gefälscht, und zwar durch Ohm gefälscht war.

[103] Es bedurfte am Ende der Verhandlungen kaum der glänzenden Rede des Vertheidigers Dorn und des übersichtlichen objectiven Resumés des Vorsitzenden, um die Geschworenen zu veranlassen, das auch von dem Staatsanwalt beantragte „Nichtschuldig“ über Waldeck auszusprechen. Auch Ohm, der in der öffentlichen Verhandlung aus seiner demokratischen Märtyrerrolle herausgefallen war, mußte freigesprochen werden, wurde aber auf Antrag des Staatsanwalts festgehalten, da sich derselbe vorbehielt, gegen denselben die Anklage wegen einer wissentlich falschen Denunciation zu erheben. Diese Anklage ist freilich niemals erhoben worden.

Während der ganzen Dauer der Verhandlung hat Taddel die Mannhaftigkeit und Unerschrockenheit des alten pflichttreuen Richters auf das Glänzendste bewährt. Bereits nach der Eröffnung der ersten Sitzung nahm Taddel Gelegenheit, der Staatsbehörde gegenüber die Unabhängigkeit des Richters zu erproben. Er führte einen Beschluß des Gerichtshofes herbei, welcher die Forderung der Staatsanwaltschaft zurückwies, durch zwei Personen vertreten zu sein. Zu gleicher Zeit aber legte der Gerichtshof Protest gegen die Art und Weise ein, wie die Staatsanwaltschaft ihr Verlangen geltend gemacht habe.

In der zweiten Sitzung schritt Taddel zur Vernehmung des Polizei-Präsidenten von Hinckeldey, welche vollständiges Licht über das unerklärliche Verschwinden Ohm’s aus der Wohnung des Polizei-Präsidenten verbreitete. Im Vollbewußtsein seiner hohen Stellung trat der damalige Pascha von Berlin vor den Gerichtshof mit der laut und brüsk herausgestoßenen Frage: „Was steht zu Ihren Diensten?“ Ohne im Geringsten seine bisher behauptete ruhige Haltung zu verändern, antwortete Taddel im Tone einfacher Zurückweisung: „Es scheint mir, daß ich als Vorsitzender des Gerichts die Ansprache habe und nicht Sie als Zeuge.“

Der Vorsitzende richtete an den Zeugen die üblichen Generalfragen einzeln, ohne sich mit einer allgemeinen Verneinung derselben zu begnügen. Das scharfe Verhör, die genau zugesetzten Fragen, welche Taddel an die Zeugen richtete und die jede ausweichende Antwort im Voraus abschnitten, setzten den Polizei-Präsidenten in Verlegenheit, die er unter einem übermüthigen Benehmen, durch starke Erhebung seiner Stimme verbergen zu können glaubte. Als er aber, in Eifer geraten, wiederholt auf den Gerichtstisch pochte, da machte ihn der Vorsitzende darauf aufmerksam, daß er vor Gericht stehe und, wenn auch ein hoher Beamter, sich in diesem Augenblicke wie jeder andere Privatmann als Zeuge betragen müsse. Und auf die Entgegnung des Polizei-Präsidenten, daß er das vollkommen anerkenne, fuhr der Vorsitzende des Gerichts in würdevollem Tone fort: „Sie klopfen auf den Tisch und sprechen mit Heftigkeit. Das schickt sich nicht.“ So hatte noch Niemand mit dem gewaltigen Polizei-General-Director zu sprechen gewagt.

Zu dem Triumph der glänzend gerechtfertigten Demokratie gesellte sich der wiederaufgelebte Ruhm der preußischen Justiz, deren Unparteilichkeit und Unbeugsamkeit in der Person Taddel’s einen ausgezeichneten Sieg davongetragen hatte. Am Tage nach der Freisprechung Waldeck’s erschien bei Taddel eine Deputation von Bürgern seines Bezirks, um ihm für sein männliches Verhalten den Dank des Volkes abzustatten. Würdevoll wies der ehrwürdige Greis indessen diesen Dank zurück, indem er folgende Worte an seine Mitbürger richtete. „Ich habe nichts gethan, was nicht jeder preußische Richter an meiner Stelle gethan und hätte thun müssen; ich habe nur meine Pflicht erfüllt. Das aber darf ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich seit gestern Vielen, die ich für meine Gegner, die ich für Schwarzseher und böswillige Feinde der Regierung gehalten, bedeutend näher gerückt bin, daß ich eingesehen habe, wie Vieles von dem wahr ist, was mir bisher Verleumdung schien. Ich habe erkannt, daß es eine Partei giebt, die vor keinem Mittel zurückschreckt, um ihren Zweck zu erreichen; ich habe in einen Abgrund geblickt, von dessen Tiefe ich keine Ahnung gehabt habe.“

Von diesem Tage an datirte ein Umschwung in Taddel’s Anschauungen, der um so größer sein mußte, je größer der Irrthum war, in dem er sich bis dahin über die Bestrebungen der freisinnigen Partei befunden hatte. Der Richter Waldeck’s wurde von da sein Freund und Gesinnungsgenosse.

Nur wenige Tage senkte die damalige Reactionspartei beschämt ihr Haupt. Bald aber erhob sie es wieder, maßloser als früher und spritzte ihren Geifer aus gegen Waldeck, gegen die Demokratie, gegen den Gerichtshof, gegen die Geschworenen. Wohl hätte sie es gern gesehen, wenn Taddel zur Verantwortung gezogen worden wäre, aber noch war die Zeit nicht gekommen, wo man Richter wegen der gewissenhaften Erfüllung ihrer Pflicht bestrafen konnte. Der Justizminister begnügte sich damit, Taddel wegen seines Conflicts mit der Staatsanwaltschaft Vorhaltungen machen zu lassen, auf welche jener einfach erwiderte, man möge ihn zur Disciplinaruntersuchung ziehen, wenn man glaube, daß er seine Pflicht verletzt habe. 1858 wurde Taddel in der Priegnitz in das neue Abgeordnetenhaus gewählt, wo er sich der unter Georg von Vincke organisirten liberalen Fraction anschloß. Es ist bemerkenswerth und bezeichnend für den Mann, daß Taddel zum ersten Mal das Wort ergriff, um für die Unabhängigkeit des Richterstandes ein- und dem gefährlichen ministeriellen Belieben entgegenzutreten, einen nach Ansicht des Justizministers dienstwidrigen Verhaltens schuldigen Richter, anstatt denselben vor das Disciplinargericht zu stellen, durch einen Gehaltverlust zu strafen. Sonst trat der hochbetagte Mann wenig in den Vordergrund des parlamentarischen Lebens; wenn er aber die Tribüne bestieg, dann sprach er klar und schlicht seine Meinung aus.

Eine Zurücksetzung erfuhr der siebenzigjährige Greis, als er am 24. April 1857 sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum beging. Es ist in Preußen üblich, daß bei dieser Gelegenheit der Jubilar von Seiten der Staatsregierung eine Auszeichnung erhält, die in diesem Falle einen der Würdigsten getroffen hätte. Auf einen sehr charakteristischen Bericht des Präsidenten des Kammergerichts an den Justizminister unterblieb jedoch diese Auszeichnung, obgleich in dem Berichte selbst anerkannt ist, daß Taddel „ein rechtschaffener Mann sei, der jederzeit nur Recht und Wahrheit zur Geltung zu bringen gesucht habe.“ Als Motiv für die Vorenthaltung der Auszeichnung wird sein „schroffes, mitunter rücksichtsloses und abstoßendes Wesen“ angeführt. Wer aber Taddel genau gekannt hat, wird wissen, daß der liebenswürdige Greis in den Kreisen seiner Genossen und Freunde an Beliebtheit sich mit Jedem messen konnte und daß er bereit war, jedem seiner Mitbürger zu jeder Zeit Dienste zu leisten.

Der damalige Justizminister nahm von dem Ehrentage keine Notiz, welchen der älteste Rath des Kammergerichts im Schooße seiner Familie beging. Taddel hatte jedes von seinen Kollegen ihm etwa zugedachte Ehrengeschenk im Voraus abgelehnt, und die Mitglieder des Kammergerichts mußten sich daher begnügen, ihm durch ein Schreiben ihre Wünsche darzubringen. Auch viele Rechtsanwalte des Stadt- und Kammergerichts sprachen in einer Zuschrift dem Jubilar ihre Theilnahme aus, um dadurch die Freundlichkeit und Mühe zu würdigen, mit welcher er als Vorsitzender des Civilsenats ihren Wünschen in Anordnung der Termine und sonst in jeder Weise entgegenzukommen pflegte.

Im Jahre 1861 kam Taddel, der inzwischen das fünfundsiebenzigste Lebensjahr erreicht hatte, um seine Pensionirung ein, die ihm jetzt unter Verleihung des Rothen Adler-Ordens zweiter Classe gewährt wurde. Mit dem stolzen und erhebenden Bewußtsein, vierundfünfzig Jahre dem Dienste des Staates und des Volkes in treuester Pflichterfüllung gewidmet zu haben, zog sich Taddel in das Privatleben zurück und starb, im dreiundachtzigsten Jahre, am 20. November des letzten Jahres.

Wir können unsere Skizze nicht besser schließen, als mit den schönen, warm empfundenen Worten, mit denen bei der neulichen Gedächtnißfeier für Taddel Schulze-Delitzsch seine Rede beendet hat: „Die Dinge gehen rasch in unseren Tagen, und es sind Viele unter uns, welche die Erfüllung dessen schauen mögen, um das der Vollendete mit uns kämpfte. Dann wird die Zeit gekommen sein, wo ein dankbares Volk in anderer Weise seiner gedenkt. Wir aber, denen es noch vergönnt ist, die Hand am Werke zu haben, wir mögen dem Verstorbenen kein schöneres Denkmal bauen, als durch rastloses Fortarbeiten an dem preußischen Verfassungs- und Rechtsstaate.“




[104]

Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.

Nr. 4. In den Augen mußt Du lesen!

Die Gefangenenaufseher werden ausschließlich aus versorgungsberechtigten Militärpersonen recrutirt, d. h. aus Soldaten, welche eine gewisse Anzahl Jahre gedient haben, in Folge des Dienstes zum weiteren Dienen untauglich geworden sind und deshalb auf Grund ärztlicher Zeugnisse als Ganz- oder Halb-Invaliden entlassen werden mit der Berechtigung, im Civildienst bis an ihr Lebensende fortzudienen. In der Regel sind diese Leute den Anforderungen nicht gewachsen, die an sie gestellt werden. Es fehlt ihnen meist die geistige Befähigung, welche der Verkehr mit Gefangenen unerläßlich macht, oder es kleben ihnen aus ihrer früheren dienstlichen Stellung Gewohnheiten an, die nicht in das Gefangenenhaus passen.

Eine Ausnahme von dieser Regel machte der Gefangenenaufseher Schilberg. Ich will dem Manne keine Lobrede halten, seine Eigenschaften nicht einzeln herzählen, um ihn als Musterbeamten darzustellen, ich muß aber bemerken, daß er nicht allein die ihm in seiner Stellung obliegenden Pflichten mit der peinlichsten Genauigkeit erfüllte, sondern daß er noch viel mehr that, daß er die Gefangenen ohne Ausnahme für seine Kinder ansah und denselben noch weit größere Sorge und Theilnahme zu Theil werden ließ, als sich sein eigenes Kind von ihm zu erfreuen hatte. Und doch hatte er dies Kind so unendlich lieb!

