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Die Gartenlaube (1869)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[417]

No. 27.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.
Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.


1.

Es war am Ende des August im Jahre 1796.

Die Tage begannen kürzer zu werden und die sinkende Sonne warf lange Schatten in eine stille weltentlegene Schlucht des Waldgebirgs, das man den Spessart oder die „Speßhardt“ nennt, den „Wald der Spechte“, in dem bairischen Kreise Unterfranken und Aschaffenburg.

In dieser Schlucht, durch deren Tiefe ein schmaler und dürftiger Wasserfaden in einem tiefen, felsigen und mit Gerölle ausgepflasterten Bette niederschoß, standen unfern von einander zwei Siedelungen – eine Mühle und ein Forst- oder Waldwärterhaus.

Die Mühle lag ein wenig tiefer, zwischen einem Stück Gartenland und einer kleinen Wiese; das Forsthaus lag einen Steinwurf höher, ein altes, in Bruchsteinen aufgeführtes Gebäude, dessen Schieferdach in der Mitte eingesunken war, so daß der hohe Schornstein wie ein steifer Reiter im Sattel aussah. Vor dem Hause lag ein kleiner Garten, in dem einige abgeblühte Stockrosen und honigduftende Phloxbüsche sich über das verfallene und morsche Lattengitter erhoben, welches das Gärtchen umgab.

Die Eingangsthür zu diesem Gärtchen fehlte – die Zeit hatte sie mit fortgenommen – vielleicht auch Jemand, der sie besser gebrauchen konnte als die Zeit, dem die alten Latten eben recht geschienen, sein Heerdfeuer damit zu nähren. An der Stelle derselben aber zwischen den beiden schiefgesunkenen Holzständern, an welchen sie befestigt gewesen, saß ein anderes zerfallenes und morsches Etwas auf einem niedrigen Schemel, und ein abgenütztes Spinnrad neben sich … eine alte Frau.

Die Frau war jedoch weder mit ihrem Spinnrad, noch auch mit dem hübschen Knaben beschäftigt, der zwischen ihren Knieen stand und sich an ihre vorgebeugte Schulter zurücklehnte, um mit großen braunen Augen die zwei Männer anzuschauen, welche vor der Alten standen; der eine in einer weißbestäubten Jacke und der andere im abgeschabten grünen Rocke, eine weiße Filzmütze auf dem Kopfe und grüne Gamaschen an den Füßen … es bedurfte des Hirschfängers an seiner Seite nicht, um einen Waldwärter oder Forstläufer in ihm erkennen zu lassen.

„Ich kann Euch nicht sagen, wann der Herr Wilderich heimkommt,“ sagte die Alte, den Forstmann ansehend; „wenn Ihr auf ihn warten wollt, so geht in’s Haus; wollt Ihr’s nicht, so sagt mir’s, was Eure Botschaft ist …“

Der Mann mit dem Hirschfänger schüttelte den Kopf.

„Für Euch ist’s nicht, Muhme!“ rief er aus.

„Kann mir’s denken,“ fiel die alte Frau ein … „bin auch nicht begierig darauf, hab’ mir die Neugier längst abgewöhnt … Gott sei gedankt … es ist gar gut, daß ich’s habe – sonst wär’s ja nicht zum Aushalten hier bei dem Herrn Wilderich! Bei dem ist Alles ein Geheimniß; man weiß nicht, wohin er geht, noch woher er kommt, und am wenigsten was es mit diesem Jungen auf sich hat, und wenn er Morgens die Büchse überwirft, dann mein’ ich immer, der geht nicht in den Wald wie ein andrer ehrlicher Förster um der Bäume und um der Holzknechte und des andern wilden Gethiers wegen, sondern um ganz andrer Dinge willen; das steht ihm im Gesichte geschrieben!“

„Nun, und um welcher andern Dinge willen sollte er denn in den Wald gehen, alte Margareth?“ fiel lachend der mehlbestäubte Mann, der mit dem Forstläufer gekommen und diesem mit seinen pfiffigen Augen zublinzelte, ein – „welche andre Dinge als das wilde Gethier sollte er auf dem Korn haben?“

„Das weiß ich nicht, und Ihr, Gevatter Wölfle, werdet’s auch nicht wissen, wenn Ihr auch noch so schlau den da anblickt, als hättet Ihr’s Euch längst an den Stiefeln abgelaufen … was ich weiß, ist nur, daß es ein gar wunderlich Gethu’ und Wesen um ihn ist und ein Hin- und Hergehen mit allerlei Botschaften und ein Heimlichthun, und daß es nimmer viel Gutes zu bedeuten hat; wenn die Männer was treiben, was sie den Frauleuten verbergen, so hat’s nimmer viel Gutes auf sich, und das, Gevatter Wölfle, sagt Eure Frau auch, Ihr könnt’s hören von ihr: der Wölfle, sagt sie, der Schlaumichel, steckt auch mit unter der Decke!“

„Ich weiß, ich weiß,“ rief der Müller sie unterbrechend aus, „was meine Frau sagt, das höre ich schon von ihr selber, Muhme Margarethe, übergenug – das könnt Ihr mir glauben! Aber wenn ich auch mit unter der Decke stecke, wie Ihr Euch ausdrückt, dann meine ich, müßte ich schon davon wissen …“

„Davon wissen? Ihr werdet viel wissen, Euch wird man Alles auf die Nase binden … dem Wölfle! – Wenn Ihr’s wißt, so sagt mir’s einmal: woher ist denn der Herr Wilderich gekommen, und wo ist er daheim, und was will er im Walde hier? Eichkätzchen schießen? Danach sieht er aus! Und was hat’s auf sich mit dem Bamsen hier, dem armen lieben Burschen, der ausschaut, als wolle er jeden Christenmenschen fragen: Sag’s mir endlich einmal, was ist’s und weshalb bin ich hier im Wald, und wo ist meine Mutter, und weshalb bin ich nicht bei der, und wohinaus soll ich laufen, daß ich zu ihr komm’? …“

„Muhme Margareth, Ihr seid dümmer, als ich geglaubt hab’,“ antwortete der Müller Wölfle. „Der Herr Wilderich wird schon wissen, wer und wo die Mutter von seinem Jungen da ist, [418] und weshalb er ihn zu sich genommen hat und nicht sie. So etwas kann schon passiren, daß ein Mann sich vor den Leuten weniger daraus macht, solch’ ein saubres Pflänzlein bei sich zu haben, als ein armes Frauenzimmer …“

„Ich muß weiter,“ unterbrach der Forstläufer diesen Discurs der zwei Nachbarsleute hier; „ich habe noch ein tüchtig Stück Wegs abzulaufen, bis ich zur Ruhe komm’ heute. Gehabt Euch wohl, Alte, und sagt dem Herrn Wilderich nur, der Sepp sei dagewesen mit einem Gruß vom Philipp Witt und mit guten Nachrichten; der Franzose sei geschlagen und das Weitere solle der Herr Wilderich vom Müller erfahren.“

„Gute Nacht,“ versetzte die Alte mürrisch, „werd’s bestellen!“

Die beiden Männer gingen davon, der Müller, um bald nachher linksab in seine Mühle zu treten, der Sepp, um rasch die Schlucht weiter hinabzuschreiten.

Die Frau stand auf, nahm ihr Spinnrad unter den Arm und an der andern Seite das Kind, das etwa drei oder vier Jahre zählen mochte, an die Hand, und ging über eine alte schief zusammengesunkene Steintreppe, welche der Kleine mit seinen kurzen Beinchen mühsam zu erklettern hatte, in’s Haus.

„So, kleines Herrchen,“ sagte sie dabei, „jetzt gehen wir heim, der Abend ist da, und wir sollen das feine Püppchen ja vor der Nachtluft hüten, so will’s der Herr Wilderich … und dann wollen wir nach dem Süpplein und dem Bettlein schauen …“

„Ich mag nicht in’s Bett, Bruder Wilderich soll mich zu Bett bringen!“ sagte der Kleine sehr bestimmt.

„Ja, ja, Bruder Wilderich soll Dich zu Bett bringen, wie er’s alle Abend thut – komm nur, komm’!“

„Ich mag nicht in’s Haus, ich will auf der Treppe sitzen, bis Bruder Wilderich kommt.“

„Auf der Treppe? Auf den kalten Steinen willst Du sitzen – bist gescheidt?!“

„Ich will aber. Bruder Wilderich hat gesagt, Du sollst thun, was ich will, Muhme!“

„Nun schau’ Einer dieses Kräutlein an,“ sagte die Alte, die Arme in die Seite stemmend, nachdem der Kleine auf der obersten Stufe ihr seine Hand entrissen. „Ob’s D’ hergehst! Kommst gleich herein! Du Rebell, Du nichtsnutz’ger!“

Ich mag nicht. Ich bleib’ hier, bis Bruder Wilderich kommt!“

„So? Nun, dann bleib’ – wart’, ich hole Dir ein Kissen, damit Du nicht auf die Steine zu sitzen kommst, Du Prinz Du!“

Muhme Margareth ging in’s Haus und kehrte gleich darauf mit einem alten ledernen Stuhlkisten zurück, das sie, murrend und scheltend, auf die oberste Treppenstufe legte, um den „Prinzen“ darauf zu setzen. Dann legte sie ihre beiden Hände an seine Schläfe, so daß sie seinen Kopf sich zuwandte, und in die leuchtenden großen, sich auf sie heftenden Augen blickend, murmelte sie:

„Krot, willmuth’ges Du; aber ein lieb’s, lieb’s Geschöpf bist doch! Ach Gott, was wird aus Dir noch werden, in diesem traurigen alten Wald hier – und mit dem ‚Bruder Wilderich‘ da!“

Sie drückte den Kopf des Kleinen zärtlich an sich, und dann ging sie in’s Haus, ihm seine Abendsuppe zu kochen.

Der Kleine saß ruhig und still eine Weile aus seiner Steintreppe, den Blick die Schlacht hinunter gewendet. Die Schatten der Bergwände wurden dunkler und schwerer, die Dämmerung begann die Schlucht zu erfüllen, und Margareth erschien wieder auf der Hausschwelle.

„Komm’, Prinz, Du mußt aber jetzt hinein, Du mußt, es wird dunkel und kalt!“ sagte sie, das Kind an der Hand nehmend, um es in’s Haus zu führen.

„Kommt Bruder Wilderich nicht?“ fragte der Kleine wie ängstlich und dem Weinen nahe.

„Gewiß, gewiß, er kommt schon, komm’ nur herein, Dein Süppchen ist fertig; es wird Dir schmecken, und wenn Du hübsch Alles gegessen hast, dann wirst Du sehen, dann ist der Herr Wilderich da, mit einem Male, und bringt Dich zu Bett.“

Der Kleine ließ sich beruhigt abführen.

Nach einer Pause erschien wieder die Alte auf der Haustreppe. Die Arme in die Seiten gestemmt, blickte sie den Weg hinauf und hinab.

„Wo der heute bleibt!“ murmelte sie. „Es ist doch sonst seine Art nicht, im Walde zu bleiben, bis die Eulen zu Bett gehn. Wenn ihm etwas Böses zustieß, und nachher säß’ ich mit seinem Kinde da! Eine schöne Bescheerung wär’s … Aber nein – da kommt er herauf … ja, ist’s denn Er … der Herr Wilderich … und wen bringt denn der daher?“

Diesen Ausruf der Verwunderung entlockte Frau Margarethe eine Gestalt, welche neben ihrem Dienstherrn die Schlucht heraufgeschritten kam und allerdings eine auffallende Erscheinung in dieser Umgebung war.

Es war eine weibliche Gestalt, und diese Gestalt trug ein schwarzes Gewand und über ihm, breit zu den Füßen niederwallend, ein weißes Scapulier und über eine weiße Haube geworfen eine schwarze Kopfumhüllung, wie sie Klosterfrauen tragen.

„Eine Nonne!“ rief Frau Margarethe aus.

Und dann schossen in Frau Margarethens Kopf sofort die wunderlichsten Voraussetzungen und Unterstellungen zusammen. Der geheimnißvolle Herr Wilderich, und der kleine Prinz, den er vor der Welt sein „Brüderchen“ nannte, und eine Nonne, von dem Herrn Wilderich hier in der Waldeinsamkeit zu dem Forsthause geleitet … das war eine Dreifaltigkeit, welche die bedeutungsvollste Combination erwecken konnte … Muhme Margareth kannte den Weltlauf viel zu gut, die alte erfahrene Margarethe, um nicht sehr schnell diese Combination zu machen!

Sie sah in äußerster Spannung dem nahenden Paare entgegen, das jetzt schon an der Mühle vorüber war … in äußerster Spannung auf die Scene, welche sich an dem Bettlein des eben zur Ruhe gebrachten „Prinzen“ entwickeln würde … Da, wie war das? Der Herr Wilderich wandte ach ja gar nicht seinem Hause zu … und die Nonne auch nicht … sie schenkte dem alten grauen Forsthause nicht einen einzigen Blick … und im Vorübergehen winkte der Herr Wilderich nur mit der Hand und rief:

„Ich komme später, Margareth!“

Die Nonne wandte jetzt ihr Gesicht ihr zu, und winkte so leise mit dem Kopf, daß es gar nicht zu unterscheiden war, ob es ein Gruß für Margareth sein solle oder nicht. Und was noch verdrießlicher, Muhme Margareth konnte nicht einmal mehr unterscheiden, ob die Nonne alt oder jung, schön oder häßlich sei … es war schon viel zu dunkel dazu … Doch jung mußte sie wohl sei; sie trat auf wie ein recht kräftiges junges Ding, und einen weiten Weg mußte sie doch gemacht haben – denn wo gab es ein Kloster hier in der Nähe? – das nächste war sicherlich fünf oder sechs Stunden weit.

Margarethe schaute den beiden Gestalten mit großen verwunderten Augen nach, so weit sie konnte. Herr Wilderich trug ein großes Bündel, die Nonne Nichts. Die Nonne ging nicht neben ihm, sie hielt sich an der anderen Seite des Weges. So schritten sie den Weg aufwärts, bis dieser sich hinter der waldigen Bergseite verlor. Wohin konnten sie in aller Welt da wollen? Jenseits der Höhe lag ein Thal, so abgelegen, so verborgen wie eines in der Welt; wer da wohnte, der konnte sich einbilden, er einsiedele auf einer noch unentdeckten Insel, oder in Amerika, oder in Afrika oder Asien; es wär’ Keiner gekommen, ihm deutlich zu machen, daß er im alten Spessartwalde sitze und nur eine kleine Stunde zu gehen habe, um an die Heerstraße von Würzburg gen Frankfurt und dann auf dieser zu richtig getauften Christenmenschen zu gelangen. Freilich, ein altes Castell lag in dem Thale, rechts auf einem Bergvorsprung; durch eine kurze Allee auf halber Berghöhe ging man darauf zu, rechts ab, wenn man in’s Thal niederstieg; aber das alte Castell war ja seit Jahren von der Herrschaft verlassen; wo die lebte und wie sie hieß, wußte Margareth gar nicht, und es wohnte nur ein närrischer alter Kauz, ein pensonirter Lieuteuant des Contingents des fränkischea Ritter-Cantons zur Reichsarmee darauf, als Verwalter oder Schösser, wie man’s nannte, und seine Knechte und Mägde, und sonst Niemand. Und zu dem bockbeinigen alten Herrn Schösser konnte doch die Nonne nicht wollen!

Das waren die Gedanken, die Fragen, die Veränderungen, mit denen Muhme Margarethe ihre schwere Last und Noth hatte, als sie endlich in’s Haus zurückging und sich dann in dem ersten Raume, der als Eingangshalle, Küche und Wohnzimmer diente, an’s Heerdfeuer setzte, um, die Hände im Schooß, murmelnd in die Holzstamme zu sehen, über der ein brodelnder Topf hing.

Enthielt der brodelnde Topf Herrn Wilderich’s Abendessen, so war dieser ein Mann von großer Anspruchlosigkeit; Margareth verwandte sehr wenig Aufmerksamkeit auf das, was sie braute.

[419] Freilich viel Dank hätte sie heute keinenfalls geerntet, wenn sie auch mehr Fleiß und Würze an den Hasenpfeffer gewendet. Herr Wilderich trat nach mehr als einer Stunde sehr rasch, fast stürmisch und höchst aufgeregt ein. Er stellte die Büchse in die Ecke, er warf die Waidtasche von sich, ohne zu sehen, wohin sie fiel. Er ging in’s Hinterzimmer zum Bette des Kleinen und drückte einen Kuß auf seine Stirn, daß das Kind sich erschrocken in seinem Schlummer umwarf. Er kam zurück und schritt in der Küche auf und ab, immer auf und ab; und daß Margarethe da war, mit all’ ihren Verwunderungen und Fragen im alten Gesicht, und daß ein sauber gedeckter Tisch da war, nahe am Feuer, und daß Margarethe eine dampfende Schüssel darauf stellte zu dem Brode und der Flasche Landweins und dem alten Kelchglase, die schon darauf standen, Alles das schien er gar nicht zu sehen, nicht zu ahnen; ebenso wenig, daß die alte Frau, nachdem sie sich wieder zu ihrem Spinnrad gesetzt, ihn mit Seitenblicken beobachtete, in denen nichts weniger lag, als die stumme Versicherung für den Mann, daß er’s mit all’ seinem Treiben und Gebühren der guten, aber etwas mürrischen alten Seele recht mache.

„Ich soll Euch sagen, der Sepp sei da gewesen, um Euch Nachrichten zu bringen, und das Weitere würdet Ihr vom Gevatter Wölfle, dem Müller, erfahren … Die Franzosen seien geschlagen …“

„Ich weiß, was der Sepp wollte,“ antwortete Wilderich zerstreut.

