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Die Gartenlaube (1869)/Heft 3

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33]

No. 3.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.

(Fortsetzung)

„Hm – der Student wird sich auf der Reise erkältet haben,“ erwiderte Sievert trocken, indem er nach der Thür schritt.

„Nun meinetwegen denn – aber ich sehe nicht ein, weshalb da nun auch der Hüttenmeister zu Hause bleibt. … Fürchtet er sich auch vor dem Schnupfen“ fragte die junge Dame.

„Sei nicht so kindisch, Jutta!“ schalt Frau von Zweiflingen ärgerlich. „Wie kannst Du verlangen, daß er den kranken Bruder allein lassen soll, den er seit zwei Jahren nicht gesehen hat, und ihn obendrein zum ersten Mal im eigenen Hause beherbergt!“

„O Mama, das entschuldigst Du auch?“ rief Jutta und schlug in unwilligem Erstaunen die Hände zusammen. „Würde es Dich nicht tief geschmerzt haben, wenn Papa Dich um Anderer willen hätte vernachlässigen wollen, und –“

„Schweig, Kind!“ gebot Frau von Zweiflingen so rauh und heftig, daß die Tochter erschrocken verstummte. Die Kranke lehnte den Kopf kraftlos an die Stuhllehne und legte die Hand über die lichtlosen Augen.

„Sei nicht böse, Mama,“ hob das junge Mädchen nach einer Pause wieder an; „aber in dem Punkte kann ich mich nicht ändern – eine solche Rücksichtslosigkeit von Seiten Theobald’s macht mich sehr unglücklich! Ich habe nun eben einmal meine hohen Ideale und weiß, daß alle Damen aus dem Hause der Zweiflingen zu allen Zeiten hochgefeiert gewesen sind. Lies nur unsere Hauschronik; da wirst Du finden, daß die edlen Herren in den Tod gegangen sind für die Dame ihres Herzens, und was waren ihnen Eltern und Geschwister, wenn es sich um das Wohl und die Freude der Geliebten handelte! Nun ja, das waren eben auch adelige Gesinnungen!“

„Du Thörin!“ zürnte die kranke Frau. „Ist dieser bodenlose Unsinn das ganze Resultat meiner Erziehung?“ Sie hielt inne, denn Sievert trat eben wieder in das Zimmer. In der einen Hand trug er ein Glas frisches Wasser und in der andern die mitgebrachte weiße Papierdüte, die er Jutta hinreichte. Sie schlug das Papier auseinander – auch nicht ein Zug des Gesichts veränderte sich beim Anblick der duftenden Liebesboten, die ihre unschuldigen Köpfchen furchtlos in die Winterzeit gewagt hatten, um die an Licht, Duft und Wärme verarmten Menschen erquickend zu trösten. Es ist reizend, wenn ein junges Mädchen die vom Geliebten gesandten Blumen leise und verstohlen an ihre Lippen drückt – diese Braut aber war wohl augenblicklich zu tief gekränkt; sie bog nicht einmal den Kopf nieder, um den süßen Duft einzuathmen; das Papier auf dem Tisch ausbreitend, warf sie das Bouquet auseinander und zog nur die Tazetten heraus. … Sievert stand noch da und hielt ihr das Glas hin; sie stieß es zurückweisend leicht mit der Hand weg.

„Ach, dazu sind sie nicht abgeschnitten,“ sagte sie verdrießlich.

„Ich kann die trübe Lache in den Gläsern nicht ausstehen!“ Sie trat an den Spiegel und steckte die Tazetten diademartig in ihre Locken, und zwar so anmuthig und ungezwungen, als seien die weißen Blumensterne auf das dunkle Haar geschneit. Die unglückliche Mutter war in diesem Moment doppelt bedauernswürdig, daß sie ihr unvergleichlich schönes Kind nicht sehen konnte, vielleicht hätte sie über der Erscheinung den ‚bodenlosen Unsinn‘ vergessen, den die in innerer Befriedigung jetzt lächelnden Lippen vorhin so herb ausgesprochen – ,sehr unglücklich' sah das Gesicht ganz gewiß nicht mehr aus.

Der alte Diener warf auch nicht einen Blick auf die geschmückte Gestalt vor dem Spiegel, aber ein böses Lächeln zog seine Mundwinkel herab, als er mit dem Glas zur Thür hinausging. Die Dichter besingen in zahllosen Variationen das vermuthliche Wonnegefühl der Blumen bei ihrem Verscheiden im Haar oder an der Brust eines schönen Mädchens – der rauhe Soldat aber fluchte innerlich, daß er ‚die armen Dinger‘ so sorgsam durch Schnee und Wetter getragen, damit sie nun ,elendiglich‘ hier umkommen sollten. Er brachte nach kurzer Zeit das Theewasser, Brod und Butter herein, und schob die kranke Frau im Lehnstuhl näher an den Tisch; dann zog er sich in seine im Erdgeschoß des nördlichen Thurmes gelegene Stube zurück. Da kam, wie allabendlich, seine Erholungszeit. Er heizte den Ofen tüchtig, stopfte sich eine Pfeife und las – astronomische Werke.

Jutta schlug die feinen Spitzenmanschetten am Handgelenk zurück. Sie strich Butterbrode und bereitete den Thee.

„Ich weiß nicht, mein Kind,“ sagte die Blinde, das Ohr aufmerksam nach ihrer Tochter hinneigend, „es rauscht heute bei jeder Deiner Bewegungen wie schwere, starre Seide –“

Die junge Dame erschrak sichtlich; ein glühendes Roth färbte für einen Augenblick Gesicht und Hals, und unwillkürlich rückte sie einen Schritt weiter aus dem Bereich der Mutter.

„Hast Du Deine schwarzseidene Schürze vorgebunden?“ forschte die blinde Frau weiter.

„Ja, Mama!“ Diese Antwort klang halberstickt, aber sie erfolgte sofort.

„Merkwürdig – das Geräusch ist mir nie so aufgefallen. [34] Hättest Du über ein seidenes Kleid in Deiner Garderobe zu verfügen, dann wollte ich drauf schwören, Du machtest Dir das lächerliche Vergnügen, im alten Waldhaus als Salondame zu paradiren. … Was hast Du für ein Kleid an?“

„Mein altes, braunes Wollenkleid, Mama.“

Das Examen war zu Ende. Jutta athmete erleichtert auf; sie klirrte beim Theetrinken mehr als nöthig mit der Tasse, im Uebrigen aber hielt sie sich plötzlich steif und unbeweglich, wie ein Wachsbild.

Die Kranke genoß so viel wie nichts. Ein dünnes Schnittchen des feinen Brodes, das Sievert um ihretwillen aus Schloß Arnsberg geholt hatte, zerbröckelte zwischen ihren Fingern, kaum einige Krumen kamen über ihre Lippen – sie war offenbar dem letzten Stadium ihrer Krankheit sehr nahe.

„Du könntest mir etwas vorlesen, Jutta, wenn Du mit Deinem Abendbrod fertig bist,“ sagte sie. „Der Sturm heult zu unheimlich!“

„Gern, Mama. Ich will die Sappho von Grillparzer holen – Theobald hat sie mir gestern mitgebracht.“

Ein nervöses Aufzucken durchflog die Glieder der blinden Frau. „Nein, nein!“ rief sie mit abwehrender Heftigkeit. „Weißt Du, was diese Sappho ist? Ein unglückliches, verrathenes Weib! … Ein Sturm der qualvollsten Seelenschmerzen geht durch dies Buch, schlimmer als der da draußen, und – ich will ihn ja doch vergessen!“

Die junge Dame erhob sich, um ein anderes Buch zu holen; dabei streifte sie unbewußt mit ihrem Kleid die herabhängende Rechte der Kranken – diese Hand erfaßte plötzlich die vorübergleitenden Rockfalten und hielt sie krampfhaft fest, während die Linke prüfend in fieberhafter Hast über den Stoff hinfuhr.

„Jutta, bist Du wahnsinnig?“ schrie sie auf.

Das junge Mädchen sank sofort neben dem Lehnstuhl nieder. „Ach Mama, verzeihe mir!“ flüsterte sie. Der Schreck hatte ihre Lippen schneeweiß gefärbt.

Leichtsinniges, liebloses Geschöpf Du!“ zürnte die Mutter und stieß die Hände zurück, die ihre Rechte erfaßten. „Hast Du auch nicht einen Funken von Scham und Scheu empfunden, als Du mein Heiligthum an Dich rissest? … Mein Brautkleid, das ich gehütet habe wie meinen Augapfel, als einzigen Zeugen einer himmlisch schönen Zeit – dies Kleid, von welchem Du weißt, daß es mit mir gehen soll, wenn ich endlich erlöst sein werde von meinen Leiden, schleifst Du zur Verhöhnung unserer ganzen armseligen Verhältnisse über die elenden Dielen des Waldhauses und führst damit eine Farce auf, wie sie sich lächerlicher und erbärmlicher nicht denken läßt?“

Jutta erhob sich rasch, mit einer zornigen Geberde. In diesem Moment verflüchtigte sich auch die letzte Spur der Dornröschen-Lieblichkeit bei dem jungen Mädchen. Der zürnenden Mutter den Rücken halb zugewendet, war sie Zoll für Zoll die geharnischte Opposition. Ein impertinenter Zug flog um die leichtvibrirenden Nasenflügel, und höhnisch lächelnd richtete sie ihre sprühenden Augen auf ein Damenportrait, das über dem Sopha hing. Es war eine jugendliche Mädchengestalt mit einem Mulattenköpfchen. Vollkommen unregelmäßig in feinen Linien und von entschieden bronzefarbenem Teint, fesselte dies kleine magere Gesicht unwiderstehlich durch den piquanten, geistreichen Ausdruck der Züge und durch ein tiefes, halbverschleiertes Augenpaar, in welchem die Leidenschaft verstohlen glimmte. Die zarten bräunlichen Schultern umfloß weiße Seidengaze, unter welcher schwerer Atlas schimmerte, und in den dicken, dunklen Haarflechten steckte ein Granatblüthenstrauß, den eine Brillantnadel festhielt.

Jutta's Blicke hingen an der eleganten Toilette des Bildes.

„Du thust, als hätte ich ein Criminalverbrechen begangen, Mama,“ sagte sie kalt. „Ich habe das Kleid nicht an mich gerissen, sondern mir nur erlaubt, es für einige Stunden zu leihen. Die paar Nähte, die ich verändern mußte, sind im Nu wieder aufgetrennt; im Uebrigen ist es unversehrt. … Theobald wollte uns heute Abend seinen Bruder vorstellen; es ist wohl sehr natürlich, daß ich dem netten Verwandten wenigstens einen anständigen Eindruck machen wollte. Mein braunes Wollenkleid ist lächerlich unmodern und hat Flicken, die sich nicht gut mehr verbergen lassen – Du erlaubst ja nie, daß Theobald mir dergleichen schenkt. … Mama, Du hast vergessen, daß Du auch einmal jung gewesen bist; oder vielmehr, Du kannst nicht begreifen, wie ich fühle und leide, denn Deine Jugend war ja so ganz anders! … Wenn ich dort Dein Bild ansehe und den weißen Atlas mit meiner brillantesten Toilette, eben dem kostbaren braunen Wollenkleide, vergleiche, dann frage ich: Warum bin ich ausgestoßen aus dem Paradiese, in dem Du, Mama, leben und glänzen durftest?“

Die Blinde stöhnte und schlug die Hände vor das Gesicht.

„Ich bin auch jung und von edlem Geschlecht!“ fuhr die Tochter unerbittlich fort. „Ich fühle auch den Beruf in mir, oben zu stehen und mit den Großen der Welt zu verkehren, und muß elend in einem dunklen Winkel verkümmern!“

War es Frau von Zweiflingen’s Absicht gewesen, ihr Kind, frei von Eitelkeit und Weltluft, für eine anspruchslose, bescheidene Lebensstellung zu erziehen, dann hatte sie unkluger Weise einen beredten Gegner außer Acht gelassen, der unausgesetzt und energisch ihren Bestrebungen entgegenwirkte – es war der Spiegel. Wenn auch die dürftige Talgkerze kaum ein halbes Dämmerlicht im Zimmer verbreitete, so daß nur das weiße Gesicht des jungen Mädchens, die bleichen Blumensterne in ihrem Haar und hie und da ein Streifen der hellen Seidenrobe aufleuchteten – das deckenhohe Glas warf doch eine Erscheinung zurück, die in ihrem stolzen Gesammtausdruck, in dem verführerischen Reiz ihrer tadellosen Formen durchaus nicht mit der einsam und harmlos verblühenden Waldanemone verglichen werden durfte.

„Von dem ganzen großen Familienvermögen ist nicht ein Groschen für mich verblieben,“ sprach Jutta beharrlich weiter, während die blinde Frau, das Gesicht in den Händen vergraben, bewegungslos schwieg. „Du sagst, Papa habe es durch Unglücksfälle und falsche Freunde verloren – gut, das ist nicht zu ändern; aber dann mußten von Deiner und Papa's Seite Schritte geschehen, mich wenigstens standesgemäß zu versorgen. … Vor einigen Tagen las ich, daß die Töchter verarmter Adelsfamilien meist als Hofdamen untergebracht werden – das hat mich sehr aufgeregt, Mama; ich muß fortwährend darüber nachdenken, weshalb Du mir den einzigen Weg zu einem glänzenden Leben verschlossen hast.“

„So – das wäre also Dein unumwundenes Glaubensbekenntniß, Jutta!“ sagte die Blinde tonlos; ihre Hände sanken langsam in den Schooß. Die leidenschaftlich hervorbrechende Heftigkeit der Frau war plötzlich wie erloschen, wie vernichtet unter einem ungeahnten moralischen Schlag. „Und ich habe gewähnt, das Blut durch die Erziehung bekämpfen zu können! Alle Eigenschaften unserer Kaste, da sind sie ja; die Genußsucht, der Hochmuth, der Trieb, es den Höchsten gleich zu thun – und reichen die eigenen Mittel nicht aus, nun so schraubt man den Stolz um so und so viel Grad nieder und mischt sich wenigstens unter den dienenden Troß, um sich von der Gnadensonne beglänzen zu lassen. … Ich wollte Dich nicht in jener Sphäre wissen, die Du, das Paradies’ nennst, hörst Du?“ fuhr sie heftiger fort, indem sie sich mit den Händen auf die Seitenlehnen des Stuhles stützte und so ihre halbgelähmte Gestalt hoher aufrichtete „eher würde ich Dich eigenhändig hier im alten Waldhause vermauern! … Das mag Dir vorläufig genügen. Später, wenn Du gereift und nicht mehr so kindisch unverständig sein wirft, und wenn ich nicht mehr bin, soll Theobald Dir meine Gründe sagen!“

Sie lehnte sich erschöpft zurück und ließ die Lider über die Augen sinken.


3.

Es war mit einem Mal still geworden im Zimmer. Jutta wagte kein Wort der Erwiderung mehr. In dem Blick, den sie auf die Kranke heftete, lag doch etwas wie Scheu, Furcht und ein plötzlicher Schrecken über die eigene Kühnheit. Sie ging einigemal auf und ab; die kleinen Füße glitten unhörbar über die ausgetretenen Dielen, als versänken sie im weichsten Teppich – nur das verhängnisvolle Seidenkleid knisterte und rauschte beim Hinstreifen über die Möbel. Draußen aber flog der Sturm im jähen Aufbrausen um die alten Thurmmauern. Die letzten Blätterreste der ächzenden Baumwipfel rasselten, im wilden Gemenge mit dem Flockenwirbel, gegen die Fensterscheiben, und droben in luftiger Höhe klatschten und knarrten die verwahrlosten Laden der Dachluken hülflos auf und zu.

In diesen allgemeinen Aufruhr mischte sich plötzlich der Ruf einer menschlichen Stimme.

