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Die Gartenlaube (1869)/Heft 19

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 19.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Mädchen von Liebenstein.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Friedrich Bodenstedt.
(Schluß.)


3.

Alexander betrachtete sich jetzt schon als wie zu der Familie gehörig, und um die Einwilligung seiner Eltern so schnell wie möglich zu erhalten, schrieb er gleich einen langen, rührenden Brief an seine Mutter, der er die trefflichen Eigenschaften Mariens und sein ungesucht entstandenes Verhältniß zu ihr in der erbaulichsten Weise schilderte. Zugleich bat er sie herzlich, seine Fürsprecherin bei seinem Vater zu sein, einem hochfahrenden, egoistischen Herrn, an welchen Alexander in dieser Angelegenheit nicht direct zu schreiben wagte und von dem er wohl nur deshalb so wenig sprach, weil er wenig Gutes von ihm zu sagen wußte. In dem alten Fürsten steckte noch ein beträchtliches Stück Bojarenthum; er war wenigstens um hundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen und konnte sich in die neue Zeit mit ihren nach Ausgleichung verjährten Unrechts strebenden demokratischen Tendenzen durchaus nicht finden. Daß die Kaiserin Katharina (welche, obwohl sie eine Deutsche war, von den eigentlichen Stockrussen weit höher gestellt wird als Peter der Große) weiland Hunderttausende freier Bauern im Handumdrehen zu Leibeigenen und willenlosen Sclaven feiler Günstlinge Ihrer üppigen Majestät machte, fand er ganz in der Ordnung; daß hingegen Kaiser Alexander den Bauern wieder zu einem menschenwürdigen Dasein verhelfen wollte, erschien dem alten Herrn als ein Frevel vor Gott und den Sclavenbesitzern. Alle gesetzliche Ordnung betrachtete er als eine gefährliche Bedrohung der geheiligten Rechte des Czaren- und Bojarenthums. Er hätte sich lieber vom Czaren die Ohren abschneiden lassen, um das Recht zu haben, auch seinen Untergebenen die Ohren abzuschneiden, als zu billigen, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien.

Mit seiner Gattin lebte er auf ziemlich kühlem Fuße. Nachdem sie ihm einen Stammhalter geboren hatte und kein zweiter Sohn mehr zu erwarten stand, war sein Interesse für sie völlig erloschen. Das Einzige, was ihm an seiner Gemahlin noch gefiel, war ihr frommer, gottergebener Sinn. „Religion muß sein!“ pflegte er mit einer Wichtigkeit zu sagen, als ob er einen neuen Lehrsatz entdeckt hätte, werth, daß eine Hekatombe dafür geopfert werde. Auch hielt er die Fasten mit großer Gewissenhaftigkeit (was bei den vortrefflichen Fischspeisen, die sein Koch zu bereiten wußte, nicht allzu schwer war), und ging nie an einer Kirche oder einem Heiligenbilde vorüber, ohne das Zeichen des Kreuzes zu machen. Uebrigens war er ein Trinker, an dem selbst Peter der Große seine Freude gehabt haben würde, und der Dorfpriester, der im Zechen auch seinen Mann stand, mußte ihm häufig bei seinen Gelagen als Gesellschafter, als geduldiger Anhörer seiner langen Geschichten aus der guten alten Zeit, als Zielscheibe seiner Witze und zuweilen selbst der Ausbrüche seines Zornes dienen. Es kam mehr als einmal vor, daß er dem langhaarigen Diener des Herrn, dessen Haupt und Bart nie weder Scheere noch Scheermesser berührt hatte, eine Flasche oder ein Glas nach dem Kopfe warf.

Hin und wieder, d. h. so oft er Geld brauchte, kam sein Bruder Dimitry, der sonst immer in Baden-Baden oder Paris lebte, auf Besuch und blieb so lange, bis er die Taschen wieder gefüllt hatte, wozu er jedesmal einen neuen Feldzugsplan entwerfen mußte. Er imponirte seinem älteren Bruder durch seine überlegene Weltbildung, die elegante Leichtigkeit seiner Umgangsformen und die dialektische Gewandtheit, mit welcher er nach langen, verwickelten Vordersätzen, die der Bruder nicht verstand, immer zu Schlüssen kam, welche diesem so recht aus dem Herzen gesprochen waren. Dimitry’s Anwesenheit im Schloß gab jedesmal Anlaß zu Festgelagen, zu welchen die gutsherrlichen Familien der Nachbarschaft eingeladen wurden, um die sich sonst der Fürst nicht viel kümmerte, da ihm die Damen entweder zu geziert oder zu frei, die alten Herren zu langweilig und die jungen zu aufgeklärt waren.

Es gereichte ihm aber zu besonderer Genugthung, zu sehen, wie überlegen sein Bruder mit Alt und Jung umsprang; wie er die Mütter durch die Töchter gewann und die Töchter durch die Mütter; wie er den Alten fabelhafte Geschichten erzählte, wobei er immer den Mund voll Kaiserinnen und Königinnen hatte; wie er die Jüngeren durch Witzworte und gelegentliche Anführung berühmter Autoren blendete, die natürlich sämmtlich seine intimen Freunde waren, und wie er sich im Grunde über Alle lustig machte.

Fürst Michail hatte eine besondere Liebhaberei für seinen Bruder Dimitry, obgleich oder weil er diesem schon große Summen geopfert hatte; wie es denn nicht selten vorkommt, daß reiche Leute diejenigen am meisten lieben, die am meisten dazu beitragen, ihr Geld unter die Leute zu bringen. Wenn die Gäste nach Hause gefahren waren, pflegte er mit ihm „noch ein Gläschen unter vier Augen“ zu trinken, wobei ihm Dimitry tapfer Stand hielt, um ihn bei guter Laune zu erhalten, denn aus dem Weintrinken an sich machte er sich, wie die meisten Spieler, wenig. Fürst Michail ließ dann gewöhnlich „einige Flaschen mit Spinngewebe“ bringen, was er nur that, wenn er glaubte einen feinen Kenner vor sich zu haben, oder wenn es sich darum handelte, einen Gast besonders zu ehren. Das Spinngewebe an den Flaschen galt ihm nämlich als ein untrügliches [290] Zeichen des Alters und folglich der Güte des Weines. Sein Lieferant hatte sich diese Marotte gemerkt und versorgte ihn immer mit einer hinlänglichen Anzahl von Flaschen mit Spinngewebe, die dann natürlich das Dreifache von dem kosteten, was er ohne Spinngewebe für denselben Wein zu zahlen hatte.

Dimitry machte sich seine eigenen Gedanken über diese Art von Feinschwelgerei, schwieg aber als Weltmann still dazu, wohl wissend, daß den Menschen im Allgemeinen und den großen Herren insonderheit nichts lieber ist, als angenehm betrogen zu werden. Trieb er doch selbst dies Geschäft mit großem Erfolg bei seinem Bruder. Bei seinem letzten Besuch hatte er ihm eine beträchtliche Summe abgelockt, um ihn als Actionär bei einem Unternehmen zu betheiligen, welches bezweckte, die Naphthaquellen einer Insel im caspischen Meer auszubeuten und einen unerhörten Gewinn dadurch zu erzielen, der sich auch wirklich insofern ergab, als das Unternehmen in Wasser zerfloß und das Geld in den Taschen der Unternehmer hängen blieb. Der neue Plan, den er jetzt vor seiner Rückkehr nach Deutschland auf’s Tapet brachte, bezweckte, die Güter des Fürsten durch Vermählung seines Sohnes mit der Tochter der in der Nachbarschaft ansässigen verwittweten Gräfin Reka zu vermehren. Die Gräfin war vor zwei Jahren mit ihrer damals vierzehnjährigen Tochter Olga nach Dresden gereist, um dort deren Erziehung zu vollenden. Dimitry war ein alter Freund der Gräfin, die sich seinen Vorschlägen gar nicht abgeneigt zeigte; es galt nur noch den Fürsten Michail dafür zu gewinnen, was dem schlauen Dimitry nicht schwer wurde. Er kannte die mißtrauische Natur seines Bruders, der jeden klar formulirten Vorschlag kopfschüttelnd abzuweisen pflegte, als ob er fürchtete, schmählich überlistet zu werden, dagegen über dunkel hingeworfene Andeutungen gern nachgrübelte und an den Vorstellungen, die sich solchergestalt schwerfällig und langsam in seinem Gehirn entwickelten, mit großer Zähigkeit festhielt.

Die Güter der Gräfin waren nicht groß, aber sehr einträglich, weil hart an den Ufern der Wolga gelegen, wo die Dampfschifffahrt den Verkehr erleichterte und der Fischfang reiche Ausbeute lieferte. Von dieser günstigen Lage und den daraus entspringenden Vortheilen der Reka’schen Güter hatte Dimitry schon ein paar Mal bei Tisch mit einem Nachbarn gesprochen, aber so, daß Fürst Michail es hören mußte.

„Es ist schade, daß nicht ein sachkundiger Mann die Güter bewirtschaftet,“ bemerkte der Nachbar, „das Einkommen könnte leicht dadurch verdoppelt werden.“

„Nun, die Gräfin behält immer noch genug –“ warf Dimitry ein; „sie hat von der Bauernemancipation weniger zu leiden als wir Anderen, denn ihre Fische können sich nicht um einen Spottpreis loskaufen wie unsere Leibeigenen, denen wir noch obendrein Land in den Kauf geben müssen.“

„Es ist und bleibt ein himmelschreiendes Unrecht mit dieser Emancipation,“ nahm jetzt Fürst Michail das Wort, dem die Fische der Gräfin Reka schon durch das weindunstige Gehirn schwammen, „früher mußte mir jeder Bauer, den ich auf Obrok ließ, wenigstens ebenso viel jährlich zahlen, wie ich jetzt sammt und sonders für seine Freilassung bekomme. Wie soll ein anständiger Gutsbesitzer dabei bestehen? Ich bitte, sagen Sie, meine Herren!“

„Was ist da viel zu sagen? Ein himmelschreiendes Unrecht ist’s und bleibt’s,“ echote der Nachbar, ernst die Stirn runzelnd, während Dimitry bedächtig zustimmend nickte.

Am folgenden Tage ließ Dimitry zum Diner lange auf sich warten.

„Woher kommst Du so spät? Wo bist Du den ganzen Tag gewesen?“ fragte ihn ein über das andere Mal sein ungeduldiger Bruder.

„Der General Beregoff hatte mich abgeholt, um mir die neuen Fischbehälter auf den Reka’schen Gütern zu zeigen; es ist wirklich der Mühe werth …“

„Was hat der General damit zu thun? Was geht das den General an?“ unterbrach ihn der alte Fürst unmuthig.

„Nun, er scheint ein lebhaftes Interesse daran zu nehmen; er betrachtet Alles wie mit den Augen eines zukünftigen Besitzers.“

„Zukünftigen Besitzers? Wie meinst Du das? Was willst. Du damit sagen?“.

„Hat er nicht einen heirathsfähigen Sohn?“

„Heirathsfähigen Sohn? Soll es da hinaus? Daran hab’ ich nie gedacht.“

„Der junge Beregoff dient in der Garde; er wird ungefähr im Alter Deines Alexander sein.“

„Nein, er ist jünger; er ist sicher ein paar Jahre jünger; ich weiß gewiß, er kam später als Alexander auf die Welt; ich war ja selbst bei der Taufe.“

„Er wird aber doch alt genug sein zu heirathen, oder wenigstens sich zu verloben, um den reichen Fang zu sichern.“

Fürst Michail schwieg eine Weile. „Jünger als Alexander und doch alt genug sich zu verheirathen, um den reichen Fang zu sichern“ – diese Worte summten ihm beunruhigend durch den Kopf; er brauchte Zeit, um die natürliche Schlußfolgerung daraus zu ziehen, und Dimitry ließ ihm Zeit. Endlich hub der Fürst wieder an, gleichsam um sich selbst zu beruhigen:

„Mit der Heirath ist’s dummes Zeug; Olga ist ja noch ein Kind.“

„War noch ein Kind vor zwei Jahren –“ bemerkte Dimitry trocken, „sie hat sich seit der Zeit merkwürdig entwickelt.“

„Hast Du sie gesehen?“

„Ganz zufällig, kurz vor meiner Abreise von Deutschland; ich mußte wegen meiner Pässe zu unserem Gesandten nach Dresden, wo sie wohnte.“

„Ist sie hübsch?“

„Allerliebst.“

Der Fürst ließ ein paar Flaschen mit Spinngewebe kommen, trank eine davon stillschweigend mit dem Bruder aus und sagte beim Anbruch der zweiten, wie zu sich selbst sprechend:

„Das wäre eine Partie für Alexander, wenn mit dem Jungen nur was anzufangen wäre; er ist ganz aus der Art geschlagen; hat nichts von mir. Ja,“ rief er jetzt laut, „wenn ich an seiner Stelle wäre! Aber er ist ganz aus der Art geschlagen!“

„Wer ist aus der Art geschlagen?“ fragte Dimitry, als ob er blos die letzten Worte gehört hätte.

„Nun, Alexander mein ich; sonst wäre das ganz eine Partie für ihn, wenn der Junge nur Haare auf den Zähnen hätte. Aber es ließe sich doch wohl machen, denn heirathen muß er ohnehin über kurz oder lang.“

„Heirathen muß er, das versteht sich von selbst,“ bemerkte Dimitry trocken.

„Nun, warum kann er denn nicht Olga heirathen? Ich sehe nicht ein, warum nicht.“

„Das sehe ich auch nicht ein.“

„Du siehst’s auch nicht ein? – Das glaub’ ich, jetzt, wo ich’s Dir gesagt habe! Warum bist Du denn nicht selbst auf den Gedanken gekommen? Es lag doch so nahe. …“

„So nahe, wie die Güter der Gräfin –“ fuhr Dimitry fort. „Aber man denkt an so etwas nicht gleich, wenn man selbst keine Kinder hat. Uebrigens, wenn ich Dir nützen kann in dieser Angelegenheit …“

„Ja, Du kannst mir nützen; allerdings kannst Du mir nützen, denn die Sache muß abgemacht werden, und bald, damit uns der General mit seinem Sohne nicht in’s Gehege kommt. Du bist ein alter Freund der Gräfin; Du bist der rechte Mann, um die Sache schnell in’s Reine zu bringen.“

Es wurde nun verabredet, daß Dimitry die Damen in Baden-Baden mit Alexander zusammenbringen solle, aber so, daß sich Alles wie zufällig mache; alles Weitere nach Gunst der Zeit und Umstände zu fügen, blieb ganz seiner bewährten Klugheit überlassen. Selbstverständlich durfte es bei der Durchführung dieses Planes an Geld nicht fehlen, und der Fürst zeigte sich in diesem Falle großartiger, als Dimitry erwartet hatte, dem überdies nach glücklichem Erfolge noch eine ansehnliche Belohnung in Aussicht gestellt war. Es lag ihm deshalb sehr daran, die Sache zu beschleunigen. Zwei Tage nach der oben angeführten Unterhaltung mit seinem Bruder war er schon auf dem Wege nach Deutschland. Die Gräfin folgte mit ihrer Tochter seiner Einladung nach Baden bald; Alexander aber ließ, aus uns schon bekannten Gründen, auf sich warten und beantwortete die dringenden Briefe des Onkels mit der Entschuldigung, daß er vor der Vollendung seiner Cur nicht abreisen dürfe. Er wollte, bevor er Liebenstein auch nur auf ein Kurzes verließ, erst die Antwort seiner Mutter auf seinen flehentlichen Brief abwarten, um Gewißheit über sein Schicksal zu haben. Mit Maria war er inzwischen nicht weiter gekommen, als wir schon gesehen [291] haben. Das Mädchen bezeigte ihm eine gleichmäßige Freundlichkeit, aber darüber hinaus ging sie nicht. Für seine Liebesbetheuerungen hatte sie kein rechtes Verständniß; offenbar theilte sie seine glühenden Gefühle nicht und war zu ehrlich, um Leidenschaft zu heucheln; sie duldete seine kleinen Zärtlichkeiten, ohne dieselben zu erwidern.

Nach gewöhnlichen Voraussetzungen hätte ihm dieses ungleichartige Verhältniß auf die Dauer unerträglich werden müssen, allein in Wirklichkeit fühlte er sich täglich mehr zu Marie hingezogen. Ein ähnliches Verhältniß zu einer höherstehenden Dame würde ihn wahrscheinlich zur Verzweiflung gebracht haben, hier aber lag in dem Widerstreben der naturwüchsigen Jungfräulichkeit iein eigenthümlicher Reiz für ihn. Er sagte sich: sie würde dich lieben, wenn du kein Fürst wärest, und er bedauerte, daß ihm das Schicksal nicht vergönnt habe, ihr zuerst im schlichten Gewande entgegenzutreten, wie jener Ritter des Liedes seiner ländlichen Geliebten, die er in Bauerntracht gewann, um sie dann, ihres Besitzes sicher, als große Dame in sein Schloß zu führen.

Als Alexander einmal wieder allein mit Marie am Staket des Gartens stand, über welches hinweg sie eben gemeinsam die Hühner gefüttert hatten, fragte er sie:

„Würdest Du mich gleich geheirathet haben, Marie, wenn ich Dir von vornherein als ein Mann Deines Standes, aber sonst ganz wie ich bin, entgegengetreten wäre?“

„Ei gewiß,“ antwortete sie, „wenn Ihre und meine Eltern ihren Segen dazu gegeben hätten.“

„Warum nennst Du mich nicht auch Du, wie ich Dich nenne?“

„Weil Sie ein vornehmer Herr sind und ich ein geringes Mädchen bin.“

„Dir gegenüber bin ich kein vornehmer Herr, ich stelle mich ganz auf gleichen Fuß mit Dir; warum erinnerst Du mich immer an das, was ich nicht sein will?“

„Weil Sie nicht aufhören können es zu sein, auch wenn Sie wollen.“

„Ich könnte Dir wirklich böse werden über Deine Hartnäckigkeit.“

„Wie könnten Sie mir böse werden, da ich Ihnen so gut bin!“ – sagte sie, ihm treuherzig die Hand reichend; und er war wieder selig.