„Auch daß die Franzosen geschlagen sind?“

„Auch das, auch das!“

„Nun, wenn Ihr Euch nicht mehr d’raus macht – mir kann’s auch gleich sein.“

Der Förster antwortete nicht.

„Wollt Ihr nicht essen heute?“

„Gewiß, gewiß!“

Trotz dieser Versicherung setzte Wilderich seine Wanderung fort.

Margarethe folgte ihm mit ihren Blicken.

Nach einer Weile fielen Wilderich’s Blicke in diese ihm so gespannt folgenden.

Er blieb vor Margarethe stehen, und ein plötzliches heiteres Lächeln glitt über die schönen, ausdrucksvollen Züge des hochgewachsenen jungen Mannes.

„Alte Margareth, weißt Du, daß Du sehr komisch bist mit dem bösen Gesicht, das Du mir machst? Weshalb fragst Du nicht?“ rief er aus.

„Fragen? Wonach soll ich fragen? Wenn der Herr Wilderich sich nicht herabläßt, von irgend einer Sache anzufangen, wo man doch hier mutterseelenallein im Walde sitzt, daß Einem die Zunge gar noch eintrocken könnt’, und man nicht weiß, wo man das Bischen Sach’ und Zeug, an das man mindestens denken könnt’, hernehmen soll …“

Wilderich lachte.

„Und wenn wunderliche, unverhoffentliche Frauenspersonen,“ fuhr Margarethe fort, „daher gehen und es schon zeigen, daß sie mit der Margareth nicht zu thun haben wollen, sondern an der Thür still vorübergehen und in den Wald hinein, wo der Weg doch ein Ende hat und Niemand sie erwarten kann, und am wenigsten ein Kloster ist, wo solche Frauenspersonen hingehören, und wenn der Herr Wilderich als ihr Bote und Packträger nebenher zieht –“

„Nun hör’ auf, hör’ auf,“ fiel ihr Wilderich in’s Wort … „Was soll der ganze Psalm, statt daß Du mich ehrlich fragst, wie’s Dir doch das Herz abdrückt: wer war die Nonne?“

Margarethe stemmte ihre Arme in die Seite, und das Spinnrad mit dem Fuß von sich schiebend, rief sie laut und unverhohlen aus:

„Wissen möcht’ ich’s, so viel ist gewiß!“

„Nun, so geht’s Dir grad’ so wie mir!“ versetzte Wilderich.

„Ihr wißt es nicht? … Ihr wollt es nicht wissen?“

„Ich weiß es nicht, ich werde nicht klug daraus.“

„Ah … und Ihr tragt ihr doch ihr Bündel, und Ihr führt sie doch, und sie mußte Euch doch sagen, – woher sie kam, wohin sie wollte?“

„Wohin sie wollte, das hat sie mir allerdings gesagt …“

Margarethe schüttelte ungläubig und entrüstet den grauen Kopf und zog mit der Miene der Resignation wieder ihr Spinnrad an sich.

„Wohin wollte sie denn?“ sagte sie mit einem verbissenen Ton, den sie für geeignet hielt, um ihren völligen Unglauben an den Tag zu legen.

„Sie wollte nach Goschenwald drüben.“

„Zu dem rothen Herrn Schösser? Will der ein Kloster stiften?“

„Zu dem – oder vielmehr zu dem Hause, in dem der alte gestrenge Herr Lieutenant wohnt. Höre nur. Ich komme heute Nachmittag –“

„Aber wollt Ihr denn nicht essen, Herr Wilderich?“ unterbrach ihn die Alte – sie sagte es, als wolle sie andeuten, daß sich eine rechte Jagdgeschichte eben so gut über Tisch erzählen lasse.

„Nun ja, ich will endlich Deinem Ragout alle Ehre anthun,“ entgegnete Wilderich, sich an den gedeckten Tisch setzend – „aber hör’ zu. Also, ich komme heute Nachmittag durch die Kiefernbüsche oberhalb Rohrbrunn und von da auf die Würzburger Heerstraße, um so heim zu wandern; da begegnet mir der Weißkopf, der Waldmeister aus dem Siefengrund, weißt Du, und der ruft mir zu, ob ich’s schon gehört hätte, die Franzosen seien geschlagen am 24. bei Amberg in der Oberpfalz, der Erzherzog Karl habe sie gefaßt, ihr Obergeneral, der Jourdan, sei schon bis an die Wiesent zurück, Fürst Johann Lichtenstein mit seiner Cavallerie schon in Nürnberg … wenn die Franzosen sich auch noch einmal stellten, so würden sie doch gegen den Erzherzog nicht aufkommen können, so groß seien ihre Verluste. Auch flüchte sich schon Alles oben im Lande, was sich flüchten könne, vor ihren zurückfluthenden Heermassen; denn wenn der Franzose geschlagen heim marschirt, dann ist er wie ein wildes Thier und ärger als Kroat und Türke; und was dann unbeschützt auf dem Lande wohnt, was wohlhabende Leute sind, Beamte, Pfarrer und Ordensleute, die thun wohl, sich aus dem Staube zu machen, und das geschähe denn auch aufwärts am ganzen Main, erzählte der Weißkopf …“

„Wenn nur das schlechte Sansculottenvolk nicht hierher kommt!“ rief Margareth erschreckend aus … „Gott steh uns bei!“

„Sag’ lieber: Gott steh ihnen bei!“ fuhr Wilderich mit dem Ton der Drohung und des Zornes fort; „wir haben vor, ihnen an den Spessart ein Andenken mit auf den Weg zu geben, wenn sie kommen! Hab’ keine Angst. Du wirst schon sehen, was geschieht … und davon rede ich denn mit dem Waldmeister ein wenig, und dann gehn wir auseinander … er geht aufwärts und sagt im Fortgehen:

‚Seht Euch doch nach der Nonne um, die da unten an der Heerstraße sitzt – ich hab’ sie gefragt, wohin sie wolle, aber sie hat den Kopf abgewandt, ohne mir Antwort geben zu wollen – da bin ich meines Wegs gegangen; aber es ist doch seltsam, woher die Person so hierher in den Wald geschneit ist – und sie kann doch nicht allein in den Abend und die Nacht hinein laufen.‘

‚Will schon sehen,‘ sag’ ich, und gehe weiter und sehe nach einer Weile denn auch richtig eine Nonne dasitzen auf einem Stein, die Hände im Schooß und ihr Bündel neben sich; und ich gehe auf sie zu und sage:

‚Guten Abend, ehrwürdige Mutter, wie kommen Sie denn so allein, wenn man fragen darf …‘ aber damit stockt mir auch das Wort auf der Zunge, weil sie jetzt den Kopf aufhebt und mir das Gesicht zuwendet – ein Gesicht, – ich sage Dir, Margareth, so eins hast Du nie gesehen, und ich auch nicht, nie in meinem Leben; ein Gesicht so fein und schön und rührend blaß, mit großen glänzenden braunen Augen, glänzend und doch so weich, so sanft, so still, und das Gesicht dabei so fein und so rosig bleich –“

„So fein und so bleich – das habt Ihr schon mal gesagt!“ murmelte Margareth spöttisch.

„Ich sage Dir,“ fuhr Wilderich eifrig fort, „die heilige Genovefa muß so ausgesehen haben, als sie zwischen den Baumwurzeln unter der Eiche im Ardennenwald saß …“

„Nun ja, und den kleinen Schmerzenreich für die heilige Genovefa hätten wir ja auch zur Hand!“ hätte Margareth sagen mögen – aber sie verschluckte die Bosheit, denn Wilderich’s Blicke lagen so ehrlich auf ihr, er sprach mit solcher Aufrichtigkeit, daß sie irre zu werden begann an der Geschichte.

„Sie sah mich mit diesen Augen an, als wolle sie mir in der Seele lesen,“ erzählte Wilderich weiter; „und dann sagte sie leise, daß ich sie kaum verstand: ‚Ich komme von Oberzell. Ich bin sehr ermüdet. Wie weit ist noch bis zu dem Hause Goschenwald?’

[420] ,Goschenwald – das liegt in meinem Revier – ich bin der Revierförster von Rohrbrunn – wenn Sie nach Goschenwald wollen, so ist es just auch mein Weg – mein Forsthaus liegt in der Schlucht am Wege nach Goschenwald - so stotterte ich abgebrochen heraus … ,Wie weit es ist? Es wird zu weit sein, daß Sie es noch bei hellem Tage erreichen – wenn Sie ermüdet sind, heißt das, ehrwürdige …‘ ich verschluckte verlegen das Wort: ehrwürdige Mutter … solch ein junges Geschöpf? ich ward ganz roth dabei.

Sie blickte noch einmal zu mir auf – diesmal flüchtiger; dann, nach ihrem Bündel fassend, sagte sie:

‚So will ich weiter gehn, wenn Sie mir den Weg zeigen wollen.‘

Ich griff nach ihrem Bündel, es ihr zu tragen, und sie ließ es mir. Weiter zu reden wagte ich gar nicht, ich wußte nicht, wie ich sie anreden solle, aber sie selber begann nach einer Pause wieder:

‚Ich war Novize im Kloster Oberzell,‘ sagte sie. ,Es kam die Nachricht, daß die französische Armee geschlagen und im vollen Rückzuge sei; die ehrwürdige Mutter Aebtissin kündigte uns an, daß wir allesammt das Kloster verlassen und uns zu unseren Verwandten flüchten sollten. Ich habe keine Verwandte, und so gab mir die Aebtissin ein Schreiben an den Herrn Schösser von Goschenwald, weil dies Haus verborgen und abseits von der Heerstraße liege.‘

‚Und den Weg von Oberzell bis hierher haben Sie zu Fuß gemacht?’ fragte ich verwundert.

,Nicht ganz,‘ sagte sie; ,bis Heidenfeld fuhr ich mit zwei älteren Schwestern, die von da aus das Mainthal weiter hinauf reis’ten.’

,Dann blieb Ihnen doch eine gute Strecke zu Fuß zu machen übrig, bevor Sie bis hierher kamen,‘ versetzte ich.

‚Ich bin auch müde,‘ versetzte sie; ‚aber es wird ja gehen. Wenn man muß, geht Alles!’

„Ich war recht linkisch und einfältig,“ fuhr Wilderich zu erzählen fort, „ich wagte nicht, ihr meinen Arm anzubieten, als es nun in unsre Schlucht hinein und bergaufwärts ging; noch auch ihr von dem Wein zu bieten, den ich in meiner Waidtasche trug – ich ging ganz kleinlaut neben ihr her, wohl eine halbe Stunde lang. Ich weiß nicht, ob das vielleicht sie muthiger und mittheilsamer machte; denn sie begann nun zu sprechen. Sie fragte, in wessen Dienst ich stände, und ob ich Haus Goschenwald und die Menschen, welche dort wohnten, kenne, und dann, erzählte sie von dem Aufruhr und dem Schrecken der guten Nönnchen, als die Nachricht gekommen, die sie wie eine Schaar aufgeschreckter Tauben aus ihrer stillen Clausur fortgetrieben, wie die frommen Gottesbräute so hastig gepackt und kopflos durcheinander gelaufen und nach Fuhrwerk geschrieen, und wie die jüngeren sich ’s lachend gefallen lassen und die älteren geweint und gejammert – und das Alles, wie sie ’s schilderte, hatte so etwas, wie soll ich sagen, nichts Lächerliches, es war gar natürlich und selbstverständlich aber wie sie ’s erzählte, mußte ich doch ein paar Mal lachen, und es war mir, als ob das junge Mädchen trotz ihres Novizenthums und ihres schwarzen Habits doch vor dem Klosterwesen und Nonnenthum nicht den geringsten Respect habe!“

„Und dann?“ fragte Margarethe.

„Dann,“ versetzte Wilderich, „kamen wir hier am Hause vorüber und ich sagte ihr, daß ich hier wohne – allein mit Euch, Margarethe, des vorigen Revierförsters Muhme, die schon dem alten Manne lange, eine treue Pflegerin gewesen – das Haus sei alt, und das Revier groß – der Dienst sei schwer, wenn man aber dabei groß geworden und von Jugend auf dazu dressirt, so halte man’s schon aus … und da sagte sie: ‚wenn auch das Haus verfallen genug aussehe, so sei es doch mein Haus, und wenn der Wald, den ich zu hüten habe, auch weit und groß sei, so sei es doch der schöne, stille, freie Wald, in den keine Menschen mit ihrer Noth und ihrem Leid kämen, keine Menschen mit ihren bösen und verderblichen Leidenschaften – es sei doch Jeder glücklich, der ruhig und geachtet am eigenen Heerde leben könne und das Schicksal der Heimathlosen und Ausgestoßenen nicht kenne! Das sagte sie mit einem Tone, einem so traurigen und ergreifenden Tone, daß ich gar nicht wußte, was ich darauf antworten sollte – es hat mir seitdem gar nicht aus dem Kopfe herausgewollt, was für ein Schicksal es sein kann, das sie so jung in’s Kloster getrieben, daß sie jetzt sich eine Heimathlose und Ausgestoßene nannte. Ich war von dem Augenblick an so betroffen und kleinlaut, daß ich nicht mehr wagte, irgend eine Frage an sie zu stellen … Sag’ mir um Gotteswillen, Margareth, wer kann sie sein, was kann sie erlebt haben, daß sie mit so traurigen Augen in die Welt blickt, mit so traurigen Worten redet? Mein Gott, was muß ihr angethan sein, daß sie einem armen Teufel, der, wie ich, in der öden Einsamkeit dieser Waldschlucht in solch einem schiefgesunkenen Malepartus sitzt, beneidet … und dabei so jung, so schön, so bezaubernd schön? …“

Bezaubert hat sie Euch, so viel ist gewiß. Aber was kann ich davon wissen?“ rief Margarethe achselzuckend aus; „Ihr habt mir ja noch nicht einmal das Ende der Geschichte erzählt.“

„Meine Geschichte ist zu Ende – ich brachte sie bis nach Goschenwald. Erwartet war sie da nicht. Auf der Brüstung der, alten Steinbrücke vor dem Thorbau saß der alte Schösser in seiner rothen Lieutenantsuniform, die er nie ablegt; er saß steif und gerade da, der Zopf stand ihm hinten vom Kopfe ab, just so weit, wie vorn die irdene Tabakspfeife, die er im Munde hatte und aus der er blaue Dampfwolken blies, so beharrlich und still für sich hin, als ob er das Abenddunkel zurecht rauchen müsse und die Schatten der Nacht ohne seine blauen Wolken nicht fertig würden. Die Nonne trat an ihn heran, zog schüchtern und leise redend einen Brief hervor und gab ihn dem Alten, er sei von der hochwürdigen Frau Aebtissin von Oberzell. Der Schösser besah ihn von allen Seiten; dann steckte er ihn in die Tasche und sagte, es sei zu dunkel, um ihn zu lesen – dabei blieb er steif und reglos sitzen und sah uns an, bald den Einen, bald die Andere.

‚Aber es scheint,‘ sagte ich, ‚die Demoiselle rechnet darauf, in Goschenwald Aufnahme zu finden …‘

‚Die Aebtissin ließ es mich in der That hoffen,‘ fiel sie ein.

‚Bis anhero haben wir dieses ihr auch nicht verweigert!’ versetzte der Schösser, geradeaus in seine Dampfwolken blickend. ‚Trete die Demoiselle nur ein. Es soll für sie gesorgt werden.‘

Das junge Mädchen sah schweigend zu mir auf und gab mir die Hand – es war ein stummer Dank für meine Begleitung. Dann ging sie in’s Thor hinein – ich wandte mich heimwärts; der alte Schösser blickte uns Beiden nach, so gut es geschehen konnte, ohne den Kopf zu wenden, mit dem bloßen Hin- und Herwerfen der Augen. – Und damit hast Du das letzte Ende der Geschichte.“

„Das letzte Ende?“ sagte Margarethe. „Ihr seht nicht ganz danach aus, Herr Wilderich, als ob Ihr selber so dächtet – wenn diese wunderliche Nonne in Goschenwald bleiben sollte, so habt Ihr den Weg dahin wohl nicht zum letzten Mal gemacht!“

„Möglich,“ antwortete Wilderich lächelnd, „ich muß doch morgen sehen, ob der alte Lieutenant endlich auch hineingegangen, oder ob er noch immer wie versteinert auf der Brücke sitzt.“

(Fortsetzung folgt.)




Der letzte Liebesdienst.

„Leb’ wohl, Mariechen! Deine Wänglein so bleich
Sind gewiß bald roth im Himmelreich,
Wenn Du droben mit goldigen Flügeln kannst fliegen
Und die lieben Englein in Schlummer Dich wiegen.
Ach, daß Du schon todt, so ein jung jung Blut!
Und wir waren, wie Dir, keinem Kinde so gut!“

Das Mädchen spricht’s mit dem Blumenstrauß.
Wie heilig ist’s heut in dem Lehmwandhaus!
Weil eine Blume der Tod gepflückt,
Wird ganz mit Blumen die Todte geschmückt. –
Sei’s, weinende Mutter, Dein Trost im Gemüth:
Auch Deine Blume hat geblüht!

H. v. C.
[421] 

Der letzte Liebesdienst.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von Toby Rosenthal aus San Francisco.

[422]

Der Leipziger Buchhandel.

Bei der großen und tiefeingreifenden Bedeutung, welche Leipzig nicht allein für den deutschen, sondern für den Buchhandel aller Länder der Erde gewonnen hat, wird es unseren Lesern gewiß nicht unwillkommen sein, wenn wir vor seinen Augen ein anschauliches Bild von dem Leben und Treiben entrollen, welches in der Metropole des Buchhandels herrscht. Wir werden versuchen, dasselbe mit kurzen, aus dem Leben gegriffenen Zügen zu schildern, und wünschen dadurch manchen unklaren Begriffen entgegenzutreten, welche bei Vielen über den Buchhandel und das, was mit ihm zusammenhängt, verbreitet sind.