Zur Sommerzeit lag das Waldhaus nicht so gänzlich vereinsamt, als man hätte denken sollen. Der Fahrweg, den Sievert [35] anfänglich betreten, führte, ungefähr dreißig Schritte entfernt, an der Nordseite des Hauses vorüber. Er lief ziemlich gerade über den hier sehr flachen Bergrücken in der Richtung nach A. und vereinigte sich drunten wieder mit der Chaussee, die in weitem Bogen den Fuß des Berges umschrieb – er verkürzte die Strecke zwischen Neuenfeld und der Stadt um mindestens eine halbe Stunde. Dieser Umstand und die köstliche Waldeskühle machten, daß der Weg nicht allein von den Holzfuhrknechten benutzt wurde. Die Dorfleute gingen hin und wieder und kehrten auch öfter bei Sievert ein, um kleine Bestellungen für ihn in der Stadt zu besorgen. An heißen Tagen aber vermieden auch die Reisenden zu Wagen die staubige Chaussee und vergaßen die holperigen Geleise über dem Frieden und der grünen Dämmerung des Waldes. Diese Lebensader, die das Dickicht durchlief, wurde den Bewohnern des Waldhauses freilich nur bemerkbar durch herüberklingendes Lachen und Plaudern von Menschenstimmen, lustiges Peitschenknallen und bei trockenem Wetter durch das Rasseln der Räder – ebenso wußten die Wenigsten, die da drüben vorüberzogen, um das Dasein des uralten Jagdschlößchens im Herzen des Waldes, denn ein wildverwachsenes Unterholz, überragt von dichtgeschaarten Buchenkronen, trennte das Haus von dem Fahrweg. Mit dem Eintritt des Winters jedoch verstummten die Laute eines lebendigeren Verkehrs vollständig. Nur die Dohlen, die, seit Jahrhunderten auf den Thürmen nistend, ihre Geschlechtstafel getrost neben die verwitterte drunten in der Halle hängen durften, und die ihr angemaßtes Vorrecht im Walde zäher und hartnäckiger zu behaupten wußten, als die besiegelten Pergamentstreifen der Herren von Zweiflingen es vermocht hatten – sie kreisten flügelklatschend über dem einsamen Hause, und ihr mißtönendes Geschrei war oft wochenlang die einzige Lebensäußerung, die von draußen her in das stille Thurmzimmer drang.

Der vereinzelte Ruf einer Menschenstimme war demnach von überraschender Wirkung für die beiden Frauen. Die Blinde fuhr empor aus ihrem apathischen Hinbrüten, und Jutta öffnete rasch den Flügel des einen unverhüllten Fensters. Mit dem Windstoß, der ihr entgegenfuhr, drang auch deutlicher ein wiederholter Ruf herein, das laute Holla einer Männerstimme; es klang von der nördlichen Seite des Hauses herüber und galt offenbar Sievert’s erleuchteten Fenstern. Eine halbverwehte Antwort des alten Soldaten erfolgte, und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Fremden kam er aus seiner Stube und schritt nach der Hausthür.

Jutta nahm das Licht und ging hinaus in die Halle in dem Augenblick, wo Sievert den schweren Thürflügel zurückschlug und, auf die Galerie tretend, eine brennende Laterne in die undurchdringliche Finsterniß hinaushielt.

Rasche, feste Schritte kamen über den schmalen Wiesenfleck, der sich vor dem Hause hinstreckte. Am Fuß der Treppe machten sie Halt, und gleich darauf trippelten ein Paar leichte Füßchen die Stufen hinauf.

„Meine beiden Kutscher sind auf den Tod erkrankt,“ sagte draußen eine tiefe Stimme von sehr angenehmem Klang, wenn sie auch im Unwillen und, wie es schien, infolge körperlicher Anstrengung bebte. „Ich war gezwungen, mit dem Postillon zu fahren, und weil der Mensch während des Sommers meist den Holzfahrweg benutzt hat, so ist er stupid genug, auch in dieser entsetzlichen Nacht in den engen, bodenlosen Schacht einzubiegen. Der Sturm hat uns wiederholt die Laternenflammen ausgeblasen, und mein Wagen steht da drüben wie eingemauert. Ist nicht Jemand da, der bei den Pferden bleiben möchte, bis der Postillon Vorspann geholt hat, und können wir einstweilen hier eintreten?“

Jutta trat rasch in das Bereich der Thür. Sie hielt die Hand schützend vor das flackernde Kerzenlicht; dadurch wurde der Strahl desselben doppelt kräftig auf das Gesicht und die Büste des jungen Mädchens geworfen, und wie sie so dastand, den blumengeschmückten Lockenkopf mit dem Ausdruck lächelnder Spannung vorgeneigt, während der Flammenschein des Kamins hinter ihr aufzuckte und die Bilder und Hirschköpfe als nebelhafte, fremdartige Gestalten von den Wänden herabdämmerten – da mußten wohl die in Sturm und Nacht draußen Stehenden unwillkürlich an eine jener wunderholden Erscheinungen denken, wie sie das Märchen in alten verzauberten Schlössern walten und weben läßt.

Bei Jutta's Hervortreten erschien denn auch sofort ein kleines, ungefähr sechsjähriges Mädchen auf der Schwelle und sah mit neugierigem Erstaunen zu der jungen Dame empor; es war so winterlich vermummt, daß nur ein schmales Näschen und ein Paar groß und weit aufgeschlagene Augen sichtbar wurden; aber diese Umhüllung erschien in allen Einzelnheiten höchst elegant und von kostbarem Stoff. Das Kind trug einen ziemlich umfangreichen Gegenstand auf dem Arme, über den es sorgsam das Mäntelchen hielt. … Und jetzt tauchte auch eine Männergestalt aus dem Dunkel empor – unter der dunkelglänzenden Pelzverbrämung der Mütze leuchtete förmlich die tiefe Blässe eines sehr vornehmen Gesichts. Die Hast, mit welcher der Herr plötzlich die Stufen heraufsprang, mochte möglicherweise auch dem Gefühl augenblicklicher Ueberraschung entspringen – dagegen zeigten die Züge bereits wieder eine vollkommene Gelassenheit, als er Jutta gegenüber stand. Er schob das Kind in die Halle und verbeugte sich leicht, mit der ganzen Ungezwungenheit des vollendeten Cavaliers, vor dem jungen Mädchen.

„Drüben im Wagen wartet eine Dame in leicht verzeihlicher Angst und Furcht auf meine Rückkehr,“ sagte er mit einem kaum bemerkbaren Lächeln, das aber im Verein mit der überaus wohlklingenden Stimme einen eigentümlichen Zauber gewann. „Haben Sie die Güte, dies Kind einstweilen auf Treu und Glauben in Ihren Schutz zu nehmen, bis ich zurückkommen und mich in aller Form vorstellen kann.“

Statt aller Antwort legte Jutta mit einer anmuthigen Bewegung den Arm um die Schultern der Kleinen und führte sie nach dem Wohnzimmer, während der Fremde in Sievert’s Begleitung nach dem Fahrweg zurückkehrte.

„Mama, ich bringe einen Gast, ein allerliebstes kleines Mädchen!“ rief die junge Dame fröhlich in der Thür – der Eindruck des vorigen peinlichen Auftrittes schien völlig verlöscht in ihrer Seele. Sie erzählte in raschen Worten das Ereigniß im Walde.

„Nun, dann besorge heißen Thee!“ sagte Frau von Zweiflingen und richtete sich auf. Ihre abgezehrten Hände streiften ordnend über die Falten des ärmlichen Kleides und betasteten Haar und Haube, ob auch Alles in Ordnung sei. Trotz aller inneren Lostrennung von Welt und Leben lag doch noch etwas in ihr, das unbewußt fortlebte und sich in geeigneten Momenten geltend machte: das Festhalten am Decorum; und wie sie dort saß, den kranken Rücken gewaltsam aufrichtend und die bleichen Hände lässig, aber doch nicht ohne Grazie in dem Schooß gekreuzt, da suchte man freilich nicht das Original jener bestrickenden Mädchenerscheinung über dem Sopha in ihr; allein es ließ sich nicht verkennen, daß diese gebrechliche Gestalt einst in glänzenden Salons ganz an ihrem Platze gewesen sein mußte.

„Komm her und gieb mir eine Hand, mein Kind!“ sagte sie und neigte den Kopf mit dem Ausdruck freundlicher Güte nach der Richtung, wo die kleine Fremde stehen geblieben war.

„Gleich, liebe Frau!“ antwortete die Kleine, die bis dahin die hinfällige alte Dame mit einer gewissen Scheu betrachtet hatte, – „ich will nur erst Puß vom Arme thun.“

Sie schlug das Mäntelchen zurück – der schneeweiße Kopf einer Angorakatze kam zum Vorschein. Das Thier war bis an die Ohren in eine rothseidene wattirte Decke gewickelt und strebte augenscheinlich nach der goldenen Freiheit. Jutta half die weiche Hülle abwickeln, dann wurde Puß vorsichtig auf den Fußboden niedergelassen. Er reckte und streckte die Glieder, die offenbar unter dem Druck allzugroßer Zärtlichkeit und Fürsorge gelitten hatten, machte einen krummen Buckel und stieß ein klägliches Miau aus.

„Pfui, schäme dich, du bettelst, Puß?“ schalt das kleine Mädchen vorwurfsvoll, warf aber trotz dieser beschämenden Zurechtweisung des Lieblings einen verlangenden Blick nach dem Milchtopf auf dem Tisch.

„Aha, Puß hat Milchappetit!“ lachte Jutta. „Nun, er soll nachher bekommen, aber erst wollen wir dem Kind Kapuze und Mantel abnehmen.“

Sie griff nach der Umhüllung; allein die Kleine trat zurück und schob die Hände weg. „Ich will es selbst thun!“ sagte sie mit sehr viel Entschiedenheit im Ton. „Ich leide das auch von Lena nicht – sie thut so immer, als sei ich eine Puppe.“

Damit nahm sie Kapuze und Mantel ab und legte Beides auf Jutta’s Arm. Die Finger der jungen Dame glitten mit [36] sichtbarem Wohlgefallen, aber auch mit einer Art von ehrfurchtsvoller Scheu über die Zobelverbrämung und den köstlichen echten Sammet des Mantels – das Geschöpfchen da vor ihr mußte sehr vornehmer Leute Kind sein. … Es war ein eigentümliches kleines Wesen. Hoch emporgeschossen, aber sehr schmal in den Schultern und von wahrhaft erschreckender Magerkeit, sah das flache, dünne Körperchen aus, als müsse es schon der Winterstoff des Kleides mittels seiner schweren Falten erdrücken. Das dicke, sehr helle, ja völlig farblose Haar war knabenhaft kurz zugestutzt und an den Schläfen weg einfach hinter das Ohr gestrichen. Diese unkleidsame, nüchterne Frisur verlieh dem fleischlosen Gesichtchen scharf hervortretende Ecken – für den ersten flüchtigen Blick also war die kleine Mädchenerscheinung in ihren Umrissen eine sehr häßliche; allein wer vergäße nicht über einem Paar tiefer, unschuldig blickender Kinderaugen die mangelhaften, eckigen Linien jugendlicher Magerkeit! Und es waren in der That sehr schöne rehbraune Augen, die sich jetzt ernst und nachdenklich auf das verfallene Gesicht der alten blinden Frau hefteten, während eine zarte Kinderhand die Finger derselben leise berührte.

„Ah, da bist Du ja, meine Kleine!“ sagte Frau von Zweiflingen und zog das Händchen näher an sich. „Du hast wohl Deinen Puß sehr lieb?“

„O ja, sehr lieb!“ bestätigte das Kind. „Die Großmama hat ihn mir geschenkt, und deshalb ist er mir viel lieber als Alles, was mir Papa giebt – er bringt mir auch immer nur Puppen, die ich nicht leiden kann.“

„Wie, ein so allerliebstes Spielzeug gefällt Dir nicht?“

„Gar nicht – die Puppenaugen sind schrecklich, und das ewige Aus- und Anziehen langweilt mich – ich will nicht sein wie Lena, die mir auch immerfort neue Kleider bringt und mich quält – ich weiß es ganz genau, Lena ist sehr putzsüchtig.“

Frau von Zweiflingen wandte den Kopf. mit einem bitteren Lächeln nach der Richtung, wo eben Jutta’s seidenes Kleid leise knisterte. Sie öffnete die lichtlosen Augen weit, als solle und müsse sie in diesem Moment das Gesicht der Tochter sehen, das denn auch unter dem ausdruckslosen Blick der Mutter leicht erröthete.

„Nun, da mag Dir Puß freilich besser gefallen,“ hob die Blinde nach einer kleinen Pause wieder an, „er wechselt seine Toilette niemals.“

Das Kind lächelte und sah dadurch plötzlich unbeschreiblich anziehend aus – die schmalen Wangen rundeten sich, und ein Zug sanfter Lieblichkeit verschönte den kleinen, blassen Mund.

„O, er gefällt mir auch besser, weil er sehr vernünftig ist!“ sagte sie. „Ich erzähle ihm alle hübschen Geschichten, die ich weiß und mir erdenke, und da liegt er vor mir auf dem Kissen und blinzelt mit den Augen und schnurrt, was er kann – das thut er immer, wenn ihm etwas gefällt. … Papa lacht mich immer aus; aber es ist doch wahr – Puß kennt meinen Namen.“

„Ei, das ist ja ein merkwürdiges Thier! … Und wie heißest Du denn, meine Kleine?“

„Gisela, wie meine todte Großmama.“

Es fuhr wie ein gewaltiger Ruck durch die Glieder der Blinden.

„Deine todte Großmama!“ wiederholte sie und bog sich in atemloser Spannung aufhorchend vornüber. „Wer war Deine Großmutter?“

„Die Frau Reichsgräfin Völdern,“ antwortete das Kind fast feierlich – es hatte offenbar den Namen nie anders als im tiefsten Respect aussprechen hören.

Frau von Zweiflingen schleuderte jählings die kleine Hand des Kindes, die sie bisher zärtlich in der ihrigen gehalten, weit von sich wie ein giftiges Gewürm.

„Die Gräfin Völdern!“ schrie sie auf. „Ha, ha, ha, die Enkelin der Gräfin Völdern unter meinem Dache! … Brennt die Spiritusflamme unter der Theemaschine, Jutta?“

„Ja, Mama,“ antwortete das junge Mädchen tief erschrocken - es lag etwas wie Wahnwitz in der Stimme und den Geberden der alten Frau.

„So lösch' sie aus!“ befahl sie rauh.

„Aber, Mama –“

„Lösch’ sie aus, sag’ ich Dir!“ wiederholte die Blinde mit wilder Heftigkeit.

Jutta gehorchte. „Sie brennt nicht mehr,“ sagte sie leise.

„Nun trage Salz und Brod hinaus.“

Diesmal folgte die junge Dame dem Geheiß ohne Widerrede.

Die kleine Gisela hatte sich anfänglich verschüchtert in eine Ecke geflüchtet, aber sehr bald wich der bestürzte Ausdruck ihres Gesichtchens dem des Trotzes und der Indignation. Sie war nicht unartig gewesen, und man hatte sich unterstanden, sie zu strafen. In ihrer kindlichen Unschuld ahnte sie zwar nicht, daß die Befehle der Blinden eine förmliche Kriegserklärung enthielten, sie fühlte nur, daß sie ungebührlich behandelt werde – eine Erfahrung, die sie augenscheinlich zum ersten Mal in ihrem jungen Leben machte.

„Du mußt warten, Puß, bis wir nach Arnsberg kommen,“ sagte sie und nahm dem Thier die Milch weg, die Jutta auf den Boden gestellt hatte. Dann griff sie nach Mantel und Kapuze und machte sich reisefertig. Eben war sie im Begriff, die Katze in die Decke zu hüllen, als Jutta wieder eintrat.

„Ich will lieber wieder hinausgehen und Papa bitten, daß ich mit Frau von Herbeck im Wagen bleiben darf!“ rief das Kind der Eintretenden entgegen und warf einen trotzigen Blick nach der Blinden; allein diese schien plötzlich gar nicht mehr zu bemerken was im Zimmer vorging. Noch strammer als zuvor in ihrer Haltung und den Kopf horchend nach der Thür gewendet, die in die Halle führt, saß die Gestalt dort, unbeweglich, wie zu Erz erstarrt – desto lebendiger erschien das Gesicht. Vielleicht wäre der Mann, der in diesem Augenblick so fest und sicher durch die Halle schritt und in einem so vornehm gebietenden Ton zu Sievert sprach, doch nicht durch die Thüre getreten, hätte er dies Frauenantlitz sehen können, in dessen harten, gespannten Zügen glühender Haß und eine unerbittliche Rachsucht gleichsam lauerten, um urplötzlich hervorzubrechen.

Die Thür wurde geöffnet. Zuerst erschien eine Dame auf der Schwelle, noch trug das volle hübsche Gesicht die Spuren der Alteration, denn es war völlig blutlos; ebenso zeigte der derangirte Anzug, daß die sehr stattliche Gestalt nicht ungefährdet das Dickicht passirt hatte; allein sie verbeugte sich trotzdem mit einem verbindlichen Lächeln und der ganzen Sicherheit der Weltdame, als hätten ihre Füße nicht einen Moment den ebenen Boden des Salons verlassen.

Jutta begrüßte sie beklommen mit einem angsterfüllten Blick nach der unheimlich schweigenden Gestalt im Lehnstuhl. Draußen tobte der eisige Schneesturm, aber zwischen den vier engen Thurmwänden dünkte es plötzlich dem jungen Mädchen schwül, wie vor der Entladung dräuender Gewitterwolken. Durch die offene Thür sah sie, wie der mitgekommene Herr rasch seinen Mantel abstreifte und ihn Sievert übergab, der mit der Laterne neben ihm stand – nie war ihr das Gesicht des alten Soldaten so feindselig und verbissen erschienen, als eben jetzt. Trotz ihrer inneren Angst überkam sie ein unbeschreiblicher Aerger – wie konnte der alte Diener in seiner untergeordneten Stellung die Frechheit haben, der gebietenden, vornehmen Männergestalt gegenüber ein so impertinent unhöfliches Gesicht zu zeigen!