Schilberg wohnte nicht in dem Gefangenenhause. Er verließ dasselbe aber nur selten, eigentlich nur während der Nacht, wenn er vom Dienste frei war. Seine Bedürfnisse, die höchst einfach waren, wurden ihm entweder von seiner Frau oder seiner Tochter zugetragen. Mit seiner Frau machte er bei diesen Gelegenheiten wenig Umstände. „Hinstellen!“ war in der Regel Alles, was sie von ihm zu hören bekam. Dagegen verabsäumte er niemals, ihr die Hand zu reichen, diese kräftig zu schütteln und ihr dabei scharf, aber freundlich in die Augen zu sehen.

Ganz anders war Schilberg, wenn die Tochter sich einfand. Als er seinen Dienst als Gefangenenaufseher antrat, war diese etwa elf Jahre alt, ziemlich groß, aber schwach, und fast fortwährend kränklich. Mit den Jahren verlor sich die Schwäche, der Körper wurde kräftig, die Formen rundeten sich, das Gesicht erhielt eine lebhafte Färbung, es wurde blühend; die großen, dunklen Augen bekamen Glanz, der Ausdruck wurde sorglos, heiter, lachend, mit einem Worte: im neunzehnten Jahre war aus dem siechen Kinde ein bildhübsches Mädchen geworden.

Kam Fränzchen – mit diesem Namen wurde das Mädchen gerufen – in das Gefangenenhaus, so suchte sie stets den Vater auf, und wenn sie ihn traf, so schloß sie ihn in ihre Arme und, indem sie lachend grüßte, küßte sie wiederholt den von einem kurzen struppigen Bart eingefaßten Mund.

Schilberg verhielt sich hierbei passiv, er ließ sich dies Alles ruhig gefallen, dankte nicht für den Gruß, erwiderte auch weder die Umarmung, noch den Kuß. Aber wenn dieser gegeben war, so faßte er den Kopf seines Kindes mit beiden Händen, hielt ihn fest wie in einem Schraubstocke und blickte dann kurze Zeit prüfend in das lachende Gesicht. In diesem Blick offenbarte sich die namenlose Liebe des Vaters.

„Fränzchen,“ fragte er dann ernst, „bist doch gesund?“

„Ja, Vater!“

„Fränzchen, überall?“

„Ja, ja, Vater, überall!“

„Fränzchen, auch im Herzen?“

„Da erst recht, Vater!“

„Na, Fränzchen, bleib’ gesund und brav!“

„Das will ich, Vater!“

Schilberg behielt hierbei den Kopf seines Kindes fest in den Händen, er wendete, so lange er sprach, den Blick nicht einen Moment von ihm ab, es war als ob er durch das Auge bis tief in die Brust des Mädchens hinabsehen und dort nachlesen wolle, was der Mund aussprach. Dann zog er den Kopf sich näher, doch langsam, um den Anblick möglichst lange zu genießen, hielt ihn vor der Berührung noch einen Moment fest, und dann erst küßte er den kleinen, rosigen Mund, hörte auf dessen Reden und gab kurze, aber freundliche Antworten.

Ich habe unzählige Male derartige Scenen beobachtet und die Gelegenheit dazu nicht selten aufgesucht. –

An einem Sonntage brachte Fränzchen das Frühstück früher als gewöhnlich. Ich traf mit ihr zufällig vor der Wachstube zusammen, als sie in dieselbe eintreten wollte.

„Ach, Herr Inspector,“ redete sie mich an, „wollen Sie wohl die Güte haben, dem Vater zu sagen, daß ich das Frühstück abgegeben habe?“

„Wollen Sie denn heute den Vater nicht aufsuchen?“ fragte ich überrascht.

„Ich weiß nicht,“ entgegnete sie stammelnd, „ich komme zu nicht gelegener Zeit, der Vater möchte es nicht gern sehen, er möchte böse werden, und dann möchte ich mich auch nicht aufhalten, ich möchte gern wieder fort.“

Es kam mir vor, als ob sie dem Vater aus dem Wege gehen, die Begegnung mit ihm vermeiden wolle; auch fiel mir in ihren Reden eine gewisse Hast und in ihren Bewegungen eine Eilfertigkeit auf, die ihr sonst gänzlich fremd war.

„Ich habe dem Vater eine Ueberraschung bereitet,“ sagte sie, während sie das Körbchen ausleerte, „ich bringe ihm heute eine Tasse Chocolade. Er mag diese gern, viel lieber als Kaffee, – er soll heute einmal rechte Freude haben.“

Sie war mit dem Auspacken und dem Ordnen des Frühstücktisches schnell fertig geworden, hatte das Körbchen bereits wieder in die Hand genommen und war eben im Begriff, die Stube zu verlassen, als ganz unerwartet ihr Vater in dieselbe eintrat.

Fränzchen schreckte sichtbar zusammen und blieb betroffen und verlegen stehen. Schilberg hatte seine Tochter sogleich erkannt; er blieb innerhalb der Thür und schien hier zu erwarten, daß Fränzchen ihm entgegenkommen und ihn wie gewöhnlich begrüßen werde. Als dies nicht geschah, als Fränzchen unbeweglich in ihrer Stellung verharrte, da legte es sich wie ein Schatten auf sein Gesicht. Es war, als ob plötzlich eine Angst über ihn komme, als ob er Furcht empfinde. Er schüttelte den Kopf, brummte vor sich hin und schritt dann hastig auf Fränzchen zu. Der feste Tritt des alten Soldaten schreckte diese aus ihrem Sinnen auf, sie machte einige Schritte vorwärts, hob die Arme in die Höhe und schien damit den Vater umfassen zu wollen. Schilberg wehrte aber die Arme mit einer raschen Bewegung ab, nahm Fränzchens Kopf in seine Hände und hielt diesen dicht vor sich. An diesem Tage wohl zum ersten Male wollte sich der Kopf nicht festhalten lassen, er machte alle nur möglichen Versuche, sich zu befreien, und als diese sämmtlich ohne Erfolg blieben, da senkten sich die Lider über die Augen herab, die Röthe schwand von den Wangen, das Gesicht wurde kalt, es war ohne Ausdruck, ohne Leben. Lange Zeit, viel länger als er dies sonst zu thun pflegte, starrte der alte Mann auf dasselbe nieder. Seine Augen wurden trübe, sein Athem stockte, ein tiefer Schmerz füllte seine Brust. Es war vielleicht der erste – der letzte war es nicht.

„Fränzchen!“ sagte er endlich mit unsicherer Stimme, „Du bist krank!“

„Nein, Vater!“ erwiderte diese leise und stammelnd, ohne den Blick in die Höhe zu heben.

„Du bist krank, Fränzchen!“ versetzte Schilberg kräftiger und bestimmter, „sag’, Mädchen, wo’s fehlt!“

„Mir fehlt wirklich nichts, Vater!“ antwortete Fränzchen klar und fest, „Du hast mich nur erschreckt,“ fügte sie rasch hinzu, „ich wollte Dich überraschen. Sieh’, Vater, ich habe Dir zum Frühstück Chocolade gebracht, Du –“

„Du lügst!“ schrie der alte Mann. „In Deiner Brust ist etwas, was ich nicht sehen soll, was Du vor mir verbirgst. Sag’, was ist’s?“

Fränzchen antwortete nicht, sie schien keines Wortes mächtig zu sein, oder mit einem Entschlusse zu kämpfen. Hatte sie wirklich etwas zu verheimlichen? und wollte sie ihr Geheimniß nur dem Vater offenbaren?

Ich mußte das Letztere annehmen, meine Gegenwart konnte die Befangenheit des Mädchens nur vergrößern. Ich ging still, [105] fast unhörbar nach der Thür. Vater und Tochter schienen dies aber nicht zu beachten.

„Fränzchen!“ fuhr Schilberg fort, „Du machst mir große Sorge. Zum ersten Male ertappe ich Dich auf einem Unrecht. Sprich, Mädchen! Sieh’ meine Angst! Sei offen, sei wahr – nur keine Lüge, wenn ich –“

„Vater! lieber, guter Vater!“ schrie Fränzchen laut auf, „jetzt nicht, ich darf, ich kann nicht! Ja, Vater, ich habe Dir etwas zu verbergen, Du hast mir’s angesehen, aber ich versichere, es ist nichts Böses, es ist nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte. Du wirst es erfahren, Vater, Du mußt es wissen, nur jetzt kann ich nicht reden, später –“

„Was? – Später?“ fiel Schilberg heftig ein. Und als auf diese Frage keine Antwort gegeben wurde, ließ der alte Mann den Kopf seines Kindes, den er bis dahin festgehalten hatte, rasch frei.

„Geh’,“ sagte er sich fortwendend, „nimm mit, was Du dort hingestellt hast, ich mag nichts, ich bedarf heute nichts, am wenigsten von Dir.“

Dies hörte ich ihn noch sagen, als ich die Thür hinter mir schloß. Ich hatte mich kaum einige Schritte von derselben entfernt, so kam Schilberg mir eilig nach. Fränzchen blieb allein in der Wachstube zurück. Wie lange sie sich noch darinnen aufgehalten hat, konnte später nicht ermittelt werden, es hatte kein Mensch sie fortgehen sehen.

Das Frühstück war stehen, auch das Körbchen zurückgeblieben. Gegen Mittag kam die Mutter zu mir.

„Ach, Herr Inspector,“ sagte sie, wie es schien, in großer Angst, „ist denn unser Fränzchen noch da?“

„Nein!“

„Sie ist heute Morgen von Hause fortgegangen und noch nicht zurückgekommen.“

„Nun, sie wird irgendwo eingekehrt und aufgehalten sein. Weshalb ängstigen Sie sich?“

„Ich weiß nicht, das Mädchen kam mir heute ganz anders vor; sie mußte etwas auf dem Herzen haben. Ich bin recht in Sorge um sie.“

Ich beruhigte die Frau und schickte sie nach Hause, ohne sie zu ihrem Manne zu lassen. Es mochte kaum eine Stunde verflossen sein, da kehrte sie zurück. Fränzchen hatte sich noch immer nicht eingefunden. Die Mittagszeit war vorüber. Freundinnen und Bekannte wollten das Mädchen nicht gesehen haben. Alle Nachforschungen waren erfolglos gewesen. Die alte Frau lamentirte und weinte und befand sich in der größten Aufregung. Wie sollte ich sie trösten? Das Ausbleiben über die Mittagszeit hinaus ohne jegliche Nachricht war so ungewöhnlich, daß die Besorgniß auch mir vollkommen begründet erschien. Und dann der Auftritt am Morgen! Ich erzählte diesen der Frau in allen Einzelnheiten; ich erinnerte mich dabei, daß Fränzchen dem Vater nicht hatte begegnen wollen, daß sie eingestanden hatte, ein Geheimniß zu haben und daß sie schließlich die Mittheilung für eine spätere Zeit zusagte. Statt aber zu beruhigen, vermehrte diese Mittheilung die Aufregung der alten Frau. Ich mußte Alles aufbieten, sie von einer Besprechung mit ihrem Manne zurückzuhalten und zum Nachhausegehen zu bewegen. Sie hatte mich kaum verlassen, so trat der Gefangenen-Arzt, der zugleich Physicus war, bei mir ein. Der Arzt mußte der Frau noch auf dem Flur begegnet sein und ihre Betrübniß und die verweinten Augen bemerkt haben.