Wir haben zunächst darauf hinzuweisen, daß der Anfang von Leipzigs Bedeutung für den Buchhandel namentlich vom Jahre 1765 datirt. In diesem Jahre war es, wo die deutschen Buchhändler durch die immer mehr überhandnehmenden Beschränkungen und Bedrückungen von Frankfurt a. M., dem damaligen Centralpunkt des Buchhandels, verdrängt und namentlich durch die Bemühungen eines Nicolai, Reich u. A. nach Leipzig gezogen wurden. Der Grund zu einem deutschen Buchhändlerverein wurde in demselben Jahre gelegt, und hatte derselbe auch mit vielerlei Schwankungen und Unterbrechungen zu kämpfen, so war er doch die Basis, auf welcher sich 1825 der noch jetzt bestehende Börsenverein der deutschen Buchhändler mit 108 Mitgliedern constituirte. Welche segensreiche Früchte er trug, das wird ein Blick auf das 1836 geschaffene Gebäude „die deutsche Buchhändlerbörse“ lehren, und das wird die Angabe bestätigen, daß der mit 108 Mitgliedern entstandene Verein jetzt gegen 1000 Mitglieder umfaßt.

Und für alle diese Mitglieder bildet Leipzig den Vorort, den Mittel- und Schwerpunkt, um den die buchhändlerische Thätigkeit kreist. An seinen Commissionair in Leipzig schickt der Verleger seine Verlagswerke, damit sie dort in seinem Namen verschickt und nach den einlaufenden Bestellungen expedirt werden. Nach Leipzig schickt der Sortimentshändler alle bei ihm eingehenden Bestellungen auf Bücher, gleichviel ob sie in Deutschland oder im Ausland erschienen sind, damit sie dort für ihn gesammelt und ihm vereint zugesandt werden. Der Commissionair ist es, welcher zur Ostermesse alle Zahlungen für seine Committenten leistet oder in Empfang nimmt, und geben wir hierdurch eine kurze Andeutung über das Wesen des Commissionairs, dieses wichtigen Factors des gesammten Buchhandels, so mögen einige Zahlen sprechen, um die Ausdehnung dieses Geschäftszweiges zu erläutern. Leipzig, welches freilich theilweise nur als Uebergangspunkt, theilweise auch selbst erzeugend, in Betracht gezogen werden muß, versendete 1867 gegen 130,000 Centner Bücher, welches Gewicht im Jahre 1868 wohl ziemlich erheblich überschritten worden sein wird; bedenkt man, daß ein vielleicht ziemlich gleiches Quantum nach Leipzig einwandert, erwägt man ferner, wie oft ein einziger Bücherballen hunderte von Beischlüssen von verschiedenen Buchhändlern aus allen Weltgegenden enthält und wie dabei natürlich alles bis auf das Kleinste sorgsam pro und contra notirt und gebucht werden muß, so wird man einen Begriff von der umfassenden Thätigkeit des Commissionairs erhalten.

Haben wir den Blick zunächst über das Commissionsgeschäft, welches den Verhältnissen gemäß das bedeutendste Deutschlands ist, streifen lassen, so wenden wir uns jetzt zu dem Verlagsgeschäft und haben die Freude, auch auf diesem Zweige Leipzig als Stern ersten Ranges leuchten zu sehen. Der uns zugemessene Raum gestattet nicht, specieller auf Entstehung, Fortgang und die eigenthümlichen Verhältnisse desselben einzugehen, und es mögen deshalb auch hier wieder Zahlen sprechen, um die vorstehende Behauptung zu rechtfertigen. Nach Schürmann’s sehr empfehlenswerther Schrift „Leipzig als Centralpunkt des deutschen Buchhandels“ (Leipzig, G. Reusche), erschienen an Büchern aller Art:

  1789        1859
In Deutschland insgesammt         2115 9095
Davon in Leipzig 355 1582
Davon in Berlin 261 1299

Aehnliche Verhältnisse walten auch heute noch ob[1] und wir ersehen daraus, daß Leipzig seit langer Zeit ein Sechstel und Berlin ein Achtel der deutschen Gesammtproduction vertritt. Berücksichtigen wir dabei, daß eine Weltstadt, wie Berlin, eine große Anzahl speciell für dort berechneter Schriften, Eintagsfliegen und für den Massenabsatz berechneter Schriften hervorbringt, was hier in viel geringerem Grade der Fall ist, so steigt Leipzigs Bedeutung in hohem Grade und beweist zur Genüge, daß es auch in dieser Beziehung den ersten Platz in Deutschland einnimmt. In Bezug auf die Zahl von Zeitungen und Zeitschriften, welche in Leipzig und Berlin erscheinen, figurirt Leipzig zwar erst in zweiter Reihe (hier erscheinen etwa 128, in Berlin 194 Zeitungen und Zeitschriften); man muß aber dabei die nicht geringe Anzahl solcher Blätter in Erwägung ziehen, welche in Berlin Organ der vielen dortigen Behörden sind und in der Regel nichts als amtliche Verordnungen enthalten.

Wir können es an dieser Stelle nicht unterlassen, einen Blick auf die Ausdehnung des Zeitungswesens überhaupt zu werfen, und bitten unsere Leser, uns einen Augenblick nach der Zeitungsexpedition des Leipziger Postamts zu folgen. Treten wir hier am Hauptversandtag (am Freitag) ein, so sind wir gewiß über die kolossalen Massen der heranströmenden Wochen- und Tageblätter erstaunt. Zwölf Ober- und zwölf Unterbeamte sind fast ununterbrochen und heute namentlich bis tief in die Nacht hinein damit beschäftigt, die Zeitungen in die nach Speditionsgruppen geordneten Sortirfächer zu vertheilen, und mehr als 2000 Pakete führen sodann dem leselustigen Publicum nach allen Himmelsgegenden hin den ersehnten neuen Stoff zu. So steht das Leipziger Postamt in so fern einzig in Europa da, als es neben den vielen anderen Blättern von einer Zeitschrift (Gartenlaube) allein eine Auflage von mehr als 28,000 Exemplaren in wenigen Stunden zu expediren hat. Die angestrengteste Thätigkeit erheischt aber der Quartalwechsel, wo während eines kurzen Zeitraumes mehr als 10,000 Bestellzettel aus allen Ecken und Enden Deutschlands einlaufen und in kürzester Zeit expedirt werden müssen.

Doch kehren wir zum Leipziger Verlagsbuchhandel zurück; konnten wir die Zustände und Erfolge desselben als sehr erfreuliche bezeichnen, so mag es uns gestattet sein, hier noch einiger Unternehmungen zu gedenken, welche mit Rücksicht auf die jüngste Vergangenheit der Erwähnung verdienen.

Wir meinen das Erscheinen des funfzigsten Bandes der allgemein bekannten und geschätzten Illustrirten Zeitung von J. J. Weber und das Erscheinen des tausendsten Bandes der Tauchnitz collection of British authors. Wir meinen ferner ein periodisches Unternehmen, welches in seinen Erfolgen bis jetzt unerreicht dasteht, nämlich die von E. Keil herausgegebene „Gartenlaube“, welche jetzt in einer Auflage von 270,000 Exemplaren gedruckt und in allen Theilen der Erde verbreitet und gelesen wird. Nur nebenbei sei hier bemerkt, daß sich der Papierbedarf dieses einzigen Blattes auf 600 Ballen oder 30 Millionen Bogen im Gewicht von 14,100 Centner und einem Geldbetrage von über 200,000 Thaler jährlich beläuft und daß die Druckerei, welche vermittelst Dampfbetriebes 15 Schnellpressen größten Formats, sowie 6 Satinirmaschinen Tag und Nacht nur allein für dieses Unternehmen beschäftigt, mit der Herstellung und dem Druck einer einzigen Nummer über vierzehn Tage zu thun hat.

Nicht zufällig, sondern bezeichnend für Leipzigs literarische Bedeutung ist es wohl auch, daß fast alle bibliographischen Hülfsmittel, die der gesammte Buchhandel täglich benutzt, hier am Orte erschienen sind. Wir zählen dahin außer dem alten Georgi’schen Lexicon und den wohlbekannten Meßkatalogen die großen Bücherlexica von Heinsius und Kayser, die halb- und vierteljährlichen Hinrichs’schen Bücherverzeichnisse, die fünfjährigen von Kirchhoff begründeten allgemeinen Kataloge, sowie namentlich auch die vortrefflichen Engelmann’schen Specialkataloge über fast alle Theile der Literatur. Ebenso bildet das hier erscheinende Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, abgesehen von seinen praktischen Zwecken, den geistigen Tummelplatz für alle den gesammten Buchhandel betreffenden oder zu ihm in engerer oder weiterer Beziehung stehenden Fragen.

Wir können vom Verlagsbuchhandel nicht Abschied nehmen, ohne einen flüchtigen Blick auf diejenigen Gewerbe zu werfen, [423] welche mit ihm in naher Verbindung stehen und ein weiteres Schlaglicht auf die Kräfte werfen, welche er in Bewegung setzt. Vielleicht wäre hier der Ort, vor Allem der Autoren, der Gelehrten, der Schriftsteller[WS 1], Journalisten, der Künstler etc. vom buchhändlerischen Standpunkte aus zu gedenken, doch würde dies zu weit führen und den uns zugestandenen Raum allein mehr als ausfüllen. Wir gehen deshalb zunächst auf Leipzigs Buchdruckereien über, welche sich in dem letzten Jahrzehent zu einer überraschenden Blüthe emporgearbeitet haben. Leipzig nimmt, was Geschmack, Solidität, Eleganz und Schnelligkeit der Arbeit betrifft, den höchsten Platz in Deutschland ein, und mit Freude constatiren wir die Thatsache, daß dies das Ausland wohl zu würdigen weiß; es kommt immer häufiger vor, daß hiesige Druckereien von England, Frankreich, Rußland etc. aus beschäftigt werden, und es muß sich das Ausland um so mehr und um so häufiger hierher wenden, als sich die Preise für Satz und Druck um 25 bis 40 Procent billiger stellen, als in London und Paris. Auch die großen Auflagen mancher deutschen Journale, z. B. der in Berlin erscheinende Bazar, werden hier gedruckt, weil die Leistungsfähigkeit unserer Druckereien die aller anderen Städte überragt.

Wir zählen gegenwärtig in Leipzig und seinen sogen. Vorstadt-Dörfern 47 Buchdruckereien, von denen 28 der Leipziger Genossenschaft der Buchdrucker angehören. Diese 47 Buchdruckereien besitzen 98 Handpressen (von denen 50 im Gange), 214 einfache Maschinen (wovon 166 im Gange) und 4 große Doppelmaschinen. Beschäftigt werden dabei 1000 Gehülfen, 300 Lehrlinge und – da es nicht gut ist, daß der Mann allein sei – eine Amazonenschaar von 450 Jungfrauen.

Auch bei den Buchbindereien Leipzigs hat sich ein gewaltiger Fortschritt bemerkbar gemacht. Während sich noch vor kaum einem Decennium die hiesigen Verleger großentheils nach Berlin wendeten, um ganze Auflagen binden zu lassen, ist jetzt der umgekehrte Fall eingetreten: Berliner und andere auswärtige Verleger lassen jetzt großentheils in Leipzig arbeiten.

Die Leipziger Buchbinderinnung zählte 1830 32 Meister mit 70 Gehülfen, 1867 aber 125 Principale mit 400 Gehülfen, 145 Lehrlingen, 47 Laufburschen und 86 Mädchen, und dabei waren 82 Vergoldepressen, 78 Beschneidemaschinen, 36 Walzen, 11 Schräge- und 11 Einsägemaschinen im Gange. Diese Maschinen, die sich seitdem wohl nicht unerheblich vermehrt haben dürften, repräsentirten damals schon ein Capital von 100,000 Thalern.

In zwei hiesigen Buchbindereien, die zum Theil schon Dampfkraft benutzen, werden je hundert Menschen beschäftigt, und um einen kleinen Beweis für die sich wellenförmig erweiternde Heranziehung anderer Gewerbe zu geben, sei hier nur noch erwähnt, daß von jenen zwei Buchbindereien nur für das zum Vergolden der Einbände nöthige sogenannte Blattgold allein jährlich gegen 30,000 Thaler verausgabt werden.

Es würde zu weit führen, wenn wir ähnliche Notizen über alle übrigen den Buchhandel mehr oder weniger berührende Geschäftszweige bringen wollten. Ein ganz bedeutendes Contingent von Arbeitskräften stellen die Schriftgießer, die Xylographen, Lithographen, Photographen, die Stahl- und Kupferstecher und Drucker, die galvanoplastischen Anstalten, die Papierfabrikanten und Händler, die Maler, Coloristen, Holz- und Metallarbeiter, und endlich die Erbauer der für die Vorgenannten erforderlichen Maschinen. – Unsere vorstehenden Mittheilungen werden genügen, um einen Einblick in das so viel treibende und schaffende Element des Buchhandels zu gewinnen und seine gewaltige und weittragende Einwirkung auf andere Geschäftszweige darzuthun.

Auch der Sortimentsbuchhandel steht in Leipzig auf einer blühenden Stufe; liegt es auch in den Verhältnissen, daß sich hier nur wenige Handlungen ausschließlich mit demselben beschäftigen, so sind doch die Verbindungen derselben ausgedehnter Natur und ihr Absatz ist ziemlich bedeutend; derselbe würde ein weit größerer sein, wenn nicht, durch die Verhältnisse veranlaßt, fast jeder Verleger oder Commissionair sich mehr oder weniger mit der Lieferung von Sortiment befaßte. Man findet vielfach, namentlich bei auswärtigen Gelehrten oder Literaturfreunden, irrige Ansichten über den Leipziger Sortimentsbuchhandel verbreitet; dem Rufe unserer Vaterstadt entsprechend, glaubt man hier die großartigsten Lager der Welt vorfinden zu müssen und hofft, jedes beliebige Buch aus alter oder neuer Zeit auf denselben sofort vorräthig zu sehen. Dies ist aber nicht der Fall; abgesehen von der ein solches Ansinnen durchaus nicht rechtfertigenden Nachfrage sind die Miethen zu theuer, um größere Localitäten für diesen Zweck bereit zu halten; außerdem macht aber der Umstand, daß man den größten Theil der Bücher vom hiesigen Lager auswärtiger Verleger in kurzer Zeit haben kann, solche Lager, wie wir sie in anderen großen Städten finden, gänzlich überflüssig.

Daß der Musikalienhandel in unserem musikalischen Leipzig eine große Rolle spielt, ist leicht erklärlich. In der That hat es sich auch hierin den ersten Platz nicht blos in Deutschland, sondern in der ganzen musikalischen Welt erobert. Liegen uns auch keine statistischen Notizen, wie beim Buchhandel, vor, so glauben wir nach dem Urtheile Sachverständiger behaupten zu können, daß in Leipzig etwa ein Drittel aller in Deutschland erscheinenden Musikalien producirt wird. An der Spitze der hier bestehenden 29 Musikalienhandlungen steht das weltberühmte Haus der Herren Breitkopf und Härtel, das vor Kurzem sein hundertfünfzigjähriges Bestehen gefeiert hat. Der gegen 12,000 Nummern umfassende musikalische Verlag dieses Geschäfts repräsentirt eine wahre Geschichte der Musik des vorigen und laufenden Jahrhunderts, und dieses eine Geschäft hat in seinen verschiedenen Branchen ein Personal von 300 Personen aufzuweisen. Mehrere weit bekannte und geachtete Handlungen stehen der oben genannten würdig zur Seite, und als Schlußstein dieses Capitels möge die größte Notenstecherei Deutschlands – die Röder’sche Officin – Erwähnung finden. Dieselbe beschäftigt 140 Personen und stellt damit jährlich 24,000 Notenplatten her. Das jährlich verarbeitete Metall beträgt gegen 36,000 Pfund und der Papierverbrauch 400 Ballen oder 4 Millionen Musikbogen.

Es mag uns vergönnt sein, eine weitere Branche des Buchhandels, nämlich das Leipziger Antiquariatsgeschäft und das damit mehr oder weniger verbundene Auctionswesen zu besprechen. Während bis vor fünfundzwanzig Jahren fast nur eine Handlung (T. O. Weigel) das Monopol hatte, auf den Namen eines Antiquars im besseren Sinne Anspruch zu machen, hat sich seit jener Zeit dieser Geschäftszweig hier in einer außerordentlichen Weise ausgedehnt und es durch solide Geschäftsprincipien und Kenntniß verstanden, Leipzig auch in dieser Beziehung auf die höchste Stufe zu heben. Der größte Theil aller in Deutschland und vieler im Auslande bestehender Bibliotheken wandert, wenn die Verwerthung derselben beschlossen ist, nach Leipzig, und geht hier entweder in den Besitz eines Antiquariats über oder wird in den hiesigen Bücherauctionen für Rechnung der Besitzer versteigert.

Außer den im Leipziger Adreßbuch aufgeführten neunzehn Antiquaren, zählen wir hier jetzt sechs größere Antiquariatsgeschäfte, deren Namen weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt und geachtet sind. Jedes derselben unterhält ein bedeutendes antiquarisches Lager, und die Zahl der auf denselben befindlichen Werke dürfte sich annähernd auf eine Million Bände belaufen. Jedes derselben veröffentlicht im Laufe des Jahres eine größere oder geringere Anzahl von Katalogen, welche, streng systematisch nach Wissenschaften geordnet, ihren Lauf durch die ganze Welt nehmen und auch auf diesem Gebiete des Buchhandels ein reges Leben hervorrufen. Der Umsatz, der allein durch die Kataloge dieser 6 Handlungen erzielt wird, dürfte sich auf etwa 140,000 Thaler jährlich beziffern lassen.