Der Herr trat auf die Schwelle. Er ergriff die Hand der kleinen Gisela, die ihm entgegenlief, und ohne zu betrachten, daß das Kind einen dringenden Wunsch auf den Lippen hatte, schritt er in das Zimmer, um die verheißene Vorstellung mittels einer nachlässig leichten, aber sehr eleganten Bewegung in Scene zu setzen – allein die Blinde hatte sich plötzlich mit einem gewaltsamen Ruck in ihrem Lehnstuhl halb erhoben und streckte ihm abwehrend die Hand entgegen. Dieser durch die Krankheit so furchtbar entstellte Frauenkörper, dem die entfesselte Leidenschaft für Augenblicke den Anschein von Selbstständigkeit zurückgab, hatte etwas wahrhaft Gespenstiges.

„Nicht einen Schritt weiter, Baron Fleury!“ gebot sie. „Wissen Sie, über wessen Schwelle Sie gegangen sind, und muß ich Ihnen wirklich erst sagen, daß dieses Haus keinen Raum für Sie hat?“

(Fortsetzung folgt.)




Jeden unbefugten Nachdruck der Erzählung „Reichsgräfin Gisela“ von E. Marlitt werden wir mit der ganzen Strenge der Gesetze zu verfolgen wissen.

Die Verlagshandlung.     


[37]

Zwei Regenten.

Von C. N. Riotte in New-York.

Ich hatte während des verflossenen Winters (1867–68) in Washington öfter Gelegenheit gehabt, General Grant auf der Straße und im Capitol zu sehen und ihn in Gesellschaft zu beobachten. Da ich aber nicht zu Denen gehöre, welche sich an die Tagesgrößen herandrängen, im Gegentheil vielmehr eine Scheu trage unter ihnen zu erscheinen, so hatte ich sogar das Anerbieten einiger mir befreudeter Congreßmänner, mich ihm vorzustellen, abgelehnt.

Der Eindruck, welchen General Grant’s äußere Erscheinung und sein Benehmen auf mich gemacht, war ein entschieden günstiger. Da war auch nicht die leiseste Spur von Sichgeltendmachen oder Vordrängen, viel weniger von Anmaßung oder Renommiren sichtbar. Mit fast mädchenhafter Scheu und Aengstlichkeit schien er Alles zu vermeiden, was die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn ziehen konnte. Stets war er in bürgerlicher Kleidung mit Ausnahme der Militärweste (dunkelblau mit Einer Reihe goldener Knöpfe), einen kurzen, etwas fadenscheinigen dunkeln Ueberzieher übergehangen. Nie sah ich ihn in militärischer Begleitung; auf der Straße vermied er sichtlich sich dem Angaffen auszusetzen, und in Gesellschaft nahm er, wo immer thunlich, eine stille zurückgezogene Ecke ein, wo er sich in einfachster und anspruchlosester Weise unterhielt.

Präsident Grant. Vicepräsident Colfax.

Wenn mir auch diese Beobachtungen genügten, um die Behauptungen einiger, namentlich deutscher, radicalen nördlichen Blätter, wonach General Grant so beschränkt wäre, daß er einzig von Cigarren, jungen Hunden und Pferden zu reden verstehe, wie nicht weniger die der Rebellen- und der nördlichen demokratischen Blätter unbedingt zu verwerfen, welche ihm schon damals, als dem voraussichtlichen republikanischen Präsidentschafts-Candidaten alle denkbaren Schwächen und Verbrechen andichteten: so waren sie doch nicht hinreichend, mir, abgesehen von seinen Leistungen im Felde und in der Civilverwaltung, genügende Anhaltspunkte zu einem Urtheil über den „Menschen“ Grant zu gewähren. Es war mir daher erwünscht, als meine früheren texanischen Landsleute mich beauftragten, ihm ein Bild ihrer entsetzlichen Lage vorzulegen und ihn um Abhülfe zu ersuchen.

Der Präsident A. Johnson hatte damals den tüchtigen und loyalen General Sheridan, trotz Grant’s Widerspruch, von New-Orleans, dem Hauptguartier von Louisiana und Texas, weggemaßregelt. Der rebellenfreundliche General Buchanan war in das Commando des Departements eingetreten, und unter seinem stillen Zusehen hatten die Rebellen begonnen, sich ungestraft an den treuen Unionsleuten zu rächen und die emancipirten Farbigen durch Mord und Austreibung in Zahl zu vermindern. Die Menge der straflos verübten Mordthaten hatte sich nach Sheridan’s Verbannung verdreifacht, so daß deren während drei Jahren jeden Tag in Texas etwa zwei vorkamen. Von Präsident Johnson Abhülfe zu erbitten, wäre unnütz gewesen, denn er war es ja gerade, der diesen Zustand herbeigeführt hatte.

Ich wurde daher an General Grant gewiesen, welchem durch den Congreß damals eine sonderbare Zwitterstellung neben dem Präsidenten Johnson gegeben worden war, denn er konnte zwar die Militär-Commandanten der Rebellenstaaten nicht anstellen, ihnen auch keine positiven Instructionen geben, aber durch Widerruf ihrer Befehle vermochte er sie lahm zu legen und sie so wegzuhänseln.

Von dem Adjutanten eingeführt, traf ich General Grant in einem großen Saale, seinem Bureau, von mehreren Secretären umgeben und im Gespräche mit einer Dame. Mit einer Handbewegung wies er die dienstthuende Ordonnanz an, mir einen Sessel in seine Nähe zu stellen. Ein leichtes, einfaches, aber freundliches Kopfnicken, – und er fuhr in seinem Gespräche mit der in Trauer gekleideten Dame fort, das sich um die mögliche Auffindung des Begräbnißplatzes ihres Sohnes drehte. Mit sichtbarer Theilnahme ging er alle Wahrscheinlichkeiten mit der Dame durch und dictirte dem in einer Ecke sitzenden Telegraphisten zwei Anfragen, die eine nach Louisiana, die andere nach Georgien, die [38] auf den Gesuchten Bezug hatten. Ich verwunderte mich nicht wenig, den General ohne Cigarre im Munde zu sehen. Sobald aber die Dame Abschied genommen und ehe er noch ein Wort zu mir gesprochen, zündete er eine kolossale Imperiale an.

Das Detail unserer Unterredung hat kein Interesse für meine Leser. „Und nun, was kann ich für Sie thun, Richter?“ so begann der General dieselbe. Ich schilderte ihm, nachdem ich das Gesuch der Texaner vorgelesen, eingehend die traurige Lage derselben und sprach ihm offen aus, weshalb wir uns an ihn und nicht an den Präsidenten wendeten. Er hörte schweigend zu, stellte mir, als er geendet, eine Menge Fragen in schlichter, aber sehr treffender Weise und sprach sich dann mit einer unerwarteten Offenheit über das Verderbliche einer Politik aus, solche Leute wie General Buchanan mit dem Commando von Rebellenstaaten zu betrauen, Directe und endgültige Abhülfe könne er mir nicht versprechen, allein ich möge ihm alle meine Beweisstücke überlassen und er wolle thun, was ihm möglich.

Natürlich war dies Alles, was ich mit Kenntniß seiner Stellung und Macht erwarten konnte. Die ganze Unterredung, welche nahezu eine Stunde währte, trug das den deutschen Verhältnissen ganz fremde, echt amerikanische Gepräge des vollständigen beiderseits bewußten Gleichstehens, wobei der General anerkannte, daß ich als Bürger ein vollständiges Recht hatte, ihm meine Ansicht selbst über die Mittel der Abhülfe auszusprechen, und daß er als ein Diener des Volkes verpflichtet sei, mich nicht nur anzuhören, sondern auch meine Aeußerungen in Betracht zu ziehen.

Noch einmal und zwar bei einer besonders wichtigen Gelegenheit beobachtete ich General Grant; – es war am 26. Mai Abends, wo ich zu den Delegirten der Chicago-Convention gehörte, welche ihn zum republikanischen Präsidentschafts-Candidaten vorgeschlagen hatte, und die nun durch uns, etwa dreißig Männer, unter Anführung des Generals Howley von Connecticut, als Vorsitzenden jener Convention, ihm und Herrn Colfax die Beschlüsse derselben officiell mittheilen ließ. Grant, Herrn Colfax zu seiner Rechten, seinen alten Vater zur Linken, und von mehreren Damen, unter denen seine Frau, und engeren Freunden umgeben, empfing uns. Während Colfax, der alte parlamentarische Kämpe, ruhig, selbstbewußt und lächelnd den Dingen entgegensah, schien Grant von der Bedeutung des Augenblickes fast erdrückt, und krampfhaft hielt er die Rechte seines Vaters gefaßt. Und in der That, auch ich fühlte mein ganzes Wesen bei dem Gedanken durchschauert und gehoben, daß wir wenigen Männer und ich, der einzige anwesende Vertreter des eingewanderten Elementes, im Begriffe standen, im Auftrage von fünfunddreißig Millionen freien Bürgern, der mächtigsten Nation der Erde – einem unserer Mitbürger die höchste Machtvollkommenheit anzutragen! Mit niedergeschlagenen Augen und während seine Brust mächtig arbeitete, hörte General Grant die schöne patriotische Ansprache unseres Führers an. Die wenigen mit vor Aufregung zitternden Stimme gesprochenen Worte, in denen Grant den Antrag annahm und zugleich versicherte, „daß er keine vom Volkswillen abweichende eigene Politik haben werde,“ wurden vom Telegraphenblitze die Nacht durch über die ungeheure Ausdehnung des weiten Landes getragen, des anderen Morgens mit Jubel von demselben Volke begrüßt, dessen ganzes Sein während mehr als drei Jahren an der verrätherischen Verstocktheit des Ueberläufers A. Johnson gekränkelt hatte. Wenige Tage nachher las das Volk der Vereinigten Staaten das Annahmeschreiben Grant’s, das mit den allwillkommenen Worten schloß: „Laßt uns Frieden haben!“

Die Lebensgeschichte des Generals Ulysses S. Grant ist in jüngster Zeit von allen Tages- und Wochenblättern so vielfach und ausführlich erzählt, daß die Gartenlaube den Raum dafür wohl sparen und sich darauf beschränken kann, nur einige Wendepunkte dieser an sich einfachen Mannes-Laufbahn hervorzuheben. Bekanntlich ist Grant am 27. April 1822 in Point Pleasant, Clermont County, Staat Ohio, geboren, kam mit geringer Schulbildung auf die Militärschule von West-Point, machte als Lieutenant den mexicanischen Krieg mit, war nach demselben erst Kaufmann, dann Gerber, trat aber beim Ausbruch der Secession sofort unter die Waffen. Als kriegserfahrener Officier zeichnete er sich stets aus, ward trotzdem mehrmals zurückgesetzt und erst nach dem Siege auf dem blutigen Felde bei Schiloh-Kirche gegen den fähigsten der südlichen Generale, S. Johnson, wo er sechs Regimenter persönlich zum Sturm führte, wurde er zum Oberbefehlshaber der Armee von Tennessee ernannt.

Während im Osten unter Mac Clellan und anderen ebenso unfähigen Generalen Verlust und Schmach der Nordheere sich häuften, beriethen und faßten die beiden größten Soldaten der Union, Grant und Sherman, ihre Pläne, legten am Mississippi und Yazoo die Grundlagen zu deren Ausführung, und schon am vierten Juli 1863 brach Grant durch die Einnahme von Vicksburg der Secession den Rücken. Nach dem entscheidenden Sieg bei Chattanooga schrieb Präsident Lincoln an Grant damals jenen interessanten Brief, in welchem er sagte: er habe geglaubt, daß Grant einen Fehler begangen, als er, anstatt sich nach der Einnahme von Vicksburg südlich nach General Bank’s Armee zu ziehen, sich östlich gewendet; „ich wünsche nun persönlich anzuerkennen, daß Sie Recht hatten und ich Unrecht.“ Kurze Zeit darauf rechtfertigte Grant weiter seinen Feldzugsplan und Lincoln’s redliches Zugeständniß durch eine Reihe von herrlichen Siegen, deren Folge die Vernichtung der westlichen Rebellenarmee war und wodurch er die Möglichkeit zu jenem kühnen, in der Kriegsgeschichte unübertroffen dastehenden Zug General Sherman’s durch die Südstaaten schuf. Zum Lohn für diese Erfolge beschloß der Congreß, den seit Georg Washington nicht mehr ertheilten Rang eines General-Leutenants wiederherzustellen und General Grant zu dieser Stelle zu empfehlen, welcher das Commando aller Armeen zustehen solle. Am 9. März 1864 übergab Präsident Lincoln persönlich General Grant in feierlicher Weise die von ihm vollzogene Bestallungsurkunde als General-Leutenant.

Grant wandte nunmehr seine ganze, ungetheilte Aufmerksamkeit der so lange und so hart durch die Unfähigkeit und Verrätherei ihrer Führer geprüften Armee am Potomac zu. Wenige Wochen genügten, um ihn mit dem Terrain, dem Material der Armee und der Stellung und den Hülfsmitteln seines Gegners, des Generals Lee, bekannt zu machen und seine Pläne zu entwerfen. Der Rapidan-Fluß – so lange die von Lee bewachte Linie – wurde überschritten, die schreckliche Schlacht „in der Wilderneß“ geschlagen! Nach diesem Siege folgte er dem auf die Nord-Annafluß-Linie sich zurückziehenden Lee, umging dessen sehr starke Stellung durch einen kühnen Flankenmarsch nach Cold Harbor, lieferte ihm eine andere blutige Schlacht und überschritt dann mit Umgehung der ausgedehnten Befestigungswerke von Richmond, hinter welche die Rebellenarmee sich zurückgezogen, den breiten Jamesfluß und schloß Petersburg, die Zwillingsveste von Richmond, ein. Während einer Reihe von Monaten des Winters 1864 auf 1865 dauerten die erbitterten und mit wechselndem Glück geführten Kämpfe auf der weiten Befestigungslinie der durch eine Eisenbahn verbundenen letzten Zufluchtsstätte, auf welche die südliche Conföderation reducirt war. Nichts konnte den eisernen Griff, den Grant nach dem sinkenden Leben der Rebellion gethan, zum Nachgeben bewegen – wie zwei englische Bulldoggen, so schienen sich Grant und Lee in einander verbissen zu haben. Endlich am 2. April 1865 gelang es Grant, die in der Nähe von Petersburg gelegenen Befestigungswerke bei Five Forks zu nehmen. Ein von ihm am folgenden Tage auf der ganzen Linie unternommener Angriff trieb Lee aus den Befestigungswerken und aus Richmond. Die Verfolgung, mit größtem Eifer fortgesetzt, führte, nachdem Lee’s Rückzugslinie durch ein von Grant angeordnetes und vom Reitergeneral Sheridan meisterhaft ausgeführtes Manöver abgeschnitten war, bereits nach acht Tagen zur berühmten Capitulation von Appomattox Court-Haus.

Die Bedingungen derselben, wie sie von Grant vorgeschlagen und von der Regierung in Washington genehmigt wurden, waren so milde, daß sehr viele Republikaner, selbst solche, welche nicht den Heißköpfen angehörten, sie mißbilligten und nur das Gewicht seines Namens vermochte es, die öffentliche Stimme damit auszusöhnen. Dieselbe Mäßigung, wie bei der Capitulation, bewies Grant später als Kriegsminister gegenüber dem Eigenwillen des Präsidenten Johnson; die Leser der Gartenlaube kennen diese Geschichte aus dem Artikel: „der Präsident auf der Anklagebank“. Und gleiche Mäßigung bewies er bei seiner Nomination und Wahl, die er nicht gesucht und zu deren Durchführung er keinen Schritt gethan, ja kein Wort gesprochen hat, nicht einmal zur Vertheidigung gegen die schamlosen, von den demokratischen Blättern gegen ihn geschleuderten Lügen und Verleumdungen. Ebenso läßt er seit dem 3. November (dem Wahltage), mit eben so viel stoischem Gleichmuthe [39] die ekelhaften Schmarotzereien der leitenden demokratischen Politiker und Blätter, welche ihn jetzt als einen der Ihrigen zu reclamiren suchen, wie die kaum weniger widerlichen Kriechereien der republikanischen Maulpatrioten harmlos an sich abgleiten und weicht beiden Kategorien so viel wie möglich aus. Vor wenigen Tagen noch war ich im Theater in New-York Zeuge, mit welchem Jubel er, sobald er in der Prosceniumsloge erschien, vom ganzen Publicum begrüßt wurde. Er dankte mit einer Verbeugung, zog sich jedoch, als diese stürmische Begrüßung kein Ende nehmen wollte, in den Hintergrund der Loge zurück, so daß er nicht mehr gesehen wurde. Das Schauspielhaus verließ er durch eine Hintertür, um der ihm auf dem Broadway vor dem Hause zugedachtem Ovation zu entgehen.

