Die Gartenlaube (1869)/Heft 10
[145]
No. 10. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Reichsgräfin Gisela.
(Fortsetzung.)
Der Mond war aufgegangen; die volle Scheibe schwebte über der Schlucht; ihr weißes Licht troff auf die schwarzen Tannen und Kiefern, welche die fast senkrechten, gleichsam auseinandergerissenen Bergwände umstarrte, und tanzte auf den trüben, schäumenden Wassern. Das Flußbett war bis an den Rand gefüllt; schon sprühte hie und da der Gischt über die Wiesen hin – noch wenige erhöhte Pulsschläge droben in den Bergen, und die Fluthen überströmten das Thalgelände.
Weiter unten, in der Nähe eines tiefliegenden Weilers, kamen Leute. Die Männer und Frauen trugen Bettstücken und verschiedenes Geräth auf den Köpfen, und die Kinder trieben ein Paar Ziegen vor sich her.
„’S wird schlimm diese Nacht – das Wasser kommt!“ sagte einer der Männer zu dem Hüttenmeister. Die Leute flüchteten in einige höher gelegene Häuser.
Dieser Zuruf rüttelte den Hüttenmeister plötzlich aus seinem Hinbrüten auf. Er schritt rascher den Fluß entlang – seine sämmtlichen in Neuenfeld wohnenden Arbeiter waren in Gefahr.
Und nun sah er auch, was die tückischen Wasser bereits auf ihrem Rücken trugen - eine Thür schwamm heran, und unter das vorüberjagende Scheitholz mischten sich Häuserbalken und losgerissene Bretter. … Das schwoll und gurgelte und hätte noch lange nicht genug an der Noth und dem Jammer, die es bereits mit sich schleppte.
Und darüber schwebte das Mondlicht, so süß und golden, so erbarmungslos weiterlächelnd, wie die zwei dunklen Mädchenaugen drüben im weißen Schlosse, nachdem sie in den Abgrund geblickt, der sich über einem zertretenen Menschenherzen schloß.
Auf dem Neuenfelder Kirchthurm schlug es neun. Die zwei Wandernden waren über vier Stunden umhergeirrt und näherten sich der Jochbrücke – der Student war ermattet zum Umsinken. … Da tauchte plötzlich am jenseitigen Ufer Sievert auf. Er hob die Arme wie abwehrend und rief mit lauter Stimme hinüber, aber das Toben und Brausen des nahen Wehres verschlang die Laute. Während der Hüttenmeister stehen blieb und aufmerksam dem erneuten Zuruf lauschte, betrat der Student ungeduldig die Brücke und schritt vorwärts.
Ein Aufschreien des alten Soldaten gellte herüber – er geberdete sich wie ein Unsinniger und schlug die Arme um das Brückengeländer – in demselben Augenblick erscholl ein dumpfes Krachen – ein langer Balken fuhr gegen die Brückenpfähle, sie sanken sofort – mit Gedankenschnelle wuschen und wühlten die Wasser das morsche Gerüst auseinander, und unter dem grausen Gemisch treibender Balken und Bretter verschwand die Gestalt des Studenten.
Der Hüttenmeister sprang ihm ohne Weiteres nach. Der durch die Krankheit entnervte junge Mensch war rettungslos verloren gegenüber dem fortreißenden Wasserschwall. … Selbst der riesenstarke Mann rang keuchend mit den Fluthen – zweimal streckte er vergeblich die Hand nach dem Verunglückten aus – immer näher und unwiderstehlicher wurden Beide nach dem Wehre hingetrieben. Endlich gelang es dem Hüttenmeister, den treibenden Körper zu erfassen; aber nun kam das Furchtbare – der Student war nicht des Bewußtseins, wohl aber für einen Moment aller Vernunft beraubt – er erkannte seinen Retter nicht, er schlug nach ihm und wehrte sich gegen die rettende Hand verzweifelter, als gegen die tückischen Fluthen. … Trotz dieses entsetzlichen Kampfes kam der Hüttenmeister dem jenseitigen Ufer näher und näher – mit dem letzten Kraftaufwand schwang er den Studenten uferwärts, Sievert ergriff dessen Arme und zog ihn auf das Trockene.