Das Bücherauctionsgeschäft wird durch vier Firmen repräsentirt, welche im Jahr 1868 zwölf Auctionen abgehalten haben. In denselben wurden die Bibliotheken vieler verstorbener namhafter Gelehrten und Bücherfreunde, sowie vielfache Beiträge von Antiquaren und Verlegern versteigert. Die Summe der auf diese Weise 1868 auf den Markt gebrachten Werke beträgt 54,200 welche wir bei den vielen mehr- oder vielbändigen Werken wohl auf 200,000 Bände mit einem Erlös von etwa 50,000 Thaler veranschlagen dürfen. Gewiß eine ganz respectable Anzahl, welche den Beweis liefert, daß auch auf diesem Gebiet ein rühriges Leben herrscht.

Blieb auch auf diesem Felde das Gesammtresultat des vergangenen Jahres etwas gegen frühere Jahre zurück, so müssen wir ergänzend hinzufügen, daß schon die ersten Wochen des Jahres 1869 drei sehr bedeutende Bücherauctionen brachten, unter denen die durch die Buchhandlung von List und Francke angekaufte und im Januar versteigerte Bibliothek des Kaisers Maximilian von Mexico obenansteht. Der Name des früheren Besitzers und sein tragisches Ende waren, abgesehen vom hohen Werth der Bibliothek [424] selbst, allein geeignet, ein ungewöhnliches Interesse für diese Versteigerung hervorzurufen. Engländer und Franzosen, ja sogar ein Amerikaner (ein Abgesandter der Congreß-Library in Washington) erschienen, um sich die seltenen Schätze streitig zu machen, und so konnte es nicht fehlen, daß dabei ganz außerordentliche Preise erzielt wurden.

Wir können dieses Capitel nicht verlassen, ohne der beiden Auctions-Institute für Kunstgegenstände (Drugulin und Rudolph Weigel) zu gedenken. Dieselben haben sich längst als die bedeutendsten dieser Art in Deutschland bewährt und sind auch über seine Grenzen hinaus allgemein bekannt und geachtet.

Ueberblicken wir nun noch einmal diese Zeilen, so freuen wir uns, aus jeder derselben zu erkennen, welcher Bienenfleiß, welche Rührigkeit und Thätigkeit auf allen Gebieten des Buchhandels herrscht und mit welcher Intelligenz derselbe in Leipzig betrieben wird. Leipzig zählt jetzt ungefähr 258 buchhändlerische Firmen, welche zugleich die eingehendste Vertretung von circa 3,500 auswärtigen Geschäften übernehmen. Um die damit verbundene Arbeit zu bewältigen, sind außer den Principalen gegen 270 Gehülfen, 110 Lehrlinge und mehrere hundert Markthelfer thätig, so daß man den Personalbestand des Leipziger Buchhandels auf etwa 800–900 Köpfe angeben kann.

Und nun mögen uns unsere freundlichen Leser noch einige Augenblicke nach der deutschen Buchhändlerbörse, welche namentlich zur Ostermesse ein lebhaftes Bild bietet, folgen. War es früher Sitte, daß der größte Theil der auswärtigen Buchhändler zur Ostermesse nach Leipzig kam, um in Person die vorige Jahresrechnung mit seinen Collegen zu revidiren und etwaige Differenzen auszugleichen, so geschieht dies zeitraubende Geschäft jetzt von Haus aus, und während der Messe, die jetzt eigentlich nur vom Sonntag Cantate bis zur Mittwoch darnach währt, werden alle Zahlungen durch die hiesigen Commissionäre geleistet. Der auswärtige Buchhändler, der zur Messe kommt, gewinnt dadurch Zeit, andere Geschäftsangelegenheiten zu erledigen, und der größere Theil entschließt sich zur Reise, um sich einige Tage im Kreise vieler Collegen zu erholen, alte Bekanntschaften zu erneuern, oder neue anzuknüpfen. Die vorige Ostermesse (1868) war von etwa 320 auswärtigen Buchhändlern besucht, deren Aufenthalt sich meist auf vier bis sechs Tage beschränkte und deren Hauptvereinigungspunkt der große Saal der Buchhändlerbörse war. Die Zahlungen, welche die Leipziger Commissionäre in dieser Ostermesse pro und contra geleistet haben, belaufen sich auf drei und eine halbe Million Thaler; zieht man hierbei den täglichen Baarverkehr, die Zahlungen, die an dem in jeder Woche einmal festgesetzten Börsentage geleistet, sowie die Saldo-Rückstände, welche in der Michaelismesse erledigt werden, in Betracht, so kann man wohl eine ähnliche Summe dafür in Anschlag bringen und demnach den buchhändlerischen Geldumsatz des Leipziger Platzes, der natürlich nur einen Bruchtheil des Gesammtumsatzes repräsentirt, auf etwa sieben Millionen Thaler jährlich berechnen.

Wir können aber die deutsche Buchhändlerbörse nicht verlassen, ohne noch einiger Institute zu erwähnen, welche in derselben eine Stätte gefunden haben. Es ist die Lehranstalt für Buchhändlerlehrlinge, welche vergangenes Jahr von 79 Schülern besucht wurde. Dieselbe ist bestimmt, die jungen Männer, welche sich dem Buchhandel widmen, wissenschaftlich fortzubilden und ihnen die für ihren Stand nöthigen theoretischen Kenntnisse beizubringen. Sie steht jetzt unter der Leitung des Herrn Dr. Bräutigam und verdankt ihm, so wie dem ihm beigegebenen Lehrerpersonale viele segensreiche und erfreuliche Resultate. Gedenken wir aber auch an dieser Stelle zweier Männer, welche sich für diese Anstalt bleibende Verdienste für alle Zeiten erworben haben. Der Erste ist der verstorbene Buchhändler Friedrich Fleischer, dessen unausgesetzter Bemühung die Anstalt großentheils ihr Entstehen verdankt, und der Zweite ist der zuerst berufene Dirigent dieser Anstalt, der nachmalige Director der hiesigen ersten Bürgerschule, Herr Dr. Paul Möbius, seit Kurzem Schulrath in Gotha, welcher die Einrichtung und erste Leitung derselben mit dankenswerthem Eifer und Erfolge übernahm. Die andere Anstalt, welche wir zu erwähnen haben, ist in praktischer Hinsicht von größter Wichtigkeit. Wir meinen die Bestellanstalt oder Geschäftspost des Leipziger Buchhandels. Dieser Anstalt übergiebt jeder Leipziger Buchhändler seine eigenen Correspondenzen, so wie die seiner Committenten und empfängt dagegen von ihr drei bis vier Mal täglich alle für ihn und seine Geschäftsfreunde bestimmten Geschäftspapiere. Da sich die Zahl derselben täglich auf durchschnittlich 60–65,000 beläuft, so kann man sich leicht einen Begriff von der daselbst herrschenden Thätigkeit machen und sich leicht vorstellen, welchen Nutzen diese außerordentlich praktische Einrichtung dem Leipziger Buchhandel gewährt.

Während in früheren Zeiten der Verleger mit seinen Novitäten zur Messe zog und sie dort an seine Collegen zu verkaufen oder zu vertauschen suchte, so finden wir jetzt im kleinen Saale der Buchhändlerbörse während der Ostermesse eine geschmackvoll arrangirte Ausstellung, auf welcher sich die wichtigsten und hervorragendsten Erscheinungen der letzten Zeit oder Proben von demnächst zu erwartenden vereinigt finden. Die Ausstellung gewährt einen interessanten Ueberblick über die deutsche und fremde Literatur der Neuzeit und wird eben so fleißig von den Buchhändlern als von dem Publicum besucht und benutzt.

Hiermit schließen wir unsere kleine Skizze über den Leipziger Buchhandel. Ist es uns gelungen, dem Leser ein zwar flüchtiges, aber doch anschauliches Bild von seinem Thun und Treiben zu entwerfen, so möge er mit uns in den Wunsch einstimmen, daß Leipzigs Buchhandel fort und fort zum Segen aller ihm Angehörenden oder ihm Nahestehenden blühen und gedeihen möge!

H. F.




Am Tage nach der Schlacht.

Zur Erinnerung an den vierten Juli 1866.

Es war spät, als es andern Tags in den Bivouacs lebendig wurde. Man hatte unter Todten fest geschlafen. Nun begann das Suchen und Bestatten; furchtbare Anblicke boten sich, aber man kam darüber hinweg, die Einen durch die hohe Freudigkeit des Sieges, die Andern durch lethargische Ermattung, die Körper und Geist gefangen hielt. Noch Andere stumpften ab unter der Fülle der Eindrücke. Eine Thatsache ist es, man richtete sich ein, man machte sich’s bequem; wer schreiben konnte, schrieb; mancher Tropfen fiel auf’s Papier, aber – man lachte auch wieder. Ein Soldatenherz trauert nicht auf lange.

Wo Zeit und Ort es gestatteten, unter Obstbäumen, im Schatten einer Scheune, saß man beisammen und plauderte von den Erlebnissen des Tages vorher. Das Lieblingsthema waren natürlich die Heldenstücke. Hier erzählte man von einem fünfzehnjährigen Fähnrich, der, eben aus dem Cadettencorps gekommen, gerade so viel Kanonen erobert habe, als er Jahre zählte, dort von einem Tambour, der einen Oesterreicher mit seiner Trommel eingefangen, von einem andern, der nach Verlust seiner Trommelstöcke mit blutigen Fingern Sturmmarsch geschlagen, dort gar von einem ganzen Musikcorps, das, im Walde überrascht und eingeschlossen, mit Tuba und Posaune sich den Weg in’s Freie gebahnt habe. Besondern Beifall fand auch Folgendes. Bei Dohalitz hielt ein Fuhrwerk hinter einem Geschütz, das seine Bespannung verloren hatte. Der Kutscher sah neugierig zu. Der Batteriechef sprengte an den Fuhrmann heran: Spannen Sie Ihre Pferde vor’s Geschütz. Rasch!“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.“

„Waren Sie Soldat?“ –

„Vierte Artillerie-Brigade.“

„Da können Sie gleich den erschossenen Stangenreiter ersetzen.“

Der Fuhrmann that, wie ihm befohlen.

An andrer Stelle ließ man das Heroische und hielt sich an’s Scherzhafte.

„Wo willst Du hin mit der Gans?“

„Sie ist verwundet, Herr Leutnant, ich hab’ mich ihrer blos angenommen.“

Bei der 7. Division wußte man von der Jagd zu erzählen, an der plötzlich, auf zehn Minuten hin, Alles theilgenommen [425] hatte, als zwischen Cistowes und Chlum ein aufgescheuchter Hase erschien; pommersche Grenadiere hatten einen Generalswagen erbeutet, der von einer mit vier Jungen auf dem Wagenkissen liegenden Prince-Charles-Hündin energisch vertheidigt worden war, „energischer als manche Position“. Rührender war die Geschichte vom Hunde des sächsischen Hauptmanns; der Hund bellte und zerrte, bis man ihm in ein Kornfeld folgte, wo, mit zerschossenen Füßen und unfähig sich zu bewegen, sein Herr unter den Aehren lag.

An solch’ beweglichen Scenen war kein Mangel, und so plauderte man in den Bivouacs. – Wir aber machen einen Gang über das Schlachtfeld hin, an den Scenen vorüber, wie sie der „andre Tag“ bot. Unser Weg führt uns vom rechten nach dem linken Flügel.

Auf dem Probluser Kirchhof war man am Begraben. Man hatte meist nicht weit zu tragen, denn am dichtesten lagen die Gefallenen auf dem Kirchhof selbst. Der Kirchhof ist in allen modernen Schlachten Lieblings-Kampfesstätte; die Todten fallen zu den Todten. In den Kirchthurm hatte eine Granate ein großes Loch geschlagen, das Pfarrhaus war durchlöchert, in dem Zimmer des Pfarrers steckten eilf Kugeln. Vor dem großen Dorfbrunnen stand ein Posten, um die letzten Wasserreste für die Verwundeten zu sichern. An der Dorflisière, nach Westen zu, hinter einem Heckzaun lagen sächsische Jäger in langer Reihe; weiter nach Westen hin, von wo unser Angriff kam, unsre Sechsundfünfziger. Eben schritt ein Trauerzug auf den Kirchhof zu. Es waren Füsiliere von der neunten Compagnie, die ihren Hauptmann, von Monbart, zu Grabe trugen. Sie hatten für ihn in Eile einen schlichten Sarg gezimmert und sein letztes Haus mit Blumen geschmückt. Die Braven ehrten sich selber, indem sie ihren Führer ehrten. Als sie ihn in sein Grab gesenkt, dicht an der Kirche, kratzten sie seinen Namen in die Wand des Gotteshauses ein; eh’ die Sonne unter war, stand noch manch’ andrer Name denrunter.

Von Problus bis Mokrowons ist eine halbe Stunde. Hier war der Wiesengrund wie gepflügt. In der Meierei lagen Vierundfünfziger. Aus ihr heraus trugen sie eine Bahre, auf der zwei Todte lagen, ein galizischer Katholik, ein pommerscher Protestant. Der Ortspfarrer folgte in reichem Ornat, neben ihm ein evangelischer Geistlicher im Feldrock mit Binde und Päffchen. Der eine betete sein de profundis und Pater noster, der andre schloß mit dem Vaterunser. Der katholische Geistliche nahm die Schaufel und warf Erde in die Gruft; dann reichte er sie dem protestantischen Geistlichen, der nun ein Gleiches that. Ein Augenzeuge schreibt: „Ich hatte doch in etwas den Eindruck von dem ,ich glaube an eine heilige allgemeine christliche Kirche’.“

Neben Mokrowons liegt Dohalitzka. Mitten im Dorf, auf einem freien Platz, stand ein großes Crucifix, umgeben von fünf stattlichen Linden. In die eine war eine Granate eingeschlagen und hatte einen mannsstarken Ast wie ein Reis zersplittert; die Splitter lagen umher, das Staket war zertrümmert, aber der Gekreuzigte war unversehrt. Muß doch vor ihm alle Gewalt sich beugen! In der schönen, weithin sichtbaren Kirche befanden sich über hundert Verwundete. Einzelne hockten in den Gängen der hochgewölbten Kirche, die Mehrzahl lag um den Altar herum und blickte hinauf zu dem Bilde des Gekreuzigten. Orgel und Kanzel waren hinausgetragen, die Fenster zerschossen, und doch war das ganze Gotteshaus mit seinen Bewohnern eine gewaltige Predigt von dem „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Und sie waren mühselig und beladen. Einer lag da mit gespaltenem Schädel, so daß man auf das Hirn sehen konnte; einem andern war die Schulter weggerissen; er starb; auf einem groben leinenen Tuch (er war nicht anders transportirbar) ließen sie ihn in die Gruft hinab; da lag er in seiner Blöße und seine gebrochenen Augen, die Niemand ihm zugedrückt, schauten aus der Grabestiefe zum Himmel auf. Mangel an Allem, kein Stroh, kein Wasser. Einem österreichischen Rittmeister reichte ein Feldgeistlicher ein Bröckchen Schiffszwieback und einen Tropfen Wein; dem wieder Auflebenden stürzten die Dankesthränen aus den Augen, und er segnete die Hand, die ihm mit so Wenigem so viel gethan.

Von Dohalitzka führt ein hübscher Weg etwas bergab nach Sadowa. Es sind nur zwanzig Minuten. Hier in Sadowa lagen die Schwerverwundeten in der Zuckerfabrik zwischen den Kesseln und hydraulischen Pressen des Siedehauses. In dem Wirthshause, wohin man die verwundeten Officiere geschafft hatte, war es schon wieder leer geworden. Hier hatten Oberstlieutenant v. Pannewitz vom Regiment Elisabeth und Freiherr von Putlitz vom neunundvierzigsten ausgehaucht; schon hatten sie dem Nepomukbilde gegenüber, das neben dem Wirthshause steht, hart an der Straße „unter den Aepfelbäumen von Sadowa“ ihr Grab gefunden. Treue Hände richteten eben die schlichten Kreuze auf. Der katholische Todtengräber kniete, während die letzten Worte gesprochen wurden, am Grabe und betete mit.

Im Wirthshause mußten auch sterbende Oesterreicher gelegen haben. Eine Soldatengruppe, Pommern vom Colberger Regiment, fanden eben ein kleines Amulet zwischen den Ritzen der Dielen und mühten sich die Inschrift zu entziffern. Es glückte erst, als ein Officier herantrat. Die Inschrift war in französischer Sprache: „O Maria, ohn’ Sünd’ empfangen, bitt’ für uns.“ Es mochte vom ungarischen Oberst Serinny, Commandeur des Regiments Würtemberg, hier verloren sein, der die Nachtstunden, ehe man ihn nach Horsitz schaffte, in diesen Räumen zugebracht hatte. Oberst Serinny, als der Johanniterritter v. Werder ihm ein Stück Commißbrod und ein Restchen Madeira gab, hatte es mit den Dankesworten hingenommen: „Und ich, ich darf nicht einmal wünschen, Ihnen einen gleichen Liebesdienst leisten zu können.“

In Ober-Dohalitz, das nur aus zehn bis zwölf Häusler-Etablissements besteht, sah es grausig aus. Aus diesen Häusern, als sie in Brand gerathen waren, hatten sich alle Verwundeten, die sich noch bewegen konnten, meist Oesterreicher, in die Höfe und Gärten geschleppt; die anderen waren verbrannt. Jene hatten seit vierundzwanzig Stunden kein anderes Labsal gehabt als den Nachtthau. Als endlich Hülfe kam, hörte man nichts als den Ruf woda, woda, und wenn ihnen Wasser aus einem nahe gelegenen Teich gereicht wurde, klang es Dzieki, Dzieki von ihren zitternden Lippen.