„War das nicht die Frau unseres alten Schilberg?“ fragte er hastig.

„Sie ist eben von mir fortgegangen.“

„Die armen, alten Eltern!“ versetzte er ernst und theilnehmend.

Dieser Ausruf erschreckte mich. Ich wußte für den Augenblick nicht, was ich sagen und denken sollte. Der Arzt war an das Fenster getreten und starrte schweigend auf den Gefangenen-Hof, auf dem es nichts zu sehen gab, was ihm nicht schon vollständig bekannt gewesen wäre. Die Stille wurde unheimlich, beängstigend. Der Arzt wollte nicht sprechen, ich mußte ihn dazu veranlassen.

„Die Frau macht sich am Ende ganz vergebliche Sorge,“ sagte ich, um nur einen Anknüpfungspunkt zu haben. „Fränzchen wird sich schon wieder einstellen, sie kann –“

„Sie wissen nicht?“ fiel der Arzt mir in’s Wort.

„Nein! was denn?“

„Sie wissen wirklich noch nicht, daß Fränzchen bereits gefunden ist?“

„Wahrhaftig, nein!“

„Da wissen Sie auch nicht, wie und wo das Mädchen gefunden ist?“

„Nein, nein!“

„Fränzchen ist – todt!“

„Mein Gott! ist das möglich?“

„Ja, es ist traurig, daß es so ist! Unter solchen Umständen den Tod zu finden! Bei so vieler Berechtigung für das Leben so urplötzlich vernichtet zu werden! Das ist grauenhaft.“

„Aber wie denn?“ fragte ich, da ich den Arzt nicht verstand.

„Das Mädchen ist ertränkt!“

„Wie?“

„Verstehen Sie wohl,“ versetzte der Arzt mit ungewöhnlicher Heftigkeit, „das Mädchen hat den Tod durch die Hand eines Andern gefunden es ist gewaltsam in das Wasser gestürzt, es ist ermordet worden!“

„Das ist entsetzlich!“

„Ja, das ist es. Ich weiß nicht,“ fuhr der Arzt mehr im Selbstgespräch fort, „ob es ein Trost für die alten Leute sein wird, daß der Mörder bereits entdeckt und festgenommen ist und daß an seiner Ueberführung kaum gezweifelt werden kann. Nein, nein, das kann nicht trösten; für den alten Gefangenen-Aufseher muß ja gerade dies eine unversiechbare Quelle des Schmerzes sein. Dem alten Manne war das Kind in das Herz hineingewachsen; es war sein Leben, sein Alles. Und nun den Mörder dieses Kindes täglich vor Augen haben zu müssen, mit ihm zu verkehren! Herr Gott! das ist unmöglich, das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann. Wir müssen einen Ausweg suchen und werden ihn finden. Hat denn Gottes Auge nicht sichtbar über diese verruchte That gewacht? Sie kennen doch die alte Gulke?“ wendete er fragend sich mir zu.

„Nein!“

„Es ist ein Wasserloch von unergründlicher Tiefe und einigen tausend Schritten Umfang, eingefaßt von einem vielleicht zwanzig Fuß hohen Ufer, das äußerst steil ist. Auf der Krone dieses Ufers, dicht an dem Rande desselben, zieht sich ein ungeschützter Fußweg hin. Dieser Weg wird von Spaziergängern häufig benutzt. Heute Morgen zwischen neun und zehn Uhr ist Fränzchen dort gesehen worden. Sie ist nicht allein gewesen; ein junger Mann hat sie am Arm geführt. Man muß hieraus schließen, daß zwischen Beiden ein intimes Verhältniß bestanden hat. Anfangs sollen Beide in ernster, aber ruhiger Unterhaltung begriffen gewesen sein, nach und nach diese jedoch einen leidenschaftlichen Charakter angenommen haben. Es hat den Anschein gehabt, als ob auf der einen Seite bestimmt und entschieden gefordert, auf der andern Seite dagegen beharrlich abgelehnt werde. Der Wortwechsel ist bald darauf lebhaft und erregt geworden. Fränzchen hat hierbei dem jungen Manne den Arm entzogen. Beide sind dann neben einander noch einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich ist Fränzchen stehen geblieben und hat laut, weithin hörbar gerufen: ‚Was wolltest Du thun?‘ Die Erwiderung des jungen Mannes ist nicht verstanden worden. Darauf kann aber nichts ankommen, denn die That giebt dafür unwiderlegbar das Verständnlß. Fast unmittelbar nach jener Frage hat Fränzchen sich zurück-, der Stadt zugewendet, anscheinend um allein hierher zurückzukehren. Kaum ist dies geschehen, so ist der junge Mann ihr nachgeeilt, hat sie mit der einen Hand an den Hals, mit der andern an die Hüfte gefaßt und so den steilen Abhang hinunter, in das unermeßlich tiefe Wasser gestürzt. Ist das nicht teuflisch?“

„Aber woher wissen Sie das Alles?“

„Der Anfang und das Ende dieses entsetzlichen Verbrechens ist von zwei verschiedenen Seiten beobachtet worden, ohne daß die That hat gehindert werden können. Meine Wissenschaft stützt sich auf diese Beobachtungen, die vollkommen glaubwürdig sind. Ich bin zu Ihnen geeilt, nur um zu verhindern, daß Schilberg mit dem Ungeheuer zusammentrifft. Wie werden wir das anfangen?“

Unsere Berathungen führten zu dem Resultate, daß der Arzt zunächst mit Schilberg reden und ihn dann mit fortnehmen sollte. An diesem Tage bekam ich den alten Mann nicht wieder zu Gesicht.

In den vielen Jahren meiner Amtsthätigkeit sind mir Verbrecher [106] aller Gattungen, die ich nach Tausenden zählen kann, zugeführt worden. Unter diesen haben sich Menschen befunden, welche diesen Namen gar nicht verdienten, in deren Brust kein menschliches Gefühl Raum hatte, deren Leben ein fortgesetztes Verhöhnen aller göttlichen und menschlichen Satzungen, eine ununterbrochene Kette empörender, verabscheuungswürdiger Handlungen war, die, wenn ich so sagen darf, professionsweise die rohesten Verbrechen verübt hatten. Allein nicht ein einziges von diesen unglücklichen Geschöpfen hatte mir Widerwillen in dem Maße eingeflößt, wie jener junge Mann, den ich zu erwarten hatte. Konnte denn das aber auch anders sein?

Das Mädchen hatte mir nahe gestanden, die Eltern waren mir durch jahrelange engeren Verkehr Freunde und als solche lieb geworden. Ich hatte die tiefe Wunde, die der Verbrecher ihnen geschlagen und die sich nie wieder schließen konnte, vor Augen; ich fühlte das bittere Wehe, den tiefen, brennenden Schmerz der Elternherzen; ich sah die Hoffnungen auf ein sorgenloses, auf ein freudenreiches Alter mit einem Schlage vernichtet; ach, ich sah noch mehr! ich sah, daß der Gram über so schmerzlichen Verlust zwei treue Herzen brechen, zwei Menschen vor der Zeit dem Grabe überliefern werde.

War da die Bitterkeit, der Widerwille nicht begründet, mit welchen ich der Einlieferung des Verbrechers entgegensah? Und war es nicht so ganz natürlich, daß diese Bitterkeit später, als der Verbrecher mir entgegentrat, als ich mit ihm ein Zimmer theilen, mit ihm dieselbe Luft einathmen mußte, sich bis zu einem Grade steigerte, der an tödtlichen Haß grenzte? Es war für mich eine ungeheuer ernste Stunde, die ich zu durchleben hatte. Ich fühlte die Nothwendigkeit, die Entrüstung, die Bitterkeit, den Widerwillen zu verleugnen, die innere Stimme zu unterdrücken, alles Böse mit seinen Folgen zu vergessen und ruhig, leidenschaftslos mit dem Verbrecher zu verkehren. Und doch vermochte ich anfangs nicht, dies zu thun. Ich hätte den Menschen mit meinen Händen erdrücken oder unter die Füße werfen und zertreten mögen, und Gott weiß, was geschehen wäre, wenn der Verbrecher mich gereizt, wenn er durch Wort oder Geberden meinem Gefühle Nahrung gegeben hätte!

Die Mittheilungen des Arztes hatten meine Erwartungen auf das Höchste gespannt. Diese Erwartungen blieben unerfüllt. Die schauerliche That, vielleicht aber auch das Ergreifen unmittelbar nach Verübung derselben, also der Verlust der persönlichen Freiheit hatte dem Verbrecher jeden Halt fortgenommen. Er befand sich bei der Einlieferung in einem Zustande fast vollständiger Betäubung. Seine Sprache war matt, tonlos, seine Bewegungen müde, schlaff, sein Handeln willenlos, mechanisch. Er that, was von ihm verlangt wurde, allem Anscheine nach aber ohne klares Bewußtsein.

Unter anderen Verhältnissen würde ein solcher Zustand mir Theilnahme abgenöthigt und das Mitleiden bei mir rege gemacht haben; in diesem Falle blieb ich kalt und ungerührt. Ich überschritt nicht meine Berechtigung, aber ich that auch nichts, um die Härte zu mildern, welche die Ausübung meines Rechtes für den Gefangenen haben mußte. Ich hielt mich streng an die Worte der mir zur Richtschnur gegebenen Verordnungen, ersparte ihm keine, auch nicht die peinlichste Belästigung, und verließ ihn erst, nachdem er durch die Kette an die Gefängniß-Mauer gefesselt war. Die Thür vor seiner Zelle verwahrte ich noch durch ein besonderes Vorlegeschloß, um jedem Anderen den Zutritt unmöglich zu machen. –

Es vergingen Tage, Wochen und Monate. Der Verbrecher hatte sich schon am Tage nach seiner Einlieferung wieder ermannt. Er behauptete vollständig unschuldig zu sein.

„Fränzchen,“ so sagte er, „kam, als sie sich von mir wegwendete, um nach der Stadt zurückzukehren, in der Aufregung dem Rande des Ufers nahe, glitt aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe hinab. Ich sprang hinzu, um sie zurückzuziehen, die Last des fallenden Körpers war aber für meine Kräfte zu schwer, ich vermochte denselben nicht zurück-, den Sturz nicht aufzuhalten; ich konnte auch keine andere Hülfe leisten, der Schreck hatte mir die Besinnung genommen, mich völlig betäubt.“

Es mußte der Untersuchung vorbehalten bleiben, festzustellen, ob diese Behauptungen in Wahrheit beruheten, oder ob dieselben, den erbrachten Beweisen gegenüber, auch nur für wahrscheinlich erachtet werden konnten. Meine Voraussicht in Bezug auf Schilberg war in Erfüllung gegangen. Der Schreck und der Gram hatten den alten Mann darnieder geworfen, seine Kräfte gebrochen. Er war lange Zeit an das Bett gefesselt und später noch an seine Wohnung, die er nicht verlassen durfte, auch nicht verlassen konnte. Der Verkehr mit dem Gefangenen war ihm dadurch unmöglich gemacht. Er beschäftigte sich aber ausschließlich mit der Untersuchung und schien für nichts Anderes Interesse zu haben; jede Gelegenheit, die sich ihm darbot, um über die Sache Nachricht zu erhalten, ergriff er mit beiden Händen.