Hier gerade war das Flußbett sehr tief; das Ufer überragte noch um drei Fuß Höhe die Wasserfläche. … Die letzte gewaltige Bewegung, mittels welcher der Hüttenmeister seinen Bruder an das Land geschleudert hatte, trieb ihn selbst sofort in die Mitte des Flusses zurück. … Noch einmal begann der Kampf, und zwar um das eigene Leben – aber – war ihm dieser Preis nicht mehr begehrenswerth genug, oder hatten ihn die Kräfte in der That verlassen, der junge Mann verschwand plötzlich. Sievert rannte am Ufer hin und rief in verzweiflungsvollen Tönen den Namen des Versinkenden – da erhob sich noch einmal das todtenbleiche Gesicht hoch aus den Wassern – der alte Soldat schwur sein Lebenlang, er habe in diesem Augenblick den Hüttenmeister noch lächeln sehen – noch einmal streckten sich die Arme wie zum Gruß empor – „leb’ wohl, Berthold!“ scholl es herüber. … Gleich darauf trieben Bretter über dieselbe Stelle, wo so viel Jugend und Schönheit und ein braves deutsches Herz versunken waren. … Der alte Soldat starrte mit gesträubtem Haar hinüber – dicht am Wehr tauchte noch einmal der dunkle Arm auf – dann stürzte der Schwall donnernd hinab in die Tiefe. …
[146] Auf dem Neuenfelder Kirchhof, neben dem Grab der blinden Frau, wurde der Hüttenmeister in die Erde gebettet; man hatte den Körper des Verunglückten eine halbe Stunde von Neuenfeld entfernt im Weidengebüsch hängend gefunden. … Das Gerücht ging, auch der Student sei ertrunken, denn er war spurlos verschwunden seit der unglückseligen Nacht – „zu seinem Glücke“, sagten die Leute im weißen Schlosse. Sie erzählten in tiefster Indignation, welch’ schreckliche Dinge der verabscheuungswürdige „Demagoge“ Seiner Excellenz in’s Gesicht gesagt – und daß dieses schauderhafte Verbrechen eine eclatante Sühne verlangt hätte, war selbstverständlich. …
Ein Jahr nach diesen Ereignissen, genau zu der Zeit, wo auf dem Grab des Hüttenmeisters die Primeln und Schneeglöckchen ihre schuldlosen Augen aufschlossen, stand ein Brautpaar am Altar der Schloßcapelle zu A. … Auf den Emporen drängten sich die Damen des Adels und der höchsten Beamtenkreise, und sämmtliche Glieder des Fürstenhauses waren anwesend.
Schuldloses Weiß umfloß die Glieder der Braut – weiß war der prachtvolle Spitzenduft über der glitzernden Atlasschleppe und weiß der Orangenblüthenkranz in den dunklen Locken, und das Antlitz leuchtete wie der kalte, unberührte Marmor durch das Helldunkel der Kirche – in den Augen aber loderte Triumph Haltung und Gesichtsausdruck entbehrten völlig den veilchensüßen Hauch bräutlicher Scheu und Demuth; kein „Engel“, wohl aber das schönste Weib stand dort, das die Hand begehrlich nach Glanz und hoher Lebensstellung ausstreckte.
Der mit Orden bedeckte Bräutigam war Baron Fleury, fürstlich A’scher Minister, und neben ihm stand die fürstliche Hofdame Jutta von Zweiflingen, „Tochter des Freiherrn Hans von Zweiflingen und Her Adelgunde, geborenen Freiin von Olden“.
„Tadelloses Vollblut, Durchlaucht!“ flüsterte die Oberhofmeisterin der Fürstin mit dem Lächeln tiefster Befriedigung zu und verneigte sich glückwünschend bis zur Erde.
Seit dem Tod des Hüttenmeisters waren elf Jahre verflossen. … Wäre – wie ein frommer Wahn annimmt – der abgeschiedene, unsterbliche Menschengeist wirklich verurtheilt, in ewig beschaulicher Unthätigkeit auf die alte irdische Heimath herabzusehen, dann hätte der Verstorbene, dessen Herz so warm und treu für seine bedürftigen Landsleute geschlagen, die tiefste Genugthuung empfinden müssen beim Anblick des Neuenfelder Thales.