Aehnlich wie im Hola-Walde, an dessen Südspitze Ober-Dohalitz liegt, sah es im Swiep-Walde aus und in den Dörfern, die ihn umgeben, in Cistowes, in Benatek, in Maslowed und weiter zurück in Cerekwitz.

In Cistowes lagen viele Siebenundzwanziger und Gardefüsiliere. Dazu welche Bilder auf der Dorfgasse! Ein Jäger, an die Wand gelehnt, auf sein Gewehr gestützt, war stehend gestorben. In einem Brunnen mit zertrümmerter Einfassung lag ein todter Ulan, mit dem Pferde hineingestürzt. Eine der Scheunen war mit österreichischen Verwundeten überfüllt. Einer, ein Banater vom Regiment Coronini, war durch die Brust geschossen. Unter jammervollem Keuchen bemühte er sich krampfhaft, den Mantel von der blutbedeckten bloßen Brust wegzuziehen; es wollte nicht glücken; Keiner verstand ihn; endlich bemerkte man, daß noch dreißig Patronen in der Tasche seines Mantels steckten, deren Gewicht ihm fast den Athem geraubt hatte.

Cerekwitz, außerhalb des eigentlichen Schlachtrayons gelegen, bot wenig Bilder der Zerstörung; aber in seinem Schlosse, das zu einem großen Lazarethe eingerichtet war (Geheimer Rath Dr. Wilms leitete dasselbe später in einer auch vom Feinde als musterhaft anerkannten Weise), reihte sich Lager an Lager. Auf dem einen lag Hauptmann v. Westernhagen vom 27. Regiment, durch die Brust geschossen. Er hatte die Hoffnung aller Lungenkranken und Verletzten.

„Ich denke wieder besser zu werden.“

Der Arzt tröstete ihn.

„Steht es so um mich? Nun, wie Gott will.“

Nicht weit von ihm lag ein anderer Officier von der siebenten Division. Er wußte, daß es zu Ende ging. Als der Geistliche an sein Bett trat, sagte er leise:

„Ich fühle, daß meine Wunde tödtlich ist. Meine Sünden, deren ich viele begangen habe, thun mir herzlich leid und ich wünschte wohl, daß ich ein neues Leben anfangen könnte. Ach, in der Jugend lebt man so dahin.“ Danach ward er still; dann sagte er: „ich werde wohl sterben, ob ich schon noch leben möchte.“

In die Halle des Schlosses wurde ein 66er Füsilier getragen; man hatte ihn erst spät im Kornfeld gefunden; nun legten sie ihn nieder auf die Fliesen. Er war durch den Mund geschossen und ein dicker Blutschaum stand auf seinen Lippen. Als einer der Diaconen an ihn herantrat und ihm einen Trunk Wein anbot, erwiderte er: „Ach ja, wie gern, aber ich mache Ihnen ja die Flasche schmutzig.“

[426] Wer es hörte, dem traten die Thränen in die Augen, bei diesem Zeugniß von Selbstverleugnung.

Auch im Schlosse von Horenowes war ein Lazareth. Hier lag Oberst v. Zychlinski, für den sein Muster-Bursche einen mächtigen Topf Rahm in einem Versteck entdeckt hatte. Als der Rahm den Obersten erquickt hatte, trat Pastor Bester aus Waldenburg den Rahmtopf wie eine Erbschaft an. Freund und Feind wurden mit diesem Leckerbissen gespeist und ein österreichischer Hauptmann vom Regiment Mecklenburg, der beim „preußischen Erbsenwerfen“, wie er sich ausdrückte, zwei Kugeln in den Arm erhalten hatte, erklärte ein Mal über das andere, daß ihm in der „ganzen verflixten Campagne“ nichts so geschmeckt habe wie dieser Topf Rahm. – Aber solcher heiteren Bilder waren nicht viele. Der Major Noak de Hunyad vom Regiment Sachsen-Meiningen, ein Serbe von Geburt und nur leicht verwundet, eilte durch alle Gänge des Schlosses und rief nach einem Geistlichen: „ein Unterofficier seines Regiments sei am Sterben“. Endlich fand er, was er suchte. Ein lutherischer Geistlicher trat an das Lager des griechisch-katholischen Szegediners und reichte ihm das Abendmahl. – Um dieselbe Stunde wurden Gefangene in den Schloßhof gebracht, elf an der Zahl. Sie hatten vom Saum des Swiep-Waldes aus auf eine unserer Patrouillen geschossen und waren umstellt und aufgehoben worden. Bei mehreren fanden sich Patronen in den Rocktaschen, bei einem alten Graukopf einige Dutzend Zündnadel-Patronen im Aermel. Einer war mit dem noch warmen Gewehrlaufe in der Hand gefaßt worden; die anderen hatten die Gewehre fortgeworfen.

Wahrscheinlich waren diese elf Strolche (vier von ihnen sollen später gehängt worden sein) ein Bruchtheil jener Bande, die in der Nacht vom dritten auf den vierten auf dem ganzen Schlachtfelde, namentlich aber im Hola- und Swiep-Walde, die Todten geplündert und – es muß gesagt sein – viele von den Verwundeten elendiglich gemordet hat, um auch sie dann als Todte ausrauben zu können. Es ist nur allzu beglaubigt, daß Cannibalen-Thaten aller Art geschehen sind, Thaten, unter denen die Geschichte vom abgeschnittenen Finger, um den Ring leichter abstreifen zu können, zu den harmloseren zählt. Von dem Schrecklichsten mag der Schleier ungelüftet bleiben. Nur Folgendes finde Platz hier:

Ein Officier schreibt: „Ich hatte am 4. Juli du jour und mußte das Schlachtfeld passiren. Ganze Reihen lagen todt neben den Gewehren, stürmend von den Kartätschen niedergerissen; daneben die Trophäen unseres Sieges, Waffen, Gewehre, Pulverwagen, Kanonen. Auf einer derselben stand mit Kreide: ,Diese Kanone habe ich erobert. Gottlieb Zanke.’ Darunter hatte ein Anderer geschrieben: ,Das ist nicht wahr; ich nahm sie. K. Hencke.’ Doch ich will Dir von Anderem erzählen. Wir kamen in ein Gehölz, das zwischen den drei Dörfern Cistowes, Benatek und Maslowed liegt (der Swiep-Wald). Hier hatte der Kampf am meisten gewüthet; eine Menge todter Oesterreicher lagen unter und über einander, etwas entfernter sahen wir Gesindel, das beschäftigt schien, die Leichen zu plündern. Um sie wie Raubvögel zu verscheuchen, schossen wir unsere Revolver ab. Und wirklich, sie verschwanden oder schienen zu verschwinden. In demselben Augenblick, wer beschreibt unser Erstaunen! erhoben sich wohl zwanzig von den Todtgeglaubten, streckten uns flehend ihre Arme entgegen und baten mit schwacher Stimme um Wasser. Das Wenige, was wir bei uns hatten, war bald verbraucht. Ich versprach einem österreichischen Oberst, der vorn am Gehölz lag, sobald als möglich mit Wasser und einem Arzt wiederzukommen, und ritt nach dem nächsten Dorf. Aber wo hier Hülfe hernehmen! Endlich glückte es, aber wohl zwei Stunden mochten vergangen sein. Als wir in den Wald zurückkamen, erkannten wir den Platz kaum wieder. Die Oesterreicher alle geplündert, ohne die Uniformen lagen sie da, keiner regte sich mehr. Ich trat heran und rief: ,Hier ist Wasser, Wasser!’ Alles vergeblich, still blieben sie. Den österreichischen Obersten konnte ich unter den Todten nicht mehr herausfinden. Entsetzt verließen wir den Wald.“[2]

Vom Swiep-Walde aus wandten wir uns nach Chlum, um hier unsere Wanderung zu schließen. Es wird erzählt: „General Herwarth v. Bittenfeld sei am 4. früh von Problus nach Chlum hinüber geritten; seine Söhne standen in der Garde; sein Vaterherz wollte wissen, wie’s ,drüben’ abgelaufen sei. Als er von Rosberitz nach Chlum hinaufritt, hielt er an, sah in den Hohlweg hinein und sagte dann kopfschüttelnd:, Das geht über Problus.’ Und – es ging über Problus!“ .

Ein Feldgeistlicher schreibt: „Welch ein Anblick wartete unser hier, als wir endlich Chlum erreichten! Gleich am Ausgange des Dorfes, in einem Hohlwege, begegneten wir den Hufspuren des ,rothen Pferdes’, von dem die Apokalypse spricht. Schritt vor Schritt wuchsen die Würgezeichen. Unsere Ponies scheuten – ein todtes Pferd lag am Wege, dort wieder eins, daneben noch die Leiche eines Reiters, eines österreichischen Ulanen, der seinen Säbel in erstarrter Faust hielt. Auf beiden Seiten des Weges, dessen lehmiger Boden reichlich roth gefärbt war (ein anderer Bericht sagt: ,Wie ein rother Bach kam es den Hohlweg herunter’), zwischen zertrümmerten Wagen und Kanonen, lagen Haufen von Todten. Die schönen großen Leute vom ersten und dritten Garde-Regiment, Garde-Füsiliere vom Bataillon Waldersee, Braunsberger Jäger und Füsiliere vom zweiten Garde-Regiment deckten hier mit ihren Leibern die Wahlstatt. … So kamen wir bis auf den Kirchhof. Welch’ grellen Mißton gab heute der Name ,Friedhof’! Jedes Grab eine Würgebank!“

In der Chlumer Kirche, deren Thurm und Dach von mehreren Granaten getroffen war, lagen die Verwundeten in so dichten Schichten, daß man mit äußerster Behutsamkeit zwischenhin gehen mußte, um keinen zu verletzen. Auf dem Altarplatz ruhte, in seinen Feldmantel gehüllt, General v. Hiller; auf dem edlen Angesicht hatte der Tod die Freundlichkeit, die ihn im Leben kennzeichnete, nicht ausgelöscht, sondern verklärt. Neben ihm lag Major v. Neuß. Mancher von den Verstümmelten sah auf die Todten und seufzte vor sich hin: „Wär’ ich erst so weit!“ Gebete wurden gesprochen; deutsch, polnisch, böhmisch, ungarisch klang es laut und leise durcheinander. In der Sacristan-Wohnung neben der Kirche lagen in einem Zimmer zwei preußische Officiere, Lieutenant v. Pape, vom zweiten Garde- und Hauptmann v. Braun vom 43. Regiment, beide dem Tode nahe. Lieutenant v. Pape, mitten durch die Leber geschossen, litt schwer; keine Lage zur Linderung seiner Schmerzen war ihm zu verschaffen. „Ach, es geht auch so nicht!“ klagte er mit erlöschender Stimme. Er fühlte, wie es um ihn stand. Hauptmann v. Braun, durch die Lunge getroffen, lechzte nach einem Trunk Selterwasser. Und doch gab es kaum Wasser in Chlum. Die Brunnen waren theils ausgeschöpft, theils absichtlich (in unglaublicher Verblendung von Seiten unserer Feinde) verschüttet und verunreinigt. Mit vieler Mühe mußte das Wasser von dem am Fuß des Dorfes gelegenen Teiche heraufgeholt werden. Kam dann ein frischer Trunk, so streckte Alles die Hände aus: „Geistlicher Herr, i bitt’, mir auch, mir auch, i bitt’!“

Am vierten Juli Abends war Begräbniß auf der „Höhe von Chlum“, an selbiger Stelle, auf welcher der Sieg des vorhergehenden Tages zur Entscheidung gebracht worden war. Der Platz bot eine weite Umschau über den größten Theil des weiten Schlachtfeldes. Neben dem für General v. Hiller bestimmten Grabe waren noch neun andere Gräber aufgeworfen, welche die Leichen der übrigen gefallenen Officiere der ersten Garde-Division aufnehmen sollten. Die Mehrzahl derselben, in Folge eines mißverstandenen Befehls, war aber schon an der Kirche von Chlum bestattet worden. Nur Obristlieutenant v. Helldorf fand neben v. Hiller seine Ruhestätte. Unweit der Gräber war ein großer Theil der erbeuteten Geschütze aufgefahren. Der König, um seinen gefallenen General auch im Tode noch zu ehren, war aus dem zwei Stunden entfernten Hauptquartier zur Beerdigung herbeigekommen; auch die Prinzen wohnten der Feier bei. Die Officiere der Division waren vollzählig erschienen. Divisionsprediger Rogge trat an die Gräber und sprach über den Text: „Die Edelsten in [427] Israel sind auf deiner Höhe erschlagen. Wie sind die Helden gefallen!“ Mit sichtlicher Bewegung, nach beendigter Feier, warf der König seine Handvoll Erde in die beiden Gräber; dann hieß es: „Legt hoch an!“ und die Kugeln pfiffen über die Todten hin.

Am andern Tage begrub Oberst v. Pape seinen einzigen Sohn. An der Nordseite der Kirche von Chlum war ihm von seinen Cameraden die letzte Ruhestätte bereitet. Die Gruft war mit grünen Zweigen und Laub ausgelegt; in vier Soldatenmäntel eingehüllt, wurde der Dahingegangene in dieselbe niedergelassen. Die Regimentsmusik blies den Choral: „Was Gott thut, das ist wohlgethan“, und zum Schluß: „Wie sie so sanft ruhn“. Der Geistliche, der die Feier leitete, schreibt: „Da hab’ ich gesehn, wie stark der Christenglaube macht. Wohl mochte des Vaters Herz aus vielen Wunden bluten, als er den Sohn hier in fremder Erde zurücklassen mußte, aber er blieb standhaft und fest, und als die Feier geendet und das Grab geschlossen war, wandte er sich an die um dasselbe versammelten Officiere seines Regiments mit den Worten: ‚Meine Herren, das liegt hinter uns, wir aber gehen vorwärts mit Gott für König und Vaterland‘.“

Auf dem weiten Felde hin überall ein Begraben, meist still, in großen Gräbern, ohne Sang und Klang, kaum daß die Liebe der Cameraden Zeit fand, ein schlichtes, namenloses Kreuz aufzurichten. Aber auch ihnen, den Namenlosen, schlägt dankbar unser Herz.

Am fünften Juli brach die Armee auf, um südwärts zu marschiren. Die Arbeit war gethan; die Verwundeten hatten ihr Lager, die Todten ihr Grab. Freilich nicht alle; es waren ihrer zu viele; noch am achten war das Feld nicht völlig klar.[3] Ein Officier vom vierten Corps, der an genanntem Tage von Nedelist aus, wo er ein Commando hatte, einen Ritt über das Schlachtfeld machte, hat uns folgende Schilderung gegeben:

„Verflossenen Sonntag ließ ich mein Pferd satteln, die ,Bella’, die Ihr kennt, um einmal ganz allein das Schauerliche des Schlachtfeldes zu sehen. Das war jedenfalls für mich an diesem Tage das Beste: ich hatte nichts um mich her als meinen Burschen und einen großen schwarzen Jagdhund, das Geschenk eines sterbenden österreichischen Officiers. Die untergehende Sonne warf bereits ihre letzten Strahlen auf das Feld, als ich aus Nedelist herausritt, und der kühle Abendwind trieb mir den Leichen- und Blutgeruch entgegen. Einen nicht an diesen Geruch Gewöhnten würde eine Ohnmacht angekommen sein: ich kannt’ ihn schon und ritt weiter, um nach Chlum und Sadowa zu gelangen, wo die Hauptschlacht geschlagen worden war. - Todtenstille herrschte ringsum, welche nur manchmal durch die Unruhe meines Pferdes und Hundes unterbrochen wurde. Beide vertrugen den scharfen Blutgeruch nicht; sobald wir an eine Stelle kamen, wo ein Verwundeter gelegen hatte, schnaufte Bella mit weit geöffneten Nüstern und stampfte mit den Hufen auf den Boden, der Hund ging in großen Kreisen um die bezeichnete Stelle herum und heulte fürchterlich. Erst nach einer Aufmunterung mit den Sporen ging das Pferd ruhig über Alles hinweg und jagte endlich eine Lerche auf, die zwar singend in die Höhe stieg, aber einen Gesang anstimmte, wie ich ihn sonst bei Lerchen nie gehört habe. Es klagte mehr, als es schmetterte. Dieser Vogel war seit mehreren Tagen der erste, der mir zu Gesicht kam, denn während des Schlachtenlärms hatten sich die freundlichen Sänger entfernt. Ohne ein gewisses Ziel zu verfolgen, ritt ich weiter und gelangte zu einer Muttergottesstatue. Ach, welch ein trauriges Schauspiel bot sich hier dar! Um sie herum lagen zwanzig Todte, einige mit halbgeöffneten gebrochenen Augen, die nach dem Muttergottesbilde hin gerichtet waren. Andere hielten Rosenkränze und Crucifixe in den Händen: sie hatten wahrscheinlich bis zu ihrem Ableben gebetet; nur Einer hatte ein Spiel Karten vor sich liegen, von denen er eine krampfhaft in der erstarrten Hand hielt. An den Leichen zeigten sich die verschiedenartigsten Wunden. Einem Jäger hatte die Kugel den ganzen Hinterkopf weggerissen. Jedenfalls sind an dieser Statue mehrere gefallen, und andere Verunglückte sind zu ihnen gekrochen, um daselbst ihr Leben zu beschließen. Ich sprang vom Pferde und kniete nieder, um für die Todten zu beten.