Die Untersuchung war endlich abgeschlossen und der Tag zur öffentlichen Rechtsprechung bestimmt. Von da ab zeigte Schilberg eine auffallende Unruhe; er aß und trank hastig und unregelmäßig, er schlief weder während der Nacht, noch am Tage, und lief in seiner Wohnung von einem Orte zum anderen, als ob er von einer unsichtbaren Macht verfolgt werde. Je näher der entscheidende Tag heranrückte, desto mehr traten diese krankhaften Erscheinungen hervor. Am Abend vor demselben trat Schilberg ganz unerwartet in mein Arbeitszimmer. Er hatte sich mühsam bis dahin geschleppt und schien nicht weiter zu können, alle Kräfte zugesetzt zu haben. Sein Zustand machte mich besorgt.

„Ja, ja!“ stieß er nach kurzer Rast keuchend heraus, „ich bin nicht mehr der, der ich früher war. Du mein Gott, was ist aus mir geworden! Wenn ich nur Ruhe finden könnte! Herr Inspector, Sie müssen mir dazu verhelfen. Ich alter Mann habe ja so viel verloren: Kind, Amt und Gesundheit! Haben Sie Mitleid mit mir, helfen Sie mir zur Ruhe, erbarmen Sie sich meiner Angst!“

„Aber was wollen Sie denn?“ fragte ich tief bewegt.

„Ich muß dem Kerl in die Augen sehen, ich muß wissen, ob er wahr redet!“

Das namenlose Elend des alten Mannes jammerte mich; ich wollte ihm die Ruhe geben, die er suchte, und führte ihn zu dem Verbrecher. Auf dem Wege nach dem Gefängnisse zeigte Schilberg sich vollkommen ruhig, aber tief bewegt. Von Zeit zu Zeit stöhnte er laut, um der gepreßten Brust Erleichterung zu verschaffen. Kein Wort kam über seine Lippen. Im Gefängniß setzte er sich auf die einzige Bank, stützte den Kopf mit beiden Händen und verharrte regungslos in tiefem Schweigen. Der Verbrecher lag vor ihm auf dem Strohsacke, eingewickelt in die Decke, nur der Kopf war sichtbar. Das Licht, das ich mitgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, warf seinen Schein voll auf diesen Kopf. Die Augen waren geschlossen, der Verbrecher schien fest zu schlafen, er rührte sich nicht. Schilberg hatte sich bald erholt; er richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und blickte starr in das Gesicht des Verbrechers. Die monatelange Haft hatte dies Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Farbe war verschwunden, die vollen Wangen fehlten, von dem runden Kinn war nur der spitz hervorstehende Knochen übrig geblieben, die geschlossenen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der Anblick dieses entstellten Kopfes schien auf Schilberg keinen Eindruck zu machen, er blieb kalt, keine Muskel an ihm zuckte.

„Du da,“ sagte er nach einer Weile halblaut, doch fest, „steh’ auf. Ich weiß, daß Du nicht schläfst. Im Schlafe ruht das Auge wie im Tode. Deine Augen sind lebendig; sie springen unter den Lidern aus einem Winkel in den andern. – Du schläfst nicht!“ wiederholte er mit stärkerer, aber dumpfer Stimme, „mich kannst Du nicht täuschen. Steh’ auf!“

Ich hatte noch nie so reden hören. Der tiefe Ernst des alten Mannes und seine dumpfe, hohle Stimme, die wie aus einem geschlossenen Grabe herauftönte, waren schauerlich ergreifend. Die Wirkung blieb nicht aus. Der Verbrecher öffnete die Augen und richtete diese voller Angst auf den alten Mann.

„Was wollen Sie?“ stammelte er.

„Du hast nicht geschlafen, Du hast mich täuschen wollen. – Ich komme zu Dir, um nur eine Frage an Dich zu richten; ich komme aber nicht allein, mein Kind, mein Fränzchen ist mit mir. Wenn Du sie auch nicht siehst, sie ist doch bei mir. Und über uns ist der liebe Gott! Bedenke das, ehe Du mir antwortest.“

Schilberg näherte sich dem Lager, blieb dicht vor demselben stehen und blickte stier und starr auf den Verbrecher herab. Dieser hatte sich in halber Höhe erhoben, seine Augen hatten sich vergrößert, der Mund war halb geöffnet, auf den linken Arm stützte sich der Körper, den rechten hielt er wie abwehrend oder schützend vor sich.

[107] „Ich sehe auch, daß Du Dich fürchtest,“ sagte endlich der alte Mann noch viel feierlicher als vorher. „Die Unschuld kennt keine Furcht, sie hat Vertrauen bis zur letzten Stunde. Ich werde Dich jetzt nicht fragen, ich weiß, was ich wissen wollte, Deine Augen haben mir es gesagt. Ich will nicht Veranlassung geben, daß Dein Mund anders spricht als Dein Herz.“

Schilberg schwieg, wendete sich rasch von dem Verbrecher ab, ergriff meine Hand und führte mich aus dem Gefängniß. Er war wunderbar gekräftigt, sein Gang war fest, seine Haltung soldatisch, straff, nichts verrieth Schwäche, nichts Niedergeschlagenheit oder Erregtsein. Und doch mußte es in seiner Brust gewaltig arbeiten, er kam ja von dem Mörder seines Kindes. Vor der Thür ergriff er meine Hand, und indem er sie kräftig drückte, sagte er: „Der Kerl lügt! Ich hab’s in seinen Augen gelesen. Nun weiß ich, was ich zu thun habe; ich werde nun auch Ruhe finden.“

Die Einzelnheiten der Verhandlung vor den Geschworenen boten dem Juristen, dem Mediciner und auch dem Psychologen reiches Interesse; sie gehören indeß nicht hierher. Der Verbrecher behauptete beharrlich seine Unschuld und kämpfte für sein Leben mit einem Muthe, einer Ausdauer und einer Zähigkeit, die allseitiges Erstaunen erregten und unter anderen Verhältnissen nicht ohne Anerkennung geblieben sein würden. Die Scene am Abend vorher schien bei ihm keinen Eindruck hinterlassen zu haben, er schien sich ihrer gar nicht zu erinnern.

Schilberg befand sich unter den Zuhörern und hatte auf der dem Verbrecher zunächst stehenden Bank in der vordersten Reihe Platz genommen. Er folgte der Verhandlung mit ungetheilter Aufmerksamkeit, ohne auch nur [e]in einziges Mal seinen Platz zu verlassen. Der Wahrspruch der Geschworenen lautete: „Schuldig des Mordes!“ Kaum war dies durch den Vorsteher verkündet, so kam Schilberg zu mir.

„Wissen Sie, Herr Inspector,“ sagte er leise, „was ich gethan hätte, wenn der Kerl freigesprochen worden wäre?“

„Nun?“

„Ich hätte ihn auf der schwarzen Bank erschossen! Er ist schuldig, ich habe das in seinen Augen gelesen.“

Schilberg wies mir den Schaft eines Terzerols, und ich zweifle nicht, daß er sein Vorhaben ausgeführt haben würde, wenn der Wahrspruch „Nichtschuldig“ gelautet hätte. –

Dem Verbrecher ist die Todesstrafe erlassen, er befindet sich auf Lebenszeit in einer Strafanstalt. Der alte Gefängnißaufseher lebt nicht mehr; er kann hier nicht mehr in den Augen lesen.

E.




Deutschlands große Werkstätten.

7. Einzig in ihrer Art.

Der alte Spruch: „Du sollst zu Erde werden“
Geht keinen Meißner an;
Es winkt ihm Schöneres im Schooß der Erden,
Er wird zu Porcellan.

Das Porcellan ist bekanntlich eine Erfindung der Chinesen und Japanesen, wurde von den Portugiesen zuerst in den Handel nach Europa gebracht und wegen der Aehnlichkeit der Form mit der Schale einer Muschel, die porcella (Schweinchen) hieß, so benannt. Der Abenteurer und Goldmacher Johann Friedrich Böttcher erfand, wie man weiß, beim Brennen eines Schmelztiegels aus einem rothen Thon der Meißner Gegend zuerst in Deutschland und wohl auch in Europa das Porcellan und erhielt von dem geldbedürftigen Kurfürsten August von Sachsen den Auftrag, eine Porcellanfabrik in der Albrechtsburg zu Meißen zu gründen. Der Gründer Böttcher hatte aber wegen seiner liederlichen Lebensweise so wenig Geschick, die am 6. Juni 1710 errichtete Anstalt zu erhalten, daß sie unbedingt zu Grunde gegangen sein würde, wenn nicht der Tod Böttcher’s der Wirthschaft ein Ende gemacht hätte. Sein Nachfolger Herold, der als geheimer Bergrath gestorben ist, besaß Energie und Kenntnisse genug, um in Verbindung mit dem Bildhauer Kändler die Anstalt zu beleben und auf festen Grund zu stellen.

Unter der Verwaltung dieser Männer hörte die frühere Unordnung auf, die Bereitung des Porcellans wurde sorgfältiger überwacht und namentlich die Blaumalerei unter der Glasur mit Kobaltfarbe eingeführt. Aus dieser Zeit datirt auch die Bezeichnung des Meißner Porcellans mit den blauen Kurschwertern, die, jetzt noch gebräuchlich, von Zeit zu Zeit in der Form verändert worden sind.

Der Ruhm der Manufactur verbreitete sich über ganz Europa, erregte aber auch den Neid der Großen der Welt. Um das eifersüchtig bewachte Geheimniß zu entdecken, wurden an den Höfen von Wien und Berlin die größten Anstrengungen gemacht. Ein Verräther entwich nach Wien und gab dort den Anlaß zur Errichtung einer Porcellanfabrik. Berlin ließ im siebenjährigen Kriege die besten Arbeiter zu sich kommen. Nach diesem Kriege erreichte die Meißner Anstalt trotz der Concurrenz im vorigen Jahrhundert ihre höchste Blüthe, die jedoch am Ende des Jahrhunderts gänzlich verwelkte.

Die Directoren Baron Fletzscher und Graf Marcolini am Ende des vorigen und im Anfang des laufenden Jahrhunderts verstanden die Kunst, durch Leidenschaftlichkeit, Unkenntniß, die kleinlichste Geheimnißkrämerei etc. die Anstalt in ihren Fundamenten zu erschüttern. Die Unordnung war so groß geworden, daß der Staat in den Jahren 1814 und 1815 eine Revision des Manufacturbetriebs anordnete. Der jetzige Director, Geheime Bergrath Kühn, der im erstgenannten Jahre unter dem bescheidenen Titel eines Inspectors als technischer Leiter Anstellung erhielt, hob die längst unnütz gewordene Geheimnißkrämerei auf, so daß jetzt sein Titel noch das alleinige Geheime ist, und seiner Energie, seinen Kenntnissen und Erfahrungen in Verein mit seinen Collegen ist der jetzt blühende Zustand der Anstalt zu verdanken. Mit Entfernung der Manufactur aus der Albrechtsburg und Erbauung neuer Gebäude kam ein neuer Aufschwung.