Die schon lange erwartete Antwort von seinen Eltern aber blieb aus.

4.

Die Schilderung der Scene, welche der jähzornige Fürst Michail seiner Gemahlin machte, als sie ihm in einer – wie sie glaubte – guten Stunde die Wünsche Alexanders mittheilte, wollen wir unseren Lesern ersparen.

Dimitry erhielt von seinem Bruder einen in der wüthendsten Aufregung geschriebenen Brief, worin er ihm vorwarf, daß er ihn schändlich hinter’s Licht geführt und betrogen habe. „Entweder,“ schloß er, „Du reißest auf der Stelle mit Gewalt meinen entarteten Alexander von der nichtswürdigen Bauerndirne los und bringst die Verbindung mit Olga zu Stande, oder ich reiße mich auf ewig von Dir und ihm los.“

In Folge dieses Briefes hielt es Dimitry nicht für gerathen, die schon so lange verzögerte Vollendung der Cur Alexander’s abzuwarten; der Brief, den der verliebte junge Fürst an seine Mutter geschrieben hatte, war dem Onkel vom Vater zu besserer Einsicht in den Stand der Dinge beigelegt worden, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sein Neffe, dessen Benehmen ihm schon bei der ersten Begegnung in Liebenstein wunderlich genug vorgekommen war, völlig den Verstand verloren haben müsse, um an eine ernste Verbindung mit dem hübschen Bauernmädchen zu denken. Unverzüglich machte er sich auf den Weg nach Liebenstein, um den Weisungen seines Bruders pünktlich Folge zu leisten.

Er fand Alexander nicht zu Hause, dafür aber dessen alten treuen Diener Peter, der ihn schon als Kind auf den Armen getragen und seitdem immer begleitet hatte.

„Aber was zum Teufel, Peter,“ rief er, „ist mit Deinem jungen Herrn vorgegangen?“

„Der Himmel weiß es, wie es gekommen ist, daß er sich so über Hals und Kopf in das hübsche Mädchen verliebt hat. Aber es scheint, daß er nicht von ihr lassen kann; er hat mir sogar gesagt, er wolle sie heirathen. Den ganzen Tag steht er mit ihr auf dem Felde und hackt das Kartoffelland oder pflanzt Kohlrüben um.“

„Hackt Kartoffeln und pflanzt Kohlrüben um? Sag’ einmal ehrlich, Peter, glaubst Du nicht, daß er den Verstand verloren hat?“

„Nein, das glaub’ ich nicht, gnädiger Herr; er ist so verständig und gut, wie er immer war; nur hat er für nichts Anderes mehr Sinn als für das hübsche Mädchen.“

Dimitry war nicht so leicht von der Ansicht abzubringen, daß es mit dem Kopfe seines Neffen nicht ganz richtig stehe; er ließ sich zu seinem Arzte führen, erfuhr aber von diesem auch nicht mehr, als ihm Peter gesagt hatte. Am meisten fiel es ihm auf, zu hören, daß das Verhältniß des jungen Fürsten zu Marie allgemein als ein ganz unschuldiges gelte, daß diese sich des besten Rufes erfreue und sehr geachtete, brave Eltern habe.

Unglaublich wie ihm dieser Bericht klang, bestimmte derselbe doch seinen Entschluß, möglichst sanft gegen seinen Neffen vorzugehen. Er ließ sich von Peter auf das Feld führen, wo er wirklich Alexander in Gesellschaft Mariens und ihres Vaters (die Mutter war zu Hause geblieben) beschäftigt fand, die Erde um die Kartoffeln herum zu lockern. Der junge Fürst hackte mit einem Eifer darauf los, daß er lange seinen Onkel gar nicht bemerkte, da er daran gewöhnt war, von neugierigen Gaffern angestaunt zu werden, ohne sich um sie zu kümmern. Als er endlich Dimitry’s ansichtig wurde, begrüßte er ihn ziemlich einsilbig; er fühlte keine Freude über das Wiedersehen und heuchelte auch keine. Das lange Ausbleiben der so sehnlich erwarteten Briefe von Haus hatte ihn schon mit den schlimmsten Gedanken vertraut gemacht; als er nun durch Dimitry’s Bericht seine trüben Ahnungen erfüllt sah, war er tief gebeugt, aber nicht überrascht. Marie bemerkte, daß er kreideweiß wurde und seine Hacke fallen ließ; sie sprang auf ihn zu und fragte, ihm zärtlich in’s Auge blickend, was er habe.

„Folg’ mir zur Mutter in’s Haus,“ sagte er. „Ihr sollt Alles wissen. Dies hier ist mein Onkel, der mit Nachrichten von meinen Eltern kommt; er wird uns begleiten.“

Marie, innig bewegt, sprach ein paar Worte zu ihrem Vater, der sich danach bewogen fühlte, seine Arbeit einzustellen, um sich dem Heimzuge anzuschließen. Er nahm sämmtliche Hacken auf seine Schulter und ging mit Marie voraus. Alexander ließ sich willenlos von Dimitry am Arm führen, sprach aber auf dem ganzen Wege kein Wort, so viel der Onkel auch in ihn hineinredete. Marie sah sich öfter nach ihm um; die dicken Thränen standen ihr in den Augen.

Die Mutter war in der Küche beschäftigt, als der Zug zu Hause ankam. Sie legte ihre Arbeit bei Seite und trat in das reinliche Zimmer, auf dessen Tische eine Bibel lag und ein frischer Strauß Blumen stand. Dimitry begrüßte sie mit achtungsvoller Freundlichkeit, ganz erstaunt über ihre intelligenten Züge und ihr schönes, kluges Auge.

„Es thut mir von Herzen leid,“ sagte er, „daß ich als ein Bote in’s Haus komme, der keine guten Nachrichten bringt. Mein Neffe, dessen Liebe zu Eurer Tochter ich jetzt vollkommen begreife, hat seine Eltern um ihren Segen zu seiner Verbindung mit ihr angefleht; allein sein Vater, mein leiblicher Bruder, hatte schon früher anders über ihn verfügt und giebt seinen Segen zu dieser Verbindung nicht.“

„Das habe ich mir gleich gedacht und auch dem gnädigen Herrn gleich gesagt, denn es war nicht denkbar, daß ein reicher Fürst seinem einzigen Sohn erlauben werde, ein schlichtes Landmädchen zu heirathen, das in große Verhältnisse gar nicht paßt, weil es nicht dafür erzogen ist. Wenn ich trotzdem dem jungen Herrn erlaubt habe, täglich mit meiner Tochter zu verkehren und mein Haus als das seinige zu betrachten, so geschah das nur, weil ich wußte, daß ich mich auf meine Tochter verlassen konnte, und auf den jungen Herrn auch, denn ein so braver, guter Herr wie dieser ist mir noch nicht vorgekommen. Dem sieht man’s auf den ersten Blick an, daß an ihm kein falsches Haar ist; der kann keine anderen als ehrliche Absichten haben; dem kann jede Mutter ihr Kind ruhig anvertrauen. Dennoch habe ich mich oft gefragt, ob es nicht Sünde wäre, sich, wenn auch ganz schuldlos, dem Gerede der Leute auszusetzen, das nun einmal nicht zu umgehen ist, wenn ein Mann und ein Mädchen oft beisammen sind. Aber ich konnt’ es nicht über’s Herz bringen, die jungen Leute zu [292] trennen, da ich sah, daß der gnädige Herr sich gar so glücklich bei uns fühlte und lieber mit uns verkehrte, als mit seines Gleichen. Er hat ganze Stunden mit mir geplaudert, ohne daß Marie dabei war, und ich habe nicht bemerkt, daß er sich langweilte. Wenn er nicht von gar so hoher Abkunft wäre, so könnte ich mir keinen liebern Schwiegersohn wünschen, denn er liebt Marie wirklich, und sie ist ihm auch von Herzen gut; aber der Abstand ist zu groß; er versteht sie nicht und sie versteht ihn nicht.“

Der Alte nickte von Zeit zu Zeit zustimmend, als ob er sagen wollte: meine Frau spricht mir ganz aus dem Herzen; ich kann es nur nicht so klar von mir geben wie sie.

Alexander und Marie saßen wie regungslos in sich versunken; sie sprachen kein Wort.

Dimitry empfand bei den Worten der braven Frau, was er lange nicht mehr empfunden hatte: wirkliche Achtung vor den Menschen. Er hatte eigentlich gar nichts mehr zu sagen, denn alles Wesentliche war schon gesagt, und das, worauf er sich vorbereitet hatte, paßte nicht zu der Lage. Daß hier von Seiten der Eltern nichts geschehen war, was irgendwie mit eigennützigen Motiven zusammenhing, um Alexander an Marie zu fesseln, war ihm vollkommen klar, und die Worte, die er jetzt an die Mutter richtete, kamen ihm wirklich aus dem Herzen.

„Ihr seid die bravste Frau,“ sagte er, warm ihre Hand drückend, „die mir je vorgekommen; die traurige Pflicht, welche mir auferlegt ist, das junge Paar zu trennen, wird mir dadurch nur um so schwerer. Wenn ich nur die leiseste Hoffnung hätte, den harten Sinn meines Bruders zu erweichen, so würde ich Alles thun, um dies junge Paar glücklich zu machen, statt es zu trennen. Aber ich kenne meinen Bruder … da ist der Brief Deines Vaters,“ fuhr er, nach einigem Nachdenken sich zu Alexander wendend, fort, „lies und entscheide dann selbst!“

Den jungen Fürsten durchrieselte ein eisiges Schaudern beim Lesen des Briefes; er konnte ihn nicht zu Ende bringen; er hielt inne bei der Stelle, wo sein Vater den Fluch über ihn aussprach, falls er sich von der Bauerndirne nicht losreiße.

Das vierte Gebot wird von den Russen strenger gehalten als von andern Völkern; wenn Alexander sich auch nie zu seinem Vater so hingezogen fühlen konnte wie zu seiner Mutter, er war ihm doch immer ein treuer, gehorsamer Sohn gewesen. Dieser Brief aber brachte ihn ganz außer sich.

„Das hab’ ich nicht verdient“ – rief er, jäh aufspringend – „den Fluch meines Vaters hab’ ich nicht verdient um meiner Liebe willen! O Gott! o Gott! laß mich nicht wahnsinnig werden!“

Dann brach er förmlich zusammen, wie bewußtlos.

Während Marie theilnahmvoll um ihn beschäftigt war und seine Schläfen und Stirn mit Wasser kühlte, um ihn wieder zu sich zu bringen, fragte die Mutter ängstlich flüsternd Dimitry:

„Steht das wirklich im Briefe, was er da sagte? Flucht ihm sein Vater um meines Kindes willen?“

Dimitry nickte traurig, und die gute Frau brach in lautes Schluchzen aus.

Alexander kam nicht so bald wieder zu sich; sein Kopf glühte wie die Mittagssonne; er fing an zu phantasiren. Der herbeigerufene Arzt erklärte seinen Zustand für sehr bedenklich. Er wurde vorsichtig in seine Wohnung getragen; Marie und ihre Mutter wichen nicht von seinem Bett; sie wachten die ganze Nacht bei ihm. Der Arzt gab ihm nur noch wenige Tage zu leben, allein unter Marie’s Pflege lebte er noch einige Monate.

Dimitry hatte den traurigen Fall sofort seinem Bruder erst telegraphisch, dann ausführlicher brieflich gemeldet. Die zärtliche Mutter wartete den Brief nicht ab, um an das Lager ihres einzigen Sohnes zu eilen. Schon nach acht Tagen war sie bei ihm. Er kam wieder zu vollem Bewußtsein; der Fluch seines Vaters wurde von ihm genommen, nachdem derselbe seine vernichtende Wirkung schon geübt hatte. Die Fürstin, welche Marie wie ihre Tochter und deren Eltern wie liebe Verwandte behandelte, suchte Alexander durch die Hoffnung aufzurichten, daß er Marie doch noch heimführen könne; allein er schüttelte, so oft sie darauf zurückkam, traurig lächelnd den Kopf und sagte:

„Es ist zu spät, ich bin schon glücklich, daß Du bei mir bist, daß Du Marie liebst und daß Ihr Beide mich pflegt. Mit meinem Leben ist’s aus, aber die Hand der Liebe wird mir die Augen zudrücken.“

Die gute Fürstin begriff vollkommen, warum ihr Sohn sich bei dem Mädchen von Liebenstein so glücklich gefühlt hatte; sie hatte daheim in ihrem prachtvollen Schlosse so gute Tage nicht gesehen wie Alexander in Marie’s Hause.

Sie erfüllte auch den letzten Wunsch des Sterbenden, in Liebenstein begraben zu werden, und versprach ihm aus freien Stücken, jedes Jahr nach Liebenstein zu kommen, um an seinem Grabe zu beten und frische Blumen darauf zu pflanzen. –

Sie hielt Wort.

Als sie das erste Mal wieder kam, geschah es in Begleitung ihres Gemahls, den der Tod seines einzigen Kindes tiefer erschüttert hatte, als man bei dem rauhen Manne erwartet haben würde. Allein eine innere Stimme rief ihm zu: „Du bist der Mörder Deines Sohnes!“ Und dieser Vorwurf drückte ihn, bis er ihm das Herz zerdrückt hatte. Er vermachte in seinem Testamente große Summen den Findel- und Waisenhäusern in Moskau und Petersburg und gedachte reichlich der Armen.

Als die Fürstin zum zweiten Male wieder kam nach Liebenstein, kam sie als Wittwe. Sie brachte reiche Geschenke mit für Marie und ihre Eltern, die solche annahmen und – wie Alles, was sie schon früher von Alexander erhalten hatten – bei Seite legten und aufbewahrten wie geheiligte Dinge, die gar nicht zu ihnen gehörten. Marie war nie zu bewegen gewesen, von den Schmucksachen, welche Alexander ihr geschenkt hatte, etwas Anderes zu tragen als ein goldenes Kreuz mit dem Bilde des Heilandes; die goldene Kette ließ sie ablösen und trug das Kreuz an einer schwarzen Schnur am Halse.

Eines Tages ließ sich bei der Fürstin ein junger, sehr schmuck aussehender Mann melden, der sie sehr verlegen und bewegt um ihre Vermittelung bei Marie bat, die er leidenschaftlich liebe und der er auch früher, bevor sie den jungen Fürsten gekannt, nicht ganz gleichgültig gewesen sei. Allein damals habe er nicht gewagt um sie zu werben, weil ihm noch die Mittel zum Heirathen gefehlt hätten, und später habe ihn ihr Verhältniß zum Fürsten und ihre Trauer um seinen Tod von ihr ferngehalten. Inzwischen sei er aber durch Fleiß und Glück in sehr behagliche Verhältnisse gekommen und würde ganz glücklich sein, wenn es ihm gelänge ihre Hand zu erhalten, denn ein braveres Mädchen als die Marie lebe im ganzen Thüringer Lande nicht.

Die Fürstin versprach ihre Vermittelung. Marie’s Zustimmung war schwer zu gewinnen, aber ehe der Herbst in’s Land kam, wurde sie gewonnen, denn der junge Mann war ihr in der That nicht gleichgültig.

Als die Fürstin zum dritten Mal seit dem Tode ihres Sohnes nach Liebenstein kam, veranstaltete sie selbst die Hochzeitsfeier des hübschen Paares, das sie gar zu gern mit sich nach Rußland auf ihre Güter genommen hätte. Allein Marie wollte ihr theures Liebenstein mit dem geheiligten Grabe und ihre Eltern nicht verlassen.

Ich begegnete ihr vor einigen Tagen, als sie an der Seite ihres Mannes von dem Grabe des todten Freundes kam, das sie mit frischen Blumen geschmückt hatte. Sie trug auf dem Arme einen allerliebsten Jungen und sah selbst noch ganz mädchenhaft aus. Ich blieb vor ihr stehen, streichelte dem Jungen die Wangen und fragte: „Wie heißt der Kleine?“

Und sie küßte das Kind und sagte: „Alexander.“




Ein Geschichtsschreiber der Wahrheit.

Am 23. Juni 1848 trat in der Paulskirche zu Frankfurt am Main ein Mann auf die Rednerbühne, um über die Gestaltung der provisorischen Centralgewalt für Deutschland sein Wort zu sprechen. Schon damals hatte der Parteihaß aus dieser Versammlung die Würde vertrieben; in den Hallen, in welchen nur heiliger Ernst zu walten hätte befugt sein sollen, erscholl oft rohes Gelächter des Hohnes und Spottes aus den Reihen der Gegnerpartei eines Redners, und solche Mißhandlung traf oft die einst gefeiertesten Männer der Nation. Leider ist diese Erscheinung eine herrschende in allen Versammlungen unserer Volks- und

[293]

Wilhelm Zimmermann.

Landesvertretungen geblieben, entwürdigt sie vor den Augen aller Welt und gehört zu den Uebeln, die man nicht streng genug rügen kann und denen man nicht eifrig genug den Eingang in den neuen Reichstag in Deutschland versperren sollte.