Ueber Westar und Sweti ritt ich zurück. Dicht bei Sweti auf einer hochgelegenen Stelle, wo eine Batterie gestanden haben mochte, ragte eine Wischerstange auf. An die Stange lehnte sich ein österreichischer Artillerist wie schlafend; unter jeden Arm hatte man ihm eine Kugel geschoben. Wie ein Schatten stand das Ganze an dem immer dunkler werdenden Himmel. Es erschütterte mich tief. Ich nahm das Bild mit in meinen Traum.“

Th. Fontane.




Schiller und Margarethe Schwan.

Von J. Leyser.

An einem Sommerabend des Jahres 1784 sah man zu Mannheim in einem jener stattlichen Häuser, welche den Paradeplatz umsäumen, eine ausgesuchte Gesellschaft versammelt, die mit gespannter Aufmerksamkeit der Declamation eines jungen Mannes lauschte, der einige Scenen aus seinem neuesten Drama: „Louise Millerin“ vortrug. Der jugendliche Dichter mit dem gesenkten, sinnenden Haupte und den glänzenden Augen, mit der hohen, weiten Stirn, auf welcher ewige Gedanken zu thronen schienen, es ist Friedrich Schiller, dessen Locken bereits die ersten Lorbeeren des entzückten Vaterlandes schmückten. In seiner Nähe gewahren wir den Herrn des Hauses: der Mann mit den feingeschnittenen, geistreichen Zügen ist Schiller’s treuer Freund und Verleger seiner ersten Schriften, der Buchhändler und kurfürstliche Hofkammerrath Christian Friedrich Schwan, selbst thätiger Schriftsteller, von Lessing und Wieland, von Herder und Goethe hoch geachtet. Und von jenen beiden Frauengestalten, vor Kurzem erst aufgeblüht zu wunderbarer Schönheit, die an des Dichters Lippen hängen, ist die Eine Schwan’s älteste Tochter, Anna Margarethe, auf deren Namen durch ihr Verhältniß zu Schiller ein Strahl der Dichtkunst gefallen ist; die Andere die vertraute Freundin Margarethens, die reizende, talentvolle Schauspielerin Fräulein Ziegler, die als „Louise“ in „Cabale und Liebe“ und als „Leonore“ in „Fiesco“ mächtig alle Zuhörer ergriff und von der ein Zeitgenosse schreibt: „Nie habe ich solche Accente wieder gehört, noch die Melodie der Liebe, wie sie in Fiesco’s Gattin von diesen Lippen tönte.“ Und dort jene feine Gestalt von etwas aristokratischer Haltung, doch mit mildem, angenehmem Ausdruck auf dem Angesicht, es ist der Begründer und Intendant der berühmten Mannheimer Bühne, Wolfgang Heribert Reichsfreiherr v. Dalberg; an seiner Seite bemerken wir einen der größten Schauspieler, auch als dramatischer Schriftsteller berühmt, August Wilhelm Iffland. –

Unsere Leser kennen jene tragische Wendung in Schiller’s Leben, die den ehemaligen Regimentsmedicus zu Stuttgart der Heimath entrückt und nach der freundlichen Neckarstadt verschlagen hat.

Im April 1781 war der Druck der „Räuber“ begonnen worden. Um dem Werke eine größere Verbreitung zu sichern, schrieb Schiller noch vor beendigtem Druck an Schwan, dem er zugleich die sieben ersten fertigen Bogen überschickte. Voll Enthusiasmus lief Schwan, wie er in einem Brief an Schiller sich ausdrückt, sogleich zu Dalberg und las ihm das Bruchstück „brühwarm“ vor. Dalberg forderte nun den Dichter auf, sein Stück für die Mannheimer Bühne zu bearbeiten, und so wurde es denn mit verschiedenen Abänderungen, gegen die Schiller vergebens sich sträubte, in dessen Gegenwart am dreizehnten Januar 1782 in Mannheim aufgeführt. Auch zur zweiten Aufführung der „Räuber“ (am fünfundzwanzigsten Mai) war er ohne Urlaub nach Mannheim gereist, bekam Arrest und fiel in die Ungnade seines Landesherrn. Aber je drückender seine Lage wurde, desto mehr [428] regte sich sein Freiheitstrotz. Während das allgemeine Interesse den Festlichkeiten sich zuwandte, die auf dem Lustschloß Solitude zum Empfange des Großfürsten Paul von Rußland stattfanden, war Schiller unbemerkt mit seinem getreuen Streicher entflohen.

Es liegt unserer Aufgabe fern, diesen dritten Aufenthalt Schiller’s zu Mannheim und Oggersheim zu schildern sammt der Noth, mit welcher er dort kämpfte, und den niederschmetternden Täuschungen, die er durch Dalberg erfuhr. Unter den Wenigen, die damals dem unglücklichen Dichter treu zur Seite standen, befand sich Schwan. Hatte Dalberg den „Fiesco“ als unbrauchbar zurückgewiesen. Schwan, in gerechter Bewunderung der Tragödie, übernahm den Druck derselben, das hierfür gewährte Honorar reichte hin, die Wirthshausschuld zu Oggersheim zu decken und die Kosten zur Reise nach Bauerbach bei Meiningen, wo eine edle Dame, die Freifrau v. Wolzogen, dem Dichter die Ruhe eines einsamen Aufenthaltes anbot, zu bestreiten.

Was die Beziehungen Schiller’s zur Familie Schwan während dieses Zeitraums betrifft, so fließen die Quellen hier äußerst spärlich. Doch können wir einen Schluß ziehen aus einem Briefe Schiller’s an Schwan (Bauerbach, den achten December 1782), worin es heißt: „Bei meiner neulichen schnellen und heimlichen Abreise war es mir unmöglich, von Ihnen, mein bester Freund, Abschied nehmen zu können. Ich thue es jetzt und sage Ihnen für Ihre zärtliche Theilnahme an meinen Schicksalen den aufrichtigsten Dank. Meine damalige Verfassung gab mir Gelegenheit genug, meine Freunde auf die Probe zu stellen, und so unangenehme Erfahrungen mir dabei aufstießen, so bin ich doch durch die Bewährung einiger weniger Freunde genug schadlos gehalten.“ Wir entnehmen es ferner aus einem Brief, den Schiller’s Vater an demselben Tage von Solitude an Schwan richtete: „Ew. Hochedelgeboren“ – so heißt es darin – „haben meinem Sohne, dem Dr. Schiller, so ausnehmend viele Freundschaft erwiesen, daß ich mich höchst verbunden erachte, Ihnen meinen aufrichtigsten Dank dafür abzustatten, mit dem eifrigsten Wunsch und der gehorsamsten Bitte, daß es Ihnen gefällig sein möchte, diesen jungen Mann auch fernerhin Ihrer schätzbaren Gewogenheit empfohlen sein zu lasten.“

Zu Bauerbach, auf seiner „literarischen Wartburg“, sollte Schiller nicht allzu lange in poetische Entwürfe sich vertiefen. Es war eine Sirenenstimme, schreibt Streicher, die ihn nach Mannheim zurückrief, die schmeichelnde, verlockende Stimme Dalbergs und so schied er nach siebenmonatlichem Aufenthalte von seiner Wohltäterin. Am achtundzwanzigsten Juli 1783 treffen wir ihn wiederum zu Mannheim, wo er eine anmuthige Wohnung neben dem Schloßplatz bezog. Zum Umgange war ihm neben dem Dalberg’schen das Schwan’sche Haus am liebsten. „Die Frauenzimmer“ – schreibt er am dreizehnten November an Fr. v. Wolzogen – „bedeuten hier sehr wenig und die Schwanin ist beinahe die Einzige, eine Schauspielerin ausgenommen,“ (er meint hier die frühverstorbene Karoline Ziegler) „die eine vortreffliche Person ist. Diese und einige Andere machen mir zuweilen eine angenehme Stunde; denn ich bekenne gern, daß mir das schöne Geschlecht von Seiten des Umganges gar nicht zuwider ist.“ Wie ein Gebild aus Himmelshöhen trat die siebenzehnjährige, liebenswürdige und geistvolle Margarethe Schwan dem empfänglichen Dichter entgegen und verdrängte schnell die Neigung, die eben erst für Charlotte v. Wolzogen in seinem Herzen zu keimen begonnen hatte.

Margarethe Schwan war, wie Frau von Wolzogen berichtet, damals, in ihrem siebenzehnten Jahre, ein sehr schönes Mädchen mit großen, ausdrucksvollen Augen und von sehr lebhaftem Geist, der sie mehr zur Welt, Literatur und Kunst, als zur stillen Häuslichkeit hinzog. Im gastfreien Hause des Vaters, welches ein Vereinigungspunkt für Gelehrte und schöne Geister war, gewann sie schon in früher Jugend eine ausgezeichnete Bildung, lernte aber auch die Kunst, diese Vorzüge geltend zu machen.

Die Züge ihres Bildes, das noch heute die Familie Götz zu Mannheim aufbewahrt, sind nicht ohne einen Anflug von Stolz und von Strenge.[4] Margarethe war gewöhnlich zugegen, wenn Schiller ihrem Vater das Netteste, was er gedichtet, vorlas; allmählich mischte das Herz sich mit ein, und schon bezeichnete die öffentliche Stimme Margarethen als Schiller’s Verlobte. Gleichwohl kam es nicht zu einem entscheidenden Schritte, selbst damals nicht, als Schiller’s Verhältniß zur Mannheimer Bühne immer mehr sich löste und er sich bereits anschickte, einer Einladung Körner’s nach Leipzig zu folgen.

Es war ein düsterer Märzabend, als der Dichter schweren Herzens Margarethen die Hand zum Abschied reichte, die in all ihrer Lieblichkeit und voll inniger Rührung vor dem Scheidenden stand und ihn nicht entließ ohne ein freundliches Andenken. Mit dem Frühroth des nächsten Morgens warf Schiller der Neckarstadt die letzten Scheidegrüße zu. Er hat Mannheim nicht wieder gesehen.

„Töne, Wandermelodei,
Durch die öden Straßen!
Wie so leicht einander doch
Menschen sich verlassen! …“

Am 17. April 1785 war Schiller zu Leipzig angekommen und schon acht Tage darnach hielt er bei Schwan um die Hand seiner Tochter an. Nachdem er in dem betreffenden Briefe zuerst seine Reise nach Leipzig und seine dortigen Bekanntschaften geschildert, fährt er also weiter: „Hier bin ich Willens, sehr fleißig zu sein, an dem ‚Carlos‘ und der ‚Thalia‘ zu arbeiten, und was Ihnen vielleicht das Angenehmste zu hören sein wird, unvermerkt mich wieder zu meiner Medicin zu bekehren. Ich sehne mich ungeduldig nach dieser Epoche meines Lebens, wo meine Aussichten gegründet oder entschieden sein werden, und wo ich meiner Lieblingsneigung blos zum Vergnügen nachhängen kann. Ueberhaupt hab’ ich ja die Medicin ehemals con amore studirt, soll ich das jetzt nicht um so mehr können? Sehen Sie, bester Freund, das könnte Sie allenfalls von der Wahrheit und Festigkeit meines Vorsatzes überzeugen dasjenige aber, was Ihnen die vollkommenste Bürgschaft darüber leisten dürfte, was alle Ihre Zweifel an meiner Standhaftigkeit verbannen muß, hab’ ich noch bis auf diese Minute verschwiegen. jetzt oder nie muß es gesagt sein. Nur meine Entfernung von Ihnen giebt mir Muth, den Wunsch meines Herzens zu gestehen. Oft genug, da ich noch so glücklich war, um Sie zu sein, oft genug trat dies Geständniß auf meine Zungen aber immer verließ mich meine Herzhaftigkeit, es herauszusagen. – Ihre Güte, Ihre Theilnahme, Ihr vortreffliches Herz haben eine Hoffnung in mir begünstigt, die ich durch nichts, als Ihre Nachsicht und Freundschaft zu rechtfertigen weiß. Mein freier zwangloser Zutritt in Ihrem Hause gab mir Gelegenheit, Ihre liebenswürdige Tochter ganz kennen zu lernen, und die freimütige gütige Behandlung, deren Sie Beide mich würdigten, verführte mein Herz zu dem kühnen Wunsch, Ihr Sohn sein zu dürfen. Meine Aussichten sind bis jetzt unbestimmt und dunkel geblieben; nunmehr fangen sie an, ach zu meinem Vortheil zu verändern. Ich werde mit jeder Anstrengung meines Geistes dem gewissen Ziel entgegengehen. Urteilen Sie selbst, ob ich es erreichen kann, wenn der angenehmste Wunsch meinen Eifer unterstützen wird. Noch zwei Jahre, und mein ganzes Glück wird entschieden sein. Ich fühle es, wie viel ich begehre, wie kühn und mit wenigem Recht ich es begehre. Ein Jahr schon ist es, daß dieser Gedanke meine Seele beschäftigt; aber meine Hochachtung für Sie und Ihre vortreffliche Tochter war zu groß, als daß ich einem Wunsche hätte Raum geben sollen, den ich damals durch nichts unterstützen konnte. Ich legte mir die Pflicht auf, Ihr Haus seltner zu besuchen und in der Entfernung Zerstreuung zu finden aber dieser armselige Kunstgriff gelang meinem Herzen nicht. Der Herzog von Weimar war der erste Mensch, dem ich mich öffnete. Seine zuvorkommende Güte und die Erklärung, daß er an Anderer Glück Antheil nehme, brachten mich dahin, ihm zu gestehen, daß dieses Glück auf einer Verbindung mit Ihrer edeln Tochter beruhe, daß er mehr handeln wird, wenn es darauf ankommt, durch diese Verbindung mein Glück zu vollenden. Ich setze nichts mehr hinzu, als die Versicherung, daß vielleicht hundert Andere Ihrer Tochter ein glänzenderes Schicksal verschaffen können, als ich in diesem Augenblick ihr versprechen kann, aber ich leugne, daß ein anderes Herz ihrer würdiger sein wird. Von Ihrer Entscheidung, der ich mit Ungeduld und furchtsamer Erwartung entgegensehe, hängt es ab, ob ich es wagen darf, selbst an Ihre Tochter zu schreiben.“

Was war der Erfolg dieser Werbung? Die Biographen [429] Schiller’s bemerken ziemlich übereinstimmend: Schwan, ohne auch nur die Tochter mit Schiller’s Antrag bekannt zu machen, habe seine Ablehnung in die mildere Form gekleidet, daß der Charakter seiner Tochter nicht für Schiller passe. Wir sind in der Lage, diese Angabe berichtigen zu können. Zwar, es mag auf Wahrheit beruhen, was Caroline von Wolzogen in Schiller’s Leben erzählt (I, 206), daß Schwan gegen den von ihm hochgeschätzten Dichter offen seine Bedenken aussprach, ob die Eigenthümlichkeit seines Mädchens sie zur Gattin des Bewerbers geeignet mache, und auch darin hätte Schwan nur als Freund gehandelt; aber im letzten Grunde war doch der Sachverhalt ein anderer. Am Rande des Schiller’schen Originalbriefes,[5] den noch heute die Familie Götz zu Mannheim aufbewahrt, steht nämlich, von Schwan eigenhändig geschrieben, folgende Bemerkung: „Laura in Schiller’s Resignation ist Niemand anders als meine älteste Tochter; ich gab derselben diesen Brief zu lesen und sagte Schiller, er möchte sich gerade an meine Tochter wenden. Warum aus der Sache nichts geworden, ist mir ein Räthsel geblieben.“

Suchen wir das Räthsel zu lösen. Ein Dreifaches ist es, das wir hier in’s Auge fassen müssen. Einmal bemerken wir ursprünglich bei Schiller, wie bei anderen genialen Naturen, eine gewisse Abneigung gegen die Ehe, eine Abneigung, die sich sträubt, das hochgespannte Geistes- und Gefühlsleben des Genius an eine endliche Leidenschaft zu verpfänden. Als Schiller von dem Componisten Zumsteeg, der sich eben verheirathet hatte, aufgefordert wurde, diesem Beispiel zu folgen, antwortete er demselben: „Laß mich mein Schicksal trotz des warmen Blutes, das in meinen Adern strömen mag, allein tragen… Du weißt ja, daß ich über diesen Gegenstand auf meine eigene Art philosophire.“

Margarethe Schwan.
Nach dem im Besitz der Frau Götz in Mannheim befindlichen Originalgemälde.

Zum Zweiten tritt aber nun an diesen hoch- und stillschwebenden Idealismus die ernüchternde Wirklichkeit heran, die dem Ideale feind ist. Das Junggesellenleben, ohne Ordnung, ohne weibliche Fürsorge, erfüllte Schiller mit Ueberdruß. „Einsam, ohne Führung“ – klagt er gegen Reinwald – „muß ich mich durch meine Oekonomie hindurchkämpfen … tausend kleine Bekümmernisse, Sorgen, Entwürfe, die mir ohne Aufhören vorschweben, zerstreuen meinen Geist, zerstreuen alle dichterischen Träume und legen Blei an jeden Flug der Begeisterung.“ Aus dieser Stimmung erwächst dann die Sehnsucht nach den Annehmlichkeiten einer behaglichen Häuslichkeit, die nöthigenfalls selbst die Poesie dranzugeben bereit ist. So begreifen wir’s, wenn Schiller (30. Mai 1783) an seine Freundin nach Bauerbach schreibt:

„Es war eine Zeit, wo mich die Hoffnung eines unsterblichen Ruhmes so gut als ein Galakleid ein Frauenzimmer gekitzelt hat. Jetzt gilt mir Alles gleich und ich schicke Ihnen meine dichterischen Lorbeeren in dem nächsten Boeuf à la mode und trete Ihnen meine tragische Muse als eine Stallmagd ab. Wie klein ist doch die höchste Größe eines Dichters gegen den Gedanken, glücklich zu leben!“

Zum Dritten endlich darf man wohl behaupten, daß der damalige Schiller, dessen Jugend in Sturm und Drang dahinfloß, der selber so unzufrieden war mit den Frauengestalten seiner ersten Dramen, den Werth und die Anmuth einer schönen weiblichen Seele noch nicht genugsam zu würdigen verstand. „Mädchenherzen“, sang er damals,

„Mädchenherzen sind so gern
Kästchen zum Vexiren;
Manchen lockt der goldne Stern,
Perlen, die nur zieren.