Die Albrechtsburg, dieses edle, nach seiner Art in ganz Deutschland einzig dastehende Denkmal altdeutscher Baukunst, dieses Stammschloß des sächsischen Königshauses, konnte durch die Einbauung von Oefen, Dampfmaschinen, Maler- und Modellirerzimmern nicht gewinnen. Unter den Freunden des Alterthums regte sich der Wunsch, sie von der Porcellanmanufactur zu befreien. Der zuerst vor siebenzehn Jahren bescheiden auftretende Wunsch wurde immer dringender und verwandelte sich zu einer Forderung im Sinne der Kunst und der Pietät. Ihr konnte die sächsische Staatsregierung das Ohr nicht verschließen, und so ging sie denn an das Werk, nachdem sie das Anerbieten einer Actiengesellschaft, die nur aus speculativen Gründern bestand, mit Recht von der Hand gewiesen hatte, zur Erbauung neuer Gebäude.

Die Kammern Sachsens gaben zur Verlegung ihre Zustimmung und bewilligten die nöthigen Mittel. Die Stadtgemeinde Meißen, von der richtigen Ansicht ausgehend, daß sie von der Manufactur Geld und Ruhm erworben, konnte die Anstalt nicht außerhalb ihres Bezirks aufführen lassen, sie entschloß sich daher, dem Staat einen passenden, von Gebäuden entfernten und geräumigen Bauplatz im Thale der Triebisch anzubieten. Seit fast sechs Jahren ist nun der Bau nach dem von der Regierung genehmigten Plane des Director Kühn vollendet, wie ihn das Bild darstellt.

Der Gebäudecomplex besteht aus vier länglichen, einen Hof von hundertfünfundsiebenzig Ellen Länge und dreiundachtzig Ellen Breite einschließenden Flügeln, die zur Verminderung möglicher Feuersgefahr von einander getrennt und durch feuerfeste Brücken mit einander verbunden sind. Nach der Straße zu umgeben Garten- und Parkanlagen die Gebäude.

Der nach der Stadt zu gelegene Flügel ist in der ersten und zweiten Etage seiner Außenfront, in Betracht des reinsten, von hellem Sonnenschein fast völlig befreiten Lichts, ausschließlich für die Malerei, die Hofseite aber zu Vorrathsräumen für Malerei und einen Theil des Verkaufslagers bestimmt. Das Parterre des Flügels enthält nächst dem Emaillirbrennhause und dem chemischen Laboratorium noch zwei große mit dem Verkaufslager durch einen Verbindungsbau vereinigte Pack- und Sortirräume.

Der nach Südwest zunächst der Triebisch stehende Flügel beherbergt das gesammte, durch ein Wasserrad getriebene Maschinenwesen [108] an Pochwerken, Sieb- und Rührwerken, Meng- und Zerkleinerungstrommeln, Materialmühlen und Kapselschneidewerken, indem im Erdgeschoß der Außenseite die gesammten Massenbereitungsarbeiten, nach dem Hofe die Kapselmassenbereitung, im zweiten Oberstock ein großer Theil der Gestaltungsarbeiten, in dem ersten Stock aber die Kapseldrehereien nebst den dazu gehörigen umfängliche Trockenanstalten sich befinden.

Die Räume des weiter thalaufwärts befindlichen Flügels sind in der zweiten Etage, im Anschluß an den oben erwähnten Flügel ebenfalls von den Gestaltungsarbeiten eingenommen, wogegen das Parterre und das erste, durch einen eingeschobenen Boden in zwei Horizontalabtheilungen getrennte Stock das mit Porcellanbrennöfen versehene, sich an die Kapselfabricationsräume anschließende Brennhaus bildet, welches seiner Lage nach die Füglichkeit darbietet, durch Anbau in beliebiger Weise vergrößert zu werden.

Der nach der Straße gekehrte Flügel umschließt endlich im Erdgeschoß außer dem Verkaufslager sämmtliche Comptoirs, und in den oberen Etagen die Wohnungen der Beamten, ingleichen noch einen geräumigen Niederlagsraum und andere Säle zur beliebigen Disposition. Außerdem sind die Boden des ersten und dritten Flügels zur Unterbringung und in hohem Grade übersichtlichen Aufstellung der großartigen Vorräthe an Gypsformen benutzt.

Zur Uebersiedelung dieses ungemein wichtigen Bestandteils des Manufactur-Inventars aus der Albrechtsburg nach den jetzigen Gebäuden ist die halbjährige Arbeit eines starken und kundigen Personals nöthig gewesen. Die sämmtlichen Formen sind numerirt und in großen Folianten, die im Zimmer des Vorstehers der Gestaltungsbranche aufgestellt sind, verzeichnet. So alt viele davon sind, werden sie dennoch jetzt noch oft gebraucht und sind für Ruhm und Geld eine Hauptquelle.

Sämmtliche Fabrications- und Niederlagsräume stehen durch Gänge und Treppen, die des Abends mit Gas beleuchtet sind, dergestalt in nächster Verbindung mit einander, daß man auf kürzestem Wege unbehindert überall Zutritt hat und sämmtliche Arbeiten auf’s Leichteste übersehen kann. Daß in so großen Räumen Zimmerheizofen nicht passen, versteht sich von selbst. Im ersten Flügel ist daher Dampfheizung. Die Röhre werden für den zweiten und dritten durch je zwei, im Souterrain des letzteren aufgestellte Wärmkessel gespeist, wogegen die Heizung des vierten durch eiserne, in den verschiedenen Localitäten vertheilte Cylinder, durch welche das Wasser circuliren muß, vor sich geht, denen das Wasser ebenmäßig durch zwei im Souterrain stehende Wärmkessel zugeführt wird.

Um jeder Feuersgefahr im Voraus vorzubeugen, zugleich aber alle Arbeitsräume mit dem darin benöthigten Wasserbedarf zu versorgen, ist eine Anlage von sechszehn in den Dächern der Gebäude aufgestellten, zusammen siebenhundert Cubikfuß Wasser haltenden eisernen, mit Schwimmhähnen versehenen Cisternen eingerichtet, welche durch ein an die Umtriebsmaschine eingebautes Druckwerk gefüllt werden, und von welche in jedem Flügel drei in jeder Etage mit Hähnen und Schlauchschrauben versehene Fallröhren herabgehen, aus denen beliebig ein ansehnlicher Wasserstrom nach jedem Punkt der Etage hin dirigirt werden kann.

Das sind die Gebäude und Räumlichkeiten, in denen die unscheinbare Porzellanerde von Aue bei Schneeberg, aus Seilitz bei Meißen und Sornzig bei Mügeln in die kostbarsten Zimmer- und Tafelzierden umgewandelt wird. In den dem zweiten Flügel sich anschließende Gebäude beginnt die erste Herstellung der zu verwendenden Masse. Es ist der durch Verwitterung von feldspathreichem Porphyr entstandene Kaolin, dessen feinste Theilchen die Porcellanerde darstellen. Die rohen Klumpen werden zwischen Walzen zerdrückt und in den Schlemmbottichen mit der genügenden Menge Wasser aufgeweicht. Zwei Rührmaschinen schlemmen die feinen Theilchen des Kaolin auf und lassen die milchweiße Flüssigkeit durch einen Hahn ab. Sie läuft durch ein Sieb und eine schwach geneigte Rinne in eine Reihe von neun Schlammbassins. Durch eine einfache Vorrichtung läßt man nach einiger Zeit der Ruhe die oberste klaren Schichten reinen Wassers ablaufen. Das Anfüllen, Absetzenlassen und Abziehen des Wassers wird so lange wiederholt, bis die Schlammbassins fast vollständig mit diesem Erdenschlamm angefüllt sind, worauf sie entfernt werden und die Erde in einer Abdampfpfanne und Filterpresse getrocknet wird.

Ein zweites unumgängliches Material ist der Feldspath, der zwar an und für sich sehr verbreitet ist und in Gängen und Klüften von Granit auch in Sachsen sich vorfindet, aber wegen zu geringer Mächtigkeit einem größeren Bedarf nicht genügt. Die Manufactur bezieht ihn deshalb aus Norwegen. Er wird nach der Sortirung und Wäsche in den Ofen eingesetzt, nach dem Brennen im Pochwerk zu feinem Sande zerstoßen und dann mit Wasser zermahlen.

Der ferner erforderliche Quarz wird in ähnlicher Weise vorbereitet, sortirt, gebrannt, gepocht, gemahlen und geschlemmt. Diesem Proceß folgt das Formen. Die den Aegyptern schon bekannte Töpferscheibe, die in ihrer einfachsten Construction am besten ihren Zweck erfüllt, ist, wie in allen Porcellanfabriken, auch in Meißen in Thätigkeit. Die Drehscheibe ist aber nur Anfang der Formgebung für hohle Gegenstände, da die nöthige Genauigkeit hierdurch nicht erreicht werden kann. Hier kommt nun die Gypsform zu Hülfe, die, aus mehreren Stücken zusammengesetzt, sich leicht auseinander nehmen läßt und, durch vorspringende Keile eng verbunden, sich beim Eindrehen nicht verschieben kann.

Henkel, Schnauzen, Ornamente etc. werden besonders geformt und besonders angesetzt. Blumen und Blüthen werden der Natur täuschend nachgeahmt. Durch Bossiren wird nachgeholfen. Die aus unglasirtem Porcellan, dem sogenannten Biscuit, gefertigten Statuetten haben wegen ihrer künstlerisch schönen Form besonderen Absatz gefunden.

Ist die Masse geformt, so werden die Porcellangegenstände bei gelinder Wärme vor Luftzug geschützt, auf Gestelle getrocknet und sodann zum Verglühen in die Brennöfen gesetzt. Die verglühten Geschirre sind aber noch keineswegs festes Porcellan, es fehlt die wichtige Operation des Glasirens und Gutbrennens. Die Glasur ist vollständig farblos und wird mit großer Sorgfalt behandelt. In der Glasur hat die Meißner Porcellanmanufactur wohl noch keine Concurrenten. Das Eintauchen der Geschirre in die Glasurkübel beschränkt sich auf wenige Augenblicke. Ist diese Arbeit ausgeführt und hat die fast nicht zu entbehrende Nachhülfe einige hängengebliebene Tropfen entfernt, so beginnt das Brennen des Porcellans in besonders construirten Oefen. In Meißen sind die Oefen auf Steinkohlenfeuer eingerichtet, welches den Aufwand bedeutend mindert, auf die Geschirre aber keinen nachtheiligen Einfluß übt. Die Oefen, von außen stehende Cylinder, die sich aber zu einem Rauchfange kegelförmig zuspitzen, enthalten am Fuße die Feuerung, die so eingerichtet ist, daß nur die reine Flamme in den Ofen gelangen kann. Diese sind durch die Etagen des Gebäudes durchgebaut und haben wegen ihrer Höhe einen vortrefflichen Zug. Der innere Raum besteht aus drei Etagen, von denen die unterste die glasirten Geschirre, welche die heftigste Weißglühhitze erfordern, aufnimmt. Darüber ist der Verglühraum zum ersten Brennen des Porcellans, im obersten Raum werden die Kapseln ausgebrannt. Die Kapseln sind die Behältnisse, in welchen das Porcellan eingesetzt wird, um es vor Einwirkungen der Flugasche zu sichern. Sie bilde einen Hauptzweig der Porcellanfabrication. Von ihrer Güte hängt zum großen Theil das Gelingen eines Porcellanbrandes ab. Die unbrauchbar gewordenen Kapseln werden zu grobem Sand (Chamottesand) zerstoßen und in dieser Form wieder zur Darstellung der Kapselmasse, zu welcher außerdem feuerfester Thon verwendet wird, benutzt. Das Besetzen der Oefen wird durch die runde Form derselben erleichtert.