Gleich die ersten Sätze jenes Redners in der Paulskirche wurden von einer Reihe von Sitzen her mit der berüchtigten „Heiterkeit“ begrüßt; Leute, die man als „Männer“ in das Parlament geschickt, schämten sich nicht, wie Kinder zu lachen, weil der Redner seine schwäbische Heimath in seiner Sprache ein wenig stark verrieth. Der wackere Schwabe ließ sich jedoch nicht irre machen von so niedrigem Spott, sondern schürte das Feuer seiner Rede so nachhaltig, seiner kerngesunden Brust entquollen die Töne so donnernd, daß der kleine Spuk schwieg und des Mannes Wort Herr wurde über die nur allzugewöhnliche Unruhe des Parteihaders. Nur einzelne Zurufe des Widerspruchs oder Beifalls unterbrachen noch den Fluß seiner Rede. Hocherregt schloß er:

„Meine Herren! Ich wünsche aus vielen Gründen, daß wir uns vereinigen. Die große Stunde, die Schicksalsstunde für das deutsche Volk ist vorhanden, wir wollen sie nicht vorübergehen lassen; in unserer Hand liegt es, so zu handeln, daß das deutsche Volk größer und freier werde, als die alten freien Staaten, größer und freier als England, Frankreich, als Amerika. Aber eins müssen wir sein und eins vor allen Dingen in dem, was das Volksthümlichste, das Nationalste ist. Wenn das nicht geschieht, ich will nicht sagen, was ich dann fürchte, ich will nicht prophezeien, denn die Prophezeiungen, das zeigt mir die Geschichte, haben nie etwas genützt; es zeigt sich im Gegentheil, es war immer so, man war guter Dinge, man lachte und tanzte, bis der Sturm, der durch Gottes Macht im Volk erwacht war, die Tänzer zu Boden riß. Man hat gesagt, dieser Sturm könne auch uns zu Boden reißen, – wohl möglich, meine Herren, aber wenn wir fallen, so soll wenigstens uns, den Gefallenen, von Freund und Feind noch nachgesagt werden, daß wir wahrhaft und redlich gewesen, daß wir treu gehalten haben zu unserem Grundsatz, zur Freiheit, zum Volk, zur Nation. Untergehend werden wir ein ehrenvolles Grab finden in den Herzen unseres Volks.“

Wahrhaft und redlich hielt dieser Redner zur Sache des Volks bis zum letzten Augenblick der Reichsvertretung in Stuttgart. Die Gelehrten und Gebildeten des Parlaments mußten schon seit Jahren, aus den Schriften des Mannes, wissen, daß er nicht anders sprechen und handeln konnte; war er doch der Verfasser der ersten wahrhaften und redlichen Geschichte des großen deutschen Bauernkriegs, der unerschrockene Enthüller und Verbreiter geschichtlicher Wahrheit. Das ist des Mannes größtes, aber ein beneidenswerthes Verdienst. Wer da weiß, wie viel persönliche Liebhaberei und parteiliche Absicht in der Geschichtschreibung von je ihr Wesen trieb, der zieht den Hut ab vor einem Manne, welcher die Quellen der Geschichte unter der rücksichtslosen Aufsicht des Gewissens durchforscht und darnach allein das Urtheil der Geschichte ausspricht. Dieser Mann, der gar wohl durch den Ehrentitel eines deutschen Geschichtsreinigers ausgezeichnet werden darf, ist: Balthasar Friedrich Wilhelm Zimmermann.

Zimmermann gehört zu den glücklichen Männern, die, nach harter Jugend zu gründlichem wissenschaftlichen und harmonischen Ausbau ihres Talents gediehen, zur Zeit der rührigsten Schaffelust auch Gelegenheit, Mittel und Muße finden, würdigen Zielen nachzustreben, und zu den noch glücklicheren, zur Lebensgefährtin ein Weib zu erlangen, das sich, gleichbegabten Geistes, mit [294] ihm verbinden und zur Ausführung seiner schriftstellerischen Lebensaufgaben ihm die geschickte, treue Hand bieten kann. Mit dankbarem Herzen gesteht er ein, daß seine Gattin vom ersten Tage ihrer Ehe an von seinen geistigen Schöpfungen unzertrennlich, daß sie mehr als sein bloßer Secretär war, daß ihre Hülfe es ihm möglich machte, so viele Zeit dem Studium der Quellen zu widmen, auf welchen seine Geschichtswerke hauptsächlich fußen, ja, daß sie auf Grundlage des von ihm gelieferten Materials einzelne Stücke seiner Werke selbständig auszuarbeiten vermochte, wie dies z. B. mit einigen Kaiserbildern seines von der Rieger’schen Verlagshandlung geschmackvoll illustrirten Prachtwerks „Der deutsche Kaisersaal“ der Fall war, und darum hat sie es redlich verdient, daß ihr Name hier mitgenannt werde: Louise, geborene Dizinger. Daß Zimmermann aus den Kreisen des Volks, dem sein Herz treu geblieben, sich geistig emporgeschwungen, hat den Hauptzug seines historischen Schaffens bestimmt: nicht der unbedingte Schmeichler dieses Volks zu werden, sondern sein wahrhaftiger Freund, der keiner Volksthümlichkeit, keiner Nationalität ein besonderes Recht vor anderen einräumt, sondern, wie wir eben an ihm gerühmt haben, alle mit derselben Wahrheit zum Besten des gleichen, unwandelbaren Rechts und zum Heil der einen allein menschenwürdigen Freiheit behandelt.

Der aufgeschossene Junge mag manchen Spott zu ertragen gehabt haben, als er, anstatt als Handwerkslehrling das für ihn bestimmte Schurzfell umzulegen, aus der „deutschen Schule“ in die unterste Classe des Stuttgarter Gymnasiums trat, um zwischen vier bis fünf Jahre jüngeren Mitschülern das versäumte Latein und Griechisch nachzuholen. Er überstand das Mißverhältniß, holte seine Altersgenossen in einem Jahr ein und vollendete dann den würtembergischen Bildungsgang der Theologen und Philologen durch das Seminar zu Blaubeuren und das Stift zu Tübingen in derselben unentgeltlichen Weise, die dort dem Lande schon manchen tüchtigen Mann der Wissenschaft, der Dichtkunst und der politischen Thätigkeit gegeben hat. –

Der Lebensgang eines Mannes, den die Sorge um amtliches Brod nicht drückte, den folglich keine Rücksicht auf obere Gunst am Faden der Vorsicht in seinen Meinungsäußerungen festhielt, konnte nicht der ruhig dahinlaufende des gewöhnlichen Gelehrten sein. Zimmermann, der Geschichtschreiber und Dichter, wurde von seiner Zeit miterfaßt und als Publicist und Redner auf die Bühne der That gestellt. Er ging, wie sein Landsmann Uhland es bezeichnete und mit ihm, in „den schweren Dienst der Freiheit“, als diese ihn rief, und empfing später den Lohn, oder die Strafe dafür, die man damals für gerecht hielt. In Folge seiner historiographischen Leistungen hatte man ihn, der seit 1840 in Dettingen an der Erms, in der großartig schönen Natur des Uracher Thals als Diakonus gewaltet und seine sehr freie Muße benutzt hatte, um seinen „Bauernkrieg“ zu vollenden, im Herbst 1847 nach Stuttgart als Professor der Geschichte und deutschen Sprache und Literatur an der Polytechnischen Schule berufen, aber schon der nächste Frühling führte ihn in das deutsche Parlament. Als das nationale Trauerspiel mit dem letzten Act in Stuttgart ausgespielt war, wurde Zimmermann, wegen seiner politischen Thätigkeit als Abgeordneter und namentlich wegen der in solcher Eigenschaft von ihm gehaltenen Reden, wie man ihm ausdrücklich mittheilte, seiner kaum genossenen Stuttgarter Professur wieder enthoben. Dagegen gab damals das würtembergische Consistorium ein schönes Beispiel männlicher Festigkeit und Gerechtigkeit, denn als man von Seite der Reaction auf dasselbe eindrang, Zimmermann auch von der kirchlichen Anstellung auszuschließen, wies es standhaft und energisch dieses Ansinnen als durch nichts begründet zurück. Zimmermann hatte sich von dieser Seite steter Berücksichtigung zu erfreuen und verdankte derselben schon 1854 einen neuen friedlichen Pfarrwohnsitz zu Leonbronn im Zabernthal, hart an der badischen Grenze und nur anderthalb Meilen von Bretten. Von dort siedelte er zehn Jahre später auf die schöne Pfarrei Schnaitheim im Brenzthal, vier Meilen von Ulm, über, wo er am 2. Januar 1869 seinen zweiundsechszigsten Geburtstag gefeiert hat.

Zwei Werke sind besonders bestimmt, Zimmermanns Bedeutung als Geschichtsforscher und Geschichtschreiber festzustellen. Zuerst seine mehrerwähnte „Geschichte des großen Bauernkriegs“. Wohl in keiner Geschichtsdarstellung ist ärger gesündigt gewesen, als in der gerade dieses Kriegs, in welchem Priester und Fürsten die gefährdete Partei waren. Da kam Zimmermann’s Werk, das zum ersten Male jene Zeit einer geisterweckten deutschen Erhebung nicht blos vom Standpunkte einer freieren Weltanschauung aus betrachtet, sondern vor Allem die Schlacken zu lösen sucht, mit welchen die Parteileidenschaft seit Jahrhunderten die Charaktere jener Zeit ebenso ungerecht zu ihren Gunsten wie zu ihrem Nachtheil entstellte. Gleich bei seinem ersten Erscheinen (1840–1844) fiel dieses Buch zündend nach allen Seiten in Deutschland ein, wurde bewundert und verfolgt, in Baden, Baiern und Oesterreich verboten und doch zugleich den Bibliotheken österreichischer Klöster einverleibt und in der kurzen Zeit von acht Jahren in mehr als dreißig Auszügen von Anderen weiter im Volke verbreitet. Mit diesem Werke erfocht Zimmermann einen Sieg der geschichtlichen Wahrheit auf dem Felde alten Ständeparteikampfs. Wie ernst er es in solchem Kampf meinte, sprach er selbst in dem Vorwort zu seiner „Geschichte der Jahre 1840 bis 1860“ aus, wo er daran erinnerte, daß Schlosser sich das Wort des Engländers Walther Raleigh zur Richtschnur genommen: „Wer in der neueren Geschichte der Wahrheit zu nahe hinter den Fersen hergeht, dem kann sie leicht einmal die Zähne ausschlagen.“ – „Und wenn auch!“ ruft da Zimmermann aus; „auch auf diese Gefahr hin muß der Geschichtschreiber die volle ganze Wahrheit sagen und auf seinem Posten als Prophet und Zeuge derselben eher, als daß er einen Finger breit weicht, sich zusammenhauen lassen so gut wie der treue Priester am Altar seines Glaubens, wie der brave Soldat an seiner Kanone.“ –

Das andere Werk ist seine „Geschichte der Hohenstaufen“, deren zweite umgearbeitete Auflage im Jahre 1865 erschienen ist. In diesem Buche legt er denselben Maßstab strengster Unparteilichkeit in der Beurtheilung des Kampfes der Nationalitäten an. „Heutzutage,“ sagt er, „ist das Recht der Nationalitäten, wonach jede sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammen zu schließen und selbstbestimmend ihre Angelegenheiten zu ordnen hat, nahe daran, von ganz Europa anerkannt zu werden. Heutzutage ist man endlich auch in Betreff der Geschichtschreibung nahe daran, anzuerkennen, daß nur diejenige Art der Geschichte die rechte ist, welche keine Rücksicht nimmt als auf die thatsächliche Wahrheit, und daß, wo zwei Nationalitäten im Kampfe miteinander zu schildern sind, der Geschichtschreiber der einen Nationalität ganz besonders auf der Hut sein muß, nicht aus Liebe zu seinem eigenen Volke die Thatsachen und die Mitwirkenden auf Kosten der Wahrheit zu behandeln. Der Patriotismus, welcher, statt nach beiden Seiten hin gerecht zu sein, parteiisch die Geschichte schreibt, sie patriotisch auf- oder umfärbt, ist nicht blos ein falscher Patriotismus, welcher unter der Stufe der Humanität zurückgeblieben ist, sondern ein Verrath an der Wahrheit, nicht blos eine Unsittlichkeit, ein Verbrechen des Herzens, sondern ein Fehler des Kopfs, ein geistiges Gebrechen. Diese Art von Geschichtschreibung, welche der Verliebtheit der Deutschen in sich selbst schmeichelte, statt sie zum Besinnen auf sich selbst zu bringen, trägt eine große Mitschuld daran, daß Deutschland, was es sein könnte, sein sollte und sein wird, noch nicht geworden ist: eins, frei und groß, herrlich vor allen Völkern der Erde.“

Nicht ganz unerwähnt darf auch seine bereits in dritter Auflage erschienene Geschichte der „Befreiungskämpfe der Deutschen gegen Napoleon“ bleiben. Hier bricht der treue Patriot durch: „Kein Volk,“ sagt er im Vorwort, „hat zum Weltbürgerthum so viel Hinneigung, als das deutsche. Die Welt ist die Heimath des freien Geistes; aber der freieste Geist, wenn er kein Lump ist, hat in der großen Heimath, der Welt, sein besonderes Vaterland. Er ist der Sohn seiner Nation, und das Element, in welchem er aufwuchs, lebt und webt, ist die Nationalität“ – eine Wahrheit, welche in unseren Tagen wieder ihre Feinde zu bekämpfen hat, die im Namen der vom festen Grunde nationaler Tüchtigkeit am wenigsten zu trennenden dereinstigen Allerwelts-Freiheit gegen sie auftreten.

In demselben Geiste der Unparteilichkeit und Wahrheit hat die Gartenlaube seit ihrem Bestehen mit ihren Geschichtsbildern zu wirken gestrebt, und es geschieht aus diesem gesinnungsverwandtschaftlichen Gefühl, daß wir dem wackeren deutschen Geschichtsreiniger als ein Zeichen wohlverdienter Anerkennung seines Wirkens auf dem Felde der Wahrheitsforschung und des Freiheitskampfs diesen Artikel widmen. Fr. Hfm.     



[295]
Eine Musterhalle deutscher Arbeit.

Unter den Vereinen, welche sich in unseren Tagen mit dem Wohl der arbeitenden Classen der Bevölkerung beschäftigen, nimmt unstreitig einen der wichtigsten Plätze der Berliner Handwerkerverein ein. Seit einem Jahrzehent hat er wohl über ünfzigtausend meist dem Handwerkerstande angehörige bildungslustige und bildungsfähige junge Leute in seinen Räumen mit den Gaben der Bildung und Wissenschaft beköstigt und von seinem Platz aus dem Fortschritt gedient, wie wenig gleichstrebende Vereine konnten. Denn zu richtiger Stunde und am rechten Platz wurde das Unternehmen begonnen, verfügte über reiche und seinen Zwecken wohlgeeignete Hülfskräfte, da es die besten Männer der Wissenschaft in Berlin unter seine Lehrer zählt, und fand eine der Zahl nach überaus große, den Leistungen nach unvergleichlich strebsame Hörerschaft. Aber einen der im Statut ausgesprochenen Zwecke vermochte der Verein mit seinen gegebenen Mitteln nicht zu erreichen, die Erwerbung tüchtiger Berufskenntnisse der Mitglieder. Denn wenngleich die Berliner Handwerker, die aus dem Verein hervorgegangen sind, dreist mit allen anderen wetteifern können, wo es sich um weite Auschauungen über die Bestrebungen und Fortschritte unserer Zeit handelt; wenn sie gleich sehr wohl im Stande sind, einen guten Brief zu schreiben, einer geordneten Buchführung sich zu befleißigen, sicher zu rechnen und sich des guten Wortes der Muttersprache zu bedienen; ja, wenn sie gleich gelernt haben, Geschmack zu finden an den Meisterwerken der vaterländischen Kunst und das flache sogenannte Volksvergnügen zu vertauschen mit den edelsten Anregungen, zu denen sich die Nation herangebildet hat, – Eines fehlte unverkennbar: die rechte individuelle Kunstarbeit der kleineren Industriellen. Wo sind die Tage hin, so hörte man oft klagen, in denen alles Handwerk durchduftet war vom Hauch der Künste, die Tage der Dürer, Hans Holbein und Peter Vischer, die auch Meister in ihren Gewerken waren und bescheiden zu Markte saßen mit ihrem kleinen Kram, der jetzt Museen ziert und mit Gold aufgewogen wird?

Die letzten Industrieausstellungen, Märkte aller aufstrebenden Völker, haben gezeigt, zu welchen Erfolgen es ein Volk bringen kann, wenn es sich mit Eifer der gewerblichen Künste befleißigt und wofern nur alle Kräfte richtig zum Ziel geleitet werden. Das Geheimniß besteht darin, die Lehre zur Schule zu machen, das ist: zu wirken, daß das Erlernen der Handgriffe einer Kunst sich verbindet mit rechter Anschauung und Würdigung der höchsten künstlerischen Zwecke. Der thätige Mensch wird zu seinem Wohl gewandelt, er giebt es auf, maschinenmäßig für sein Dasein zu arbeiten, und erwirbt Kräfte, die ihn befähigen, die Arbeit im höchsten letzten Sinne zur schönsten Vollkommenheit zu erheben und damit sich und seinem Abnehmer gleich nützlich zu werden, ja, der ganzen Nation von seinem Platz aus mit zu Ehre und Reichthum zu verhelfen.