Hundert werden aufgethan,
Neunundneunzig trügen;
Aber nur in Einer kann
Die Juwele liegen.“

„Es ist sonderbar,“ schrieb er an Körner, „ich liebe die herzlich empfindende Natur, und jede Kokette kann mich fesseln. Jede hat eine unfehlbare Macht auf mich, durch meine Eitelkeit und Sinnlichkeit; entzünden kann mich keine, aber beunruhigen genug.“ Und in einem andern Briefe an denselben Freund: „Mein Herz ist ganz frei; ich habe es redlich gehalten, was ich mir zum Gesetz machte und Dir angelobte: ich habe meine Empfindungen durch Vertheilung geschwächt.“ Um nur an einem Beispiel zu zeigen, wie Schiller diese Theorie der ‚Vertheilung‘ geübt hat: zu Mannheim ist Margaretha Schwan die eigentliche, unbestrittene Herzenskönigin; zu gleicher Zeit tritt er in ein vertrautes Verhältniß mit Charlotte Kalb, der schönen geistreichen Titanide mit den großen Augen und dem großen Herzen, die mit der ganzen feurigen Gluth ihrer gequälten Seele den Dichter an sich heranzieht; im Frühling desselben Jahres reist er mit Iffland nach Frankfurt, um der Aufführung des „Fiesco“ beizuwohnen, und verliert sein Herz an die gefeierte Schauspielerin Sophie Albrecht. Und am achtzehnten Januar des nächsten Jahres begleitet er zu Mannheim die begabte und reizende Schauspielerin Katharina Baumann nach Hause und drückt ihr sein Miniaturbild in die Hand. Und was vielleicht am wunderbarsten erscheinen muß: keines dieser zahlreichen Verhältnisse hat eine lyrische Blüthe getrieben, wie sie aus Goethe’s Herzen so reich und duftig hervorbrachen; keines hat auch nur ein Lied geweckt in des Dichters Brust!

Wir fassen unsere Erörterung zusammen, indem wir sagen: es war nicht ein tiefes Bedürfniß des Herzens, das Schiller bestimmt hat, um Margarethens Hand zu werben, es war vielmehr [430] die Sehnsucht nach einer sorgenfreien Existenz. Als nun Schwan’s Antwort eintraf, da war Schiller’s höchster Wunsch in Erfüllung gegangen: Körner’s Freundschaft gewährte ihm jene Freiheit von irdischer Noth und vom Druck der Verhältnisse, die das Feuer der jugendlichen Dichterseele so frühe gedämpft hatten. An die Rückkehr zur Medicin, die auch in keinem Falle so ernstlich gemeint war, mochte er jetzt nicht mehr denken, damit zerrann aber auch der schöne Traum einer Verbindung mit Margarethen vor seinen Augen. In der ländlichen Abgeschiedenheit des Dorfes Gohlis suchte er seinen Schmerz über gescheiterte Hoffnungen zu überwinden.

Aus den düsteren Betrachtungen jener Tage ging das vielbewunderte Gedicht „Resignation“ hervor, in welchem der Dichter mit aller Schärfe den Gedanken ausführt, daß die Hoffnung auf einen Lohn im andern Leben nur ein beglückendes Phantom sei, indem die Hoffnung ihren Lohn ebensowohl in sich trage wie der Genuß. Schiller selbst hat jede Andeutung über die Veranlassung dieses Gedichtes, das er übrigens nicht als sein eigenes Glaubensbekenntnis, sondern nur als eine Aufwallung der Leidenschaft betrachtet wissen wollte, geflissentlich vermieden; und wenn nun Schwan, sein vertrauter Freund, mit aller Bestimmtheit erklärt, daß sich dasselbe auf das Verhältniß zu seiner Tochter Margaretha beziehe, so haben wir um so weniger Grund, diese Angabe zu bezweifeln, als Nichts einer solchen Annahme entgegensteht, weder die Zeit der Entstehung der ergreifenden Dichtung, noch auch die leidenschaftliche Aufregung jener Tage, in denen Schiller mit dem Theater, mit Dalberg und den Schauspielern immer mehr zerfiel, in denen die Leidenschaft der Frau von Kalb ihn beängstigte, statt ihn zu erheben, während seine Schuldenlast immer drückender wurde und die Huldigungen, die man von allen Seiten dem Geist und der Schönheit Margarethens entgegenbrachte, mit allen Qualen der Eifersucht ihn erfüllten.

Dem Schwan’schen Haus hat übrigens Schiller stets ein freundliches Andenken bewahrt. Als im nächsten Jahre Schwan mit seinen beiden Töchtern nach Leipzig reiste, empfing sie Schiller zu Meißen und begleitete sie dort wie in Dresden auf die freundlichste Weise. Noch am 2. Mai 1788 schreibt er an Schwan: „Glauben Sie, daß Ihr Gedächtniß in meinem Gemüth unauslöschlich lebt und nicht nöthig hat, durch den Schlendrian des Umgangs, durch Versicherungsbriefe aufgefrischt zu werden … Im Wieland’schen Hause wird mir oft und viel von Ihrer ältesten Tochter erzählt, sie hat sich da in wenigen Tagen sehr lieb und werth gemacht. Also steh’ ich doch noch bei ihr in einigem Andenken? In der That, ich muß erröthen, daß ich es durch mein langes Stillschweigen so wenig verdiene.“ An Margaretha selbst hat Schiller nie geschrieben. Das Schweigen des Dichters, dem sie eine warme Zuneigung bewahrte, hat schwer auf Ihrer Seele gelastet. Noch einmal sah sie ihn 1793 zu Heidelberg, als er mit seiner jungen Frau nach Schwaben reiste, ein Wiedersehen, das beide auf das Tiefste bewegte; Lotte von Lengefeld fand die einstmalige Nebenbuhlerin höchst liebenswürdig. So weit reichen meine Quellen über Schiller’s Verhältniß zu Margaretha Schwan.

Die Biographen Schiller’s berichten übereinstimmend, Margaretha Schwan sei in ihrem sechsunddreißigsten Lebensjahr gestorben an den Folgen einer Niederkunft. Auch diese Angabe ist falsch. Margaretha ist unvermählt geblieben. Am 27. Januar 1796 ward sie neben ihrer Mutter zur Ruhe gebettet, erst neunundzwanzig Jahre alt.

„Schwalben ziehen, Blätter fallen,
So zerfließt der Liebe Traum.“


Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Der Portugiese trat dicht an die Bank heran und bog sich zu dem jungen Mädchen nieder.

„Sie machen es nicht besser als die Leute da drüben, Gräfin,“ sagte er mit gedämpfter Stimme. „Sie lassen sich durch die rauschende Musik betäuben und vergessen, daß der Gewittersturm in seinen Anfängen bereits durch die Wipfel fährt.“ … Er hielt inne. … „Wollen Sie wirklich abwarten, bis der Regen niederstürzt?“ fuhr er dringender fort, nachdem er vergeblich auf einen Laut von ihren Lippen gewartet.

„Ich kann nicht gehen, ohne wenigstens Frau von Herbeck zu benachrichtigen,“ entgegnete sie. „Sie würde mich jedenfalls auslachen, wollte ich ihr den Grund angeben – Sie sehen selbst, man glaubt allgemein nicht an einen Ausbruch des Gewitters.“

Sie wandte den Kopf nur ein wenig seitwärts nach ihm hin – ihre Augen blieben gesenkt. Fast ohne es selbst zu wissen, vermied sie jede Bewegung, welche die Aufmerksamkeit der lebhaft plaudernden Gouvernante auf sich ziehen konnte – mehr instinctmäßig suchte sie zu verhindern, daß das mißtrauische, gehässige Auge der kleinen, fetten Frau auf den Mann falle, der mit so tief beklommener Stimme zu ihr sprach.

Er streckte den Arm aus und deutete hinüber nach dem Fürsten, der in der Nähe des einen Büffets saß. Der Minister stand vor Serenissimus und hielt ein volles Glas in der Hand. Seine Excellenz war von einer so auffallend übersprudelnden Lebendigkeit, daß man in diesen Gesten, in dem lächelnden Mienenspiel vergebens nach der eisernen Maske des Diplomaten suchte. Er brachte wahrscheinlich einen Toast voll Witz und Laune aus, der nur für das Ohr Seiner Durchlaucht und einiger danebenstehenden Cavaliere berechnet war – der kleine, auserwählte Kreis lachte, und unter dem Austausch verständnißvoller Blicke stieß man die Gläser aneinander.

„Sie haben Recht, dort will man nicht an das Gewitter glauben, das in den Lüften hängt,“ sagte der Portugiese gepreßt; „aber es werden Blitze niederfahren –“ er unterbrach sich und bog sein Gesicht abermals so tief zu der jungen Dame nieder, daß sie seinen Athem leicht an ihre Wange hinstreifen fühlte. „Gräfin, kehren Sie nach Ihrem stillen Greinsfeld zurück!“ flüsterte er weich und bittend. „Ich weiß es, die schweren Wolken da oben haben auch einen Blitz für Sie!“

Das klang dunkel, wie eine Prophezeiung. … Welche Widersprüche enthielt das Benehmen des seltsamen Mannes! Er betonte fast bei jedem Begegnen die Feindseligkeit ihr gegenüber – und doch hatte er sie vor dem Sturz in die Steinbrüche bewahrt, und jetzt mochte er sie vor dem Ausbruch des Wetters unter das schützende Dach ihres Heim retten. … Und warum gerade sie? … Dort tauchte ja eben das rothe Käppchen auf. … Ah, der schöne, braune Lockenkopf brauchte nicht so viel Zeit zur Flucht – das Waldhaus wär so nahe, man rettete „sein Kleinod“ im Augenblick der Gefahr unter das Dach des eigenen Heim’s! … Eine unsägliche, niegefühlte Bitterkeit erfüllte ihr Herz!

„Ich werde es machen, wie die Anderen, und ruhig hier bleiben,“ versetzte sie finster, und fast harter Stimme. „Hat das Wetter da oben wirklich einen Blitz für mich, so habe ich auch den Muth, ihn zu erwarten.“

Sie fühlte, wie die Banklehne unter seiner Hand erzitterte.

„Ich glaubte, ich spräche zu der Dame, die gestern willig an meiner Hand geschritten ist,“ sagte er nach einem augenblicklichen Schweigen – Gisela meinte eine tiefe Gereiztheit aus diesen unsicheren Tönen heraus zu hören. „An sie wende ich mich, trotz der mir eben widerfahrenen entschiedenen Zurückweisung, noch, einmal. … Gräfin, es ist das letzte Mal, daß ich neben Ihnen stehe – binnen einer Stunde werden Sie wissen, daß ich ein grausamer Gegner bin –“

„Ich weiß es bereits.“

„Sie wissen es nicht, wenn Sie diese Anklage auch noch so bitter hinwerfen. … Ich bin ein schlechter Schauspieler gewesen – ich habe meine Rolle vergriffen, vergessen. … Und nun, wo die Hand den Dolchstoß ausführen muß, zittert sie. … Ich kann nur noch einmal sagen: ‚Fliehen Sie, Gräfin!’“

Jetzt wandte sie sich um, und die heißen Augen hefteten sich fest, aber mit einem herzzerreißenden Blick auf das Gesicht des unerbittlichen Warners.

„Nein, ich gehe nicht!“ stieß sie bebend hervor, während es wie ein irres Lächeln um ihren kleinen, fieberisch zuckenden Mund glitt. „Sie haben die Rolle des Verachtenden nicht schneidend genug durchgeführt, sagen Sie, mein Herr! … Ich kann Ihnen aber zu Ihrer Beruhigung versichern, daß diese Verachtung gefühlt worden ist. … Ich gehe nicht! … Stoßen Sie nur zu! … [431] Ich habe in wenigen Tagen leiden gelernt – ich weiß nur zu gut, was Seelenschmerzen sind! … Sie selbst haben mich bereits an die Dolchstiche gewöhnt – Sie sollen sehen, ich lächle dazu!“

„Gisela!“

Wie ein Aufschrei kam der Name von seinen Lippen. Er ergriff mit beiden Händen das Haar, das golden über ihre Schultern wogte, und preßte mit einer leidenschaftlichen Bewegung sein Gesicht hinein.

Dieser eine Moment verwandelte die majestätisch düstere Erscheinung des Mannes, als brause der prophezeite Gewittersturm droben in den Wipfeln auch bewältigend über sie hin.

„Sie haben mich schwach gesehen, und nun will ich es auch ganz sein,“ sagte er, den Kopf langsam hebend, indem das Haar seinen Händen entglitt. „Man sagt, durch die Seele des Ertrinkenden ziehen im letzten Augenblick noch einmal alle Wonnen und Schmerzen seines ganzen Lebens – ich stehe auch vor einem entscheidenden letzten Augenblick, und da mag es noch einmal auftauchen, was die Wonne und Qual meines Lebens ist.“

Er neigte sich wieder tief über das Mädchengesicht, das sich ihm in athemlosem Aufhorchen voll zuwandte – man hätte meinen können, Puls- und Herzschlag stehe still unter dieser regungslosen Spannung der Seele. … Oliveira’s Blick suchte in unverhohlener Leidenschaft die Augen des jungen Mädchens.

„Und nun sehen Sie mich noch einmal so an, wie gestern, da wir neben dem Abgrund standen,“ fuhr er fort. „Für lange, namenlose Leiden nur diese eine glückliche Secunde! … Gräfin, mein Leben im Süden war ein wildbewegtes, ein Leben voller Kämpfe und gefährlicher Abenteuer. Ich suchte im Ringen mit den Elementen und mit den wilden Bestien des Waldes das Aufschreien eines inneren Schmerzes zu ersticken. … Ich bin den Tigern und Bären nachgegangen, habe ihnen, mit dem unbezähmbaren Wunsch, sie zu tödten, Tag und Nacht aufgelauert – ich kenne das Behagen der Mordlust einem überlegenen Feind gegenüber– nie aber habe ich den Muth gehabt, ein Reh niederzuschießen – ich fürchtete die Seele in seinem brechenden Auge!“ …

Er schwieg. Ein beglücktes Lächeln spielte um seinen schöngeschwungenen Mund – die zwei Mädchenaugen sahen ja mit dem heißgewünschten Ausdruck hingebender Zärtlichkeit unverwandt zu ihm empor. … Ein tiefes Aufathmen hob seine breite Brust, das Lächeln erlosch – er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen himmlischen, verlockenden Traum wegwischen. Dann fuhr er mit tonloser Stimme fort: „Ich bin berufen, verschwiegene Sünden an das Licht zu ziehen, einen überlegenen Feind, eine Geißel der Menschheit anzugreifen und zu vernichten – aber das Schicksal zeigt auch gebieterisch auf ein armes Reh mit seinen unschuldigen Augen, auf ein liebliches Geschöpf, das meine erste und einzige, meine unsterbliche Liebe ist, und fordert: ,Du sollst es mit eigener Hand verletzen, es soll schmerzlich leiden durch dich!’ Gisela,“ flüsterte er in ausströmender Zärtlichkeit dicht an ihrem Ohr, „ich habe vor dem Waldhause Ihre Beschuldigung des Jähzornes schweigend hingenommen – es war etwas Anderes – ich konnte es nicht ertragen, daß die Arme des Knaben mein Heiligthum, die vergötterte Gestalt, umschlangen, die ich nie berühren durfte – ich habe in den Steinbrüchen unter tausend Schmerzen der Entsagung Ihre kleinen Hände weggestoßen, während meine ganze Seele mit verzehrender Sehnsucht darnach verlangte, Sie nur ein einziges Mal an mein Herz zu ziehen – ich habe noch vor wenig Augenblicken dort drüben, in Ihrem Anblick verloren, gestanden, von dem berauschenden Gedanken fast überwältigt, Sie in meine Arme nehmen und hinüber in mein einsames Haus retten zu dürfen. … Das sind Gedanken und Wünsche, die an Wahnwitz streifen – ihre Vermessenheit wird grausam genug gestraft – ich weiß ja nur zu sicher, daß Sie mich binnen einer Stunde von sich stoßen werden als einen Vandalen, der Ihre Heiligenbilder in den Staub gerissen hat!“ …

„Ich werde Sie nie von mir stoßen – das weiß ich. – Soll ich durch Sie leiden, so mag es geschehen. … Und wenn die ganze Welt Sie um deswillen mit Steinen bewirft – ich werde nicht einmal einen anklagenden Blick für Sie haben.“

Sie schob sanftlächelnd, während Thränen in den aufstrahlenden braunen Augen funkelten, ihre kleine Hand durch das Gitter der Banklehne und hielt sie ihm hin – er sah es nicht, er hatte das Gesicht in beiden Händen vergraben. Als sie wieder niedersanken, war sein Gesicht so fahl und blutlos, daß es aus dem dunklen Gebüsch förmlich gespensterhaft hervorleuchtete; aber ertrug auch wieder das frühere feste Gepräge einer finsteren Entschlossenheit.