Das weiße Schloß freilich lag noch so unberührt von Zeit und Wetter auf dem grünen Thalgrunde, als sei es während der langen elf Jahre von einer conservirenden Glasglocke überwölbt gewesen. … Da sprangen die Fontainen unveränderlich bis zu dem wie in den Lüften festgezauberten Gipfelpunkt, und ihr niederfallender Sprühregen ließ die Lichter des Himmels als Gold- und Silberfunken auf der beweglichen Wasserfläche der Bassins noch immer unermüdlich tanzen. Die Bosquets, die Lindenalleen, das grüne Gefieder der Rasenplätze verharrten pflichtschuldigst in den Linien, die ihnen die künstlerische Hand des Gärtners vorgeschrieben. Auf den Balcons leuchtete das unverblichene Federkleid der Papageien – sie schrieen und plapperten die alten, eingelernten Phrasen – und im Schlosse flüsterten und huschten die Menschengestalten mit gebogenem Rücken und scheu devotem Fußtritt genau wie vor elf Jahren. Und sie waren wie hineingegossen in ihre Kniehosen und Strümpfe, und auf den blankgeputzten Rockknöpfen prangte das adelige Wappen, das den freigeborenen Menschen zum „Gut“ stempelte.
Um all’ diese wohlconservirten Herrlichkeiten aber legte sich das ungeheure Viereck der Schloßgartenmauer, leuchtend weiß, sonder Tadel – es war ein streng behütetes Fleckchen Erde, konservativ, unverrückbar stillstehend in den einmal gegebenen Formen, wie die Adelsprincipien selbst.
Mit diesem wohlverbrieften Stillstand contrastirte grell das neue Leben jenseits der Mauer. In tiefen, mächtigen Athemzügen erbrauste es und schwenkte seine grauen Fahnen weithin, selbst bis über das weiße Schloß, wo ihre Enden lustig in der vornehmen Luft zerflatterten – die Industrie in gewaltigem Aufschwunge war zwischen den stillen Bergen eingezogen.
Vor sechs Jahren hatte der Staat das Hüttenwerk veräußert – es ging in Privathände über und nahm sofort Dimensionen an, die sich bis dahin Niemand hatte träumen lassen. Mit fabelhafter Geschwindigkeit breitete sich ein kolossales Etablissement auf der Neuenfelder Thalsohle aus. Da, wo ehemals die Esse des Hochofens einsam in die Lüfte ragte, dampften jetzt vierzehn Fabrikschlote; mit der Eisenindustrie war eine Bronzegießerei verbunden worden. In früheren Zeiten lieferte das Werk nur sehr primitive Eisenfabrikate, jetzt aber gingen die herrlichsten Kunstgußartikel in die Welt.
Der riesige Gebäudecomplex, in welchem es rastlos hämmerte und pochte und wo geformt und gegossen, geschmiedet und gefeilt, bronzirt und geschwärzt wurde, füllte nahezu den Raum zwischen dem ehemaligen Hüttenwerk und Dorf Neuenfeld aus; das Dorf selbst aber war nicht wieder zu erkennen. … Der gewaltige Betrieb beanspruchte viele Hände; das alte Arbeitspersonal war verschwindend klein, – da kamen die Bedürftigen und Unbeschäftigten der Nachbarorte, und wie durch einen Zauberschlag verschwand das Gepräge der Noth und des Elends, das der reizenden Gebirgsgegend bis dahin einen unheimlichen Zug verliehen hatte. … Man hätte fast annehmen mögen, der neue Besitzer habe bei seiner Schöpfung einzig und allein diesen Zweck im Auge gehabt, denn es wurden sehr hohe Löhne gezahlt, und die Sorgfalt für das Wohl der Arbeiter zeigte sich unermüdlich thätig; allein der Unternehmer war ein wildfremder Mann, ein Südamerikaner, der, wie man erzählte, nie einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatte. Er war und blieb unsichtbar, wie eine Gottheit hinter den Wolken, und wurde durch einen Generalbevollmächtigten, ebenfalls einen Amerikaner, vertreten. … Somit zerfiel der Glaube an eine außergewöhnlich humane Bestrebung, und das Ganze galt „für eine überseeische Speculation, der man noch viel Unkenntniß der deutschen Verhältnisse ansehe“.