Solche und ähnliche Erwägungen waren es, welche vor mehr als drei Jahren Lehrer des Berliner Handwerkervereins veranlaßten, ernstlich zu Rathe zu gehen, wie man für unsere Handwerker diese Wege erschließen, wie man den denkenden deutschen Arbeiter in den Erfolgen ebenbürtig machen könnte dem englischen und französischen, denen bei manchen Abirrungen besondere Vorzüge des Geschmackes und der Erfolgfähigkeit der Werke nicht abzusprechen sind, wozu sich noch die weite Erwägung gesellte, daß erfahrungsmäßig gerade in den besten Werkstätten des Auslandes deutsche Arbeiter die Werkführer bilden.

Ursprünglich wurde beschlossen, zu diesem Zweck in der Nachbarschaft des Handwerkerhauses eine Kunstschule anzulegen, die besten der dort producirten Werke mit den Mustern zugleich zu einer Sammlung anwachsen zu lassen und so von unten herauf ein Unternehmen zu gründen, welches aus sich selbst Alles schöpfen sollte, was zu seinem ferneren Gedeihen nöthig würde. Mit gutem Unterricht im Zeichnen, in Projectionslehre und Ornamentik, mit einem Cursus im Musterausnehmen der Weber und einer von Winter zu Winter wieder eröffneten Baugewerkschule war ein Anfang gemacht; in diesem Sommer sollte, so dachten die Anreger der Idee, weiter gebaut werden. Das größte kriegerische und das größte friedliche Ereigniß des letzten Menschenalters unterbrachen und änderten diese Absichten – der Krieg von 1866 und die Pariser Industrie-Ausstellung.

Der erstere verschob die geplante Ausführung, die letztere änderte sie. Eins wenigstens hat sie deutlich ihren Vorgängerinnen, den großen englische Ausstellungen von 1851 und 1862, gegenüber gelehrt, das ist, daß der Aufschwung des bis dahin gänzlich darnieder liegenden englischen Geschmackes in allen Werken der Kleinkunst, welche die reichen, musterhaften Sammlungen und Schulanstalten des South-Kensington-Museums hervorbrachten, ein auf systematische Weise gewonnenes Resultat war. Der große Kunstgelehrte, Professor Waagen, den wir leider in dem vergangenen Sommer zu früh für viele von ihm begründete und geführte Kunstinstitute verloren haben, – er war Director der Berliner Galerie, Professor an der Universität, Vorstandsmitglied des Gewerbe-Museums und Leiter zahlreicher Vereine – hatte dem verewigten Prinzen-Gemahl von England, dem deutschen Fürsten Albert von Coburg, mit Rath und That zur Seite gestanden, als aus den Revenüen-Ueberschüssen der Ausstellungen das Kensington-Museum gegründet wurde. Die Kronprinzessin von Preußen, eine würdige Nachfolgerin ihres heimgegangenen Vaters in der Bestrebung, die Kunst dem Ideal entgegenzuführen, und in praktischer Ausführung idealer Gedanken, hatte den Statistiker Dr. H. Schwabe veranlaßt, in einer faßlichen deutschen Schrift die Resultate des Kensington-Museums niederzulegen. Diese Erkenntniß hatte sich aber auch gleichzeitig in Wien, in München, in Stuttgart Freunden vaterländischen Fleißes aufgedrängt, und sie waren mit ähnlichen Instituten in ihren Städten hervorgetreten. Alle diese Umstände drängten darauf hin, nun endlich auch in Berlin, welches die kriegerischen Umstände inzwischen zu einer friedlichen Hauptstadt des deutschen Nordens gemacht hatten, vorzugehen und ein deutsches Gewerbe-Museum zu gründen, dessen Inslebentreten nach vielen und mühsamen Vorarbeiten endlich im August gesichert war. An der Spitze des Unternehmens standen u. A. Präsident Delbrück, der gegenwärtige Chef des Bundeskanzleramtes, und der rühmlichst bekannte Architekt Professor Gropius. Auf Veranlassung der preußischen Staatsregierung wurden darauf in Paris für fünfzehntausend Thaler mustergültige Kunsterzeugnisse erworben, dem Gewerbe-Museum zur Aufstellung überwiesen und die Vorstandsmitglieder desselben der Professor Reuleaux, Director der Berliner Gewerbe-Akademie, der Bildhauer Lußmann und Gropius, von dem Commissar des norddeutschen Bundes beim Ankauf zugezogen.

Es galt nun dem jungen Institut eine Heimath zu gründen und einen Mann an die Spitze der Ausführungsarbeiten zu stellen, der mit den erforderlichen Kenntnissen auch die rechte Liebe für die Hebung der Kunstgewerbe verband und mit dem Bewußtsein vom Werth deutscher Kunst die Freundschaft des Arbeiters, der ihr zuzuführen ist, vereinigte. Beides gelang. Am 1. October vorigen Jahres wurde das Haus Georgenstraße Nr. 7 gemiethet und nach kurzem Umbau bezogen, der älteren Generation als das Diorama wohlbekannt, Vielen eine süße, unvergleichliche Kindererinnerung wegen der schönen Landschaften, beweglichen Bilder des Theatrum mundi, der Automaten etc., die früher dort zur Weihnachtszeit ausgestellt zu werden pflegten. Der Mann aber, welchen der Vorstand zum Leiter des ganzen Unternehmens ersah, ist der Architekt Grunow, ein Künstler, den schon die ersten Urheber des ganzen Planes wegen seiner umfassenden Kenntnisse, seines feinen Geschmackes und seines erstaunlichen Sammelfleißes zu gewinnen bestrebt waren und der gleichzeitig am Viaduct der Eisenbahnen, auf den Gerüsten der Fabrikanlagen gelernt hatte, ein ehrlich deutsches Wort mit dem schlichten Arbeiter zu reden und ihn für den hohen Werth seiner Kunst zu erwärmen. Mit diesen Bausteinen, einigen zwanzigtausend Thalern baaren Geldes und der leihweisen Hingabe unzähliger Kunstwerke von Seiten der Kunstfreunde ist dann gearbeitet worden. Es bleibt jetzt noch die Antwort übrig auf die Frage: was denn nun bis jetzt gezeitigt worden ist.

Die Hauptsache ist die Unterrichtsanstalt. Mit dem neuen Jahr 1868 wurde sie in den durch einen Umbau in vortrefflich beleuchtete Classen verwandelten Räume der obersten Etage des Vereinshauses und sogleich mit mehr als zweihundert Schülern eröffnet. Der Handwerker-Verein, der Maschinenbauarbeiter-Verein bestrebten sich sofort, ihre Schüler in technischen Zweigen dem Gewerbe-Museum zuzuführen. Auch Frauen-Vereine, namentlich der Verein zur Beförderung der Erwerbsfähigkeit des [296] weiblichen Geschlechts und der Verein der Künstlerinnen sendeten ihre Schülerinnen seit Ostern. Elementar- und Ornamentzeichnen, besonderer Zeichenunterricht für Bauhandwerker, besonderer für Maschinenbauer, Modelliren in Thon und Wachs, Figurenzeichnen und Zeichnen nach Gypsabgüssen werden theils Sonntags Vormittag, theils an den Abenden in der Woche in hellerleuchteten Classen gelehrt. Nachmittags sind die Curse der Schülerinnen, und täglich, den ganzen Tag hindurch, ist die Compositions-Classe geöffnet. In derselben wird das Entwerfen und Ausführen von Zeichnungen zu kunstgewerblichen Zwecken gelehrt und praktisch betrieben. Zahlreiche Aufträge, deren sich diese junge Classe zu erfreuen hatte, sind theils erledigt, theils in Ausführung begriffen. Leider hat gerade diese Classe durch den Tod ihres Begründers, des so jugendfrüh dahingeschiedenen Baumeisters Kolscher, einen unersetzlichen Verlust erlitten. Ein Künstler von Gottes Gnaden! konnte der Geistliche rufen, der ihm die letzte Ehre erwies, als wir ihn, den Vierunddreißigjährigen, in die frühlingswarme Erde legten. Kolscher, der Erbauer des Handwerkerhauses, der Decorateur des Berliner Rathhauses, hatte sich auf allen Gebieten der ornamentalen Technik versucht. In den Räumen des Gewerbe-Museums sind seine Zeichnungen und Entwürfe jetzt aufgestellt, und es ist erstaunlich, was er in so kurzer Frist auszuführen im Stande gewesen ist. Das Haus des Bürgers und den Prachtbau der Fürsten, große Hallen und Säle für öffentliche Zwecke hat er mit idealem Sinne entworfen und vollendet, aber dieselbe Liebe hatte er für Verschönerung aller der Kleinigkeiten, die uns im täglichen Leben umgeben und unser Erdendasein veredeln. Möbel und Hausrath, Silbergeräth und Teppiche, Eisenbahnwagen und Webemuster, Gefäße und Gewänder, ja die kleinen Muster weiblicher Handarbeit hat er, gleichsam mit seinem Reichthum spielend, ersonnen und ausführen lassen. Mancher Stein- und Metallarbeiter, mancher Fabrikant von Gasbeleuchtungs- und Holzzierrathsgegenständen verdankt seine Londoner und Pariser Medaillen ihm.

Nach Kolscher’s Tode ist der Baumeister Jakobsthal mit Leitung dieser Classe betraut worden. Möchte ihm vergönnt sein, weiter zu pflanzen und Resultate zu ernten, die Kolscher nur ahnen konnte! Neben ihm zählt das Institut Künstler wie den Bildhauer Göritz und die Maler Ewald, Schaller, die Ingenieure Greiner und Scholz zu seinen Lehrmeistern. In beiden Wintern wurden sofort mit diesem technischen Unterricht wissenschaftliche Vorträge verbunden. Professor Rosenthal behandelte die Farbenlehre, Dr. Buff die Chemie, Dr. Bischof die Physik, soweit sie den Technologen angeht, und Dr. Julius Lessing, der bekannte Berichterstatter der Pariser Ausstellung, die Geschichte der Kunstgewerbe.

Die Bibliothek, welche schon über ein reiches Material von werthvollen Vorlagen und Vervielfältigungen künstlerischer Mustererzeugnisse verfügt, steht Schülern und Mitgliedern offen.

Die Sammlungen sind in drei Sälen aufgestellt, denen bald ein vierter folgen wird. Vor Allem galt es neue Zweige des Kunstgewerbes zugänglich zu machen, die in Deutschland noch nicht heimisch sind, und hierbei möglichst so zu verfahren, daß der Schüler lernt, dem einfachen Stoffe durch seine künstlerische Behandlang Werth zu verleihen. Ein Beispiel möge statt vieler hier Platz finden. Als die Franzosen vor einigen Jahren Peking eroberten, fanden sie die bei den Chinesen hoch ausgebildete Kunst der metallischen, namentlich Bronze-Emaillen. Diese in Europa seit dem Mittelalter vernachlässigte Kunst war förmlich verloren worden. Man begann nun in Paris die vielen mitgebrachten emaillirten Kleinodien zu vervielfältigen, lernte das vergessene Verfahren auf’s Neue und schuf so eine Fundgrube für fleißige Arbeiter, denen für geschickte Behandlung nicht allzutheurer Stoffe überaus hohe Preise bezahlt werden. Dies Beispiel zeigt auf’s Deutlichste, wie neben der sittlichen und ästhetischen Seite der Sache auch der volkswirthschaftliche Werth derselben kein geringer ist. Aehnliches ließe sich von den einfach schönen Gefäßen des portugiesischen Landmanns, vom Glas des Venetianers, vom Shawl des Persers, vom Geflecht des Japanesen, vom Ruder des Malayen ausführen. – Dann aber mußten neben diesen Kunsterzeugnissen schon vorhandene Gegenstände in solcher Ausführung vorgeführt werden, daß Nachahmungstrieb und Wetteifer des Handwerkers angespornt wurden. Hierzu dienen vorzugsweise Originale oder doch treue Copien der im Mittelalter in einigen, in der Renaissance- und Rococo-Zeit in anderen Zweigen auf’s Höchste ausgebildeten Stücke der Kleintechnik. Der Schlosser, der Töpfer, der Holzschnitzer, die Spitzenklöpplerin, sie Alle können von ihren Vätern und Müttern gar viel lernen. Hier sind nun Galvanoplastik, Photographie und das Abguß-Verfahren mit Gyps unvergleichliche Hebel der modernen Zeit. Endlich muß auch dem Handwerker die weite Perspective in Gegenwart und Zukunft eröffnet werden. Zahllose neue Erfindungen und Entdeckungen haben ganz neue Gewerbe geschaffen. Der Gewerbfleiß aller Länder und Völker hat sich der Maschine bemächtigt und beutet die neuen Industriezweige aus. Leben und Rührigkeit herrschen auf diesen Gebieten, die nun auch der Verschönerung und der Veredlung erobert werden müssen. Hier hat das Museum seinen Schönsten, seinen allen Laien verständlichsten Beruf. Warum sollte nicht Alles, was unsere Zeit so praktisch hingestellt hat, auch schön sein, von der Locomotive herab bis zum Stahlfederhalter, von der Riesenkanone bis zur Petroleumlampe? Schmückt doch der rohe Reiter der Wüste Sattel und Gurt mit den schönsten Zierrathen, die Gestein und Metall hergeben, und der einsame Insulanerschiffer sein Ruder mit Holzbildern und Perlmuttereinlagen! Warum sollte der kluge Deutsche, der sich in Vorträgen und Büchern die höchsten Geister der Nation zu eigen macht, nicht sein Werkzeug und tägliches Brod verschönern?

Und jetzt folge man mir durch die Säle des jungen Unternehmens und weide seine Augen an den Gläsern und Vasen des Dr. Salviati aus Venedig, der die vergessenen Glaskünste zu neuem Leben wachgerufen hat, und an den englischen und spanischen Kacheln und Fliesen von buntem Thon, welche im Winter den heißen Kamin, im Sommer das kühle Bad schmücken, den zierlichen Kästen und Körben, die der Ostasiat reichlich mit buntem, unvergänglichem Lack und feinem Bild und Ornament überzieht. Man sehe hier die Reihe der Stühle von dem einfachen nubischen Holzgestell mit Bocksleder überflochten, wie es schon Erzvater Abraham am Rande der Wüste stehen haben mochte, bis zu den Prachtsesseln, die golden und durchbrochen der Luxus des vergangenen Jahrhunderts erfand und deren schwellende Roßhaarkissen er mit Brocatstoff und Gobelin überzog. Man betrachte hier das Spitzengewand der reichen Brabanterinnen und dort Fächer und Kamm aus dem zarten Schildkrötenhorn Südasiens geschnitten. Mit den geschnitten Steinen des Alterthums wechselt die Pracht mittelalterlicher Münzen, Medaillen und Siegelbullen.

Ja, das Handwerk hat einen goldenen Boden, denn es nährt nicht nur seinen Mann, nein, es kann, recht angefaßt, auch wohl ein ganzes Volk heben, reich und glücklich machen im Genuß einer schönen Umgebung. Raum genug für Schönheit, Sauberkeit und die edlen Gaben der bildenden Kunst ist in der kleinsten Hütte, und wenn die Schätze, die zum Schmuck der Paläste verwendet werden, nicht der flüchtigen vorübergehenden Mode dienen, sondern dem als ewig schön Gefundenen, so werden sie Zeugniß ablegen, daß auch im kleinen Gewerbe am Bau der Ewigkeiten mitgebaut wird – ein Zeugniß, das dem Lande zum Nutzen, seinen Arbeitern zur Ehre und Allen, die ein offnes Auge haben, zur Freude dienen wird.

Lehfeldt.


Von der Hauptwache in die Alpen.

Die hochgehenden Wogen des Jahres 1848 haben manch’ tüchtigen deutschen Mann in ihren Strudel gerissen und haben ihn fortgeführt aus der theuren deutschen Heimath. Nicht der letzte unter ihnen ist Friedrich Wilhelm Rüstow, welcher noch gegenwärtig im Exil in der Schweiz lebt und sich seither einen wohlbekannten Namen als ilitärschriftsteller und Heerführer erworben hat. In letzterer Eigenschaft nahm er eine hervorragende Stelle im Jahre 1860 im italienischen Kriege ein, in welchem er eine von ihm binnen vier Wochen formirte, achttausend Mann starke Division Freiwilliger zum Kampfe und zum Siege führte. – Als Officier in preußischen Diensten ließ er sich, durchdrungen und begeistert von den Ideen einer unaufhaltsam hereinbrechenden neuen Zeit, zu Worten und Thaten hinreißen, durch welche er sich in diametralen Gegensatz zu den Anforderungen [297] brachte, welche an einen preußischen Officier gestellt werden und namentlich in damaliger Zeit gestellt wurden. Und dennoch waren die ihm zur Last gelegten Verbrechen nur hervorgegangen aus der Begeisterung für die Größe und Einheit des deutschen Vaterlandes, für dieselbe Größe und Einheit, zu welcher gegenwärtig bereits ein tüchtiger Grund gelegt ist und die, ob früher oder später, mit historischer Nothwendigkeit zur Wahrheit werden muß. Die Zeit mit ihrem versöhnenden Einfluß läßt auch seine Flucht in einem andern Lichte erscheinen, jedenfalls dürfte in allen Parteirichtungen die Schilderung eines Erlebnisses, welches den Anfang der Entwickelung eines bedeutenden Schriftstellers bildet, allgemeine Theilnahme erregen, insbesondere aber bei seinen frühern Cameraden, die trotz der politischen Gegnerschaft doch in Rüstow den ausgezeichneten Fachmann und Kritiker hochachten.