Grant, in Charakter wie in Physiognomie und Benehmen ganz Amerikaner, ist in Körpergröße hinter der gewöhnlichen amerikanischen Masse zurückgeblieben. Er hat gewiß nicht mehr als fünf Fuß sechs Zoll. Sein Körperbau, obwohl muskulös, ist nicht stark. Die Schultern trägt er leicht vorgebeugt, die Hände, nach amerikanischer Sitte, in den beiden weit vorn angebrachten Hosentaschen. Sein Gesicht hat eine frische, gesunde Farbe. Die Augen sind hellblau, und sie sind es besonders, die in ihrer langsamen, fast maschinenmäßigen, stieren und lauernden Bewegung sofort den Amerikaner erkennen lassen. Die Stirn ist hoch und hübsch gewölbt bis zu dem dichten, kastanienfarbigen Haar. Auch die Bewegungen des Generals sind nichts weniger als leicht, schnell oder lebhaft, und offenbar dem ruhigen Arbeiten, einer wohlabgewägten, auf einem strammen Nervensysteme beruhenden Geisteskraft entsprechend, ohne je auch nur den Schein von Prätension anzudeuten. Der Gesammteindruck der Persönlichkeit ist ein wohlthuender, beruhigender und in hohem Grade Vertrauen erweckender.

Schuyler Colfax, der erwählte Vice-Präsident, ist in vielen Beziehungen der Gegensatz von Grant. Seine Nervosität wird auf den ersten Blick in den ewig und schnell wechselnden Zügen sichtbar. Die unter einer hohen Stirne tiefeingesenkten Augen sind in unaufhörlicher Bewegung. Seine Unterhaltung ist sehr lebhaft, voll Witz, und eine gute Bemerkung ist sicher, von ihm mit beifälligem, herzlichem Lachen belohnt zu werden. Seine Bewegungen im gewöhnlichen Leben wie auf dem Sprecher- (Präsidenten-) Sitze des Repräsentantenhauses sind quecksilbern und leicht. Seine Geistesthätigkeit, mit der es ihm möglich geworden, durch vier Congreßperioden einer solch unruhigen, leidenschaftlichen, selbstwilligen, regellosen und fast von keiner Schranke umgebenen Versammlung vorzusitzen, ist wahrhaft wunderbar. Seine Kenntniß des schwierigsten aller Gesetzbücher, des über die parlamentarischen Regeln zusammengestellten Compendiums von Barclay, und die Gewandtheit und Sicherheit seiner Entscheidungen ist in hohem Grade merkwürdig. Sein Auge beherrscht vollkommen die weite Halle, in welcher ein fortgesetztes Herumwandeln der Repräsentanten, das Ab- und Zurennen einiger zwanzig, ziemlich ungezogener Jungen, euphemistisch Pagen genannt, die Privatunterhaltung der Repräsentanten, das Ein- und Ausgehen von Senatoren oder anderer zum Eintritte berechtigter Personen das krampfhafte Schreien der Redner auf den Tribünen kaum verständlich sein läßt. Kaum hebt sich des Sprechers Hammer langsam, um nach Ablauf der gewährten Minutenzahl, welche eine große seinem Stuhle gegenüber befindliche Uhr genau anzeigt, den unversiechbaren Redestrom wie Atropos’ Scheere abzuschneiden, so springen auch schon je nach der Sache ein halbes oder ein ganzes Dutzend neue Kämpen auf die Füße, und suchen mit dem lauten Rufe „Herr Sprecher!“ und mit den gewaltsamsten Arm- und Körperbewegungen dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und für sich das Vorrecht des Wortes in Anspruch zu nehmen. Während Herr Colfax sich mit einem Repräsentanten oder Senator ganz lustig nach beiden Seiten hin unterhielt, zugleich den vor und unter ihm auf der weißmarmornen Tribüne sitzenden Schriftführern eine Anfrage beantwortete, hat er genau bemerkt, wer von den sich zur Rede Meldenden der erste war, aber zugleich auch wahrgenommen, daß ein Secretair des Senates oder des Präsidenten mit einer Mittheilung oder Botschaft eingetreten; wieder fällt der Hammer und die Worte: „A message from the President“ (eine Botschaft vom Präsidenten) bringen eine momentane Ruhe hervor, der aber nach Verlesung das alte, durch die Stauung womöglich verstärkte Getöse folgt. Die stärkste Prüfung, welcher ich den ewig gleichmäßig heiteren Humor von Colfax unterworfen sah, war einige Male bei einer durch ihn vorzunehmenden Abzählung der Stimmen Für und Wider, wo ihm zugemuthet würde, nicht nur den nicht so schwierigen Schluß zu machen, daß ein hinter einem Pulte sich erhebender Arm zu einem dahinter liegenden Volksvertreter gehöre, sondern sogar, daß ein hinter einem solchen Pulte geisterhaft anzeigender chinesischer Fächer das Ja oder Nein eines Repräsentanten zu bedeuten habe.

Obwohl ein eifriger, gewissenhafter Republikaner, der auch als Sprecher nie versäumt bei Principienfragen seine Stimme für die Sache der Freiheit und des Rechtes abzugeben, und von der republikanischen Partei im Congreß, dessen Mitglied er bereits seit vierzehn Jahren ist, zum Sprecher erwählt, war seine Verwaltung dieses schwierigen Amtes doch so gerecht und unparteiisch, daß ihm auch während der Rebellion, als die politische Verbissenheit häufig während der Berathungen zu den hitzigsten Scenen führte, doch mehrmals am Schlusse der Sitzungen der einstimmige Dank der Vertreter aller Parteischattirungen votirt wurde.

Vom Jahre 1860 an war Colfax’ Einfluß auf die Regierung durch seine hohe Stellung, besonders aber durch das große Vertrauen und die innige Freundschaft, welche Präsident Lincoln zu ihm hegte, ein sehr bedeutender, wenn auch mit strengster Discretion geübter. Man kann wohl behaupten, daß er gegenwärtig der populärste Mann in den Vereinigten Staaten ist, im Volke, in den Beamtenkreisen und bei den Mitgliedern des Congresses, und besonders ist es der Arbeiterstand, der auf ihn, als einen der Seinigen, mit berechtigtem Stolze blickt.

Herr Colfax wurde am 23. März 1823, kurz nach seines Vaters Tode, in der Stadt New-York geboren. Als Sohn einer armen Wittwe trat er sehr frühe in ein kaufmännisches Geschäft ein, zog 1836 mit seiner Mutter nach St. Joseph County, Indiana, wo ihm ein kleines County-Amt, als Assistent, übertragen wurde und wo er sich durch eifriges Selbststudium die Gesetze des Staates vollkommen zu eigen machte. Eine von ihm 1845 gegründete Zeitung, deren einziger Eigentümer und Redacteur er war, und bei der er überdies häufig auch am Setzen, Corrigiren, Drucken etc. teilnehmen mußte, erwarb sich einen so ausgedehnten Leserkreis, daß sie ihm bald einen erheblichen materiellen Gewinn abwarf.

Obwohl erst fünfundzwanzig Jahre alt, erwählten ihn seine Mitbürger zum Delegaten für die Convention, welche General Taylor zum Präsidentschafts-Candidaten vorschlug, und zwei Jahre später wurde er zur Convention berufen, um eine Verfassung für den Staat zu entwerfen. In dieser widersetzte er sich mit aller Entschiedenheit, wenn auch erfolglos, dem Verbote gegen die Niederlassung von freien Farbigen. Zur Strafe dafür unterlag er im nächsten Jahre in einer Wahl zum Congresse seinem demokratischen, negerfeindlichen Gegner. Allein schon im Jahre 1854 sandten ihn seine Mitbürger in die Hallen der nationalen Repräsentation, wo er gegen die nichtswürdige Politik des Präsidenten Pierce, welche Kansas zu einem Sclavenstaate machen wollte, seine Jungfer-Rede hielt, die in mindestens einer halben Million Exemplaren gedruckt und über das Land verbreitet wurde, eine Auszeichnung, die kaum je einer anderen Rede zu Theil geworden ist.

Colfax war einer der Ersten, welche die ganze Bedeutung der zwischen dem Mississippi und dem Stillen Ocean gelegenen, unter seiner Beihülfe vom Fluche der Sclaverei bewahrten Territorien und einer Eisenbahnverbindung des Ostens und Westens für die Größe und Dauer der Vereinigten Staaten erkannten. Um sich über diesen Punkt die möglichst genaue Information an Ort und Stelle zu verschaffen, unternahm er 1860 eine Reise durch jene Territorien, von deren Bevölkerung ihm ein fortgesetzter Triumphzug bereitet wurde und welche ihm nach seiner Rückkehr Veranlassung gab, in allen bedeutenderen Städten der Union in einem höchst interessanten und lehrreichen Vortrage die öffentliche Aufmerksamkeit auf jene ausgedehnten Gefilde zu lenken.

Seit dem Bestehen der nordamerikanischen Republik hat noch keine Wahl stattgefunden, bei welcher die Erwählten so sehr nicht nur die Auserkorenen ihrer politischen Partei, sondern auch die Repräsentanten der socialen und ethischen Anschauungen des besseren Theiles der Nation gewesen wären. In Grant sieht und schätzt die Nation den opfermuthigen, anspruchslosen und tüchtigen Vaterlandsvertheidiger, die Verkörperung derjenigen nationalen Kraft, welche das Land aus der entsetzlichen Feuertaufe des vierjährigen Bürgerkrieges nur stärker hat hervorgehen lassen, – sie setzt einen [40] gewissen, dem Yankeecharakter so ganz eigenen Stolz darein, nicht nur, daß auch sie einen so großen General aufzuweisen hat, wie die berühmtesten der Geschichte und insbesondere der europäischen Monarchien, sondern daß ihre Institutionen und dadurch erzeugten Anschauungen ihr gestatten, dem glücklichsten Feldherrn der Neuzeit ohne Gefahr für das Gemeinwesen die höchste bürgerliche Gewalt zu überantworten.

Und so wie das Volk der Vereinigten Staaten in Grant seiner Vorliebe und seinem Zutrauen zu seiner militärischen Kraft Ausdruck gab, ebenso anerkannte es in der Wahl von Colfax mit seiner entschiedensten Erklärung das Verdienst des einfachen Bürgers auf dem wenn auch weniger glänzenden, doch auch weniger blutigen Felde des Parlamentarismus, wo sich doch das eigentliche Leben der Nation abspielt.




Trost.
Von Robert Prutz.


Und sind wir auch erst halb verbunden
Und bleiben wir noch halb getheilt,
Es werden unsrer Sehnsucht Wunden
Von Einem Balsam doch geheilt:

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Das ist das gläubige Vertrauen,

Das ist die Hoffnung stolz und kühn,
Mit der wir freudig vorwärts schauen,
Bis unsrer Einheit Ostern blühn.

Wohl kann man Land und Leute trennen,

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Kann trennen Berg und Thal und Fluß,

Doch Herzen die in Eintracht brennen,
Die trennt nicht Krieg, nicht Friedensschluß.
Gleichwie in hunderttausend Wellen
Des Meeres Eine große Fluth,

15
So strömt aus ewig neuen Quellen

Das alte treue deutsche Blut.

Noch leuchten aus der Zeiten Ferne
Dieselben Namen stolz und hehr,
Noch wandeln hell wie Gottes Sterne

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Dieselben Geister vor uns her;

Wir haben noch dieselben Lieder,
Dasselbe Gold noch dieses Weins,
Drum, Brüder, preßt die Thränen nieder,
Wir werden dennoch frei und eins!




Aus der Welt des Schweigens.

Das „Cornhill Magazine“, eines der gelesensten englischen Blätter, brachte vor einiger Zeit unter obigem Titel einen interessanten Aufsatz.

In einer entlegenen Gegend Londons, – heißt es darin – fern von den Clubs, Parks und der Pracht Rotten Row’s, befindet sich ein Platz, wo viele gute Werke eine Zuflucht gefunden haben. Die Miethe ist dort billig und der Platz groß, still und frei, selbst an Bäumen fehlt’s dort nicht, obgleich wir, um dorthin zu gelangen, fast eine Stunde lang durch schmutzige, armselige Straßen fahren mußten. Wir hielten endlich vor einem Hause, dessen Schild – Taubstummenanstalt – uns schon verkündete, wer seine Bewohner seien; wir verließen den Wagen und zogen die Glocke. Als wir in den geräumigen altmodischen Corridor traten, guckte uns ein kleines Mädchen aus halboffener Thür gar neugierig an. Dies war, wie wir nachträglich erfuhren, eine kleine Patientin der Anstalt; sie hatte ihren Finger verletzt und ihr war die Erlaubniß gewährt worden, anstatt mit den anderen Kindern im obern Stockwerk am Unterricht Theil zu nehmen, unten bei der Wärterin zu bleiben.

Als wir in’s obere Stockwerk gelangt waren, wurden wir in ein Hinterzimmer geführt, durch dessen Flügelthür wir in’s Schulzimmer traten, wo gerade die Kinder unterrichtet wurden. Bei unserm Eintreten kam uns der junge Lehrer entgegen und bewillkommnete uns auf die freundlichste Weise. Die Kinder alle, Knaben und Mädchen, guckten mit fröhlichen Gesichtcher von ihren Bänken verstohlen zu uns herüber und lachten uns gar freundlich an. Im Zimmer befand sich der gewöhnliche Schulapparat – das Stückchen Kreide, die große Tafel für den Lehrer, die kleineren für die Schüler, die hölzernen Tische und Bänke, so wie die Bilder an den Wänden. Was mich besonders rührte, war, daß in den entfernteren Winkeln und selbst in des Lehrers Nähe die gewöhnlichen kleinen Possen und Schelmereien getrieben wurden. Der Lehrer schien es für seine Pflicht zu halten, dergleichen eher zu befördern als zu unterdrücken, und ich glaube, daß eben in dem Vertrauen der Kinder auf seine Güte und Theilnahme eine Hauptbedingung ihrer Erziehung und Heilung liegt. Er klopfte in die Hände, alsbald versammelte sich eine kleine Schaar um die große Tafel – ein großes und ein kleines Mädchen und zwei kleine Knaben. „Achtung!“ sagte der Lehrer und begann verschiedene Gegenstände, wie z. B. Fisch, Brod, Gemse u. a. m. zu nennen. Die Kinder lasen diese Worte aus der Bewegung seiner Lippen. Bei jedem seiner Worte leuchteten ihre Augen auf, sie deuteten es, eilten zu den an der Wand hängenden Bildern, suchten den von ihm genannten Gegenstand auf und brachten ihn in vollem Triumph herbei. Aber Zeichen werden in jener Anstalt nicht geduldet, und das Ziel, nach dem gestrebt wird, ist das, die Kinder zum Sprechen zu bringen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß dies Asyl so zu sagen noch im Entstehen ist und die Zöglinge noch zu den Anfängern gerechnet werden müssen. Ein noch ganz kleines Kind, welches erst vor Kurzem der Anstalt übergeben worden war, hatte an dem Tage zum ersten Male seine Stimme hören lassen, und nun rief das kleine Wesen immerfort: „ah, ah, ah!“ Es war über diese neu erlangte Fähigkeit so entzückt, daß nichts es dazu bewegen konnte von dem Ausrufen seines fast klagend klingenden „Ah!“ abzulassen. Dieser Ton glich dem Blöken eines kleinen Lämmchens, denn da sie taub war, hatte sie natürlicher Weise noch nicht gelernt ihre Stimme ein wenig zu moduliren; ein größeres Mädchen mußte sie in eine entlegene Ecke bringen, dort mit ihr spielen und versuchen sie stille zu erhalten.

„Es ist etwas Herrliches für die Kinder,“ sagte der Lehrer, „wenn sie zu fühlen beginnen, daß sie durch ihre Taubheit nicht durchaus und für immer von dem Verkehr mit andern Menschen abgeschnitten sind; außerdem wird durch die Entwickelung der Sprechorgane ihre Lunge gekräftigt und ihre Gesundheit gebessert. Sogar in dem Ausdruck ihrer Gesichter läßt sich eine Aenderung wahrnehmen, sie gefallen sich darin ihr neu erworbenes Talent zu üben und reden selbst nicht mehr mit einander durch die Fingersprache.“ (?) In demselben Augenblick, als der Lehrer diese Worte an uns richtete, ertönten, gleichsam zur Bekräftigung dessen, was er sagte, eine Menge fröhlicher Ah’s aus der Ecke, wohin das kleine Mädchen mit seinen Spielsachen transportirt worden war, und alle andern Kinder lachten.