Zur Controle der Temperatur und ihrer Wirkung sind in den Oefen einige Oeffnungen gelassen, die das Herausnehmen einer Kapsel, in welcher sich eine Tasse befindet, gestatten.

Da absolut fehlerfreie Brände zu den größten Seltenheiten gehören, so wird sofort bei der Herausnahme das Porcellan nach seiner Güte sortirt. Man unterscheidet Feingut, Mittelgut, Ausschuß, Unscheinbares und Bruch; letztere Sorte wird zerschlagen, was auch mit den zerstörten Kapseln geschieht. Gut gebliebene Kapseln werden weiter benutzt.

Ist das weiße Porcellan vollendet, so wird die bei Weitem größere Menge durch Malerei verziert, so weit nicht bereits die Scharffeuerfarben auf das verglühte Porcellan aufgetragen und aus dem Brande fertig hervorgegangen sind. Die Zusammensetzung der sogenannten Emailfarben wird von tüchtigen Chemikern ausgeführt. Viele Farben zeigen im frisch aufgetragenen Zustande ganz andere Nüancen als nach dem Einbrennen, und

[109]

Die neue Meißner Porcellanfabrik.
Nach der Natur gezeichnet von Adolf Eltzner.

[110]

die wenigsten Farben vertragen ein Uebereinandersetzen, so daß die Methode des Unter- und Uebermalens, wie in Oel, nicht immer anwendbar ist. Jede Farbe wird daher in der Regel besonders eingebrannt.

Gewöhnlich kommt das Gold zuletzt; es geht aus dem Feuer noch ganz matt hervor. Um ihm Glanz zu geben, wird es mit Achat polirt. Das vom Geheimen Bergrath Kühn erfundene Glanzgold kommt glänzend aus der Muffel, bedarf keiner Politur und würde dieselbe wegen der großen Dünnheit auch nicht vertragen. Daß das Einbrennen der Malerei nicht ganz ohne Gefahr für das Geschirr selbst ist, hat auch die Meißner Porcellanmanufactur, namentlich bei großen Gegenständen, erfahren müssen. Es kann daher auch nicht Wunder nehmen, wenn diese Fabrikate nur für die Geldbeutel der Reichen zugänglich sind.

So wird denn in unterbrochener Reihenfolge gemahlen und geschlemmt, geformt und gedreht, gemalt und polirt, so daß es eine Lust ist, im Verkaufslager das vollendete Ganze wiederzufinden. Die vielen Fremden, welche die Porcellanmanufactur besuchen und unter Leitung sprach- und fachkundiger Männer die Räume durchwandern, sind erstaunt, daß Alle ohne ersichtliche Aufsicht und Controle in der größten Ruhe und Ordnung sich in die Hände arbeiten und dabei auch in den Räumen, wo geschlemmt und gebrannt wird, die größte Reinlichkeit herrscht. Die Bildung, die sich von oben nach unten fortpflanzt, die Sittlichkeit in Fabrik und Familie, der Corpsgeist, sind die unsichtbare Macht, welche der Oberleitung ihr Amt erleichtert. An der Spitze der Anstalt steht ein Director, und jede Branche für Gestaltung, Malerei, Technik und Handel hat ihren Vorsteher, Inspector oder Oberfactor. Die Vorsteher der Gestaltungs- und Malereibranche vertheilen die Arbeit, geben zu deren Ausführung die nöthige Anleitung und führen die Aufsicht. Sie überwachen auch die Festhaltung der Arbeitstaxen. Alle vorhandenen Formen und Gemäldevorlagen für die Copien sind mit Nummern bezeichnet, die zugleich den Preis für die Arbeit enthalten. Werden neue Formen oder Vorlagen nöthig, so schätzt eine besondere Schätzungsdeputation aus Mitgliedern der betreffenden Branche die Vergütung unter Aufsicht der Vorsteher ab, und das Resultat der Verhandlungen enthält den Preis der Arbeit. Die wenigen Differenzen, die dabei vorkommen, werden gewöhnlich zur allgemeinen Zufriedenheit ausgeglichen und nur in den seltensten Fällen wird die Entscheidung der Vorgesetzten nöthig. So hat Jeder ein seinen Kenntnissen und Fähigkeiten angemessenes Einkommen: die Mitglieder der Gestaltungs- und Malereibranche, die gebildeten Künstler, bis herab zu den Tellerdrehern, Ringlern, Staffirern etc. Ein Wechsel in dem Personal findet fast gar nicht statt, ein Jeder, namentlich unter den akademisch gebildeten Mitgliedern der Gestaltungs- und Malereibranche, ist von früher Jugend mit der Anstalt verbunden, was vorzüglich durch die Malerschule, die, schon im vorigen Jahrhundert gegründet, ihre talentvollen Zöglinge der Kunstakademie in Dresden zur künstlerischen Ausbildung vorbereitet, erklärlich ist. Fünfzigjährige Dienstjubiläen sind keine große Seltenheit! Beweis genug, daß das Brod der Porcellanmanufactur nicht in Thränen gegessen wird.

Die Frage, ob Staatsinstitut, ob Privatanstalt, beschäftigt uns hier weiter nicht – wir erwähnen indeß, daß die Manufactur im letzten Jahre mehr als 50,000 Thaler Reinertrag an den Staat abgeliefert hat – mehr noch die Frage: Ist die Meißener Porcellanmanufactur Kunstanstalt? Die Erfolge, die auf den Weltausstellungen zu London und Paris seit 1851 erreicht worden sind, lassen die Frage bejahen. Aber die Herren Professoren der Kunstakademie sagen mit Bestimmtheit: Nein! Die Entscheidung läßt sich nicht in der Gartenlaube geben. Die Meißner Anstalt nimmt das Gewerbe in seinen Dienst und bildet es aus der Kunst heraus. Die Formen sind sorgfältig gebildet, die Ornamente von besonderer Vollendung. Die Aufgabe der Zeit ist die Hebung der Kunstgewerbe; hat die Kunst hier Wurzel gefaßt, so wird die Industrie ihren Nutzen daraus ziehen. Güte des Rohmaterials, Sorgfalt der Behandlung, Genauigkeit der Fabrication, Anwendung der neuesten Erfindungen greifen zusammen und werden den Ruf der Anstalt erhalten. Hat die Kunstindustrie seit fünfzig Jahren in der Meißner Porcellanmanufactur festen Fuß gefaßt, so wird sie jetzt, wo ihre Hebung auf dem Banner des Fortschrittes steht, auch die Pflege dieser höhern Geistescultur fort und fort zur Geltung bringen und ein Grundstein für die Zukunft sein.




Pariser Bilder und Geschichten.

In einem Versteigerungshaus.
Von Ludwig Kalisch.

Es giebt in Paris eine Anstalt, wo man vergleichende Kunstgeschichte und Alterthumskunde, Psychologie und Physiognomik studiren und sich mit einem großen Stück Pariser Leben bekannt machen kann. Diese Anstalt ist das Hôtel Drouot, in welchem die öffentlichen Versteigerungen stattfinden. Es wird deshalb auch Hôtel des Ventes (Verkaufshaus) genannt. Es ist ein massives, feuerfestes Gebäude, das seinen Erbauern, den Commissaires Priseurs, fast eine halbe Million gekostet. Solcher Commissaires Priseurs oder Taxatoren giebt es in Paris achtzig. Wie die Wechselagenten bilden auch sie eine geschlossene Körperschaft, ohne deren Vermittelung keine öffentliche Versteigerung gestattet ist. Sie erhalten zehn Procent von der Bruttoeinnahme, und zwar fünf Procent von dem Verkäufer und eben so viel von dem Käufer. Da nun in den öffentlichen Versteigerungen in Paris jährlich über dreißig Millionen Franken umgeschlagen werden und bei der zunehmenden Bevölkerung der Hauptstadt die Zahl der Versteigerungen fortwährend wächst, so wird natürlich die Stelle eines jener Taxtoren stark gesucht. Allein eine solche Stelle ist deshalb schwer zu erlangen, weil sie sehr theuer ist. Es giebt unter den Pariser Commissaires Priseurs gar manche, die ihre Stelle nicht für dreihunderttausend Franken verkaufen würden. Das Geld allein würde indessen auch nicht genügen. Der Bewerber hat sich an den Justizminister zu wenden, und die Ernennung wird von dem Staatsoberhaupt unterzeichnet. Der Candidat muß einen makellosen Namen haben und gewisse Kenntnisse besitzen. Er hat vor einer Commission ein Examen zu bestehen und dann vor der Kammer der Corporation einen Eid zu leisten. Da nun die Zahl der Commissaires Priseurs auf achtzig beschränkt ist, so sind diese Stellen sehr selten und werden gewöhnlich nur durch Todesfälle erledigt.

Die Corporation der Commissaires Priseurs datirt von 1816. Bis dahin wurden die Versteigerungen von den Huissiers (Gerichtsdienern) abgehalten, und da ging es selten ohne Unfug ab. Die Trödler verschworen sich unter und gegen einander; Händel mancher Art entstanden und gar oft wurden die zu versteigernden Gegenstände beschädigt. Jetzt ist der Versteigerer sicher, sein Interesse gewahrt zu sehen.

Das Versteigerungshaus besteht aus einem einzigen Stockwerke und aus einem Hofraum mit anstoßenden Schuppen. In den Sälen zu ebener Erde werden nur die schweren und ordinären Gegenstände versteigert, während im oberen Stockwerke, wo sich zu beiden Seiten eine Reihe mehr oder minder großer Säle hinzieht, prachtvolle Möbel, Bijouterieen und Kunstwerke losgeschlagen werden. Zu ebener Erde finden die Versteigerungen für die niederen Volksclassen statt, während die Kunst- und Luxusgegenstände, die im oberen Stockwerk unter den Hammer kommen, natürlich nur der Börse der Wohlhäbigen und der Millionäre zugänglich sind. Indessen wird das Hôtel Drouot nicht blos von Kauflustigen besucht; ein großer Theil des Publicums, welches sich in demselben hermtuzutreiben pflegt, besteht aus armen und reichen Müßiggängern, aus Leuten, die keine Beschäftigung finden, oder keine zu suchen brauchen.