Rüstow wurde verhaftet und in Posen vor ein Kriegsgericht gestellt, vor welchem er sich selbst verteidigte und welches ihn von der Anklage des Hochverraths freisprach und unter Annahme eines geringeren Vergehens zu anderthalbjähriger Festungshaft verurtheilte. Dies Urtheil erhielt jedoch die Bestätigung nicht, und der Proceß wurde vor ein zweites, in Glogau niedergesetztes Kriegsgericht verwiesen, das über Rüstow wegen Hochverraths einunddreißigjährige Festungsstrafe verhängte. Während der Untersuchung wurde derselbe in Posen, und zwar in der dortigen Hauptwache, in Haft gehalten. Seine Flucht aus diesem Gefängniß war eine beschlossene Sache, noch ehe ihm das letzte verurtheilende Erkenntniß bekannt geworden, und diese Flucht, welche den Gegenstand dieser Zeilen bildet, ist mit solcher Kühnheit und solcher Energie ausgeführt worden, daß sie in ihrer Art als einzig dastehend betrachtet werden darf.

Die Hauptwache in Posen, ein zweistöckiges, ringsum freies Gebäude, liegt am Markt, dem belebtesten Theile der Stadt. Rüstow’s Zelle befand sich eine Treppe hoch, und vor der Thür seines Gefängnisses auf dem Corridor stand ein Posten, der speciell mit seiner Bewachung beauftragt war. Der allein mögliche Weg zur Flucht ging daher durch das einzige kleine, hoch über dem Fußboden befindliche Fenster der Zelle, durch welches man zunächst auf einen großen steinernen Balcon gelangt. Dieser Weg aber war ein höchst gefährlicher, und die Wahrscheinlichkeit, auf ihm sich zu befreien, eine sehr geringe, weil der Posten vom Corridor aus durch eine Glasthür den Balcon übersehen konnte und seiner Instruction gemäß viertelstündlich einmal auf denselben hinaustreten mußte. Rüstow’s Freunde riethen deshalb, zunächst den Weg der Bestechung zu versuchen; der Gefangene jedoch verschmähte es, auf diesen Vorschlag einzugehen, weil es ihm widerstrebte, Jemanden zu compromittiren und seinetwegen in Gefahr zu bringen; und gerade dieser Umstand ist es, welcher Rüstow’s Flucht vor allen gleichartigen Unternehmungen auszeichnet.

Es hatte daher sein Bewenden bei dem Wege durch das Fenster und über den Balcon. Trotz aller Wachsamkeit war es gelungen, eine fast ununterbrochene Communication zwischen Rüstow und seinen zahlreichen Freunden in Posen herzustellen und zu unterhalten und ihm unbemerkt eine Säge zum Durchschneiden der eisernen Traillen und einen Strick von dreißig Ellen Länge zum Hinabklimmen zuzustellen. Nach einer mühevollen Arbeit gelang es dem Gefangenen, in dreißig Nächten der Aufregung und Angst, stets in Gefahr, von dem lauschenden Posten entdeckt zu werden, die Traillen zu durchschneiden, welche zwischen dem finsteren Kerker und der goldenen Freiheit standen. Um das bis hieher gelungene Werk den Augen seiner Wächter zu verbergen, verklebte er die Schnittflächen mit Wachs und befestigte die wankenden Traillen mit gekautem Brod. Laut getroffener Verabredung sollte der Fluchtversuch am 25. Juni 1850 gewagt werden; indessen kam er an diesem Tage noch nicht zur Ausführung, weil das erwartete Zeichen, daß draußen Alles in Ordnung sei, eines Mißverständnisses halber nicht gegeben wurde. Auch waren das andauernd schöne Wetter und der herrschende helle Mondschein dem Unternehmen keineswegs günstig. Der Gefangene sehnte mit tausend Gebeten Sturm und Regen herbei, jedoch vergeblich. Daß trotzdem die Flucht wenige Tage später bewerkstelligt wurde, ist als ein glücklicher Instinct anzusehen, denn, um noch einige Tage verzögert, wäre sie zur Unmöglichkeit geworden, weil Rüstow am 3. Juli zur Verbüßung der gegen ihn erkannten einunddreißigjährigen Freiheitsstrafe nach der Festung Glatz abgeführt werden sollte, was ihm damals noch unbekannt war.

Inzwischen war ein neuer Commandant von Posen ernannt worden, mit welchem der Gefangene aus früherer Zeit bekannt war. Derselbe besuchte Rüstow am Abend des 26. Juni und sprach sein Bedauern aus über das Wiedersehen unter den obwaltenden Verhältnissen. Anscheinend wohlwollend und um dem Gefangenen eine Abwechselung und Erholung zu gewähren, bot er demselben seine Equipage zu einer Spazierfahrt an, indem er ihn gleichzeitig für die schöne Aussicht vom Fort Winiary zu interessiren verstand. Rüstow nahm das Anerbieten dankbar an; allein der Wagen blieb aus. – Die Vermuthung liegt nicht allzufern, daß derselbe zur rechten Zeit, d. h. am 3. Juli, eingetroffen sein würde, um den Gefangenen, welcher sich einer großen Popularität erfreute, ohne Aufsehen aus der Hauptwache nach dem vor der Stadt gelegenen Fort Winiary und von dort nach Glatz zu befördern. Hiemit stimmt der Umstand überein, daß sich bereits seit dem 25. Juni eine Verschärfung der Wachsamkeit bemerkbar machte.

Aber trotzdem beschloß Rüstow, am 29. Juni auf alle Fälle, die Umstände seien günstig oder nicht, einen Fluchtversuch zu wagen. Laut Verabredung sollte der Flüchtling an der evangelischen Kirche einen Bekannten treffen und mit diesem zusammen das Thor passiren. Den wachthabenden Unterofficier auf der Thorwacht hoffte man leicht zur Oeffnung des Thors bewegen zu können. Vor dem Thor stand eine Briczka bereit – ein kleiner, in Polen gebräuchlicher Wagen von eigenthümlicher Construction – um den Flüchtenden ohne Verzug so weit zu entführen, wie zu seiner vorläufigen Sicherheit erforderlich war. Dies war der Fluchtplan; die Umstände indessen erzwangen eine ganz andere Ausführung.

Vom Mittag des 29. Juni ab war alle Communication zwischen dem Gefangenen und der Außenwelt unterbrochen, jedoch erhielt er das vorsichtiger Weise verabredete Zeichen, daß draußen Alles in Ordnung sei. Nachdem Rüstow wie gewöhnlich Abendbrod gegessen, begann er gegen zehn Uhr seine Vorbereitungen. Um das hochgelegene Fenster bequem erreichen zu können, legte er auf die unter demselben befindliche Pritsche seine Bettdecke und auf das Fensterbrett einige dicke Bücher. Auf diese stellte er einen kleinen Koffer, welchen letzteren er mit zwei Kopfkissen bedeckte. Alsdann kleidete er sich vollständig an bis auf die Stiefeln, die er, in ein Taschentuch gewickelt, zwischen den Traillen aufhing, und über denselben befestigte er einstweilen den Strick. Wie dem Gefangenen schien, war der Posten auf dem Corridor an diesem Tage besonders scharf instruirt. Derselbe stand horchend am offenen Flurfenster. Nachdem sich der Flüchtling hievon überzeugt hatte, nahm er die durchgesägten Traillen heraus und stellte sich, auf einen günstigen Moment wartend, an das Fenster. Gegen zehn und dreiviertel Uhr fuhr ein Wagen vorüber, und das durch das Rollen seiner Räder hervorgebrachte Geräusch benutzte der Flüchtende, um sich durch das Fenster zu schwingen und den vorerwähnten Balcon zu erreichen. Derselbe ist mit einer etwa sechs Fuß hohen Brustmauer umgeben, an welcher sich an der südlichen Seite der Hauptwache eine steinerne Wappendecoration befindet, welche mittels einer eisernen Stange an der Wand befestigt ist. An diese Stange band Rüstow seinen Strick an durch einen ihm ebenfalls zugesteckten, mit Leinwand umwickelten eisernen Haken und klomm an demselben mit aller Vorsicht empor bis auf die Brustwehr. Dort kauerte er sich nieder, um weitere Vorbereitungen zu treffen. Er knüpfte den Strick fester um die eiserne Stange, band sich das andere Ende desselben um den Leib und befestigte an gleicher Stelle die Stiefeln mit einem Taschentuch. Inzwischen schlug es elf Uhr, und der Posten vor dem Gewehr rief heraus. Der Flüchtling beschloß, vor seinem Hinabsteigen die Rückkehr der Ablösungen abzuwarten. – Am Tage hatte es geregnet, gegen Abend aber hatte sich das Wetter aufgeklärt; der Mond schien verzweifelt hell, und der Markt war belebt wie am Tage.

In dieser Situation verstrichen angstvolle Minuten. Jeden Augenblick konnte der Posten vom Corridor auf den Balcon treten, und die Flucht war für dies Mal und wahrscheinlich für immer vereitelt. Nachdem endlich um elf und einviertel Uhr die Ablösungen zurückgekommen waren und der Flüchtling noch eine kurze Zeit abwartend und lauschend hatte verstreichen lassen, warf er die Mitte des rettenden Strickes über die Brustwehr, schwang sich vollends über die Mauer und rutschte zwei volle Stockwerke hoch hinab. Unten angekommen, fuhr er heftig auf die auseinandergenommenen Bestandtheile von Schusterbuden, welche, dem Flüchtlinge [298] unbewußt, wegen des gerade stattfindenden Johannismarktes dicht an der Hauptwache aufgehäuft waren, und verursachte hierdurch ein nicht unerhebliches Geräusch. Er schritt indessen ruhig von dannen und wollte, nachdem er sich etwa fünfzig Schritte entfernt hatte, seine Stiefeln anziehen, bemerkte aber zu seinem Schrecken, daß er dieselben verloren hatte. Er kehrte deshalb nochmals um, doch alles Suchen war vergebens, denn die Stiefeln waren, wie sich später ergab, an einem eisernen Schornstein hängen geblieben, welcher sich, aus der Officierwachtstube kommend, unter dem Balcon befand und dessen Vorhandensein dem Flüchtlinge nicht bekannt war. Dieser mußte sich entschließen, im Uebrigen salonfähig gekleidet, in weißen Strümpfen durch die belebten Straßen zu schreiten. Er that dies mit aller Ruhe und ging durch die Breslauer Straße nach der evangelischen Kirche. Es war gerade Sonnabend, die Straßen waren gekehrt, und in denselben lagen noch die Kehrichthaufen. In drei derselben steckte der Flüchtling nacheinander seine Füße, um den sauberen weißen Strümpfen die allzuhelle Farbe zu nehmen. Bei der Kirche angekommen, traf ihn eine neue Verlegenheit, denn der Bekannte, welcher ihn dort erwarten sollte, war nicht da. Lange auf einem Fleck mit den immer noch weithin leuchtenden Strümpfen stehen zu bleiben, durfte er nicht wagen. Er entschloß sich deshalb kurz und schritt die Bergstraße hinab nach der Wohnung einer ihm befreundeten Dame, von welcher er aber nicht wußte, ob sich dieselbe in der Stadt oder auf ihrem Landsitze aufhalte. Er fand das Haus offen, trat ein und lauschte an verschiedenen verschlossenen Thüren, ohne jedoch das geringste Zeichen von der Anwesenheit Jemandes zu vernehmen. Da es gefährlich für ihn werden konnte, irgend welches Geräusch zu verursachen, schritt er durch die Bergstraße zurück nach der evangelischen Kirche. Dort angelangt, eilte auf fünf Schritte eine Patrouille bei ihm vorüber in der Richtung auf das Wilde Thor zu.

Bald darauf traf er auch den sehnlichst erwarteten Bekannten, welcher ihm ganz erhitzt und mit geflügelten Worten mittheilte, daß die Flucht bereits entdeckt, daß das ganze Wachtpersonal der Hauptwache um den herabhängenden Strick versammelt und daß Patrouillen nach allen Richtungen ausgesandt seien. Unter diesen Umständen mußte jeder Gedanke daran aufgegeben werden, noch heute das Thor passiren zu wollen. Was aber thun? – Wo in aller Eile einen sicheren Versteck auffinden? – Es schien am gerathensten, zunächst nach dem Hause jener Dame zurückzukehren. Rüstow’s jetziger Begleiter wußte zwar, daß dieselbe wirklich auf dem Lande sei, indessen wohnte in demselben Hause ein Freund von ihm, auf dessen Hülfe er rechnen durfte. Dieser Freund wurde herausgeklopft und vom Stande der Dinge unterrichtet. Hier erhielt Rüstow zur Abhülfe des nächsten Bedürfnisses ein Paar Schuhe, konnte aber dort nicht aufgenommen werden, sondern wurde durch Vermittlung jenes Herrn in einem dritten Hause bei befreundeten Personen vorläufig untergebracht, woselbst man ohne Vorwissen des Flüchtlings auf alle Fälle ein Asyl für ihn in Bereitschaft gehalten hatte. In diesem Hause blieben sämmtliche Personen, welche von den Umständen nach und nach zusammengeführt waren, die Nacht über in einem Parterrezimmer beisammen. Am nächsten Morgen wurde dem Flüchtling ein Stübchen im oberen Stockwerk eingerichtet, welches sonst von einer alten Frau bewohnt wurde, die ohne alles Aufsehen ein anderes Zimmer beziehen konnte. Das Dienstmädchen, dessen Schwatzhaftigkeit man fürchtete, hatte man vorsichtiger Weise schon früher abgeschafft. In diesem vorläufigen Asyle, welches den Flüchtling fünf Tage hindurch beherbergte, war derselbe aber noch weit entfernt, wirklich in Sicherheit zu sein.

Es waren noch unendliche Schwierigkeiten zu überwinden. Schon am nächsten Tage, den 30. Juni, erfuhr Rüstow in seinem Versteck Folgendes: Bereits eine halbe Stunde nach seiner Flucht war der Auditeur in der leeren Zelle gewesen, um den Thatbestand aufzunehmen. Alle Personen, die als Freunde Rüstow’s bekannt waren, und deren Wohnungen wurden streng überwacht. Vor einer derselben hatte die Polizei einen Heuwagen umgestürzt, weil man den Flüchtling im Heu verborgen wähnte. Eine demselben nahestehende Dame wurde verhaftet, mußte aber, da nicht das Geringste gegen sie vorlag, noch an demselben Tage wieder entlassen werden. Im Laufe ihres durch den Commandanten selbst im Beisein noch eines Generals geleiteten Verhörs kam auch die bisher geheim gehaltene Thatsache zur Sprache, daß Rüstow bereits durch das Kriegsgericht in Glogau zu einer einunddreißigjährigen Festungshaft verurtheilt war. Nach Ansicht des Commandanten hatte nur die verfrühte Wissenschaft hiervon die tollkühne Flucht veranlassen können. In der That aber war, wie erwähnt, dies letzte Urtheil dem Gefangenen bei seiner Flucht noch unbekannt.

Rüstow hatte, als ihm die Nichtbestätigung des ersten Erkenntnisses publicirt worden, die Unterschrift des Protokolls verweigert. Zugleich erklärte er, daß er den Standpunkt acceptire, den man ihm gegenüber durch die Nichtbestätigung eingenommen habe, und hiernach seine Entschließungen treffen werde. Seine Flucht war eine Consequenz dieser Erklärung. Im Ganzen herrschte große Bestürzung in den zunächst betroffenen Kreisen, und der Platzmajor ging in seinem Eifer, den Flüchtling wieder in seine Gewalt zu bekommen, so weit, einen Preis von fünfzig Thalern auf seinen Kopf zu setzen. Die Patrouillen der Hauptwache und sämmtliche Thorposten wurden verdoppelt. Ein bekannter Polizeispion drängte sich an einen Freund Rüstow’s mit dem Vorgeben, er wisse recht gut, daß Rüstow noch in der Stadt sei, und mit dem Erbieten, für fünfzig Thaler sein Versteck auszukundschaften. Der Freund ging jedoch nicht in die nicht eben fein gestellte Falle. Allen aber war unbegreiflich, daß der Gefangene hatte entkommen können, da die Flucht unmittelbar nach ihrer Ausführung oder eigentlich noch während derselben entdeckt worden war. Zwei Tischlergesellen nämlich hatten Rüstow an dem Strick hinabgleiten sehen und dem wachhabenden Officier hiervon unverzüglich Anzeige gemacht. Es ist daher wunderbar, daß der Flüchtling nicht wieder ergriffen wurde, als er zurückkehrte, um seine Stiefeln zu suchen. Die verlorenen Stiefeln fand man auf, und als dieser Umstand bekannt wurde, erinnerten sich einige Nachtwächter, daß sie in jener Nacht einen Mann in weißen Strümpfen hatten gehen sehen. Sie waren sehr niedergeschlagen darüber, daß sie sich den so leicht zu verdienenden, vom Platzmajor ausgesetzten Preis hatten entgehen lassen.

Die Freunde Rüstow’s zogen unter der Hand Erkundigungen nach allen Richtungen ein. Das Resultat derselben war für das weitere glückliche Fortkommen ungünstig genug. Man hatte von Seiten der Behörden die umfassendsten Maßregeln getroffen, um dasselbe zu verhindern. Zahlreiche Patrouillen durchzogen und umkreisten die Stadt und weithin waren alle Chausseehäuser mit Polizeiagenten besetzt. Hierbei wolle sich der Leser erinnern, daß im Jahre 1850 Eisenbahnen, außer der nach Stettin führenden, in der Provinz Posen noch nicht vorhanden waren. Es lag daher der Gedanke nahe, daß der Flüchtende, um möglichst schnell zu entkommen, diesen Weg eingeschlagen habe. Um die Verfolger womöglich auf diese falsche Spur zu führen und ihre Aufmerksamkeit von dem wirklich gewählten Wege abzulenken, schickte Rüstow einen Brief an einen Freund in Stettin, in welchem er einem anderen Freunde in Posen seine Ankunft in Stettin und sein glückliches Entkommen auf ein Schiff meldete. Dieser Brief kam, mit dem Poststempel Stettin versehen, am 2. Juli nach Posen zurück und von seinem Inhalt wurde möglichst oft und möglichst laut gesprochen. Ein merkwürdiger Zufall ist es, daß spät in der Nacht vom 29. zum 30. Juni die Telegraphenverbindung zwischen Posen und Stettin durch einen einschlagenden Blitz unterbrochen wurde. – Indessen mußte ein Entschluß gefaßt werden, denn ein zu langes Verweilen in der Stadt konnte ebenso gefährlich werden, wie das Verlassen derselben. Man entwarf tausend Pläne, um sie wieder zu verwerfen, endlich aber blieb man bei demjenigen stehen, welcher wirklich zur Ausführung kam.