Ein kleiner Bursche mit reizend ausdrucksvollem Gesicht und herrlichen braunen Augen trat vor, er rechnete, las uns vor und zeigte uns sein Schreibheft. Der Klang seiner Stimme war etwas melancholisch, aber durchaus melodisch, und zu meinem Erstaunen redete er mich bei meinem Namen an, einem langen Namen mit vielen Buchstaben. Der Lehrer hatte ihm denselben mit den Lippen gesagt, denn er brauchte natürlich nicht laut zu sprechen, da sein Bewegen

[41] der Lippen genügte, sich den Kindern verständlich zu machen. Der Name meines Begleiters, der, obgleich kurz, aus vier schweren Consonanten besteht, die mittels nur eines Vocals verbunden werden, machte den Kindern mehr Mühe als der meinige; dennoch gelang es nach einiger Anstrengung dem kleinen Knaben denselben richtig auszusprechen, und ein Strahl der Freude überflog sein Gesichtchen und auch das Antlitz des Lehrers. Ferner giebt der Lehrer sich die größte Mühe, den Kindern die richtige Betonung der Sylben zu lehren. Er hält ihre Hände und accentuirt die einzelnen Wörter dadurch, daß er erstere aufhebt und wieder fallen läßt; er fühlt ihre Gurgel und läßt sie wiederum die seinige beim Sprechen befühlen. Gewiß würde es hart sein, wenn so viel Geduld und Treue nicht in den gewünschten Erfolgen ihren Lohn fänden. –

So weit dasCornhill-Magazine“. Da aber das englische Blatt diese kleinen Erfolge noch außerdem als etwas ganz Außerordentliches hinstellt und voller Bewunderung ausruft: „Stumme reden in England“; da es die kleine israelitische Anstalt „eine Art englischer Ausführung eines großen internationalen Unternehmens“ nennt, so gilt es doch den Engländern und theilweise auch den Franzosen nachdrücklich zu zeigen, daß sie in dieser Beziehung hinter den Deutschen um volle hundert Jahre zurückgeblieben sind, und deshalb will ich hier die Resultate deutscher Taubstummenbildung in Kürze vorführen, nachdem ich bereits vor Jahren in der Gartenlaube eine der größern Taubstummenanstalten, die zu Leipzig, ausführlich geschildert habe.

Vor einigen Jahren erzählten die Zeitungen von einem Festmahle, das französische Taubstumme zu Ehren des Abbé de l’Epée, des Begründers des französischen Taubstummenunterrichts, veranstaltet hatten. Dabei waren pantomimische Toaste ausgebracht worden, die von den Taubstummen enthusiastisch aufgenommen, selbstverständlich aber von den anwesenden hörenden Gästen nicht verstanden wurden. Man gehe nun in ein deutsches Institut, wo vielleicht eben das Stiftungsfest der Anstalt gefeiert wird und die Zöglinge mit den Lehrern und Freunden der Schule an der Festtafel sitzen. Jetzt erhebt sich einer der älteren Zöglinge, um einen Toast auszubringen. Er klopft nicht mit dem Messer an das Glas, denn das würde die Aufmerksamkeit seiner Schicksalsgenossen nicht erregen, da sie taub sind, er pocht mit der Hand auf die Tafel und, von der Erschütterung berührt, wenden sich Aller Augen ihm zu. Nun spricht er zu seinen Mitschülern mit lauter, wenn auch etwas monoton klingender Stimme, sie lesen die Worte von seinem Munde ab und antworten mit einem jubelnden Vivat. Da kann man wohl für einen Augenblick vergessen, daß man sich im Taubstummeninstitut befindet. Die Taubstummen sind entstummt, und wir verstehen sie. Freilich noch effectvoller nimmt sich ein pantomimischer Toast für den Hörenden aus; die ungewöhnlichen Bewegungen mit den Händen, das lebendige Mienenspiel imponiren oft mehr als das einfache Wort und darum bewundert Mancher das Ungewöhnliche, obschon er kein Verständniß dafür hat. Wohl unterhalten sich auch deutsche Taubstumme, namentlich die weniger Gebildeten, untereinander in der Geberdensprache, aber mit den Hörenden verkehren sie in mündlicher Rede.

Im Durchschnitt erreichen die Schüler in unsern Taubstummenanstalten nach sechs- bis siebenjährigem Schulbesuch in Kenntnissen und Fertigkeiten das Ziel einer gewöhnlichen Volksschule. Sind sie auch hie und da in den Realien etwas zurück, so stehen sie dagegen in den Fertigkeiten (Schönschreiben, Zeichnen etc.) gewöhnlich auf höherer Stufe. Alle Zöglinge in deutschen Taubstummenschulen lernen sprechen, und manche sprechen so rein und deutlich, daß sie von jedem Hörenden verstanden werden. Großes haben aber einzelne Taubstumme dadurch erreicht, daß sie auch nach der Schulzeit unablässig an ihrer Weiterbildung gearbeitet haben. Jede Anstalt wird hierzu Belege bieten können. Hier seien nur zwei Männer genannt, die auch in weiten Kreisen sich Anerkennung erworben haben – die beiden Taubstummenlehrer O. F. Kruse in Schleswig und C. M. Teuscher in Leipzig. Beide Männer, von Kindheit an taub, haben sich zu einer geistigen Höhe emporgearbeitet, die sie befähigt hat, selbst als Lehrer ihrer Schicksalsgenossen auftreten zu können. Kruse hat sogar als Schriftsteller bei seinen Fachgenossen sich einen rühmlichen Namen zu erwerben gewußt.

Carl Teuscher war als Lehrer in mancher Beziehung fast unerreichbar. Er las so schnell vom Munde ab und seine Sprache war so rein und verständlich, daß Viele längere Zeit mit ihm verkehrten, ohne zu merken, daß er von Kindheit an taub gewesen. Dabei besaß er ein technisches Geschick, das fast an’s Unglaubliche grenzte. Fast vom Zusehen lernte er tischlern, pappen, flechten, und im Zeichnen, Turnen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Reiten, Billardspielen war er Meister, wie Alle bezeugen werden, die ihn näher gekannt haben, und er war in Leipzig eine bekannte Persönlichkeit. Auch in schriftstellerischer Beziehung ist er thätig gewesen und hat in dem von Dr. Hirzel herausgegebenen Hauslexikon eine nicht geringe Anzahl Artikel bearbeitet.

Ein Hauptvergnügen in den Taubstummeninstituten bilden kleine theatralische Aufführungen. Da brachte eines Tages Teuscher seinen Schülern ein kleines Lustspiel mit, das er selbst nach einer Erzählung der Gartenlaube – „Die schönste Nase“[1] – bearbeitet hatte. Das zweite Schulfest, der vierte September, rückte heran und an diesem Tage sollte die Aufführung stattfinden. Die Rollen wurden vertheilt und natürlich den besten Sprechern übergeben. In den Freistunden entfaltete sich nun eine geheimnißvolle Thätigkeit, und als der längsterwartete Tag erschien, da erhob sich im Garten eine kleine, recht nett gebaute Bühne, deren Emporwachsen namentlich von den kleineren Zöglingen mit lautem Jubel und vielen Freudensprüngen begrüßt wurde. Die Schulbänke wurden für die Zuschauer herausgeschafft, unter denen sich auch die Lehrer mit ihren Familien und andere Hörende befanden. Jetzt rollte der Vorhang empor und die kleinen Schauspieler lösten ihre Aufgabe vortrefflich. Sie sprachen fast alle so gut, daß sie auch von den anwesenden Fremden, wir führen hier nur den Redacteur der Gartenlaube an, verstanden wurden. Und nicht nur die Leipziger, auch andere deutsche Taubstummenanstalten wissen von ähnlichen Theateraufführungen zu erzählen.

In solchen Erscheinungen gipfelt sich die deutsche Taubstummenbildung. Was wollen dagegen die dürftigen Anfänge in England sagen?

Sehen wir nun, auf welchem Wege wir zu solchen Resultaten gelangen.

Da ist heute eben Aufnahme neuer Schüler im Institute. Mit thränendem Auge bringen die Eltern ihre kleinen Lieblinge, die ihnen ihrer Hülflosigkeit wegen um so mehr an’s Herz gewachsen sind. Aengstlich verkriechen sich die Kleinen hinter Vater und Mutter, denn sie fühlen recht wohl, daß jetzt etwas Ungewöhnliches kommen wird. Und nun ist der unvermeidliche bittere Abschied da, der beiden Theilen oft heiße Thränen auspreßt. Indeß die Kinder beruhigen sich bald; freundliche Gesichter ringsum, fröhliche Spiele und liebevolle Pflege lassen sie bald heimisch in der Anstalt werden, so daß nach und nach auch zu ernsterer Beschäftigung in der Schule geschritten werden kann.

Zunächst ist nur die Pantomime – Geberdensprache – das Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schülern. Die Pantomime ist des kleinen Taubstummen Muttersprache, denn schon im Elternhause hat er für die ihn umgebenden Dinge, sowie für seine kleinen Bedürfnisse bestimmte, seinen Angehörigen verständliche Zeichen gebraucht. Jetzt im Institute eignet er sich bald im Umgange mit anderen Taubstummen die daselbst gebräuchlichen den seinen ähnlichen Zeichen an. Er hat gewissermaßen nur eine Dialektverschiedenheit zu überwinden. Der Lehrer versteht natürlich diese Pantomimen auch, sie erwerben ihm das Vertrauen seines kleinen Schülers und führen ihn in sein Seelenleben ein. Bald beginnt auch der Unterricht im Sprechen, die Bildung der Articulation. Auge und Gefühl müssen hier das Gehör ersetzen. Jeder Laut ist nicht nur hörbar, er ist auch sichtbar, denn er erfordert eine besondere Mundstellung. Habe ich a zu sprechen so muß ich den Mund ganz anders stellen, als wenn ich i oder u sprechen will. Darauf beruht der Articulationsunterricht. Eine Art Toilettenspiegel wird nun herbeigeholt und mit Hülfe desselben werden dem Schüler die Sprechwerkzeuge gezeigt, die für ihn bis jetzt nur Eßwerkzeuge gewesen sind. Nun giebt der Lehrer dem kleinen Taubstummen die Mundstellung zum a, und indem er die eine Hand des Kindes an seinen Kehlkopf, die andere auf seine Brust legt, spricht er mit starker volltönender Stimme a. Aufmerksam verfolgt der Schüler die hierbei entstehenden Bewegungen; er fühlt den ausströmenden Luftstrom, das Zittern des Kehlkopfes [42] und das Bewegen der Brust. Er sieht, wie ältere Schüler es ebenso machen und dafür von dem Lehrer gestreichelt werden. Nun versucht er’s auch nachzuahmen, und früher oder später gelingt es ihm ebenfalls ein a herauszubringen, wofür er vom Lehrer billig mit einem Zuckerplätzchen belohnt wird. Mitunter geht die Sache freilich etwas langsamer und erst nach vielem vergeblichen Abmühen von Seiten des Lehrers wie des Schülers gelingt’s, ein reines a zu bilden. Jetzt ist der erste große Schritt zum Sprechen gethan und es folgen nun o, u, au. Hier bleibt die Zungenlage wie beim a, und nur die Mundöffnung wird kleiner. Nun kommen die Consonanten an die Reihe. b, d, f sind leicht, aber welche Schwierigkeiten sind oftmals bei den Gaumen- und Nasenlauten, beim s und namentlich beim r zu überwinden! Und wieviel Mühe kosten wieder e und i! Geht’s mit dem einen Laute nicht, so nimmt man einen andern; oft gelingt’s hier durch einen Umweg zum Ziele zu gelangen. Das erste Articuliren wird um so schwieriger, als der kleine Taubstumme noch keinen rechten Begriff hat, wozu er das Alles lernen soll; ganz anders wird es aber, wenn er die ersten einfachen Worte sprechen lernt. Jetzt erst wird das rechte Interesse in ihm rege und jedes neue Wort begrüßt er mit Freude. Hand in Hand mit der Bildung der Articulation gehen das Lesen- und Schreibenlernen, und zwar lernt der Taubstumme zunächst nur die Schreibschrift kennen.

Da der Taubstumme scharf die Bewegungen des Mundes beobachten muß und nur dadurch die Laute von einander unterscheiden kann, so lernt er auch sehr bald die Laute vom Munde ablesen, gerade so, wie wir die Buchstaben von der Wandtafel oder vom Buche ablesen. Es ist dies eine Kunst, die ihm im Verkehr mit hörenden Menschen unentbehrlich ist, denn die Hörenden verstehen wohl, was er spricht, er aber liest ihnen die Worte vom Munde ab, weil er nicht hören kann, was sie sprechen.

Allmählich werden die Schüler weiter in die Sprache eingeführt. Es werden ihnen die einfachsten Begriffs- und Eigenschaftswörter gegeben, die sie sofort zu kleinen Sätzen verwenden. Sie lernen das Verhältniß der Dinge zu einander in Worten ausdrücken, lernen die gewöhnlichsten Bindewörter, die gebräuchlichsten Zeitwörter kennen und sind dann schon im Stande, kleine Beschreibungen von Gegenständen aller Art zu liefern. Später wird ein Lesebuch zur Hand genommen und wie bei hörenden Kindern wird laut gelesen, das Gelesene wird abgefragt und als Sprech- und Sprachstoff benutzt. Je mehr der Schüler in der Sprache vorwärts dringt, desto mehr tritt die Pantomime in den Hintergrund, bis sie in den Oberclassen fast ganz verschwindet und das gesprochene Wort allein die Grundlage des Unterrichts bildet. Dieser theilt sich nun in verschiedene Zweige, und die Schüler werden in Rechnen, Naturkunde, Heimathskunde, Religion, ganz ähnlich wie in gewöhnlichen Volksschulen, unterrichtet.

Ist nun auch in dem oder jenem deutschen Taubstummeninstitute die Lehrmethode etwas anders, in der Hauptsache fußen sie doch alle auf der Lautsprache, und das ist der große Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Schule, welch’ letztere den Taubstummen nur mit Hülfe der Pantomime und Schrift bilden zu können meint. Mehr und mehr verliert sie aber an Einfluß, und mit Recht hebt der englische Bericht die Verdienste des Director Hirsch in Rotterdam, ehemals Taubstummenlehrers in Köln, um Einführung der deutschen Methode in den Niederlanden hervor. Seinen Bemühungen ist es mit zu danken, daß auch in den belgischen Taubstummenschulen das deutsche Element zur Geltung gekommen ist, und jener junge Lehrer in der kleinen Londoner Anstalt ist von ihm als Pionnier unserer Schule nach England gesandt worden.

Freilich jenseit des Oceans, wo Alles in Siebenmeilenstiefeln vorwärts schreitet, da will man auch – die Zeitungen und Anstaltsberichte erzählen’s wenigstens – in der Taubstummensache uns um etliche Pferdelängen voraus sein. Dort gründet man „Hochschulen für Taubstumme“, wie in Washington, wo ein „Collegium für die höhere Ausbildung der Taubstummen behufs der Ertheilung collegialischer Grade“ besteht. Allerdings ein Doctor oder Professor ist in Deutschland noch aus keiner Taubstummenschule hervorgegangen, aber eben so gewiß ist es, daß es die Amerikaner in dieser Beziehung nicht weiter gebracht haben als wir, und so sinkt bei näherer Betrachtung jene amerikanische Hochschule zu einer ganz gewöhnlichen Fortbildungsschule für Taubstumme herab, wie solche auch in Deutschland mit manchen Instituten verbunden sind.

In Deutschland sind es schon hundert Jahre, seitdem man angefangen Taubstumme sprechen zu lehren, und jetzt erst folgen hierin England und Frankreich nach. Mit Stolz schreibt das englische Journal in Bezug auf die kleine, erst seit kurzer Zeit bestehende israelitische Anstalt: „Stumme reden in England!“ – während in Deutschland gegenwärtig in allen Taubstummenschulen – es giebt deren circa achtzig – die Lautsprache einen Hauptbestandtheil des Unterrichts bildet. Jetzt erst finden in dieser Angelegenheit deutsche Ideen im Auslande Eingang, und die deutsche Lehrweise bricht sich Bahn – freilich gedenkt man dabei nicht ihres Begründers, aber das ist den Ausländern nicht zu hoch anzurechnen, da man ja diesen Mann im eignen Vaterlande fast vergessen hat.