Man schrieb es jedenfalls auch auf Rechnung dieser „Unkenntniß“, daß die Neuenfelder Lehmhütten mit ihren papierverklebten Fenstern und geflickten Schindeldächern verschwunden waren – „sie hatten ja bis dahin vollkommen ausgereicht für die Bedürfnisse dieser Leute, es war kein Einziger darin erfroren.„ … An ihrer Stelle erhoben sich jetzt schmucke, zweistöckige Häuser mit rothem Ziegeldach und hellgetünchten Wänden, und an diesen Wänden rankten sich wohlgepflegt Kletterrosen und die wilde Rebe empor und flochten Guirlanden um die Fenster. Der Gartenfleck aber, der ein Haus von dem anderen trennte und der sich auch noch schmal vor der Straßenfronte hinstreckte, zeigte am deutlichsten, daß Geschmack und Sinn für das Zierliche keineswegs das Monopol der gebildeten Welt sind – unter dem Druck der Noth und Armuth schlafen sie nur. … Das ehemals so öde Stück Gartenland durchliefen jetzt saubere, mit weißblühenden Federnelken oder Buchsbaum eingefaßte Kieswege, und Obstbäume und Gemüsebeete zeugten von sorgfältig pflegenden Händen. Einst hatte nur die plumpe Scheibe der Sonnenrose über den verwilderten Zaun genickt, nun aber waren die Rabatten bestreut mit veredelten Blumen, und die Stachelbeerumzäunung hatte einem zierlichen, hellangestrichenen Staket weichen müssen. Und die knorrigen Linden, die als traute Cameraden der alten Schindeldächer so viel Noth und Kummer miterlebt hatten, klopften lustig an die neuen, blinkenden Fensterscheiben und beschatteten ein behagliches Kiesplätzchen und eine Gruppe weißer Gartenmöbel zu ihren Füßen.
Der unsichtbare Mann in Südamerika mußte ein wahrer Crösus und, wie die harmlosen Neuenfelder Leute sich ausdrückten, „viel, viel reicher als ihr Landesherr“ sein, denn er hatte nicht allein ihnen, sondern auch seinen Arbeitern in den Nachbarorten, die neuen Wohnungen gebaut. Das vorgestreckte Capital wurde ihnen in verhältnismäßig sehr geringen Summen vom Wochenlohn abgezogen, so daß sie in den Besitz gesunder und stattlicher Wohnhäuser kamen, fast ohne zu wissen wie. Der Unsichtbare hatte auch eine Volksbibliothek, eine Pensionscasse und noch andere segensreiche Anstalten gegründet, und so zogen die Intelligenz und der Fortschritt wie auf Sturmesflügeln in Regionen, die, tief zu Füßen des weißen Schlosses liegend, doch „von Rechtswegen und bis an das Ende aller Tage“ in den wohlverbrieften Stillstand mitgehörten. …
Außer dem Hüttenwerk hatte der Fremde auch das ganze ehemalige Zweiflingen’sche Waldgebiet käuflich an sich gebracht. Baron Fleury hatte eine so fabelhafte Summe für den Besitz erhalten, daß er ein Thor gewesen wäre, das Angebot von sich zu [147] weisen. Diesmal blieben Wald und Waldhaus beisammen. Eines Tages wurden die Zweiflingen’schen Ahnen und die Hirschköpfe sorgfältig verpackt, aufgeladen und nach A. gefahren, wo ihnen im stolzen Ministerpalais ein besonderer Saal eingeräumt worden war. … Dann kamen Handwerker und renovirten, das alte, baufällige Waldhaus – zu welchem Zwecke, das wußte Niemand. Die neuen Schlösser und Fensterladen wurden nach Vollendung der Arbeiten verschlossen und verriegelt, und nur dann und wann ließ der Generalbevollmächtigte lüften.