Am 5. Juli herrschte schon früh am Morgen in dem Asyl des Flüchtlings eine rege, aber besonnene Geschäftigkeit. Es handelte sich darum, den Lieutenant Rüstow in eine möglichst zarte Dame umzuwandeln. Nachdem er rasirt, geschminkt und gescheitelt war, wurde er in Weiberkleider gesteckt, wobei er mit der peinlichsten Sorgfalt mit allen Details der weiblichen Toilette ausgestattet wurde. Falsche Locken und ein Sonnenschirm vollendeten das Werk, oder, wie Louis Napoleon sagen würde, „krönten das Gebäude“. In dieser Metamorphose fuhr der Flüchtling am 5. Juli Mittags um 1 Uhr in Begleitung von zwei Damen und einem Herrn unangefochten durch die Posten am Berliner Thor. Eine Viertelstunde vor der Stadt stiegen die Damen aus und kehrten zu Fuß zurück, während Rüstow und sein männlicher Begleiter ein vier Meilen von Posen entferntes Städtchen erreichten. [299] Hier, woselbst der Flüchtende sich umzog, erhielt er frische Pferde und zur Vervollständigung seines Anzugs die gänzlich fehlenden Stiefeln. Mit seiner Garderobe war er überhaupt schwach bestellt, denn er hatte außer dem Anzug, in welchem er entsprungen war, nichts als einen Mackintosh, zwei Hemden, zwei Unterhosen und zwei Paar Strümpfe, da man, um jede Spur von seinem Versteck fernzuhalten, nicht gewagt hatte, ihm einen ihm gehörigen Mantelsack mit Civilkleidern und Wäsche zuzustellen. Er hat denselben auch niemals erhalten. Nach Zurücklegung von abermals vier Meilen wurde die zweite Station gemacht. Hier erhielt Rüstow von befreundeter Hand einen Rock, ein Paar Hosen und eine Reisetasche.

Nach viertelstündiger Rast ging es mit frischen Pferden und einem anderen Wagen weiter nach Züllichau, wo der Flüchtling Morgens ein Uhr anlangte und nach einstündiger Erholung Extrapost bestellte. Einige Verlegenheit erwuchs ihm hier durch die übergroße Zuvorkommenheit des Hausknechtes im Gasthofe zum „grünen Baum“, welcher ihn ohne Weiteres zum Grafen machte. Um jede Erörterung zu vermeiden, mußte er sich duldend in diese neue Würde schicken, die ihm jedoch hätte verderblich werden können, denn er befand sich im Besitze eines auf einen Herrn X. lautenden Passes, welcher keineswegs Graf war. Es fiel aber Niemandem ein, nach dem Passe zu fragen. Die Flucht wurde nun mit Extrapost über Grünberg, Naumburg, Sommerfeld, Forsta, Spremberg, Hoyerswerda, Waldhof und Königsbrück bis nach einem Orte in der Nähe von Dresden fortgesetzt, wo sich der Flüchtling am 7. Juli in einer befreundeten Familie einige Erholung gönnen durfte. Nach einem im Freundeskreise heiter verlebten Tage genoß Rüstow einer erquickenden Nachtruhe, während Furcht und Sorge seine Freunde nicht schlafen ließen. Der 8. Juli verfloß heiter wie der 7. Es gesellten sich mehrere nicht Eingeweihte zu dem Freundeskreise, denen Rüstow als ein Herr von X. aus Polen vorgestellt wurde. Endlich aber mußte man an die Trennung denken, und Abends sechs Uhr ging’s an den Abschied. Rüstow begab sich in Begleitung zweier Freunde nach Dresden, von wo er nach Vervollständigung seiner Garderobe und nach einem Besuche bei einer befreundeten Dame mit einem Stellwagen über Freiberg und Chemnitz nach Altenburg fuhr, woselbst er am 10. Juli Morgens fünf Uhr eintraf und im Gasthofe „zum bairischen Hofe“ abstieg. Nach einem zweistündigen erquickenden Schlafe begab er sich zu einem hier wohnenden, ihm befreundeten Herrn, mit welchem die weitere Reiseroute überlegt wurde und von welchem er eine Paßkarte erhielt, zutreffender als der Paß, auf welchen er bisher gereist war.

Am Mittage desselben Tages befand sich der Flüchtling in dem nach Hof in Bereitschaft stehenden Eisenbahntrain und traf hier zufällig in einem Coupé mit zwei Bekannten aus Posen zusammen, welche bis Nürnberg in seiner Gesellschaft blieben.

Nachdem er sich in Hof durch eine dringend nothwendig gewordene Nachtruhe gestärkt, wurde am nächsten Morgen die Flucht auf den Flügeln des Dampfes über Nürnberg, Augsburg und Kaufbeuren nach Lindau fortgesetzt. Auf der Strecke von Nürnberg nach Augsburg hatte der Fliehende das unter den obwaltenden Umständen gewiß recht angenehme Vergnügen, die Gesellschaft eines bairischen Landjägers zu genießen, der ihn aber in keiner Weise behelligte. Ueberhaupt wurde er während der ganzen Dauer seiner Flucht nur ein einziges Mal, und zwar in Lindau, nach seinem Paß gefragt. Er übergab dem Polizeibeamten die Paßkarte, welche er in Altenburg erhalten hatte, und empfing dieselbe ohne alle Umstände nach Verlauf von einer Viertelstunde gegen Erlegung von sechs Kreuzern zurück. In Lindau speiste Rüstow im Gasthofe „zur Krone“ zu Mittag und erquickte sich durch einen Schoppen „Seewein“, ein Gewächs, welches nicht in allzugutem Rufe steht und an den Ufern des Bodensees erzeugt wird; daher der Name. Demnächst bestieg er um zwei Uhr den Dampfer „Ludwig“, welcher ihn schon um halbvier Uhr wohlbehalten nach Rorschach im Canton St. Gallen brachte. Hier endlich auf dem Boden der Schweiz durfte er sich dem Gefühle vollständiger Sicherheit hingeben und gönnte sich am 12. und 13. Juli im Gasthofe „zum Hirschen“ Ruhe und Erholung, welche durch die Strapazen und die Aufregung der Flucht sehr nöthig geworden waren. Von seinem Stübchen aus, dessen Fenster nach dem Bodensee gingen, warf er die letzten Blicke zurück nach Deutschland. Am 14. Juli endlich reiste er nach Zürich, das ihm seither eine zwar unfreiwillige, aber sichere und liebe Heimath geworden ist.




Ein „Ritt in’s alte romantische Land“.

Gewiß fuhren sie erschrocken zusammen, die Geister unserer siebenbürgischen Romantik, als gegen Ende des vorigen Jahres die erste Locomotive über die Karpathen in’s Land brauste und mit dem weihin tönenden Pfiff verkündete, daß uns „die Alles beleckende Cultur“ des civilisirteren Europa’s um vierundzwanzig Stunden näher gerückt war. Und wer ihre Sprache verstand, der hörte, wie die keckeren von diesen Geistern, die sich am Abend neugierig bis zum Schienenstrang gewagt, geblendet von den Flammenaugen des schnaubenden Dampfrosses, einander zuraunten, daß jenes grelle Pfeifen das Decret signalisire, welches sie einst auch aus dieser alten Heimath wegweisen werde.

Weniger schienen die zerlumpten Zigeuner und langhemdigen Walachen zu ahnen, was die rasend vorüberjagenden Wunderwagen zu bedeuten hätten. Offenen Mundes standen sie in ängstlicher Entfernung, schlugen eiligst das gegen alle bösen Geister schützende Kreuz und fragten sich, als das Entsetzen endlich dem Erstaunen gewichen: ob das auch noch auf natürliche Weise zugehe.

Gewiß und gottlob! Der Weg ist gebahnt und der Wall durchbrochen, der das gesegnete Karpathenland von den Ländern fortgeschrittener Industrie und Civilisation so lange und so nachhaltig abgesperrt. Der Schlagbaum ist niedergerissen, welcher die Söhne anderer Reiche nicht zu uns kommen ließ, und es steht zu erwarten, daß der große Touristenstrom, der sich alljährlich an Siebenbürgen wie an einer Terra incognita vorbeiwälzte, nunmehr größere Wellen durch die Engpässe des Karpathengürtels herein werfe. Die hastige Eile, mit welcher der Dampfwagen, „der wilde Riese“, das weite Reich der Magyaren durchstürmt, sie hat den Dämon überwunden, der den sandesdürren, unabsehbaren Pußten Ungarns entwuchs und die Fremden von einer Bereisung des österreichischen Ostens mit ungezogenem Hohnlachen zurückschreckte. Nicht, als ob er über Nacht verschwunden sei, der düstere Culturmangel dieser öden Flächen, – aber der trostlose Eindruck, welchen er macht, ist durch die Schnelligkeit der Eisenbahn bedeutend beschränkt worden.

Von den idyllischen und abenteuerlichen Scenen, die sich an diesem und jenem einsamen Ziehbrunnen der Pußta abspielen, an welchem der Csikos seine Pferdeheerden tränkt und der fern herkommende Fuhrmann Station macht, von dem fremdartigen Treiben dort in der Csarda, der kleinen Haideschenke, wo der vagabundirende Betyar nach den wilden Tönen der Zigeunergeige seinen Csardas tanzt und das Glas credenzend im Vollgefühl seiner Räubergröße stürmische Magyaren-Melodien pfeift – davon erzählt uns der mitfahrende Eingeborene in gebrochenem Deutsch, und ohne Aufenthalt reisen wir unserem Ziel entgegen, nach dem schöneren Siebenbürgen.

Welch’ ein ganz anderes Bild bietet sich hier dem offenen Auge! Wie ein Gürtel schlingt sich der mächtige Wall der Karpathen um das fruchtreiche Land, und die schroffen Gebirgsriesen, mit dem ewigen Schnee auf dem Haupte und dem blinkenden Gold im Schooß, schauen wie trotzige Grenzwächter über die Waldeshöhen und Rebenhügel in die stromdurchrauschten Gefilde herab. Im Innern des Landes ist es weniger die großartige Wildheit der Scenerie, als die harmonische Anmuth, der lebendige Reiz im unaufhörlichen Wechsel, was Siebenbürgen Jedermann lieb und interessant macht. Und das bunte Gewirr von Nationen, wie viel Anziehendes hat es von jeher für den Fremden gehabt! Am ersten bedeutenderen Bahnhof schon umsurrt die Ohren des Ausländers ein ungewohntes Sprachengemenge, das ihn sofort an die Schlußkatastrophe beim babylonischen Thurmbau erinnert. Fleißige Sachsen, hoffärtige Magyaren, arme Walachen, mauschelnde Hebräer, handelnde Armenier, arbeitsscheue Zigeuner … so unterrichtet der Cicerone den Neuling, indem er ihn an einzelnen Gruppen vorbeiführt.

[300] Ja, die Zigeuner! Wie viele Reisende haben an den Originalgestalten dieser dunkelfarbigen Nationalität von einhundertfünfzigtausend Seelen ihre ganz besondere Freude gehabt! Heimgekehrt, wissen sie viel von den sich drängenden Naturschönheiten des Landes, von der culturhistorischen Bedeutung der deutschen Stammesbrüder, der „sächsischen Pioniere des Ostens“, zu erzählen, aber mit sichtlichem Interesse kehren sie doch immer wieder zu den sonnverbrannten Epigonen der altindischen Parias, zu den siebenbürgischen Zigeunern zurück. Und gewiß, diese echten Zigeunerbanden an den Ufern der Donau und Theiß, der Mierisch, des Altflusses und der Kockeln sind etwas ganz Anderes als die modernisirten Zigeunertrüppchen, die sich „alle sieben Pfingsten“ einmal vor den Thoren dieses oder jenes deutschen Städtchens zum Gaudium der Schuljugend sehen lassen.

Hier ist das anders. Auf Schritt und Tritt läuft uns in diesen Gegenden das verkommene Gesindel in die Quere. Vor den Thoren der Städte und Dörfer empfängt uns das junge Geschlecht der Zigeuner und begleitet uns mit frechen Bettelmelodien bis zu der ersten Häuserreihe. Niemand entwischt ihnen. Sollten die jugendlichen Wegelagerer die Ankunft eines Bessergekleideten verschlafen oder sonst wie verpassen, so kreischt die Mutter aus der „Haruba“, dem durchräucherten Tuchzelt, herüber: „Dik, dik, Purdé!“ (Seht, seht, Kinder!), und wie ein Bienenschwarm stürzen die „Purdé“ auf das bezeichnete Opfer los. „Gnädiger Herr Kaiser, Herzog, Graf, Bischof, Stuhlrichter und königlicher Diener – bitte um einen Kreuzer, habe weder Vater noch Mutter und seit acht Tagen nichts gegessen.“ Dann beginnen sie die stereotyp gewordene Apostrophe da capo, so lange, bis sie erhört werden. Dem, der sich durch Bitten nicht erweichen läßt, suchen sie durch ihre Kunstfertigkeit im Radschlagen, wobei ihnen ihre nackte Ursprünglichkeit sehr zu Statten kommt, ein Almosen zu entlocken.

Drüben, vor den höchst ursprünglichen Schaluppen ist der gewaltig hämmernde Schmied mit dem hoch hinaus denkenden Flickschuster in Collision gerathen, deren Uebergang in einen beulenschöpferischen Conflict das trotzige „limau, limau, getämele limau!“ (Schlage nur, schlage, ich geb’ Dir’s zurück!) signalisirt. Die ganze löbliche Zigeunergemeinde stürzt herbei und bethätigt sich an der „marobé“, der wilden Schlägerei. Es sind nicht etwa politische Fragen, die den Kampf heraufbeschworen. Denn was ist diesem Lumpengeschlechte Hekuba, was Wahl- und Nationalitätenkampf, was die Aufgabe des Jahrhunderts, der Fortschritt der Menschheit? Das sind Dinge, von denen noch Keiner aus seiner Mitte eine Ahnung gehabt. Die großen Zeitbewegungen machen sie nicht satt und sind daher für sie nicht vorhanden. Aber ein zerbrochener Topf, für den kann man sich wohl eine Stunde lang durchprügeln! Die Zigeunerweiber ermuntern, ähnlich den Frauen der alten Germanen, die streitenden Männer durch ein Schreien und Fluchen, vor dem sich gewiß selbst der Teufel entsetzt, und die Jungens accompagniren die wuchtigen Faustschläge und Steinwürfe der tapferen Väter mit einem höllischen Lamento. Ein blutiger Kopf pflegt selten zu genügen, es müssen deren schon mehrere sein, um in der Branntweinschenke mit einem „sosta wisto!“ (Viel Glück!) oder mit einem spöttischen „deloi debach, cinorëi!“ (Gott mit Dir, Junker!) Waffenstillstand schließen zu können. Der Bauer aber weiß, daß auf die Ziganomachie regnerisches Wetter folgen muß.

Auch auf dem Markte der Stadt fehlt der braune Geselle nicht. Namentlich an heißen Sommertagen, wo er das sonst so belebte Terrain mit der schmierigen Hökerin allein inne hat, fühlt er sich hier wohl. Hat er mit „mandro“ und „habartchy“ (Schwarzbrod und Branntwein) den höchsten Ansprüchen seines Gaumens Genüge gethan, so streckt er sich behaglich zur Siesta auf das heiße Pflaster und pflegt der „göttlichen Faulheit“. Nur der Cigarrenstummel, den ein Vorübergehender wegwirft, kann ihn verlocken, sich zu erheben, um den Schatz zu annectiren. Liegt einer einmal in der Sonne, so bleibt er nicht lange allein. Bald gesellen sich seine Stammesbrüder zu ihm, wie der Schellenmacher Grantschea, der Bürstenbinder Tschoróro, der Cimbalvirtuos Dantschea, der Siebmacher Rupa, der Fabrikant hölzerner Löffel Kula, um das dolce far niente, das Real- und Idealprincip ihres Lebens, in Gemeinschaft zu genießen. Wenn gegen Abend die eckigen Steine doch etwas zu hart werden, so erheben sie sich gähnend und wünschen Kaiser und König zu sein, um auf einer ganzen Fuhre Stroh schlafen zu können.

Die Industriezweige, denen der Zigeuner das Allernöthigste abringt, wird man vergebens im Wörterbuch des Handels suchen. Aus freiem Entschluß erlernt keiner ein bestimmtes Handwerk; die Nothwendigkeit zu essen muß ihn in irgend einen Geschäftsberuf hineinwerfen, aus dem er jedoch so oft herausfällt, wie Hunger und Durst gestillt sind. Und das bedarf keiner besondern Anstrengung. Er, an dessen Tafel das Fett ein so selten gesehener Gast ist, daß er nur deshalb ein großer Herr zu sein wünscht, um dieses mit dem Löffel essen zu können, er hat von der Existenz, ja von der Möglichkeit eines Kochbuches ebensowenig eine Ahnung, wie von der des ,Moniteur de la Coiffure’ oder „Bazar“.