Wie sehr ehrt man in Frankreich den Abbé de l’Epée! Man hat ihm in Versailles, seinem Geburtsorte, ein prächtiges Monument errichtet, und in Prosa und Poesie verherrlicht man ihn als einen der größten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts. Fern sei es, ihm den wohlverdienten Ruhm schmälern zu wollen; aber er hat doch die Stummen in ihrer Stummheit gelassen, er gab ihnen nur die Pantomime und die Schrift, nicht aber das gesprochene, das lebendige Wort. Das hat ihnen ein Deutscher gegeben und damit die gewaltige Kluft überbrückt, welche die Taubstummen von den Hörenden trennt. Wer aber nennt bei uns seinen Namen? In Frankreich wissen Millionen von dem edeln Abbé de l’Epée zu erzählen, in Deutschland wird Samuel Heinicke nur von einigen hundert Taubstummenlehrern gekannt. –

Und gerade jetzt, zu Anfange 1869, sind es hundert Jahre, daß Samuel Heinicke in Eppendorf bei Hamburg die Hand an’s große Werk legte und sich dauernd mit der Erziehung und Bildung taubstummer Kinder befaßte. –

Daß aber das deutsche Volk jenes Mannes nicht vergesse, der vor hundert Jahren die Stummen reden lehrte, dafür wird die Gartenlaube sorgen und in einer der nächsten Nummern von Samuel Heinicke erzählen. Der Mann ist werth, daß ihn sein Volk recht genau kennen lernt, um ihn ganz nach seinem Verdienst zu ehren. –

E. Stötzner.     




Casanova und Hagenbeck.


Auch in früheren Jahren hat man hin und wieder Gelegenheit gehabt, ausländische Thiere lebend bei uns zu sehen, sei es durch Vermittlung jener Sorte „wandernder Künstler“, welche mit Affen, Bären, Kameelen, Wölfen oder Hyänen auf den Messen und Jahrmärkten umherzogen oder – schon beachtenswerther – in mehr oder minder großartigen Menagerien, von denen die van Aken-Kreuzberg’sche, die von Renz, Scholz u. A. allgemein bekannt geworden sind. Aber erst seitdem die mit Recht überall beliebten „Thiergärten“ (welche die Deutschen gar zu gern „Zoologische Gärten“ nennen) eine größere Ausdehnung gewonnen haben, mehrt sich die Zufuhr fremder lebender Thiere aus allen Weltgegenden in großartigster Weise, und oft ist es in der That bewundernswerth, daß es hat gelingen können, Thiere aus entlegenen Himmelsstrichen, die ihrer ganzen Natur nach mit ihrer heimathlichen Umgebung auf’s Innigste zusammenhängen, nicht nur in die Gewalt der unternehmenden Jäger oder Thierhändler zu bringen, sondern auch sie zu transportieren und Jahre lang mit neu angepaßter Kost und unter fremden klimatischen Verhältnissen am Leben zu erhalten. Der Besucher eines Thiergartens sieht neben einander Eisbären, Paviane, Elephanten, Giraffen, Ameisenbären, Elenthiere, Waschbären, Känguruhs, und es kommt ihm kaum mehr in den Sinn, daß jedes dieser Thiere mit der überlegtesten Sorgfalt und Vorsicht von seiner früheren Umgebung getrennt und neuen Verhältnissen angepaßt worden ist, wie er auch schon längst nicht mehr daran denkt, durch wie viele Hände und aus wie entlegenen Gegenden diejenigen Stoffe herbeigeschafft worden sind, deren er täglich zu seiner Erhaltung und Bequemlichkeit bedarf.

Unter denen, welche mit Ueberwindung persönlicher Gefahren [43] an Leben und Gesundheit weit über die Grenzen der Culturländer reisen, um den Gärten neues Material zu schaffen, ist Casanova, früher Director eines großen Affentheaters, das 1859 in Petersburg durch eine Feuersbrunst gänzlich zu Grunde ging, der Bedeutendste. Schon mehrmals ist derselbe von Suakim, einem im südlichen Nubien gelegenen Hafenort am rothen Meer, weiter südlich nach Habesch gegangen, wo die begehrten Schaustücke der Thiergärten meistens mit leichter Mühe wohl erworben, aber nur mit großen Schwierigkeiten und Anstrengungen erhalten werden können.

Eine solche Erpedition nimmt im Ganzen acht bis zehn Monate in Anspruch und wird am zweckmäßigsten kurz nach der Regenzeit, also etwa im November, wo man am leichtesten junge Thiere in großer Anzahl vorfindet, begonnen. Von Suakim geht die Reise mit dem theils schon in Europa, theils in verschiedenen Orten Afrikas besorgten Reisematerial, also vor allen Dingen mit einer Anzahl von mindestens dreißig Kameelen und den zur Aufsicht nöthigen Leuten, mit genügendem Proviant, Stricken, Eisenstäben, Waffen und den zum Austausch nöthigen Waaren, wie Branntwein, Zucker, Reis, Seife etc., nach dem etwa fünfundzwanzig Tagereisen südlicher gelegenen Cassala, der Hauptstadt des Takalandes. Daß auch eine gute Summe Geldes mitgenommen werden muß, versteht sich von selber, und zwar muß dieses Geld in Maria- Theresien-Thalern (etwa ein und ein Drittel Thlr. preuß.) bestehen, dem einzigen, welches die Bewohner jener Gegenden als vollgültig annehmen, das daher auch die Engländer vor ihrer Expedition nach Abessinien in großen Mengen prägen ließen.

Die Gegend zwischen Suakim und Cassala ist öde, sandig und spärlich bevölkert. Wasser gehört zu den Kostbarkeiten und muß aus den in den ausgetrockneten Flußbetten gegrabenen Brunnen entnommen werden. Wer also eine solche Reise unternimmt, muß sich darauf gefaßt machen, auf fast alle Annehmlichkeiten des civilisirten Lebens zu verzichten, er muß sich daran gewöhnen, in den auf heiße Tage folgenden kalten Nächten mit einem Lager unter freiem Himmel vorlieb zu nehmen, er muß suchen, im Umgang mit den Thieren unter denen die Kameele die „allerliebenswürdigsten des Erdballs“, die Scorpione und Kameelzecken aber die abscheulichsten sind, Ersatz zu finden für die mannigfaltigen Bequemlichkeiten, welche ihm in der Heimath seine menschliche Umgebung verschafft.

Von Cassala aus geht Casanova noch etwa funfzehn Tagereisen weiter, an die Ufer des Atbara und Setith, wo er durch Vermittlung der in jenen Gegenden nomadisirenden und in fortwährenden Fehden und Raubzügen begriffenen Homraner Elephanten erlangt. Es vereinigen sich zu solchen Jagdzügen eine größere Anzahl Homraner unter Anführung eines bewährten Elephantenjägers, die, unterstützt von dem ihnen zu Gebote stehenden eigenthümlichen Spürtalent, meistens bald eine Elephantenheerde aufgefunden haben. Sie setzen den Fliehenden auf den kleinen, aber ausgezeichneten Pferden nach, was bei der Unebenheit des Terrains, den furchtbaren Dornen der Akazien und der heißen Tagesgluth nicht eben ein leichtes Stück Arbeit ist, und suchen die Jungen, welche früher ermüden, von den Alten abzusondern. Leistet ein alter Elephant einem gefesselten Jungen Hülfe, so wird er in einer eigenthümlichen, bei der Gewandtheit der Jäger aber sicheren Weise getödtet. Während nämlich einer derselben die Aufmerksamkeit des Thieres von vorne fesselt, nähert sich ein anderer von hinten springt vom Pferde und haut mit einem kurzen zweischneidigen Schwerte dem Thiere die Achillessehne des nächsten Hinterfußes durch. Wendet sich das dadurch wüthend gemachte Thier gegen diesen, der sofort wieder auf sein Pferd gesprungen ist, so wiederholt der erste dasselbe Manöver am anderen Hinterfuße des Elephanten, der nun, zum Weiterkommen unfähig, mit Lanzen und Schwertern leicht getödtet wird. Während dieses Kampfes beschäftigen sich Andere mit dem Jungen, reißen es mit übergeworfenen Stricken zu Boden und fesseln es dann in solcher Weise, daß es nothgedrungen mit den Jägern vorwärts muß. Von der im Anfang des Jahres 1867 veranstalten Jagd kehrte Casanova mit sechszehn Elephanten im Mai 1867 nach Suakim zurück. Im folgenden Jahre konnte Casanova zweiunddreißig junge Elephanten noch vor Cassala käuflich erlangen.

Alte Elephanten werden nicht eingefangen, weil das mit sehr bedeutenden Gefahren und Schwierigkeit verknüpft, der Transport kaum zu ermöglichen ist und die Thiere voraussichtlich weder lange in der Gefangenschaft aushalten, noch auch je recht zahm würden. Alte Elephanten bringen sogar den Besitz an schon eingefangenen jungen mitunter in Gefahr, indem sie in nächtlicher Weile, durch das Schreien und Brüllen der letzteren aufmerksam gemacht, sich dem Lager der Jäger und Thierhändler nähern und in dasselbe einzudringen trachten. Es muß also in der Nacht stete Aufsicht vorhanden sein und ein tüchtiges Feuer unterhalten werden, auch schon wegen der eben so dreisten als feigen Hyänen, die das Lager nächtlich umkreisen und zu erhaschen suchen, was nur irgend zu holen ist. Die hier in großen Schaaren vorkommenden gefleckten Hyänen nähern sich sogar den Schlafenden und treiben die Frechheit so weit, Gewehrriemen, Lagerdecken oder was sonst in der Nähe ist, und sei es gar das Kopfkissen, zu benagen.

Auch von den erwähnten zweiunddreißig Elephanten brachte Casanova nur den kleinsten Theil lebend nach Europa. Noch vor Cassala brach – man kann es in der That nicht anders nennen – ein Aufruhr unter den Thieren aus, nachdem sie schon durch die Behandlung von Seiten der Europäer fast gezähmt worden waren. Merkwürdiger Weise dürfen diese sich sehr bald nach der Gefangennahme den Thieren zutraulich nähern, sie streicheln und kosen, besonders wenn dieselben schon einmal nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden sind, daß sie ihren Willen jetzt unterzuordnen haben, während die Annäherung eines Arabers sie sofort in einen aufgeregten Zustand versetzt, so daß sie schreien und sich wild und ungeberdig benehmen. Nun war während des Transportes, der mit der ganzen Heerde natürlich erst dann begonnen wird, wenn es den Thieren gestattet werden kann, sich in größerer Freiheit zu bewegen, plötzlich ein Elephant wieder wild geworden. Die großen Ohren aufgerichtet, schreiend und stampfend und alle Bemühungen der Wärter und Diener, ihn zu halten, vereitelnd, hatte er sich in völlige Freiheit gesetzt, und das Beispiel dieses Thieres wirkte auf die übrigen so aufreizend, daß in kurzer Zeit auch kein einziger mehr im geordneten Zuge geblieben war. Nach allen Richtungen waren zweiunddreißig Thiere, von denen jedes zu seiner Bewältigung mehr als acht Menschen verlangt, auseinander gestoben, und man kann sich die Bestürzung denken, welche diese wilde Flucht hervorrief. Aber – so groß war schon die Macht der Gewöhnung – die Thiere ließen sich wieder beschwichtigen; einige Hiebe mit der Nilpeitsche, die Macht der Menschenstimme, die Entschlossenheit Casanova’s und der Wärter wirkten so eindringlich, daß alle, mit Ausnahme der zwei größten, wiedererlangt wurden.

Außer Elephanten werden, entweder durch die erwähnten Jagdzüge oder auch durch Ankauf der auf die dortigen Märkte gebrachten Thiere, namentlich Giraffen, gefleckte Hyänen, große und kleine Katzenarten, Antilopen, Ichneumons, Strauße, Gaukler- und Schopfadler, Geier, Marabus, Nashornvögel, Kragentrappen, Krokodile und andere erworben. Die für die Thiergärten bestimmten müssen, mit Ausnahme weniger kleinerer Thiere oder derjenigen, welche, wie die Antilopen, schon an und für sich eine liebenswürdigere Gemüthsart haben, immer jung eingefangen werden. Es werden also die Alten getödtet und die Jungen gefangen, oder auch es werden die Jungen bei Abwesenheit der Alten vom Lager entführt. Man fängt übrigens auch größere reißende Thiere, indem man dieselben aus ihrer – wohl nicht selbst gegrabenen, sondern nur als passend in Besitz genommenen – Höhle in einen Käfig jagt. Hat man eine solche Höhle aufgefunden, so nähert man sich derselben vorsichtig von hinten her und stellt schnell den gut mit Eisenstäben befestigten kleinen Käfig vor einen Theil des meist ziemlich großen Eingangs. Durch den noch freien Theil des letzteren wirft man glühende Kohlen oder brennende Holzstücke in’s Innere und treibt das Thier, sobald es Miene macht hier auszubrechen, mit Knitteln und Waffen wieder rückwärts. Endlich bleibt dem Leoparden oder Löwen, um sich vor der immer größer werdenden Gluth zu retten, nichts anderes übrig, als in den Kasten zu springen, der dann sofort geschlossen wird. Von nun an gelangt der Gefangene nie wieder auf freien Boden, sondern wird höchstens aus einem Käsig in den anderen gejagt.

Als besonders interessante Neuigkeit brachte Casanova im Sommer vorigen Jahres auch ein zweihörniges afrikanisches Nashorn nach Europa. Schon vor zwei Jahren hatten die Homraner auf ihrem Streifzug gegen die Elephanten ein sehr junges Nashorn gefangen; es ging aber schon auf dem Wege zu Casanova zu Grunde, und so ist das ersterwähnte überhaupt das erste zweihörnige Nashorn – wenigstens [44] seit der Römerzeit, wo vielleicht auch dieses in den Spielen vorgeführt wurde –, das lebend nach Europa gelangte. Es ist dasselbe im Januar vorigen Jahres von Chek (Häuptling) Mosa noch sehr jung gefangen worden, so daß es noch ein halbes Jahr später lediglich mit Milch ernährt werden mußte. Seinetwegen hatte Casanova etwa dreißig Ammen aus Afrika mitnehmen müssen, lauter prachtvolle, mit braunem glänzendem Haar und sonderbaren Ohren gezierte Ziegen.

Ankunft von Casanova’s Thierkarawane in Hamburg.0 Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[45] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Am 14. März vorigen Jahres schrieb Casanova von Cassala an den wegen seines ausgedehnten Thierhandels bekannten Herrn Hagenbeck in Hamburg, daß er jetzt dreißig Elephanten, sieben Giraffen (die größte zwölf bis dreizehn Fuß hoch), zwölf ausgewachsene große Strauße, das erwähnte Rhinoceros, eine bedeutende Anzahl seltener Antilopen (darunter zwei Exemplare der Kuduantilope), zehn Nashornvögel und eine größere Anzahl Löwen, Hyänen und Marabus mit sich führe. Auch erwähnte er darin, daß ihm leider

[46] schon vor Cassala zwei Nilpferde und vierzehn afrikanische wilde Büffel gestorben seien, so daß er von den letzteren nur noch zwei am Leben habe (die aber ebenfalls Europa nicht sehen sollten).

Die Thiere wurden theils, zu kleineren Abtheilungen vereinigt, getrieben, theils, wegen ihrer Wildheit oder ihrer den Anstrengungen der Märsche noch nicht gewachsenen Jugend in Kasten gesperrt, von den Kameelen getragen. Gewöhnlich wurden täglich zwei Märsche gemacht: man brach lange vor Sonnenaufgang auf, rastete während der größten Hitze und marschirte dann wieder den ganzen Abend bis zur Mitternacht. Die Kosten eines längeren Aufenthalts und die Unbequemlichkeiten während der Reise, auf der man nur selten oder nie Gelegenheit hat, sich mit neuem Vorrath zu versorgen, erfordern diese anstrengenden Märsche. Aber es gehen dadurch auch viele Thiere wieder zu Grunde, namentlich von denen, welche getrieben werden. Von Cassala bis Suakim starben von größeren Säugethieren bei dem Transport vorigen Jahres dreizehn Elephanten, zwei Giraffen, acht Strauße, die zwei letzten Büffel und zweiundzwanzig von sechsundzwanzig mitgenommenen Ariel-Antilopen (Antilope dama).

In Suakim wurde die Thierkarawane von dem Geschäftsführer Hagenbeck’s, einem Manne, der schon aus und nach vier Erdtheilen Thiere gebracht hat, erwartet. Von hier aus ging die Reise zu Schiff weiter. Das Ein- und Ausladen ist, besonders bei den größeren Thieren, mit bedeutenden Schwierigkeiten verknüpft, die sich meistens noch dadurch steigern, daß die großen Dampfer nicht dicht an das Ufer gelangen können. Man muß die Thiere also erst auf Barken bringen und von diesen dann auf die großen Schiffe. Wie aber kann man Elephanten, Giraffen und andere Kolosse von einer Barke an Bord eines Dampfers schaffen? Man sollte meinen, das sei nur so möglich. daß man große Kasten baue. an vier entgegengesetzten Enden Stricke durchziehe und damit dann sein Heil versuche. Aber so viele Umstände macht man gar nicht. Man befestigt einen Gurt um den Bauch, einen andern oder auch nur dicke Sticke oben um die Hinterbeine und windet so das ganze Thier herauf oder hinunter, ganz in derselben Weise, wie wir es in Nr. 38 der vorjährigen Gartenlaube von den Ochsen geschildert haben. Allerdings ist das Benehmen der Elephanten bei dieser nicht gerade angenehmen Procedur ein ganz anderes als das jener Fleischmaschinen. Der plötzlich seines Haltes beraubte und in der Luft schwebende Dickhäuter schreit, zappelt und strampelt und ist in jeder Weise unliebenswürdig. Bei den Giraffen ist das Aufwinden schon gefährlicher. Kürzlich erst passirte es in London, daß eine so befestigte Giraffe beim Herablassen in den Schiffsraum das Uebergewicht bekam, mit dem Kopf voran hinunterstürzte und das Genick brach.