In jedem Saale thront auf einer Tribüne der Commissaire Priseur mit einem elfenbeinernen Hammer in der Hand. Ihm zur Seite sitzt ein Secretär. In den Sälen, wo Pretiosen und Kunstwerke versteigert werden, befindet sich auch ein Sachverständiger, der den Ansatzpreis bestimmt. Es versteht sich von selbst, daß jeder Saal je nach den Gegenständen, die dort zur Versteigerung kommen, sein eigenes Publicum hat. Die Räume, wo Hausgeräthe versteigert werden, sind am stärksten besucht. Wer [111] sich in Paris billige Möbel verschaffen will, holt sich gewöhnlich aus dem Hôtel des Ventes seinen Bedarf. Angehende Aerzte, Advocaten, junge Beamte und viele andere Leute, deren Besitzthümer im Reiche der Hoffnung liegen, kaufen dort die Sieben Sachen, um die Blößen ihrer Wohnung zu bedecken. Wer in einen solchen Saal tritt und die Spiegel und Teppiche, die Divans und Sessel, die Wanduhren, Lampen und Candelaber erblickt, der wird zu gar mancher Betrachtung veranlaßt. Könnten diese Geräthe sprechen, welche Geschichte würden wir hören! In Paris erleiden Menschen und Dinge die merkwürdigste Schicksale, und kein Poet verräth hier so viel Phantasie wie das wirkliche Leben. Gar viele der Geräthe, welche hier so kunterbunt durch einander stehen und liegen, haben bereits den verschiedensten Besitzern angehört; und wer kann sagen, wie oft sie noch die Eigenthümer wechseln werden? Vielleicht, daß derjenige, der diesen prachtvollen Lehnstuhl zuerst besessen, in irgend einem abgelegenen Winkel von Paris auf einem Strohlager gestorben; vielleicht, daß die Dame, die in diesem venetianischem Spiegel einst ihre Reize bewunderte, jetzt in einer Pariser Vorstadt welkes Gemüse oder faule Fische feil bietet! – Es passirt auch häufig genug, daß ein Besucher des Auctionshôtels unter den dort aufgehäuften Gegenständen alte Bekannte wiederfindet, Möbelstücke, die er in der Stunde der Noth losgeschlagen, oder die ihm ein unerbittlicher Executor entrissen.

Doch lassen wir diese Betrachtungen und treten wir in einen der Säle, wo Kunstgegenstände versteigert werden. Wie die Waare, so ist auch hier das Publicum viel interessanter. Alles, was Paris an wirklichen und eingebildeten Kunstkennern und Kunstfreunden besitzt, ist hier vertreten. Hier findet man auch die Leute, die von der Sammelwuth ergriffen sind. Die Leidenschaft der Einen besteht darin, eine reiche Sammlung von Dolchen zu besttzen; Andere sammeln Tabaksdosen; wieder Andere schwärmen für chinesische Theetassen. Ich kenne einen sonst vernünftigen Mann, der eine Sammlung von Fetischen besttzt und seit einem Menschenalter täglich das Hôtel Drouot und alle Pariser Trödler besucht, um irgend eine fratzenhafte Gottheit zu entdecken und damit seine Sammlung zu bereichern. Seine Wohnung ist ein wahres Pandämonium. Die dem Menschen angeborene Liebe zum Besitz äußert sich auf unzählige Weise und wird nicht selten zu der sonderbarsten Manie. Jeder wahre Sammler hält natürlich seine Collection für die schönste. Er liebt dieselbe mit einem wahren Fanatismus und grollt Jedem, der diesen Fanatismus nicht theilt. Vor mehreren Jahren machte ich die Bekanntschaft eines Spaniers. Er wohnte in meinem Hause und ich begegnete ihm fast täglich auf der Treppe. Man kann sich keine possirlichere Gestalt denken. Er war spindeldürr, hatte eine lange spitze Nase, die fast das Kinn berührte, und unter seinen struppigen Brauen blitzten die kleinen grauen stechenden Augen unheimlich hervor. Sein Anzug war noch sonderbarer als seine Gestalt. Er war stets in einen verschossenen Teppich gehüllt und trug einen breitkrämpigen spitzen Hut, der wer weiß wie viel Geschlechter hatte entstehen und vergehen sehen. Niemand wußte zu sagen, wo er speiste. Er holte sich jeden Morgen eine Schale Milch und ein Weißbrod, und man behauptete, daß dies seine einzige Nahrung bildete. Von den Hausleuten wurde er „l’adorateur de Venus“, der Anbeter der Venus, genannt und auf meine Frage nach der Ursache dieses Spitznamens wurde mir geantwortet, daß der Spanier ein Sammler von antiken Kunstwerken sei und unter diesen eine Venus besitze, welcher er die größte Bewunderung zolle. Man bemerkte mir zugleich, daß der sonderbare Kauz, der sich nicht satt esse, sehr reich sei, aber sein ganzes Vermögen in seine Sammlung stecke.

Kurz darauf, als ich im Louvre bewundernd vor der Venus von Milo stand, kam er auf mich zu, und indem er sein Vergnügen ausdrückte, einen Kunstfreund in mir kennen zu lernen, bat er mich, am folgenden Morgen seine Sammlung zu sehen. Er wartete meinen Besuch nicht ab, sondern fand sich am andern Morgen bei mir ein. Ich folgte ihm in seine Wohnung, die einer Rumpelkammer glich. Unzählige Fragmente in Bronze und Marmor lagen rings umher gestreut oder aufgehäuft. In der offenen Alkove bemerkte ich eine Matratze auf dem Boden. Sie bildete die Schlafstätte des sonderbare Mannes. Da er nie die Fenster öffnete, so war die Luft so drückend, daß sie mir fast den Athem benahm. Ein kleiner gichtbrüchiger Tisch und ein Rohrstuhl, an dem das Rohr in Fetzen herumhing, bildeten das ganze Mobiliar. Dieser Stuhl stand in der Mitte des Zimmers vor der mit einem durchlöcherten rothseidenen Unterrock halbumhüllten Göttin der Schönheit. Der Spanier bat mich, auf besagten Stuhl mich zu setzen, und nachdem ich dies mit aller Vorsicht gethan, nahm er die seidene Umhüllung von der Statue. Dieselbe war in der That ein schönes Werk, dem ich die gebührende Bewunderung zollte. Der Spanier fand jedoch die Temperatur meiner Bewunderung nicht hoch genug. Er überreichte mir daher eine Loupe und indem er mich auf die Einzelnheiten des Kunstwerkes aufmerksam machte, suchte er mir zu beweisen, daß es nicht seines Gleichen habe. Er zählte mir dabei alle Venusse auf, die aus den classischen Werkstätten Griechelands hervorgegangen und nun in den Museen und Sammlungen in mehr oder minder fragmentarischem Zustande zerstreut sind, warf noch einige sehnsüchtige Blicke auf seine Venus und bedeckte dieselbe wieder mit dem durchlöcherten rothseidenen Unterrock.

Ich sah ihn noch mehrere Male nach diesem Besuche. Eines Morgens, als er nicht wie gewöhnlich seine Ration Milch und Brod holte, wurde die Hausmeisterin stutzig. Man klopfte an seine Thür. Keine Antwort! Als man das Zimmer öffnete, fand man den Spanier entseelt vor der Venus neben dem umgestürzten Rohrstuhle zu Boden gestreckt. Der Arzt erklärte, daß der Unglückliche sich durch unzulängliche Nahrung den Tod zugezogen. –

Kommen wir wieder zu den Versteigerungen zurück. Es fehlt bei denselben niemals an Leuten, die sich in der bloßen Absicht einstellen, die Preise in die Höhe zu schrauben. Diese Scheinkäufer nent man „Chauffeurs“ (Heizer). Diese Chauffeurs sind bei den Versteigerungen ungefähr, was die Claqueurs in den Pariser Theatern sind. Wenn z. B. ein schönes Gemälde unter den Hammer kommt, betrachtet der Chauffeur dasselbe so lange wie möglich und scheint seine Bewunderung nicht unterdrücken zu können. Er bietet mit großem Eifer, der im Verhältniß zum Gebote der Anderen wächst, und wenn das Feuer der Kauflust am hellsten flackert, d. h. wenn er sieht, daß der Preis am höchsten emporgeschraubt, zieht er sich mit traurigem Kopfschütteln zurück und überläßt das Feld dem Gegner, der nicht selten seinen Sieg bereut. Es versteht sich von selbst, daß ein solcher „Heizer“ seine Absicht nicht verräth, und ebenso leicht wird man begreifen, daß er nicht immer seinen Zweck erreicht. Das Publicum des Hôtel des Ventes besteht aus schlauen, durchtriebenen Leuten, die sich nicht blenden und berücken lassen. Indessen giebt es doch dann und wann Einige, die in die Falle gehen. Es sind dies besonders die eingebildeten Kunstkenner, die sich die Miene geben, als ob sie an einem einzigen Pinselstrich einen Meister von dem anderen unterscheiden können. Hier, wie sonst im Leben, werden gewöhnlich diejenigen am ersten angeführt, die sich durch ihre Klugheit gegen jeden Irrthum gerüstet glauben.

Wie vorsichtig man im Hôtel des Ventes sein muß, mag folgender Fall beweisen. Einer meiner Landsleute saß einst bei einer Gemälde-Versteigerung mit dem Katalog in der Hand an dem langen Tisch, der sich vor der Tribüne des Commissaire Priseur befindet, als eine hinter ihm stehende schöne Dame mit einem sehr aristokratischen Aeußern ihn leise auf Französisch fragt, ob er Englisch verstehe? Auf seine bejahende Antwort bittet ihn die Dame in englischer Sprache, auf das Bild zu bieten, das so eben unter den Hammer kommt. Ein wahrer Gentleman, erklärt sich mein Landsmann sogleich bereit, ihren Wunsch zu erfüllen. Bald findet er sich im Kampfe mit einer Unzahl Kauflustiger, und nach einigen Minuten hat er, den Einflüsterungen der unbekannten Schönen gehorchend, sämmtliche Mitbewerber überboten. Jetzt erst fällt es ihm ein, daß er sich von seiner Galanterie zu schnell habe hinreißen lassen, daß die Dame, die er nicht kannte, vielleicht die Eigenthümerin des Bildes sei und er sich als unfreiwilliger Besitzer desselben sehen könne. Seine Artigkeit geräth in Streit mit seiner Befürchtung und er zögert, den Kampf mit den zahlreichen Kauflustigen fortzusetzen. Die verstohlenen Blicke der reizenden Dame werden aber immer unwiderstehlicher, und wie von einem holden Zauber getrieben, bietet er immer darauf los, bis ihm endlich das Bild - eine Landschaft mit Trauerweiden und einem Ententeich - zu einem lächerlich hohen Preise zugeschlagen wird. Er sieht sich nach der Dame um, diese aber war wie ein mitternächtlicher Geist bereits verschwunden. Der Geprellte schämt sich zu sagen, daß er das Opfer einer Intrigue ist. [112] Er bezahlt das Bild und hat noch obendrein den Verdruß, als er sich mit den Trauerweiden und dem Ententeich unter dem Arm entfernt, die spöttischen Bemerkungen des Publicums zu hören.