Das Proletariat dieses Bettlervolkes bilden die financiell oft besser gestellten „Wanderzigeuner“, auf welche die seßhaften Nationalitätsgenossen nicht selten mit Stolz und Verachtung herabsehen. Jene sind überall und nirgends zu Hause. Und was Lenau vom „Mischka an der Marosch“ gesungen, das gilt von ihnen allen:

„Der Zigeuner wandert arm und heiter
In die Ferne, Fremde fort und weiter;
Wenn er auch am Wohlgeschmack der Erde
Karg und selten nur sich weidet,
Ist ihm jeder Ort doch bald entleidet,
Und was heimisch, wird ihm zur Beschwerde.“

Nur wenn der Winter mit seiner nordischen Kälte durch’s Land zieht und im Sommer zur Erntezeit schlägt die Zigeunerbande in der Nähe eines Dorfes ihr Lager auf, um schon nach wenigen Wochen die elenden Baracken wieder niederzureißen und in die Ferne zu ziehen. Wo sie als Pferdehändler und Schnitter, als Kesselflicker und Verfertiger grober Holzwaaren, als Bettler und Wahrsager oder auch in kühnen Griffen gute Geschäfte gemacht, da stellen sie sich über’s Jahr noch einmal ein, wenn sie die unverwüstliche Wanderlust nicht über die Grenze des Landes auf einen fruchtbarern Boden geführt hat.

Wie das Volk Israel durch die Wüste, so ziehen diese Zigeunerkarawanen von Dorf zu Dorf und manchmal auch von Land zu Land. Auf ihren abgemagerten Gäulen, neben denen sie bald lärmend, bald schweigend einherschreiten, führen sie alle ihre Habe: die, beräucherten Zelte, die mangelhaften Werkzeuge und in Quersäcken die kleineren Kinder. Der Fremde, der zum ersten Mal einen solchen Zug aus der Ferne betrachtet, glaubt sich plötzlich in das Reich der Phantasmagorien versetzt.

Daß sich selbst der Eingeborene, der in die Mysterien des Zigeunerlebens längst eingeweiht zu sein glaubt, zuweilen in einer solchen Lage befindet, möge das Folgende beweisen.

Es war ein warmer Frühlingstag, der mich auf eine wilde Hochebene der Karpathen hinausgeführt hatte. Unten im Thale regte sich die Natur, Alles sproßte und blühte, hier oben aber herrschte noch der eisige Winter. Trotz der mächtigen Tannenwälder im Osten, der zackigen Bergkegel und jähen Gebirgsschluchten im Westen, die dem ganzen Plateau den malerischsten Ausdruck verliehen, fühlte ich mich hier doch entsetzlich einsam. Die im Ganzen gut gehaltene Poststraße war in der weiten Gegend die einzige Schöpfung menschlicher Thätigkeit. Der lustige Gebirgsbach, welcher dort an den zahllosen Tannen vorbeistürzte, sehnt sich gewiß schon lange nach dem klappernden Rade der Sägemühle, und die erzreichen Höhen warten sicherlich nicht minder lange auf den pochenden Hammer des Bergmanns; aber umsonst. Die ganze physische Welt dort oben harrt des Tages, an welchem der Genius der Cultur auch sie aus ihrem tausendjährigen Schlummer erwecke.

Pfeifend fegte die entfesselte Windsbraut über das verdorrte Haidekraut dahin, und es wollte mich in dieser Einsamkeit dünken, als müßten jeden Augenblick die Hexen, denen Macbeth begegnet, an mir vorbeitanzen. Da – welch’ seltsames Wunder! Ich war eben um die Spitze eines Bergzuges gebogen und gewahrte nun plötzlich Gestalten, die mich im ersten Augenblick eher an Gespenster als an Menschen erinnerten.

Es waren Zigeuner, die eine Leiche zu Grabe führten. Ob die Sonne jemals einen originelleren Todtenzug gesehen, – ich weiß es nicht, möchte es aber bezweifeln. Auf einem dürren Klepper, welchen ein lustig dreinschauender Junge am Halfter führte, ritt ein bejahrter Zigeuner, mit beiden Händen bemüht, einen grobgezimmerten Sarg auf dem Gaule im Gleichgewicht zu halten. Dem sonderbaren Ritter folgte eine kleine Zigeunertruppe, aus

[301]

Zigeunerbegräbniß in Siebenbürgen.
Nach der Natur aufgenommen von N. Chailloux.

[302] Männern, Weibern und Kindern bestehend. Die beigegebene Illustration dieser seltsamen Scene überhebt mich einer ins Einzelne gehenden Schilderung des Zuges, die ohnehin den burlesk-romantischen Zauber, welcher über dem wirklichen Bilde schwebte, kaum wiederzugeben im Stande wäre.

Der in kleiner Entfernung nachtrippelnde Junge, ein drolliger Kauz, hatte mich zuerst bemerkt. Ruhig wartete er mich ab und bat um meine brennende Cigarre, um seine Pfeife, das rohe Product seiner eigenen Hand, damit anzünden zu können. Kaum hatte er sie erhalten, als er ihr in absichtlicher Ungeschicklichkeit so gewaltsam zu Leibe ging, daß er mir dieselbe nur zerfetzt und um die Hälfte verkürzt zurückreichte, mit der Erklärung: „Der Junker wird doch nicht in seinen Mund stecken, was ein Zigeuner in den Händen gehabt? Er könnte daher die Cigarre mir schenken.“ – Die Aelteren schien mein unvermuthetes Erscheinen nicht sehr angenehm zu berühren, sie ließen es aber dennoch geschehen, daß mich die jüngeren Leichengänger anbettelten. Meine ihnen zur freien Verfügung gestellte Liqueurflasche veranlaßte sie, ehrerbietig den Hut von dem struppigen Haupte zu ziehen und mich mit naiver Vertraulichkeit zu behandeln. Ist doch der „Rossoli“ (Rosoglio) dem Zigeuner ein so seltenes und hochgeschätztes Getränke, daß er den Kaiser nur darum beneidet, weil dieser in der glücklichen Lage ist, jeden Morgen „Rossoli“ frühstücken zu können.

Langsam zogen die Grableute des Weges. Eine tiefe Stille herrschte ringsum, die nur das Stöhnen der Zigeunermutter, das grausig verzerrte Echo ihres Heulens und der Treiberruf des neben dem müden Gaule einherschreitenden Vaters zuweilen unterbrachen. Der ganze Todtenact dieser halbwilden Menschen in der einsamen Wildniß machte einen Eindruck, der sich jeglicher Beschreibung entzieht. Zu dieser Handlung paßte nur diese und keine andere Scenerie.

An dem von der Heerstraße weit abgelegenen Grabe, welches zwei rüstige Zigeuner und eine Zigeunerin eben fertig gebracht, öffneten die Leidtragenden den Sarg und riefen der armen „Tschoré“ einige Worte zu, mit denen sie von ihr zum letztenmal Abschied nahmen. Am heutigen Morgen erst hatte der Tod das schöne Mädchen unterwegs ereilt und schon lag es am Grabe. Gewiß, das Kind muß, bevor der entstellende Tod über sein Antlitz gefahren, unter den Zigeunern eine seltene Schönheit gewesen sein, so daß man in ihm trotz der buntfarbigen Lumpenhülle und des struppigen Rabenhaares das brünette Töchterlein besserer Leute hätte vermuthen können, wenn nicht der Jammer der Mutter seine Zigeunerschaft hinlänglich bewiesen hätte. Ein goldener Ring mit einem glänzendem Brillanten, den die Todte am Finger trug, würde in einem romantischen Fremden die abenteuerlichsten Vermuthungen geweckt haben, ich aber wußte aus häufiger Erfahrung, daß viele dieser Pariafamilien derartige Schätze mit sich führen, die sie entweder von ihren Vätern ererbt, oder selbst durch eine schnelle Handbewegung sich anzueignen verstanden. Bevor sie den Sarg wieder schlossen, zog die Mutter den funkelnden Ring vom starren Finger der Tochter und hüllte ihn sorgsam in einige Fetzen, um ihn alsdann in den breiten Gürtel ihres Gemahles zu versenken.

Als die gefrorenen Schollen auf das Todtengehäuse polterten, heulten die Weiber und Kinder noch einmal laut auf. Die Männer stampften die in die Grube geworfene Erde fest und legten Rasenstücke oben auf, damit kein Sterblicher ahne: hier liege die Leiche eines schönen Zigeunerkindes. Der Ton, mit welchem der weißlockige Greis schließlich noch einige Worte sprach, ließ auf ein kurzes Gebet schließen, von dem ich wenig mehr als die folgenden Worte verstand: „Wai schukar Tschoré, delo-dela-tschitjes“ – O schöne Tschoré, Gott sei mit dir und endlich – noch endlich „atsch, sástehimáha, tschóro tschäi!“ – bleibe gesund, armes Mädchen! – Zu welchem Gott er gebetet und was er sonst noch gebetet, wer möchte das errathen! Sie, deren Namen in keiner Taufmatrikel zu finden, die über religiöse Fragen nachzudenken noch nie eine Veranlassung gefunden, sie konnten mir nicht sagen, welches ihre eigentliche Vorstellung von der Zukunft der beweinten Tschoré sei; sie wußten nur so viel, daß sie wohl nie wieder zu diesem Grabe zurückkehren würden.

Eine halbe Stunde später – und die Zigeuner waren verschwunden. Sie waren fortgezogen, in ein ander Land, und hatten die Schönste ihrer Bande in dem wilden Hochland gelassen. Todtenstille Einsamkeit herrschte um das Grab, in welchem Tschoré, das hübsche Zigeunerkind, von seiner fünfzehnjährigen Wanderschaft ausruht, und nur zuweilen fuhr der Wind mit lustigem Pfeifen darüber hinweg, als wollte er mit dem letzten Klageruf der jammernden Mutter auch das Andenken an die Todte verwehen.

Hans Wolff.

Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
20.

Die Damen hatten anfänglich beabsichtigt, auf dem See zu fahren, allein der Fürst schritt, in Oliveira’s Schilderungen versenkt, achtlos am Ufer hin und betrat den Weg nach der Waldwiese – die Damen folgten wie magnetisch angezogen durch die erzählende Stimme. Beim Eintritt in den Wald hatten sie die Hüte abgenommen; sie flochten sich Glockenblumen, rothblühende Feldnelken und den wilden Hopfen mit seinen halbentwickelten, glöckchenartigen Zapfen in das Haar. … Wie taubenhaft unschuldig sahen sie aus in ihren fleckenlos weißen Gewändern, mit den jungen, frühlingsfrischen Gesichtern unter den nickenden Waldblumenglocken – und doch waren diese scheinbar kindlichen, unbefangenen Herzen bereits vortrefflich geschult und einexercirt nach dem feudalen Reglement, und zwischen ihnen und der übrigen, nicht hoffähigen Menschheit lag eine nie zu überbrückende Kluft voll Eis und tödtlicher Kälte.

Auf der Waldwiese angekommen, legte die junge hübsche Frau eines Cavaliers eine kleine Guirlande um den Strohhut ihres Gemahls; der Fürst bemerkte es und reichte lächelnd auch seinen Hut hin – das war das Signal zu einer allgemeinen Bekränzung. Die jüngeren Damen flatterten umher wie die Schmetterlinge und plünderten den Waldboden; es wurde viel gescherzt und gelacht – harmloser und naiver konnten sich auch die Dorfkinder nicht im frischen grünen Wald umhertummeln als diese blumensuchenden Hochgeborenen.

Der Portugiese hatte dem Tumult den Rücken gewendet; er stand mit rückwärts gekreuzten Händen vor der erzenen Büste des Prinzen Heinrich und studirte scheinbar mit großem Interesse die Züge des grünüberlaufenen fürstlichen Kopfes. Was keine der jungen Damen dem düsterernsten Mann gegenüber wagte, die Hofdame unternahm es. Sie trat geräuschlos an Oliveira’s Seite und hielt ihm mit einem schalkhaft bittenden, wenngleich schüchternen Blick die schmale weiße, mit Blumen gefüllte Hand hin. Das wäre wohl ein Moment gewesen, um auf diesen streng geschlossenen Mund ein Lächeln, in die dämonisch dunklen Augen ein freundliches Aufleuchten zu zaubern – vergebens – das Bronzegesicht veränderte sich nicht; wohl aber nahm er mit einer tadellos ritterlichen Verbeugung den Hut vom Haupte und reichte ihn dem jungen Mädchen hin. Sie eilte zu dem Damenkreis zurück, und der Portugiese folgte ihr langsam. Die ganze Gruppe stand inmitten der Waldwiese. Die kleine Lichtung erschien von diesem Punkt aus wie ein Stern, dessen Strahlen als schmale Wege in den Wald hineinliefen – der Blick konnte nach allen Richtungen hin in die gründämmernden Laubgänge dringen.

Oliveira’s Hut ging von Hand zu Hand, jede der Damen schmückte ihn mit einer Blume; zuletzt blieb er in den Händen der Baronin Fleury. Mit einem lächelnden Aufblick nach dem Portugiesen, der unfern von ihr stand, befestigte sie eine prachtvolle azurblaue Campanula und war eben im Begriff, den Hut zurückzugeben, als sie plötzlich wie versteinert stehen blieb und aufhorchte. Augenblicklich verstummte auch das Geplauder und Summen aller Stimmen – man hörte die dumpfdröhnenden Hufschläge eines herangaloppirenden Pferdes. … War es ein scheugewordenes Thier, das durch den Wald raste? … Es blieb [303] kaum Zeit, diesen Gedanken auszudenken, als auch bereits das Pferd auf dem Greinsfelder Wege herbrauste. Von seinem Rücken flatterte, wie eine leichte Sommerwolke, ein weißes Damenkleid, und über den hochaufbäumenden Kopf des Thieres hinweg wehte gelöstes blondes Haar. Auf Roß und Reiterin fielen aus den Wipfeln goldene Lichter nieder, und diese funkelnden, auf- und abhuschenden Flecken machten die jäh hervorstürzende Gesammterscheinung fast grauenhaft schön.

Die Damen stoben schreiend auseinander.

„Mein Gott!“ stieß der Fürst hervor – der alte Herr taumelte förmlich zurück, die Baronin Fleury aber streckte wie sinnverwirrt abwehrend ihre Arme aus.

„Kehre um, Gisela ich beschwöre Dich!“ rief sie völlig fassungslos. „Ich kann Dich nicht sehen! … Die Angst tödtet mich!“

Allein da stand schon das Pferd, ein schöner Araber, wie festgemauert mitten auf der Wiese; der Schaum floß vom Gebiß, und die Nüstern flogen – ein einziger Ruck seiner Herrin, die auf seinem nur mit einer leichten Decke gesattelten Rücken saß, hatte es zum Stehen gebracht.

„Greinsfeld brennt!“ rief sie hinab, ohne das halbwahnwitzige Gebahren der Stiefmutter zu beachten – ihr schönes Gesicht war todtenbleich.

„Das Schloß?“ fragte der Portugiese – er war der Einzige, der scheinbar seine Ruhe behauptete – alle Anderen standen so gänzlich bestürzt und fassungslos, als habe eine gewaltige Faust die überraschende Erscheinung aus dem Erdboden gehoben.

„Nein – im Dorfe brennen mehrere Häuser zugleich!“ antwortete das junge Mädchen mit halberstickter Stimme und warf die prachtvollen Haarsträhne zurück, die ihm über den Busen gefallen waren.

„Und um deswillen machst Du einen solchen tollen Ritt? … Wahnsinnige!“ rief der Minister maßlos empört, während sich der Portugiese mit einer tiefen Verbeugung und einigen Worten von Seiner Durchlaucht verabschiedete und gleich darauf im Walde verschwand.

Fast schien es, als habe die junge Reiterin von allen Anwesenden nur diesen Mann bemerkt; bei seiner Frage hatte sich ein wahres Rosenlicht über ihr blasses, erschrecktes Gesicht ergossen, und mit dem Verschwinden der hohen Gestalt erlosch es sofort.

Jetzt kam aber auch Leben in die erstarrte Versammlung – die Herren, unter ihnen die Gräfin Schliersen, umringten stürmisch Pferd und Reiterin; und wenn auch die jüngeren Damen infolge unliebsamer Ueberraschung und eines sehr erklärlichen Unbehagens sich fern hielten, so hingen doch alle diese schönen Augen mit wahrhaft verzehrender Spannung an dem Gesicht der jungen Einsiedlerin, die „der boshafte Zufall“ so unvorbereitet und plötzlich mitten in den Hofkreis hineinwarf. … Wie, die Erscheinung, die so ätherisch leicht da droben schwebte und doch mit so kühner und kräftiger Hand ihr Pferd beherrschte; sie sollte das verkrüppelte, gelbe Geschöpfchen sein, welches nach Aussage der Stiefeltern in tiefster Einsamkeit eines langsamen Todes starb? … Vor diesen wundervollen, keuschen braunen Mädchenaugen wollte sich einst die schöne Hofdame gefürchtet haben? Und hinter der leuchtenden, vom schönsten Blondhaar umflatterten Stirn sollte maßlose Bosheit brüten?

„Liebste Jutta, Du hast uns einen reizenden Fastnachtsschabernak gespielt!“ sagte die Gräfin Schliersen in ihrem beißendsten Ton zu der schönen Excellenz. „Zu Deiner Genugthuung will ich Dir gestehen, daß ich überrascht bin, wie noch nie in meinem Leben. … Deine schmerzliche Entrüstung über meine ,neugierigen Augen’ war aber auch zu gelungen!“

Die Baronin erwiderte auf diese Bosheit kein Wort. Sie sah aus wie ein Geist mit ihren schneeweißen Lippen und Wangen, hatte aber ihre Fassung vollständig wiedergewonnen. Sie schlug die dunklen Augen vorwurfsvoll zu der Stieftochter auf.