An Bord werden die Thiere so viel als möglich unter Deck gebracht und hier besonders sicher gestellt damit das fortwährende Schwanken und Werfen des Schiffes kein Unheil anrichte. Die Thiere benehmen sich dabei ziemlich ruhig und selbst die allezeit leicht erregten Elephanten sind artiger, als man glauben möchte. Vielleicht ist ihnen nach einem so anstrengenden Marsche die größere Ruhe wohlthätig, oder auch sie haben sich nun schon so in die Gewalt des Menschen gefügt, so gut erkannt, daß ihre Wildheit nur Widerwärtigkeiten im Gefolge hat, daß sie sich nichts zu Schulden kommen lassen. Schlimm aber, wenn während der Ueberfahrt ein Sturm ausbricht. Es ist dann kaum möglich, Alle vor Schaden zu bewahren, Kisten und Kasten fliegen durch einander, die Wärter selbst können sich kaum auf den Beinen erhalten und Matrosen und Passagiere verwünschen die unruhige Ladung, indem sie die Wärter bestürmen, wenigstens die großen Thiere über Bord zu werfen, da eine Erhaltung derselben doch nicht möglich. Der schon erwähnte Geschäftsführer Hagenbeck’s erlebte im Jahre 1867, als er vier Elephanten von England nach Amerika transportirte, einen solchen Sturm auf hoher See. Da die Thiere vom schwankenden Schiffe natürlich arg hin und her geschleudert wurden, so mußte er sich in der Weise zu helfen suchen, daß er sie mit zusammengebundenen Vorder- und Hinterbeinen auf Heu und Decken warf und sie dann noch dermaßen einpackte und festband, daß sie so wenig als möglich von den Stößen leiden konnten. Die Schiffsmannschaft verspottete ihn wegen der Maßregeln, die doch unzureichend seien, aber der wackere George gab auch dann noch nicht den Muth auf, als oben ein Theil der Seitenplanken brach und das Wasser auf verschiedenen Wegen in’s Zwischendeck eindrang und auf seine Thiere strömte. Er hatte denn auch die Genugthuung, seine Ladung lebend nach New-York zu schaffen.

Casanova’s Thiere mußten in Suez wieder ausgeladen werden, um mit der Eisenbahn über Cairo nach Alexandrien zu fahren. Im Golf von Suez ist das Wasser aber noch seichter als bei Suakim und die Thiere müssen schon in stundenweiter Entfernung auf Bote gepackt und nun langsam dem festen Lande näher gebracht werden. Bei dieser Gelegenheit geschah es denn im Mai des vorigen Jahres, daß das letzte der sechs Böte, auf welchem Thiere, Europäer und arabische Diener im bunten Durcheinander vertheilt lagen oder standen, von den Arabern umgekippt wurde. Die Araber hatten die Zugtaue an die Masten gebunden und zogen entweder höchst ungeschickt oder, was wahrscheinlicher, von dem Wunsche geleitet, ihre Ladung und Arbeit möglichst zu erleichtern, derart an, daß das Boot sich auf die Seite neigte, die Thiere umfielen und in’s Wasser plumpten. Freilich wurden sie so schnell als möglich wieder herausgezogen aber am andern Tage starben die fünf Elephanten, welche das unfreiwillige Bad genommen hatten. Außer diesen war schon vorher auf dem Schiffe ein anderer gestorben so daß von den zweiunddreißig Elephanten die Casanova in Habesch erworben hatte, nur elf lebend nach Europa gelangten.

Bei der Fahrt über das mittelländische Meer geschah kein weiterer Unfall, und Hagenbeck selbst konnte die Thiere in Triest in Empfang nehmen. Auch hier schaffte man sie zuerst in eine große Barke und von da an’s Land. „Das hätte unser Herr Leutemann sehen und zeichnen müssen,“ meinte Hagenbeck. Und in der That hätten wir ein prächtiges Bild von unserem genialen Künstler mehr gehabt. Die Thiere in allen Größen in engem Raum aneinander gepreßt, in der Mitte die Heerde Elephanten, vorne die Kiste mit den Vögeln, Hyänen, Löwen, hinten die fünf Giraffen, die Ziegen und Antilopen, und nun die Wärter, von Einem zum Anderen gehend oder kletternd, hier beschwichtigend und Frieden stiftend, dort eine gekippte Kiste aufrichtend oder einem Thiere zum sicheren Stande verhelfend – dies Alles bot allerdings einen sehr fesselnden Anblick.

Das Landen in Triest brachte neue Aufregung. Die Kunde von dem sehenswerthen Ereigniß verbreitete sich bei den beweglichen Italienern mit Schnelligkeit, Alles lief zusammen, und die ohnehin an das Herumlungern und Faulenzen gewöhnten Tagelöhner und Eckensteher erschwerten jede Bewegung in der lästigsten Weise. Man versuchte die Thiere durch Steinwürfe aufzuscheuchen und hätte es gar zu gern dahin gebracht, daß noch etwas mehr Leben in die Masse gekommen wäre. Nur der großen Umsicht und Entschlossenheit Hagenbeck’s, sowie der Gewandtheit seiner Leute war es zu danken, daß man den Bahnhof ohne Unfall erreichte, denn Hagenbeck allein hatte den ganzen Vorrath, den Casanova in Afrika erworben, käuflich an sich gebracht, trotzdem eine Reihe anderer Thierhändler theils telegraphische Depeschen, theils besondere Agenten an Casanova abgeschickt hatte, um einen größeren oder geringeren Theil des Transportes an sich zu bringen.

Nun endlich konnten die Thiere in die Wagen geschafft werden, welche sie in kürzester Zeit nach Hamburg, ihrem nächsten Bestimmungsort, bringen sollten. Der Eisenbahntransport ist natürlich einfacher als der Schiffstransport, hat aber immerhin noch seine Schwierigkeiten. Man hat zunächst darauf zu sehen, daß die Thierwagen in die Mitte des Zuges kommen, keinenfalls an das Ende, da der letzte Wagen namentlich bei Wegkrümmungen derart schleudert, daß die Thiere leicht lebensgefährliche Stöße und Verletzungen erhalten. Ferner ist man genöthigt, die Wände der Wagen mit Heu und Leinewand auszupolstern und den Thieren einen möglichst sicheren und bequemen Stand zu bereiten. Von Allen haben es die Giraffen im Wagen am ungemüthlichsten. Denn da die Höhe der letzteren für die Langbeine nicht ausreicht, so sind sie gezwungen, den langen Hals gerade auszustrecken, was natürlich auf die Dauer sehr beschwerlich ist. Eine noch jetzt in Hamburg befindliche Giraffe von siebenzehn rheinischen Fuß Höhe hat man nur in der Weise von Wien hierher schaffen können, daß man sie in einen eigens dazu gebauten, mit einem beweglichen Dache versehenen Kasten stellte, so daß das Thier wenigstens auf den Stationen seine natürliche Stellung einzunehmen im Stande war. Komisch genug mag das ausgesehen haben. Auch mußte man sich schon bei der Hinreise nach Wien genau nach der vielfach verschiedenen Höhe der Tunnels erkundigen, [47] dann ein recht niedriges Lowry aussuchen und darnach die Höhe des Kastens einrichten. Die bei der Eisenbahn Angestellten thun zur bequemen Einrichtung solcher Transporte so viel wie nichts; jede Gefälligkeit, jede besondere Erlaubniß ist nur durch reichliche Trinkgelder zu erlangen. Ueberhaupt sind die Kosten für den Eisenbahntransport unmäßig hoch, und es wäre im Interesse namentlich der in den mittleren Theilen Deutschlands eingerichteten Thiergärten dringend zu wünschen, daß man ein geringeres Maß als die jetzt geforderte „doppelte Eilfracht“ für Thiere in Anwendung bringen möchte. Einzelne Thiere werden mitunter nach den für den gewöhnlichen Bedarf eingerichteten Tarifen transportirt, und da passirt es denn einem gefälligen Inspector zuweilen, daß er eine Antilope oder ein Zebra als einen „billigeren Esel“ betrachten zu können glaubt.

Wie nun, in Hamburg angelangt, die Thiere vom Bahnhof „Sternschanze“ nach den für sie eingerichteten Stallungen geführt werden, das möge man sich lieber auf dem Bilde ansehen als beschreiben lassen. Die gezeichneten Scenen sind durchaus naturgetreu, die dabei beschäftigten Personen einbegriffen. Links führt der schon mehrfach erwähnte George seine Elephanten ihrem Ruheplatze entgegen, in der Mitte bäumt sich eine von Hagenbeck geführte Giraffe und sucht ein Käufer sein eben erworbenes Eigenthum in höchst praktischer Weise am Ausreißen zu verhindern, im Hintergrunde links steht ein anderer Käufer, der Thierhändler Jamrach aus London, mit seiner Kudu-Antilope beschäftigt, und in seiner Nähe fährt ein Wagen mit mehreren Thierkasten. Die junge Dame auf dem Bock, eine Schwester Hagenbeck’s, sucht an Kühnheit ihres Gleichen denn für was halten wohl meine schönen Leserinnen das Thierchen, welches diese Heldin auf dem Schooß hat? Es ist nichts Geringeres als eine junge gefleckte Hyäne, deren Käfig nicht mehr zum Transport ausreichte und die nun wohl oder übel in diesen sicheren Händen alle Fluchtversuche aufgeben mußte.

Zu Hause angelangt, wurden die Thiere aus den Transportkasten in die geräumigen Käfige und Ställe gebracht und alle nach Möglichkeit gefüttert und verpflegt. Interessant war es zu sehen, mit welcher Sicherheit und Schnelligkeit hier umgepackt und geordnet wurde. So wurden zum Beispiel die gefleckten Hyänen an den Ohren aus den Kasten genommen und zu den Käfigen getragen, was den widerlichen Burschen, nach ihrem schauerlichen Geheul und wüthenden Gestrampel zu urtheilen, nicht gerade angenehm zu sein schien. Zwei derselben waren übrigens bei der Gelegenheit aus dem Kasten gesprungen und liefen nun eilend an uns vorüber, um sich in irgend einem Winkel zu verkriechen. Ein Käufer von etwas umfangreichem Körper und unruhiger Gemüthsart versuchte schnell oben auf einem Kasten in Sicherheit zu kommen, da er „mehr Angriffsfläche“ biete als wir; aber es geschah Niemandem ein Leid. Hagenbeck fing die Bestien in einen großen Leinwandkätscher und schaffte sie, ohne sich an ihr Widerstreben zu kehren, richtig an den Bestimmungsort.

Wirkliche Gefahren, namentlich durch reißende Thiere, kommen bei der Sicherheit des Verkehrs freilich selten, aber doch hin und wieder vor. So befreite sich beim Transport der Renz’schen Menagerie im Jahre 1861 der größte Löwe „Prinz“, warf sich sofort auf ein Wagenpferd und wurde, in dem schon lange nicht mehr gewohnten Genusse alles Andere unbeachtet lassend, von einem Kutscher erdrosselt. Der Mann warf ihm einen Strick um den Hals, zog denselben dann durch ein Wagenrad und schnürte, jetzt von Anderen unterstützt, dem Löwen die Kehle zu, indem er ihn nach dem Rade schleifte. Ein ähnlicher Fall wiederholte sich im folgenden Jahre, wo ein ausgebrochener Königstiger auf der zwischen Hamburg und Harburg gelegenen Insel Wilhelmsburg von einem Wärter erschossen wurde, und noch im vorigen Jahre befreite sich in Antwerpen ein Tiger Nachts aus einem Transportkäfig, tödtete einen Menschen, jagte Anderen gewaltigen Schrecken ein und wurde endlich vom Director des dortigen Thiergartens erschossen.

Um mit einer Notiz über unseren Transport zu schließen, erwähnen wir noch, daß das werthvolle, die Perle des Ganzen bildende Nashorn, nach längeren vergeblichen Bemühungen Hagenbeck’s, es dem Hamburger Thiergarten zu verkaufen, endlich nach London wandern mußte, wo man tausend Psund Sterling dafür zahlte und wo es jetzt schon seit jener Zeit um mehr als einen Fuß gewachsen ist. Die übrigen Thiere kamen bald genug nach allen Richtungen wieder von Hamburg fort, nur die zwei letzten Strauße erwarb sich der dortige Garten, während die beiden anderen bereits in Berlin ihre neue stattliche Heimath gefunden hatten.

H. Dorner.




Blätter und Blüthen.


Deutsche Eichen. Die alte Eiche auf dem Hofe des Gutsbesitzers Ledebur zu Wetter, Amt Grönenberg bei Osnabrück, deren Sturz durch das Wüthen des Sturmes vom 7. December viele Zeitungen in kurzer Notiz erwähnten, ist vielleicht einer der merkwürdigsten Bäume, nicht allein Westphalens, sondern ganz Deutschlands.

Weit und gigantisch breitete die mehr als tausendjährige Riesin ihr mächtiges Geäste aus, und ihres großen Alters und der erstaunlichen Dicke wegen war sie, eine der letzten immer mehr verschwindenden Zeuginnen von Deutschlands vielbesungenen uralten Eichenwaldungen, bekannt in der ganzen Gegend. – Der westphälische Bauer liebt die alten Eichen seines Bodens; sie, von Urahnen gepflanzt und gehegt, umstehen als eine schützende Garde seine Wehr; der Großvater hörte vom Großvater, daß schon von Alters her die Bäume, wie noch heute, seinen Hof schattig umgaben, und deshalb sollen sie auch so noch Kinder und Kindeskinder sehen. Der Bauer traut sogar den wetterwendischen Vormonaten der neuen Jahreszeit nicht eher, bis seine alten Eichen sich wieder mit neuem Grün schmücken; und er sieht, daß Herbst und Winter ernstlich heranrücken, wenn der Wind die ersten braunen Blätter seiner spät welkenden Schützerinnen wirbelnd an’s Fenster und durch die Thür bis an des Heerdes gastliches Feuer jagt. So sind die Eichen seines Hofes die langjährigen Gefährten seiner Vorfahren, der Schutz seiner Wehr, seine Rathgeber im unberechenbaren Wechsel der Elemente, er hält die Bäume wie seine Kinder, so daß der echte westphälische Wehre es in früheren Jahren selten und nie ohne große Noth wagte, Hand an die Bäume seines Hofes zu legen.

Auch der Besitzer der erwähnten tausendjährigen Eiche zu Wetter würde aus diesem Grunde schwerlich Hand an den Baum gelegt haben, so oft und von so vielen Seiten ihm auch schweres Geld dafür geboten worden ist, hätten nicht der große Gang der Natur und die Wucht der Elemente den schönen Baum im besten Greisenalter dahingeworfen.

Aber nicht dieses, nicht seine außerordentliche Größe machte den Baum vor allen andern seinesgleichen ausgezeichnet und merkwürdig: – dieser Baum war die sogenannte „Wettereiche“, die Eiche der „Wetter-Freien“; eine jener uralten Volksverbände niedersächsischer Gemeinden, die aus den Tagen Wittekind’s ihre Herkunft, ihre Verfassung und Institutionen herleiten und in stetem Flor gestanden haben durch die wildbewegten Zeiten des Mittelalters bis in die letztvergangenen Jahrhunderte. – Und die Vereinigung der Wetterfreien war für Westphalen und somit wahrscheinlich für ganz Deutschland die letzte ihrer Art, denn erst zu Ende des vorigen Jahrhunderts rief das Botting zum letzten Male ihre Angehörigen unter den Zweigen dieser höchstwahrscheinlich zu diesem Zwecke auf dem Hofe zu Wetter vor Zeiten gepflanzten, jetzt tausendjährigen Riesin zusammen. Deshalb ist es auch so unwahrscheinlich nicht, daß, wie einige Zeitungen bemerkten, schon der alte Sachsenheld Wittekind diesen Baum kannte und bereits unter seinen jungen Zweigen das Recht sprach und übte inmitten der Wehren seines Landes, wie es noch nach tausend Jahren bei den Nachkommen seines wackeren Volkes gebräuchlich war.