„Gräfin, seien Sie hart gegen mich!“ sagte er ruhiger. „Nicht diese holde Sanftmuth – ich kann sie nicht ertragen. … Das, was ich unter allen Umständen thun muß, erscheint ihr gegenüber nur um so teuflischer. … Ich habe Sie vorhin vor einem unvermeidlichen Blitz gewarnt – ich kann ihn nicht von Ihrem Haupt abwenden, aber ich will auch nicht, daß er Sie unvorbereitet, unter allen jenen Gesichtern dort trifft. … Kehren Sie nach Greinsfeld zurück. … Gehen Sie und – vergessen Sie mich, der ich verurtheilt war, Ihren Weg auf eine so furchtbare Weise zu kreuzen. … Und nun, leben Sie wohl – für alle Zeiten!“

Sie sprang auf.

„Gehen Sie nicht!“ rief sie. „Ich kann nicht hart sein! … Ich will mit Ihnen sterben, wenn es sein muß!“ …

Bei diesen herzerschütternden Tönen wandte er sich jäh um – mit einer fast wilden Geberde streckte er die Arme nach ihr aus, als wolle er sie in der That erfassen und in sein einsames Haus retten – aber auch eben so schnell ließ er die Arme wieder sinken. Gleich darauf war sein todtenbleiches Gesicht im Gebüsch verschwunden.

Dagegen fühlte sich die junge Dame plötzlich von rückwärts ergriffen, und zwei Arme preßten sich wie ein Schraubstock um ihre zarte Taille. … Frau von Herbeck war durch die heftige Bewegung ihrer Schutzbefohlenen aus ihrem immer interessanter und lauter werdenden Zwiegespräch aufgerüttelt worden.

„Um Gotteswillen, Gräfin, haben Sie eine Vision? … Was ist Ihnen?“ rief sie mit allen Zeichen heftigster Alteration in den Zügen.

Auch ihre Freundin war herzugesprungen und nahm besorgt die Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren.

„Nichts – lassen Sie mich!“ stieß Gisela heraus und wand sich los.

Frau von Herbeck’s zweiter erschrockener Blick galt den Excellenzen – sie athmete erleichtert auf – dort hatte Niemand das auffallende Gebahren der jungen Gräfin, das ihr selbst ein unlösliches Räthsel blieb, bemerkt. Man amüsirte sich vortrefflich – der Champagner war ausgezeichnet, und die Laune des Durchlauchtigsten Festgebers eine durchaus rosenfarbene.


28.

Ohne auf die beschwörenden Bitten der Gouvernante zu achten, die durchaus wissen wollte, was „ihren Liebling“ so sehr erschreckt habe, setzte sich Gisela wieder auf die Bank.

… Nein, sie ging nicht! … So viel hatte sie aus seinen dunklen Reden verstanden, er wollte hier einen überlegenen Feind angreifen. … Was er auch vorhatte, wer auch der Feind sein mochte, sie ließ den geliebten Mann nicht allein in einem Augenblick, wo vielleicht alle diese Menschen dort drohend und feindselig ihm gegenüberstanden. … Sie war ja nun auf den niederfahrenden Blitzstrahl vorbereitet, sie wollte ihn hinnehmen, ohne mit den Wimpern zu zucken; welche Schrecknisse er ihr auch zeigen mochte, nach den folternden Schmerzen, die sie jetzt erduldete, konnte nichts Schlimmeres kommen. … Er wußte jetzt, wie er geliebt wurde, er hatte ihr ein Bekenntniß zugeflüstert, das ihr einen ganzen Himmel voll Glückseligkeit erschloß – und dennoch hatte er sich von ihr losgerissen um einer dunklen Macht willen, die ihre ewige Trennung heischte. … Sie wollte dieser Macht in’s Auge sehen – sie wollte wissen, ob es wirklich eine Gewalt auf Erden gebe, die zwei in innigster Liebe verbundene Herzen auseinander reißen durfte.

Das lange, rauschende, endlos scheinende Musikstück schloß mit einigen schmetternden Accorden. Man verließ die geplünderten Büffets; auch der Fürst erhob sich und schritt in Begleitung des Ministers über die Wiese.

„Mein Herr von Oliveira,“ sagte er sehr heiter zu dem Portugiesen, der plötzlich in seiner Nähe zwischen zwei Eichen hervortrat, „Sie erscheinen sehr pünktlich; aber schelten muß ich Sie doch, daß Sie meinen vortrefflichen Champagner nicht besser zu würdigen wissen – ich habe Sie nicht unter meinen Gästen gesehen. … Ist Ihnen übel? … Sie sehen bleich, fast möchte ich sagen, alterirt aus, wenn es nicht absurd wäre, sich einen Hercules, wie Sie, nervenerschüttert zu denken.“

[432] Ein Windstoß fuhr in diesem Augenblick rauschend durch die Eichenblätter und bog die Flammen der Fackeln tief seitwärts.

„Ach, es scheint wahrhaftig Ernst zu werden!“ rief Serenissimus verdrießlich. „Ich werde Sie wohl bitten müssen, lieber Baron, mir für den Rest des Festes Ihren Saal einzuräumen – die jungen Leute dürfen doch nicht um ihren ,Tanz’ kommen!“

Der Minister berief sofort einen Lakaien zu sich und schickte ihn mit den nöthigen Befehlen nach dem weißen Schlosse.

„Ein halbes Stündchen Zeit wird uns ja wohl der Isegrimm in den Lüsten noch lassen,“ meinte der Fürst lächelnd zu den Damen, die sich um ihn schaarten. „Ich bin der Ansicht, daß die Erzählung des Herrn von Oliveira inmitten der Waldbäume und unter drohenden Wetterwolken weit mehr pikanten Reiz erhalten wird, als im wohlgeschützten Ballsaale Sie haben das Wort, Herr von Oliveira!“

Serenissimus ließ sich unweit der Büste des Prinzen Heinrich nieder. Mit vielem Geräusch und abermals laut aufbrausender Fröhlichkeit wurden Stühle und Bänke herbeigetragen; ein weiter Kreis formirte sich um den Fürsten – noch einige Minuten schwirrten die Stimmen durcheinander, rauschten die Seidenroben und klapperten die zusammenrückenden Stühle – dann wurde es plötzlich so erwartungsvoll still, daß man das Knistern der Fackeln hören konnte.

Der Portugiese hatte sich mit verschränkten Armen an die Rothbuche gelehnt, welche die Büste des Prinzen Heinrich beschattete. Die unruhigen Lichter spielten über sein Gesicht hin – es schien vollkommen unbewegt, wenn auch noch die Blässe der „Alteration“ auf seinen braunen Wangen lag.

In diesem Moment erhob sich auch Gisela; sie schritt unbemerkt am Saum des Waldes hin und blieb neben einem mit Geschirr beladenen Tisch stehen, auf welchem noch der Kasten mit Oliveira’s Juwelen stand. … Obgleich sie lautlos unter den einen tiefen Schatten werfenden Aesten hingeglitten war – der Portugiese hatte sie doch konnte eine tiefe Bewegung in seinen Zügen nicht ganz verbergen; ein heißer, angstvoll bittender Blick flog zu ihr hinüber. Sie lächelte ihm zu und stützte die Hand fest auf den Tisch – das süße Lächeln, die ganze Gestalt mit dem hochgetragenen Haupt waren beseelt von dem Gedanken: „Mag kommen, was da will! Ich bin stark und muthig und halte unerschütterlich zu dir, den ich liebe!“

Oliveira wandte sein Gesicht von ihr weg; dann hob er mit lauter, fester Stimme an: „Der vorige Besitzer des Papageien war ein Deutscher. Er hat mir die seltsame Geschichte mitgetheilt, und ihn will ich selbst reden lassen:

,Ich war Arzt bei Dom Enriquez, einem Mann von bizarrem Charakter, der sich auf ein einsames Schloß zurückgezogen hatte und im glühenden Haß gegen seine Anverwandten schwelgte, weil sie ihn, wie er meinte, nicht verstanden. … Nicht weit von diesem Schlosse lebte die Frau Marquise, ein Wunder von Schönheit, eine Aspasia an Geist und Anmuth. Sie verstand die Wunderlichkeiten des Dom Enriquez vortrefflich und gab ihnen öffentlich Und wiederholt die Bezeichnung, mit denen er sie insgeheim, in den tiefsten Tiefen seiner Seele selbst belegte: die Originalität und die Genialität. … Sie hatte wundervolles, bernsteingelbes Haar – lächelnd und unvermerkt knüpfte sie die goldenen Fäden aneinander, und aus den millionenfachen wunderfeinen Fädchen und Knötchen wurde ein Netz, welches Dom Enriquez weit strenger von der Welt schied, als die dicken Mauern seines einsamen Schlosses. Er konnte nicht mehr leben ohne die funkelnden, schwarzen Augen der schönen Freundin; und dafür, daß sie ihn so vortrefflich verstand, wußte er keine andere Belohnung, als daß er ihr all’ sein Hab und Gut zu Füßen legte – er verstieß testamentarisch seine ihn nicht verstehende Familie und machte das Wunder von Schönheit, die geistvolle Aspasia zu seiner Universalerbin.’“

Er hielt inne und wandte den Kopf jäh seitwärts – der Tisch mit dem Geschirr klirrte – Gisela hatte jetzt beide Hände auf die Platte gestemmt und starrte mit aschbleichem Gesicht zu ihm hinüber – sobald aber sein Blick sie berührte, raffte sie sich auf und zwang die bebenden Lippen zu einem schwachen Lächeln.

„Aber die schöne Aspasia hatte auch Untiefen in ihrer Seele, die sie nicht immer vollständig zu verbergen vermochte,’“ fuhr der Portugiese mit leicht vibrirender Stimme fort, „und Dom Enriquez, der bei all’ seinen Eigenthümlichkeiten ein durchaus edler, ehrlicher Charakter war, fand im Lauf der Zeit hie und da Gelegenheit, einen schaudernden Blick hineinzuwerfen. … Auf diese Erkenntniß folgten Zerwürfnisse, die oft bedenklich an den Grundvesten des Testaments rüttelten. … Die Frau Marquise mißachtete trotzig diese bedrohlichen Anzeichen, sie vertraute ihrem hinreißenden Zauber, und dann – hatte sie manchen guten Freund in der Umgebung des Dom Enriquez.’“

Der Blick des Erzählers’ glitt vollkommen ruhig über die gespannten Gesichter der lautlos aufhorchenden Menge – er glitt auch über die schlaffen Augenlider des Mannes, der neben dem Fürsten saß – sie hoben sich nur einen Moment, wie vom Blitz berührt, und ein teuflischer Strahl zückte nach dem Portugiesen hinüber – dann sanken sie wieder, ohne daß sich auch nur ein Muskel des grünlich angehauchten Gesichts bewegte.

„,Die Frau Marquise gab einst ein brillantes Fest in ihrem Schlosse,’“ erzählte Oliveira weiter. „,Dom Enriquez war nicht zugegen – wohl aber wurde der schönen Aspasia, während sie wie eine Fee im prachtvollen Maskencostüm durch ihre Säle rauschte, kurz vor Mitternacht zugeraunt, der ferne Freund liege im Verscheiden. Halb sinnlos vor Angst und Schrecken warf sie sich in einen Wagen und fuhr allein, die Pferde mit eigener Hand lenkend, in die grausigste Sturmnacht hinein, um eine halbe Million zu retten’“ –

„Sie war allein, mein Herr?“ rief Gisela mit halberstickter Stimme und streckte dem Portugiesen unterbrechend die Hand entgegen.

„Sie war allein.“

„Hatte sie keine Tochter, die sie begleitete?“

„Die Tochter blieb auf dem Maskenball zurück,“ sagte plötzlich eine tiefe, harte Stimme dumpf, halblaut hinter ihr – der alte Soldat stand im Gebüsch und hob in scheinbar harmloser Geschäftigkeit, aber mit triumphirend lodernden Augen den Juwelenkasten vom Tisch, um ihn fortzutragen.

Gleichzeitig fühlte Gisela ihre Hand ergriffen – fünf eisige Finger umklammerten sie mit schmerzhaftem Druck; der Minister stand neben ihr.

„Was soll das heißen, mein Kind, daß Du das reizende Märchen des Herrn dort unterbrichst? … Kannst Du die Gewohnheiten der Kinderstube durchaus nicht abschütteln?“ schalt er mit lauter Stimme; aber diese Stimme hatte einen schauerlichen Klang, es war, als concentrire der Mann noch einmal allen Uebermuth, allen Trotz, alle die gefährlichen Eigenschaften, mit denen er bisher eisern geherrscht, in diesen Lauten. … Er hatte, wenn auch vielleicht nur mit halbem Ohr, die nicht laut gesprochene Antwort des alten Soldaten aufgefangen – er rügte sie mit keinem Wort, wohl aber deutete er gebieterisch nach der Richtung des Waldhauses – der alte Mann entfernte sich hohnlächelnd.

Der Minister hielt die Hand seiner Stieftochter fest und zwang sie, ihm zu folgen. Er warf, indem er mit ihr über die Wiese schritt, einen lächelnden, bedeutungsvollen Blick über den betroffen schweigenden Kreis, als wolle er sagen: „Da seht Ihr nun, was für ein exaltirtes, unberechenbares Geschöpf sie ist!“

„Den Schluß, den Schluß, Herr von Oliveira!“ rief die Gräfin Schliersen dringend, während Seine Excellenz das todtenbleiche junge Mädchen zwischen sich und seine Gemahlin placirte. „Ich habe bereits einen Regentropfen auf der Hand gespürt – sind wir erst im Ballsaale, dann ist das jedenfalls sehr pikante Ende Ihres – Märchens für uns verloren.“

(Fortsetzung folgt.)




Die letzte Liebesgabe (unsere Illustration auf S. 421) ist ein hessisches Dorfbildchen von einem kalifornischen Künstler: Toby Rosenthal aus San Francisco. Nennt derselbe auch Californien seine Heimath, so würde das obige Bild allein schon seine deutsche Abkunft verrathen, auch wenn sein Name einer andern als der deutschen Sprache angehören könnte. Rosenthal, dessen deutsche Eltern nach der Zeit von 1848 den heimathlichen Boden verlassen mußten, verlebte die ersten Jugendjahre in den Goldminen Californiens in der allergrößten Einfachheit. Sein Aufenthalt war gewiß wenig geeignet, ihn dem Künstlerberufe entgegenzuführen. Zum Jüngling herangereift, sah er sich von dem ihm innewohnenden Talente nach Europa getrieben; er kam nach München und bat hier in gebrochenem Deutsch um Aufnahme in die Maierakademie. Man wies ihn etwas schroff in die Gewerbschule, Rosenthal fand jedoch ein Unterkommen in der Kunstschule Raupp’s, aus der schon viele junge Künstler hervorgegangen sind. Gelegentlich einer Excursion, die er mit seinem Lehrer nach Oberhessen unternahm, machte er die Studien zu dem vorliegenden Bilden welches ihm ohne Weiteres die Aufnahme in Piloty’s Atelier verschaffte. Das Original geht in die amerikanische Heimath des jungen Künstlers. Möge ihm noch recht Vieles zu Ehren seiner neuen, wie der alten Heimath gelingen!


  1. 1868 wurden in Deutschland gegen 12,000 Werke, in England in demselben Jahre nur 4300 publicirt.
  2. Auch Thaten christlicher Liebe kamen vor; leider wohl nur sehr vereinzelt. Wir geben ein solches Beispiel. Zwischen Ober-Dohalitz und Dohalitzka lag ein 49er, vergessen, unter unsäglichen Schmerzen, kein lebendes Wesen in der Nähe. „Schon glaubte ich mich dem Tode nahe (so erzählt er selbst), als ein junges Mädchen erschien, einen großen Weinkrug in der Hand, und mir zu trinken gab; dann holte sie Wasser und wusch und verband meine Wunden. Wie hab’ ich’s da empfunden: ,Und Gott sandte seine Engel!– Der Name dieses heldenmüthigen Mädchens, die noch viele Andere in gleicher Weise erquickte, war Josepha Kalma, eine Czechin, – Uebrigens sei gleich bei dieser Gelegenheit ausgesprochen, daß es sehr fraglich ist, ob die Schlachtfeld-Geier blos böhmisches Gesindel waren. Viele Gerüchte sprechen von „Marodeurs“, und mannigfache Anzeichen liegen vor, daß unserer eigenen Armee seltsame Gestalten folgten. Man hat diesem Punkt ernste Aufmerksamkeit gewidmet.
  3. Die böhmischen Dorfbewohner weigerten sich zum Theil, beim Grabmachen behülflich zu sein, und knurrten auf czechisch vor sich hin: „Wen die Preußen todt geschossen haben, den mögen sie auch begraben.“ Mehr als einmal bequemten sie sich in der That erst, als eine Section vorgetreten und das Commando gegeben war: Fertig zum Feuern!“ Das half jedes Mal und auch die Nationalsten verstanden dann deutsch. (Daß die besseren czechischen Classen uns im Allgemeinen günstiger gesinnt waren als die Deutsch-Böhmen, diese Thatsache wird durch solche Einzelvorkommnisse nicht tangirt.)
  4. Ein wohlgelungenes Bild Margarethens, ihres Vaters, der Karoline Ziegler und Anderer, nebst einer Anzahl interessanter Autographen findet der Leser in dem in Mannheim erschienenen Prachtwerk von Götz: "Geliebte Schatten“ – ein Buch, das die wohlverdiente weitere Verbreitung nicht gefunden zu haben scheint.
  5. Ein Facsimile desselben befindet sich in dem erwähnten Buche „Geliebte Schatten“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schrifsteller