„Mein Kind – Gott mag Dir verzeihen, was Du mir angethan hast!“ sagte sie in weichen Tönen. „Diesen Augenblick verwinde ich nie! … Du weißt, daß es mir namenlose Angst macht, Dich auf dem Pferde zu wissen! Du weißt, daß ich fortwährend für Dein Leben zittere! … Was hattest Du mir versprochen?“

Gisela’s Blick war einen Moment verschüchtert über alle die fremden Gesichter hingeglitten – jetzt aber sprühten die braunen Augen auf.

„Ich hatte Dir versprochen, nicht in Deinen Gesichtskreis zu kommen, Mama!“ versetzte sie. „Aber soll ich mich denn wirklich rechtfertigen, daß ich mein Versprechen nicht halten könnte, weil ich Hülfe für mein armes Dorf holen muß? … Unsere Leute sind auf dem Jahrmarkt in A.; nur der alte Braun, der nicht reiten kann, und der lahme, kranke Stallknecht Thieme sind zu Hause. … Im Dorfe ist nicht ein einziger Mann – die Leute arbeiten ja fast alle in Neuenfeld – Frauen und Kinder laufen schreiend und rathlos um die brennenden Häuser –“

Sie verstummte – das ganze Entsetzen, das sie auf ungesatteltem Pferd über Berg und Thal getrieben, kam wieder über sie, und wenn auch ihr Aufenthalt auf der Wiese sich kaum auf wenige Minuten erstreckte, diese Minuten waren doch verloren …. Sie mußte weiter von all’ Denen, die sie umstanden, rührte auch nicht Einer Hand und Fuß; die vornehmen Herren schienen es nicht gehört oder bereits vergessen zu haben, daß es da drüben hinter dem Walde brannte. … Jener verächtliche Zug, welcher auch einst das schöne Gesicht der Gräfin Völdern charakterisirt hatte, bog ihre Mundwinkel herab. Ihr Blick flog über die Köpfe hinweg nach dem Neuenfelder Weg – man sah, sie war im Begriff, den Kreis, der sie umringte, ohne Weiteres zu sprengen.

Wären nicht Aller Augen beharrlich auf die Reiterin gerichtet gewesen, dann hätten diese Hofschranzen ein Schauspiel haben können, für sie vielleicht interessanter noch, als die „hereingeschneite Schönheit“ auf dem Pferde. Der Minister, dieses Urbild eines Diplomaten, Seine Excellenz mit der ehernen Stirn, an der alle Angriffe wirkungslos abprallten, der Mann mit den schlaffen Augenlidern, die sich hoben und senkten, wie der Theatervorhang, um gerade nur das zu zeigen, was gesehen werden sollte – der gewaltige, gefürchtete Minister war augenblicklich schwächer als seine gewandte Gemahlin; er rang, vergebens nach äußerer Ruhe, und Fassung – er konnte weder die fahle Blässe, noch den verzweifelten Grimm von seinen Zügen wegwischen.

Bei der Bewegung des jungen Mädchens griff er mit rauh zufassender Hand in die Zügel des Pferdes, und ein dämonisch wilder, furchtbar drohender Blick traf ihr Auge. … Sie erbebte er hatte sie vorhin in Bezug auf ihre Handlungsweise eine Wahnsinnige genannt – er hielt offenbar seine gräfliche Stieftochter in den Augen des Hofes für compromittirt, weil sie um einiger elender, zusammenprasselnder Schindeldächer willen ihre Standeswürde und die strengen Gesetze der Etikette achtlos bei Seite setzte – er wollte sie an einer weiteren „Tollheit“ verhindern – was kümmerte ihn der verzweifelnde Jammer da drüben in dem Nest, über dessen Wohl und Wehe die gehorsame Stieftochter früher mit denselben gleichgültigen Augen hinweggesehen hatte wie er?

Infolge dieser blitzschnell kreisenden Gedanken flammten die Augen der jungen Gräfin auf. … Seine Excellenz hatte die Kraft in diesen schmalen, weißen Händen, unterschätzt – mit einem einzigen Rucke zog sie den Zügel gegen sich, das Pferd stieg kerzengerade in die Höhe, und die Umstehenden wichen erschrocken zurück.

„Papa, Du wirst mir erlauben, nach Neuenfeld zu reiten,“ sagte sie sehr energisch, wenn auch ohne alle Heftigkeit, und hob die Reitgerte, um das Thier anzutreiben – in demselben Augenblick krachte ein Schuß dumpf herüber.

„Aha, der erste Alarmschuß in Neuenfeld!“ rief der Fürst. „Herr von Oliveira muß geflogen sein! … Beruhigen Sie sich, schöne Gräfin Völdern!“ wandte er sich an Gisela: „Sie brauchen nicht weiter zu reiten. Glauben Sie denn, ich würde so ruhig geblieben sein, wenn ich nicht gewußt hätte, daß da drüben“ – er deutete nach der Neuenfelder Richtung „bereits alle Vorkehrungen zur schleunigsten Hülfe getroffen würden?“

Jetzt erst bemerkte Gisela den alten Herrn, die schmächtigste, unscheinbarste Gestalt unter den Versammelten. Er hatte sie mit dem Namen ihrer Großmutter angeredet – das klang sonderbar, fast wie verwirrt – sie wußte ja nicht, daß er in ihr die unvergleichlichen Formen seiner „Protégé“ wiedererstanden sah – indeß, was er sagte, klang so gütig beruhigend, und das wohlbekannte schmale Gesicht mit den kleinen, grauen Augen – dieser fürstliche Kopf, mit welchem Frau von Herbeck einen wahren Cultus trieb, hing photographirt, lithographirt und in Oel gemalt in allen Zimmern der Gouvernante – das Gesicht erschien so harmlos und freundlich neben den unheimlichen verwandelten Zügen des [304] Stiefvaters, daß sie plötzlich die aufquellende Bitterkeit in ihrem Herzen weichen fühlte.

Sie neigte sich mit einem unnachahmlichen Gemisch von mädchenhaft herber Zurückhaltung und graciöser Geschmeidigkeit tief vom Pferde und sagte mit kindlichem Lächeln: „Ich bin Euer Durchlaucht sehr dankbar für diese Beruhigung –“

Sie wollte offenbar noch einige Worte hinzufügen, allein der Minister hatte abermals den Zügel erfaßt, diesmal jedoch mit wahrhaft eisernem Griff – jetzt war er vollkommen Herr seiner Aufregung geworden, ja, er brachte sogar ein bedeutungsvoll mitleidiges und zugleich entschuldigendes Lächeln fertig, mit welchem er nach dem Fürsten hinsah, während er das Pferd rasch wendete und den Kopf des Thieres dem Greinsfelder Wege zukehrte.

Er deutete gebieterisch nach dem Laubgang.

„Du wirst jetzt ohne Aufenthalt nach Greinsfeld zurückkehren, meine Tochter,“ sagte er mit jener eiskalten, geschärften Stimme, die jedes Wort zu einem eisernen Gebot machte. „Ich hoffe, heute noch Zeit und Gelegenheit zu finden, mich mit Dir über einen Schritt zu verständigen, der schwerlich seines Gleichen in den Annalen der Häuser Sturm und Völdern finden dürfte.“

Das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern, an welches er eben appellirte, übergoß das Gesicht des jungen Mädchens mit einem flammenden Roth; Gisela richtete sich hoch empor, allein die feinen Lippen preßten sich fest aufeinander – sie wollte ja niemals heftig werden. Es war auch nicht nöthig; das leichte, ausdrucksvolle Achselzucken, mit welchem sie sich auf dem Pferd zurecht setzte, wies die beißende Bemerkung Seiner Excellenz beschämender und treffender zurück, als es vielleicht ein rasches, gereiztes Wort gethan hätte.

„Aber, mein bester Fleury“ – rief der Fürst in lebhaft bedauerndem Ton.

„Durchlaucht“ – unterbrach ihn der Minister mit verbindlicher Haltung und fast devot niedergeschlagenen Lidern, aber auch mit einem Nachdruck, den Seine Durchlaucht als unbeugsam nur allzugut kannte, – „ich handle in diesem Augenblick als Vertreter meiner Schwiegermutter, der Gräfin Völdern. Sie würde ihrer Enkelin dies phantastische, zigeunerhafte Auftreten niemals verziehen haben … Ich kenne leider den abenteuerlichen Hang meiner Tochter sehr gut, und wenn ich außer Stande war, diese peinliche Situation zu verhüten, so will ich mich wenigstens nicht der Taktlosigkeit schuldig machen, den Scandal, der mir sehr bei den Haaren herbeigezogen erscheint, verlängert zu haben.“

Jedes andere junge Mädchen würde höchst wahrscheinlich diesen zermalmenden Worten gegenüber in Thränen der Hilflosigkeit ausgebrochen sein – die braunen, in diesem Moment zu schwarz sich verdunkelnden Augen feuchteten sich nicht. Mit jenem tief forschenden Ausdruck, der leidenschaftlich nach dem wahren Ursprung einer Handlung in der Seele Anderer sucht, heftete sich ihr Blick fest und durchdringend auf das Gesicht des Mannes, welcher sie als elendes, hinsterbendes Kind mit einer Art von Vergötterung auf den Händen getragen und systematisch verzogen hatte und der nun seit wenigen Tagen urplötzlich, ohne irgend welchen erklärlichen Uebergang, eine so tödtliche Kälte und Rücksichtslosigkeit ihr gegenüber entwickelte.

Sie saß nicht da droben wie eine Angeklagte – weit eher als Verurtheilende – an dem ruhigen Schweigen ihrer leicht erblichenen Lippen, die sich in den Winkeln verächtlich senkten, zersplitterte die Waffe ihres Verleumders.

Mit einer stolzen Geberde warf sie das Haar nach den Schultern zurück; dann neigte sie sich grüßend nach allen Seiten, während sie mit der Reitgerte das Pferd leicht berührte. Es flog wie ein Pfeil in den Laubgang zurück, und nach wenigen Augenblicken verschlang die grüne Waldesdämmerung die schwebende weiße Gestalt und das flatternde Goldhaar der Reiterin. …

(Fortsetzung folgt.)
Mit der nächsten Nummer erscheint die Erzählung „Reichsgräfin Gisela“ wieder an der Spitze des Blattes.
D. Red.

Blätter und Blüthen.

Das Katzenasyl. Das Hundeasyl in London hat schon so viel von sich reden gemacht, daß es wohl erlaubt sein dürfte, auch einmal eines Katzenasyls zu erwähnen, welches – freilich nur im Kleinen und privatim betrieben – schon seit vielen Jahren im Staate Pennsylvanien in der Nähe Pittsburgs besteht.

Die Gründerin desselben, Miß Mary K., in der ganzen Umgegend nur die „Katzenjungfrau“ genannt, hat es sich zur Lebensaufgabe gestellt, alle Kräfte des Leibes und der Seele diesen „lieben, aber schnöde verkannten“ Geschöpfen zu widmen, und sie ist diesem ihrem „Berufe“ treu geblieben und hat im Laufe eines langen Lebens in der That schon Großartiges darin geleistet. Alle bedrängten und unglücklichen Katzen aus der ganzen Nachbarschaft haben stets instinctmäßig sich unter Miß Mary’s schützendes Dach geflüchtet und dort liebevolle Aufnahme und die zärtlichste Pflege und Behandlung gefunden. Miß Mary, die Tochter eines reichen und einst hoch angesehenen Farmers, war von zarter Kindheit an mit besonderer Vorliebe den Katzen zugethan. In ihrem zwanzigsten Lebensjahre reichte sie einem feurigen Anbeter die Hand am Altare, aber das Glück sollte nur von kurzer Dauer sein! Als nämlich am Hochzeitsabend das junge Ehepaar sich in das gemeinschaftliche Schlafzimmer zurückzog und der Gatte mehrere Betten vorfand, welche sämmtlich mit schlafenden und schnurrenden Katzen angefüllt waren, da wurde ihm bedenklich zu Muth und er verbat sich ernstlich, zuerst in freundlichen, dann, als diese keinen Eingang fanden, in derben Worten die ebenso unerwartete wie unwillkommene Zimmergesellschaft. Dies machte auf die zartfühlende junge Frau einem so schmerzlichen Eindruck, daß sie sofort den Barbaren, der ihre Sympathie nicht zu theilen vermochte, ja sogar einen Ekel und Abscheu gegen ihre Herzenslieblinge an den Tag legte, aus dem Zimmer und Hause verwies – ein Befehl, dem dieser sehr bereitwillig nachkam. Mary sah ihren Mann nie wieder; sie legte sogleich seinen Namen ab, war aber boshaft genug, nie in eine Scheidung von ihm einzuwilligen, „damit er nicht auch noch ein anderes Mädchen täusche“. Alle Bemühungen des armen Mannes blieben daher erfolglos, da auch in amerikanischen Gesetzbüchern die Liebe zu Katzen nicht als Scheidungsgrund angenommen wird.

Nach dem Tode ihrer Eltern zog sich Mary mit ihren vierfüßigen Schutzbefohlenen in ein kleines Landhaus zurück, verpachtete ihre schönen Ländereien und lebt nun schon seit mehr als dreißig Jahren daselbst, indem sie für sich und ihre Katzen das ganze Einkommen bis auf den letzten Cent verbraucht. Da es ihr nicht möglich ist, Dienstboten zu bekommen, so hat sie stets vollauf zu thun und reibt sich, ihrer eigenen Aussage nach, beinahe auf, was Jedermann glauben wird, wenn man bedenkt, welch’ eine Riesenarbeit es ist, täglich fünfzig bis siebenzig launische Katzen zu bedienen, dieselben zu bürsten und zu kämmen, ihnen die Betten zu machen und für gute Kost zu sorgen.

Wenn Miß Mary einen Spaziergang unternimmt in Begleitung ihrer Katzen, so ist dies eine unerhörte Belustigung für die Kinder der benachbarten Farmer, und Augenzeugen haben mir mitgetheilt, daß der Anblick der „Katzenjungfrau“ in der That unbeschreiblich komisch sei. Uebrigens hat Alt und Jung eine gewisse Scheu vor ihr, und man kommt ihr nicht leicht zu nahe. Ich konnte indeß der Neugierde nicht widerstehen, dieser merkwürdigen Dame einen flüchtigen Besuch abzustatten, und ich bekenne, daß ich meine Erwartungen noch weit übertroffen fand. Das Haus, welches sie bewohnt, ist dem Verfall nahe, da aus Rücksicht für die lieben Katzen von einer Renovirung keine Rede sein darf, und der Garten um das Haus herum ist von den artigen Geschöpfchcn total zerstampft und ruinirt, da er ihnen als Tummelplatz dient. Ich trat in die geräumige Stube ein, in welcher trotz der geöffneten Fenster ein im höchsten Grade widerlicher Geruch herrschte. Miß Mary, eine lange hagere Gestalt mit stechenden Augen und struppigem Haar, saß in einem Lehnstuhl, eine Anzahl junger Kätzchen auf dem Schooße wiegend und dieselben liebkosend; rings um sie her hatten aalfette Katzen jedes Alters, jeder Farbe und Gattung Posto gefaßt und schauten mich mit ihren funkelnden Augen grimmig an, so daß mir fast unheimlich wurde. Sämmtliche Möbel waren total zerkratzt und ebenfalls von diesen Thieren besetzt, und das Schnurren und Miauen tönte wahrhaft betäubend in den Ohren. Beim Abschied fragte ich die Dame, ob sie sich nicht fürchte, so allein auf dem Lande zu wohnen?

„Fürchten?“ entgegnete sie mit verächtlicher Miene, „eine freie Amerikanerin fürchtet sich nicht! Uebrigens,“ fügte sie mit großem Pathos bei, „habe ich mir, wie Sie sehen, selbst eine Sauve-garde, und glauben Sie mir, eine recht sichere! Sehen Sie meine Katzen an, es sind dankbare und kluge Geschöpfe, und so lammfromm sie von Natur sind, ich bin gewiß, beim geringsten Angriff auf ihre Herrin würden sie sich in wilde Tiger verwandeln! Ich habe dies erfahren, als vor einigen Jahren bei mir eingebrochen wurde; die Diebe befanden sich bereits im Zimmer, da gaben meine Lieblinge Laut, und die Eindringlinge stürzten unter Schreckensrufen zum Fenster hinaus.“

Vor einigen Jahren traf Miß Mary freilich ein herber Schlag, der sie, wie sie versichert, in’s frühe Grab bringen wird. Die Arme erkrankte tödtlich, und einige Verwandte kamen zu ihrer Pflege herbei. Während sie nun im Fieber lag, jagten die Hartherzigen sämmtliche Katzen zum Hause hinaus, und Miß Mary fand bei ihrer Wiedergenesung keine einzige mehr vor, was ihr beinahe einen Rückfall zuzog. Wie eine verzweifelnde Niobe durchstreifte sie Feld und Wald, ihre Lieblinge jammernd bei Namen rufend, aber nur fünfzehn derselben kehrten unter das schützende Dach zurück; doch hat sich ihre Zahl zum Glück wieder bis auf fünfzig erhöht. Die Verwandten sollen nun aber zur Strafe für ihre Grausamkeit enterbt werden, und Miß Mary beabsichtigt ihr Vermögen zur Gründung eines Katzenasyls zu bestimmen.

     Pittsburg.
L. W.