Auf dem Meyerhofe zu Wetter lag die sogenannte „Hofrolle“ der Wetterfreien, wie das alte geschriebene Recht solcher Verbindungen genannt ward, und bis in unsere Tage pflegten sich dort alljährlich die dazu gehörigen Wehren aus den weit umher liegenden Ortschaften Buer, Melle, Riemsloh, Oldendorf, Neuenkirchen und Gesmold zu versammeln. War auch die gemeinsam wirkende Kraft ihrer Rechte längst in den herrschenden Landesgesetzen aufgegangen, in den alten ernsten Charakteren dieser westphälischen Bauern lebte doch noch die Erinnerung an ihre einstige Bedeutung und an die Zusammengehörigkeit unter sich, um dieselbe zu erhalten, wurde bei dieser Versammlung die alte Hofrolle nochmals verlesen und dann der Tag, auf echt germanische Weise, durch ein gemeinsames Mahl, zu dem nach alter Sitte ein Jeder Naturalien lieferte, gefeiert.

In die ältesten Zeiten der Sachsen hinauf reichen diese Verbindungen. Der Krieg und die stete Feindschaft mit benachbarten Stämmen rief sie in’s Leben, da solche das Zusammenhalten mehrerer Wehren zum gemeinsamen Schutz und Trutz nothwendig machten. Karl der Große löste die bestehenden Genossenschaften nicht auf, sondern er ordnete sie nur einer größeren allgemeinen Reichsverbindung, dem sogenannten Heerbanne, unter; jenem ersten Reichsheere, zu dem nur beim allgemeinen Aufgebote die Wehren sich stellen mußten.

Es gab Redehöfe (vielleicht vom niedersächsischen Ausdrucke „Rëë“ oder auch „Rete“ für fertig, bereit), auf denen der Redehöfer allezeit mit Sattel und Zaum zum Zuge in’s Feld bereit sein mußte.

Da die alten westphälischen Sachsen unter sich anfangs für Krieg und Frieden keinen gemeinsamen Oberherrn duldeten, sondern nur im Kriege Herzöge hatten, so ist es wahrscheinlich, daß auch Wittekind, der kühne Kriegsheld, kein König und Herr, sondern nur einer jener freien westphälischen Wehren war, deren Hof als Rede- oder Meyerhof an der Spitze einer solchen Verbindung stand, die nach Beendigung des Krieges wieder auf ihren freien Grundbesitz in ihre alte Gewohnheit zurückkehrten, sowie denn auch Wittekind nach Beendigung des Streites mit Karl dem Großen seine Tage in Ruhe auf seinem Hofe zu Enger in dieser Gegend beschloß.

[48] Diese alten sächsischen Verbindungen mit den ihnen zu Grunde liegenden Einrichtungen und Gesetzen sind das Urbild freier germanischer Verfassung. Einer unserer bedeutendsten deutschen Staatsmänner, Möser, verdankt seine Größe und die Mustergültigkeit seiner Meinungen größtentheils Dem, daß er mit allen seinen Ansichten und Ideen in dem Geiste dieser Einrichtungen wurzelte und wirkte. Auch die in den letzten Jahren in den hannöver'schen Landen zuerst wieder eingeführten Schwurgerichte, deren Grundzug ist, daß der Schuldige von seinen Mitbürgern und nicht von der Willkür eines Einzelnen sein Urtheil empfängt, erinnern ganz an die westphälische Gerichtsweise, wo die Wehren sich alljährlich mehreremal, oder in Folge eines Aufgebotes versammelten, um am geheiligten Orte, der Thingstätte, unter freiem Himmel das gemeinsame Recht zu handhaben.

Eine solche altsächsische Verbindung sehen wir vor uns in den Wetterfreien; sie waren frei unter sich und Niemandem unterworfen, als dem Wetter und Gott im Namen des Schutzes der heiligen Maria zu Heerse.

Hätte die alte Eiche reden können, was würde sie uns erzählen? –

Durch ihren gewaltigen Wipfel war der Sturm der Jahrhunderte dahin gebraust, mit allen Wechseln der bewegten Zeiten, sie, ein Urbild deutscher Kraft, war immer größer und herrlicher emporgewachsen. Sie hatte die Tage Wittekind’s gesehen, die eisernen Zeiten des Mittelalters, die Zeiten der Kreuzzüge, die Zeiten der Herrlichkeit des deutschen Reiches; der verheerende Sturm des dreißigjährigen Krieges zog über die Gauen Deutschlands dahin, wiederum kam ein großer Frankenkaiser Deutschland auf kurze Zeit zu unterjochen: ruhig blickte der alte Baumriese auf das Getümmel der Zeiten, gleichsam als hätte ihn der Wechsel aller Jahrhunderte, der des Jahrtausends, das bereits durch seine Zweige wehte, nur gelehrt, daß unter allen Stürmen immer Eines bestehen blieb, das ist die Freiheit unter deutschen Eichen. Völker kamen und gingen, aber immer wandelte unter seinen Zweigen ein und aus ein wackeres Geschlecht freier westphälischer Wehren.

Jetzt liegt auch er, als einer der letzten seines Alters auf westphälischem Boden, von der Hand der Alles vernichtenden Zeit dahingeworfen. Niedergerissen vom Sturm, fand der schöne, volle vierzig Fuß im Umfang haltende Baum, gesund wie er von der Wurzel bis zum äußersten Zweige noch war, ein ehrenvolles natürliches Ende und theilte nicht das schnöde Schicksal vieler seiner Altersgenossen, die der Habgier der Menschen, der Axt erlagen. – Grönenberg ist schon der uralte Gauname des noch jetzt so genannten Amtes; einst grön oder hochdeutsch grün von den Eichenwaldungen seiner Fluren. Wo sind sie geblieben, die schönen Bäume, die Eichen, die stets der heimathliche Stolz der Deutschen waren, wo sind die Eichen Westphalens geblieben? – Die letzten hundert, und insbesondere die letzten zwanzig Jahre haben der Menschen Hände so bedauernswerth darunter gewirthschaftet, daß kaum noch ein ordentliches Fleckchen Eichenwald zu finden ist, daß eine tausendjährige Eiche kaum noch existirt. Und doch zerstört man mit ihnen etwas Unersetzliches! Das schönste Denkmal der Baukunst kann des Menschen Hand wieder ersetzen, aber wer vermag sie uns wiederzugeben, die alten prächtigen Eichen? Niemand! – nur der Lauf langer, ferner Jahrhunderte kann unseren Nachkommen den Schmuck herrlicher Eichenwaldungen wieder verschaffen, wenn die jetzigen Geschlechter endlich von der fortdauernden Zerstörung nachlassen und auf ihr künftiges Bestehen jetzt schon Bedacht nehmen.

Mit der erwähnten Wettereiche waren es fünf Eichen im ungefähren Alter von tausend Jahren, die allein im Amte Grönenberg im Laufe der letzten fünfzehn Jahre fielen, die Wettereiche durch den Sturm, die andern vier durch Menschenhand. Davon stand die schönste zu Niedernkempen bei Sondermühlen (wo der Dichter Stolberg lebte). Bis dahin von der königlichen Domainen- und Forstverwaltung stets respectvoll geschont, wurde sie umgehauen und der hannover'schen Regierung, die bekanntlich des Geldes gar nicht bedurfte, flossen daraus ein paar lumpige hundert Thaler zu, weil neue, dienstfertigere Forstbeamte sich durch eine auf’s Aeußerste getriebene Ausnutzung der dem Lande gehörigen Domainen und Forsten bei der Regierung beliebt zu machen suchten. Die sogenannte Königseiche, bei Oesede in dieser Gegend, wurde umgehauen, weil der Forstcomplex, auf deren äußerster Zunge sie, weithin sichtbar, stand, auf der Karte zu einer regelrechten geometrischen Figur abgekantet werden sollte. – Uns fällt es dabei ein, daß der berühmte englische Eisenbahnbauingenieur Stephens eine seiner Bahnlinien eine große Curve beschreiben ließ, nur um eine schöne alte Eiche „Old England’s“ zu schonen, und das Parlament zollte dieser seiner Pietät die gebührende Anerkennung.

Auf einem Bauerhofe im Amte Grönenberg stand halb in der Wand des Bauernhauses, dessen schwarzes Strohdach sich unter den riesigen Zweigen zutraulich zu verkriechen schien, ein anderer dieser alten Eichenriesen. – Auf einer Kirmeß ließ sich der angetrunkene Bauer verleiten, den schönen Baum für einen Spottpreis an einige Wucherer zu verkaufen; und da nun der kleine Colonus nicht im Stande war, ein entsprechendes Reuekaufgeld zu entrichten, so mußte der alte Schützer des Hauses, beklagt mit vielen Thränen des Bauern, seiner Frau, Kinder und anderer Hausgenossen, der Axt zum Opfer fallen.

Wir erzählen diese einzelnen Fälle ausführlich, da sie uns ein deutliches Bild im Einzelnen geben, welche Ursachen es sind, die so verderblich auf die Existenz unserer schönen Eichenbestände wirkten; – und charakterisirte sich in dem Sturze dieser unserer Eichen nicht auf eine merkwürdige Weise die Ursache der bisherigen politischen Zerfahrenheit im ganzen deutschen Lande? –

Was der Zahn der Zeit des Guten nicht zerstörte, ist ein Opfer der selbstsüchtigen Interessen kleinstaatlicher Verwaltungen, ein Opfer der Pedanterie und im Volke ein Opfer der einstigen materiellen Zurückgekommenheit des Bauern- und Mittelstandes geworden!

Auf der alten Landstraße von Hannover nach Osnabrück, bei dem Dorfe Oster-Cappeln, stand jene uralte Eiche, welche uns zum Niederschreiben des Vorstehenden veranlaßte. Zeit und Stürme hatten ihr bereits seit langen Jahren die letzten Aeste geraubt, aber noch immer ragte, als eine Merkwürdigkeit für den Vorüberwandernden, der kolossale Rumpf empor. Am Fuße ihres Stammes hatte jener englische König Georg, als er zum ersten Male seine angeerbten hannoverschen Lande besuchte, mit seinem Gefolge geruht und der letzte kleine Zweig war im Jahre 1849 zum letzten Male grün gewesen. Der Baum war vielleicht von gleichem Alter mit der einst großen Dynastie der Welfen. Man spricht im gewöhnlichen Leben von Wundern des Zufalls, und ein solches Wunder oder ein solcher Zufall war es, als gerade in den Kriegsmonaten des für das hannoversche Königshaus so verhängnißvollen Jahres 1866 der alte Baum, ohne jegliche äußere Erschütterung, an einem ruhigen Sommernachmittage, wo in fernen deutschen Gauen der Donner des deutschen Krieges die Thäler erzittern machte, krachend, quer über die Chaussee, zur Erde fiel. Die altersgraue Riesin, als hätte sie eine Ahnung von der heranbrechenden neuen deutschen Zeit, neigte ihr müdes tausendjähriges Haupt und lebte nicht mehr. – Das Landvolk schrie den Sturz des Baumes als ein böses Omen für das hannoversche Königshaus aus; freilich ließ letzteres durch die königliche Landdrostei zu Osnabrück den ehrwürdigen Baum wieder aufrichten, das Stammende wurde plattgesägt, untermauert, und mit einem Kostenaufwande von hundertfünfundsiebzig Thalern stand der Stumpf, mit großen eisernen Ketten an seine Nachbarn geklammert, wieder da; aber es war aus mit dem grauen morschen Riesen, – im vorigen Sommer ist er abgebrannt!

Was läßt sich von solchen Zufälligkeiten sagen? – jedenfalls berühren sie oft wunderbar des Menschen Gefühle. – Ist es nicht gleich merkwürdig, daß auf den blutgetränkten Gefilden Langensalza’s der letzte deutsche Welfenkönig Krone und Reich verlor, wo vor fast achthundert Jahren sein großer Vorfahr Welf der Erste in der blutigen Schlacht gegen die Sachsen sich den Besitz Baierns und die Größe seines Geschlechts sicherte? –

Möge Preußen, das in die Geschichte Deutschlands energisch eingreift, dafür sorgen, daß unsere schönen Wälder vor dem ihnen drohenden Schicksale allmählicher Vernichtung nicht nur behütet werden, sondern daß dermaleinst unsere deutschen Eichen noch herrlicher und größer stehen als in unseren Tagen.




Ein Band zwischen Haus und Schule. Dr. Carl Pilz in Leipzig giebt eine pädagogische Familienzeitschrift „Cornelia“ heraus, die als solche bis jetzt einzig dasteht. Ihre Reichhaltigkeit und Allseitigkeit – sie läßt kein Verhältniß des Hauses und der Familie unbeleuchtet – hat sie in wenigen Jahren so weit gefördert, daß sie Leser in allen Gegenden des deutschen Vaterlandes zählt und somit Sache des Volkes geworden ist. Die „Cornelia“ bringt keineswegs langathmige pädagogische Abhandlungen, sondern in frisch lebendiger Weise verarbeitet sie ihren Stoff in Erzählungen, Schilderungen und populär gehaltenen Aufsätzen und weckt damit immer neues Interesse. Auch medicinische Artikel, welche die leibliche Erziehung der Kinder und die Bewahrung derselben vor Krankheit zum Zwecke haben, finden sich in dieser allen Eltern und Erziehern zu empfehlenden Zeitschrift. Bock.     



Schöne Schmugglerinnen in Amerika. Seit einiger Zeit werden die aus Europa kommenden weiblichen Kajütenpassagiere auf den verschiedenen Zollhäusern der Vereinigten Staaten mit einer Rücksichtslosigkeit untersucht, welche über alle Beschreibung geht, so daß es gewiß nicht möglich wäre, auch nur eine Stecknadel am Körper einzuschmuggeln. Der Oberzollinspector in Hoboken, ein feiner und gebildeter Mann, welchem neulich eine Dame hierüber Vorwürfe machte, entschuldigte sich folgendermaßen: „Madame, es ist allgemein bekannt, daß wir Amerikaner früher selbst auf dem Zollhause die Rücksicht nicht außer Acht ließen, die man dem schönen Geschlecht schuldet, allein dasselbe mißbrauchte unsere Artigkeit in einer unerhört kühnen Weise, so daß wir uns nun zu den strengsten Maßregeln genöthigt sehen. Wir dachten früher z. B. nie daran, bei den weiblichen Passagieren eine genaue Inspection der Kleider, die sie am Leibe trugen, vornehmen zu lassen, und unsere Beamtinnen waren eigentlich nur pro forma angestellt. Nun fiel uns aber, während der Pariser Weltausstellung, die außerordentliche Corpulenz der meisten zurückkehrenden Damen auf und auch ihre Chignons hatten eine verdächtige Größe. Die Taillen der Kleider wurden daher trotz allen Demonstrirens der Damen aufgetrennt, und siehe da, es fanden sich in denselben statt der unschuldigen Watte – mit welcher man sonst der Natur nachzuhelfen pflegt und die auch in diesem Falle stets zollfrei ist – großartige Quantitäten echter Spitzen vor, während die Chignons mit ähnlichen und anderen kostbaren Artikeln vollgestopft waren. Derartige Vorkommnisse machen natürlich vorsichtig, und wir sehen uns nun genöthigt, alles unzeitige Zartgefühl bei Seite zu setzen und nur die strenge Pflicht walten zu lassen; ein trauriger Umstand, an welchem aber die liebenswürdigen Damen selbst schuld sind.“




Ein aufgewärmter Curirschwindel. Nachdem die Revalenta arabica von Du Barry trotz aller Reclame nicht mehr von Dummen gekauft wurde und deshalb einige Jahre verschollen war, soll ihr unter dem neuen Namen „Revalescière“ wieder auf die Beine geholfen werden. Dieses angeblich unübertreffliche Heilmittel, das sogar Seiner Heiligkeit dem Papste nach zwanzigjährigem fruchtlosen Mediciniren glückliche Genesung geschafft haben soll, ist nichts weiter als das Mehl von Hülsengewächs-Samen (Linsen, Bohnen, Futterwicken), und ein Pfund, welches 1 Thlr. 13 Sgr. kostet, hat kaum den Werth von einigen Groschen. Wesentlich beigetragen zur Entlarvung dieses Schwindels hat die Schrift Frickhinger’s: „Revalenta arabica des Du Barry, ein großartiger Betrug.“ Bock.     


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Zwei Regenten. Von C. N. Riotte in New-York. Mit Portraits. – Trost. Gedicht von Robert Prutz. – Aus der Welt des Schweigens. Von E. Stötzner. – Casanova und Hagenbeck. Von H. Dorner. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Deutsche Eichen. – Ein Band zwischen Haus und Schule. Von Bock. – Schöne Schmugglerinnen in Amerika. – Ein aufgewärmter Curirschwindel. Von Bock.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Gartenlaube 1859, S. 281.