Nicht selten bemerkt man auch bei den Kunstversteigerungen eine Frau in Trauer. Die Gegenstände, die zur Auction kommen, bilden die ganze Hinterlassenschaft ihres Gatten. Er war Künstler und der Tod hat ihn hinweggerafft, bevor er zu Ehre und Ruhm gelangen konnte. Die arme Wittwe betrachtet mit schwermüthigen Blicken die Skizzen und Zeichnungen, an die sich so manche süße Erinnerungen knüpfen und von denen sie sich nun auf immer trennen soll. Sie betrachtet aber auch das Publicum und sucht unter demselben einige bekannte Gesichter. Es haben sich in der That mehrere Freunde ihres Gatten eingefunden, um als wohlwollende „Heizer“ die Kauflust zu erwecken. ihre Bemühungen sind jedoch umsonst. Die Kunstfreunde wenden sich achselzuckend ab, und nur einige Trödler verstehen sich dazu, um einen Spottpreis die Werke zu erstehen, durch welche der Verstorbene die Unsterblichkeit zu erlangen hoffte.

Werden nun die erfahrensten Leute zuweilen angeführt, so werden die unerfahrenen nicht selten bei ihren Käufen vom blinden Glück begünstigt. Vor mehreren Jahren bemerkte einer meiner Freunde im Hôtel Drouot ein altes Spinet von zierlichem Bau und mit einigen Medaillons geschmückt, die unter einer dicken Staubkruste versteckt waren. Die Käufer zeigen sich sehr kalt, und das Instrument wird meinem Freunde zu einem Spottpreise zugeschlagen. Er hatte kaum Zeit seinen Kauf zu bedauern, als ein ältlicher Mann hastig in den Saal tritt, meinen Freund auf die Seite nimmt und diesen bittet, ihm das gebrechliche Instrument abzutreten Nach langem Hin- und Herreden werden sie Handels einig. Mein Freund steckt sehr zufrieden einen erklecklichen Profit in die Tasche, und der Alte läßt noch viel zufriedener das Spinet nach seiner Wohnung bringen. Die Medaillons waren nämlich von dem Großvater des alten Herrn gemalt.

Noch glücklicher war ein junger Mann, der im Hôtel Drouot einen eisernen Schrank kaufte und, als er ihn zu Hause von einem Schlosser ausbessern ließ, in einem geheimen Fache dieses Möbelstückes über hunderttausend Franken an Geld und Werthpapieren fand. Niemals war das Glück blinder und einfältiger gewesen; denn der junge Mann ist sehr reich.

Das Resultat der Versteigerungen hängt natürlich von der Gunst und Ungunst der Umstände ab. Ist das Geld im Ueberfluß vorhanden, so stellen sich die Käufer zahlreich ein und es werden hohe Preise erzielt, besonders für Kunst- und Luxusgegenstände. Solche günstige Zeiten werden soviel wie möglich für freiwillige Versteigerungen benutzt. Gar mancher Millionär, der sich das Ansehen eines begeisterten Kunstfreundes giebt und für seine Bildergalerie zu schwärmen scheint, schlägt diese wie eine gewöhnliche Waare los, wenn er dabei einen bedeutenden Geldprofit zu machen hofft. Auch beliebte Theaterprinzessinnen lassen dann und wann aus Speculation ihre Mobilien versteigern. Niemand, der nur einigermaßen einen Namen in der Dandy-Welt hat, darf bei einer solchen Versteigerung fehlen, oder dieselbe verlassen, ohne einen Gegenstand käuflich an sich gebracht zu haben.

Wer zum ersten Male nach Paris kommt und diese Weltstadt etwas weniger oberflächlich sehen will, als dies gewöhnlich zu geschehen pflegt, sollte nicht unterlassen, das Hôtel Drouot zu besuchen. Er wird dort die absonderlichsten Vertreter aller Schichten der Gesellschaft finden und seine Menschenkenntniß mehr als sonstwo bereichern.




Blätter und Blüthen.


Ein neuer Tenor im Werden. In Kiel, in einem öffentlichen Biergarten, sitzen vorigen Sommer eines Abends Handwerksgesellen zusammen – zechend, singend. Ein Student – der Name ist unwesentlich – sieht zum Fenster seiner Bude heraus, das in diesen Garten führt, und hört zu – gedankenlos, gedankenvoll. Der Chorus schweigt eine Weile und eine wunderbar klangvolle und kräftige Tenorstimme hebt ein Solo an. Unser Studio, ein musikalisch gebildeter, musikverständiger Geist, lauscht aufmerksamer und als der Tenor geendet, giebt er gesungene Antwort. Dies Hin- und Wiedersingen wird eine Zeit lang fortgesetzt, bis schließlich der Musensohn, enthusiasmirt von der Stimme des Handwerksgesellen, in den Garten hinunterläuft, den Tenorsänger zu begrüßen. Einige Tage danach wird unser Handwerker, ein Bäckergesell Namens Wilhelm Krüger aus dem Mecklenburg-Strelitz’schen Städtchen Friedland, allwo sein Vater Ausrufer war (vielleicht davon die Stimme und der Umfang?), zum Commandanten von Kiel entboten, dort in einer Gesellschaft zu singen. Staunen und Bewunderung und der in der Erregung des augenblicklichen Genusses ausgesprochene Entschluß, für den Mann und seine Stimme etwas zu thun, waren auch hier allgemein. indessen, wie das so geht, man ist angeregt und verspricht, am Morgen danach denkt man nüchterner und vergißt. So auch hier wieder einmal. Unser Tenorbesitzer verläßt Kiel und wandert weiter. In Schwaan, einem Städtchen in Mecklenburg-Schwerin, tritt er in Arbeit und auch in den dortigen Liederkranz. Der Dirigent desselben erkennt bald den Werth dieser Tenorstimme, lauscht, horcht, prüft, läßt noch andere prüfen – und ist schließlich überzeugt, ein Phänomen entdeckt zu haben. Er theilt seine Wahrnehmung dem Bäckergesellen mit. Dieser erzählt sein Kieler Erlebniß. – „Schreiben sie an ihren Landesherrn,“ resolvirt der Schwaaner Dirigent und giebt ihm ein Zeugniß über Werth und Bildungsfähigkeit seiner Stimme schwarz auf weiß. „Kommen Sie sofort nach Neustrelitz,“ läßt der Großherzog respondiren. Krüger kommt. Zwei fürstliche Capellmeister nehmen ihn in die Presse. Beide Herren können sich, wie das ja am Ende so natürlich ist, nicht einigen. Der eine meint entschieden: Ja – der Andere macht allerlei Einwendungen, schwankt und zuckt die Achseln. „Nach Hamburg zu Wurda[WS 1] mit dem Ausrufersohn!“ entscheidet Serenissimus. – Der alte Wurda[WS 2] im Verein mit den stimmverständigsten Koryphäen Hamburg’s hört, prüft – fünf Wochen lang. Entscheidung. „Tenorstimme von kolossaler Stärke, prachtvollstem Timbre und riesenhaftem Umfang. Der Ausbildung unbedingt fähig und würdig.“ – Mit diesem Attest kommt Krüger nach Neustrelitz zurück um nunmehr auf großherzogliche Kosten vier Jahre auf dem Conservatorium zu Würzburg seine Stimme in die Schule nehmen zu lassen. Wie es heißt, soll er in der Höhe noch zwei Töne mehr haben (Brust), als Herr Wachtel. – Glück zu, Landsmann! Nous verrons! C. Sp.     




Süd–Brasilien und Herr Sturz. Wie ich nie im Leben einer Auswanderung nach den heißen Provinzen Brasiliens, also den nördlich gelegenen Theilen des großen Reichs, das Wort reden würde, weil sich unsere deutschen Arbeiter dort einer Menge von unnöthigen Gefahren aussetzen – ebenso kann ich eine Auswanderung nach Süd-Brasilien, besonders nach den drei Provinzen St. Catharina, Parana und Rio Grande do Sul allen denen mit gutem Gewissen anempfehlen, die sich überhaupt zur Auswanderung entschlossen haben und zu ihrer nächsten Heimath kein zu kaltes Land wählen wollen.

Herr Sturz bemüht sich jetzt – und schon seit langen Jahren – allerdings in der deutschen Presse und besonders durch eine Unzahl von Flugblättern, nicht allein jenes Land zu verdächtigen, sondern auch fast Jeden zu beschuldigen bestochen zu sein, der Süd-Brasilien wirklich so beschreibt, wie es ist, und nicht wie es Herr Sturz schildert. Welche Zwecke er dabei verfolgt, weiß ich nicht, aber er gebraucht schlechte Mittel dazu, und es wird ihm außerdem schwer werden, sich gegen all’ die jetzt gegen ihn auftauchenden Anklagen zu verteidigen, welche ihn selber offen des „Seelenverkaufs“ beschuldigen, und diese Beschuldigungen mit Herrn Sturz’s eigenen Anträgen an fremde Regierungen belegen.

Die Süd-Staaten von Brasilien sind ein großes, reiches und fruchtbares Land. Tausende von unseren deutschen Landsleuten leben dort und befinden sich wohl, ja haben eine prächtige blondhaarige Nachkommenschaft gezeugt, Sclaverei wird dort nicht geduldet – es ist Alles freie Arbeit, und die Regierung ist den deutschen Colonieen, für die sie schon viel gethan, freundlich gesinnt.

Daß es auch manche Schattenseiten in dem fremden Lande giebt, läßt sich nicht leugnen, aber sie stehen in keinem Verhältniß zu den Vortheilen, die es dem Einwanderer bietet.

Ich rathe überhaupt Niemandem zu einer Auswanderung, so lange er noch in seinem alten Vaterland Grund unter den Füßen fühlt. Wer aber einmal fest erschlossen ist, die Heimath mit einem anderen, wärmeren Welttheile zu vertauschen, der lasse sich nicht durch die ungerechtfertigten und oft sogar unwahren Angriffe des früheren General-Consuls für Brasilien – Herrn Sturz, abhalten. An Ort und Stelle wird er von den eigenen Landsleuten solche Anschuldigungen gegen Süd-Brasilien nicht allein widerlegt hören, sondern auch selber widerlegt sehen. Fr. Gerstäcker.     




Kleiner Briefkasten.

S. B. in Rudolstadt. Wenn wir auch Ihrer Meinung nicht beistimmen können, da in der Gartenlaube auch dem Humor ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt werden soll, so danken wir Ihnen doch für Ihre ebenso liebenswürdige wie uns ehrende Rüge. Beurtheilungen dieser Art, wenn sie mit so vieler Liebe und Anerkennung für die Gartenlaube ausgesprochen werden, können uns nicht wehe thun.

T. in Breslau. Der größere Artikel von Karl Vogt über die Iserlohner Höhle, mit Abbildung von Hoff in Düsseldorf, erscheint bestimmt in Nr. 9 und 10. D. Red.     

St. B. E. in G. Wenn Sie noch eine Zeitlang in Ihren stylistischen Versuchen fortfahren, werden Sie sich dicht neben dem Frosch placiren können.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Warda, vergl.: Berichtigung (Die Gartenlaube 1869/11)
  2. Vorlage: Warda