Der Minister kam selten nach Arnsberg, aber wenn es einmal geschah, dann – so erzählte man sich – zog er verstohlen die Vorhänge der Fenster zu, die nach Neuenfeld sahen. … Er hatte bei Verkauf des Eisenwerks, das, zuletzt sehr lau betrieben, dem Staat nahezu eine Last geworden war, nicht geahnt, daß es in „solch ungeschickte“ Hände fallen werde. … Diese sogenannte Mustercolonie da drüben war ein vollständiger Hohn auf sein Regierungssystem – unter seinen Augen entwickelte sich der verderbliche Geist der Neuerung, den er am liebsten mit Feuer und Schwert vertilgt hätte. …
Seine Excellenz hielt die Zügel noch genau so stramm, wie vor elf Jahren; in neuerer Zeit jedoch hatte er sein Regierungsprogramm um Eines erweitert: er unterstützte nachdrücklich religiöse Bestrebungen, und es begab sich nun allsonntäglich, daß von den Kanzeln der Segen des Himmels auf seine weisen Maßregeln und sein „Gott wohlgefälliges Regiment“ herabgefleht wurde. … Und die Staatsmaschine war so gut eingeölt und ging so vortrefflich, daß der Fürst des Abends sein Haupt auf das Kopfkissen legte, ohne je von dem Gespenst der Regierungssorgen belästigt zu werden, während sein Minister alljährlich einige Monate zu seiner Erholung auswärts leben konnte. Baron Fleury brachte diese Zeit meist in Paris zu. Als letzter Sproß einer im Jahr 1794 emigrirten französischen Adelsfamilie hatte er selbstverständlich noch viel Anhänglichkeit an die alte Heimath – aber es lagen auch noch andere Gründe vor, wie er sich stets sehr aufrichtig ausließ. … Liegende Gründe besaß er freilich nicht mehr in Frankreich – sie waren nach der Flucht seiner Familie confiscirt worden, und trotz der heftigsten Reklamationen seines Vaters, welcher, infolge der vom ersten Consul Bonaparte ertheilten Amnestie, auf kurze Zeit nach Frankreich zurückkehrte, unwiederbringlich verloren. Dagegen fand der Geflüchtete nach so langer Zeit wunderbarerweise sein gesammtes Baarvermögen wieder. Die Fleury hatten ganz plötzlich, mitten in der Nacht, vor heranziehenden Sansculotten und den eigenen aufrührerischen Gutsangehörigen flüchtend, ihr altes Stammschloß verlassen müssen. Das allmählich und vorsichtig eingezogene Baarvermögen befand sich wohlverpackt in einem Schlupfwinkel des Kellers, mußte jedoch Zurückbleiben. Die wilden Haufen zerstörten das Schloß, entdeckten jedoch den Schatz nicht, den später ein alter, treuer Diener, der ehemalige Gärtner, unbemerkt in seine Wohnung zu retten wußte. Und als dann der zurückgekehrte Fleury zähneknirschend am Gitterthor seines ehemaligen Parkes stand und nach dem neuerbauten Schloß hinübersah, das ihm nicht mehr gehörte, da kam ein alter, halb kindisch gewordener Mann, küßte schluchzend seine Hand und führte ihn in den Keller seines ärmlichen Häuschens vor eine Reihe kleiner Geldfässer, an deren Inhalt auch nicht ein Sou fehlte. … Diese Gelder hatte sein Vater wohlangelegt in Frankreich, wie der Minister oft beiläufig erwähnte, und sie waren es, die sein häufigen Reisen nach Paris nöthig machten.
Was für ein kolossales Vermögen mußte das sein! Der Minister machte einen wahrhaft fürstlichen Aufwand, vorzüglich seit seiner zweiten Vermählung. Seine Einkünfte in Deutschland, so bedeutend sie auch sein mochten, waren dem Verbrauch gegenüber doch nur „ein Tropfen auf einen heißen Stein“, wie der Volksmund sagte. Natürlicherweise gab dieser ferne goldene Hintergrund Seiner Excellenz einen ganz besonderen Nimbus, und es schien fast, als bekleide er seinen hohen Posten fort und fort lediglich aus Hingebung für seinen Durchlauchtigsten Freund, den Fürsten.
Das weiße Schloß sah also, wie gesagt, seinen Besitzer selten; deshalb stand es aber doch nicht ganz verwaist. Die junge Gräfin Sturm bewohnte ihr nahegelegenes Gut Greinsfeld und kam oft, in ihrer Vorliebe für Arnsberg beharrend, auf Monate herüber. Freilich schien dann jedesmal das Schloß zwiefach umgürtet in vornehmer Unnahbarkeit; denn die junge Dame war streng in Standesvorurtheilen erzogen und zudem von Kindheit an so leidend, daß sie in förmlich klösterlicher Zurückgezogenheit ihr junges Leben verbringen mußte. In ihrem sechsten Jahre war sie infolge eines heftigen Schreckens von einem Nervenübel befallen worden. Diese Krankheit nahm insofern einen bedenklichen Charakter an, als sie bei jeder Gemüthsbewegung wiederkehrte, und da die Aerzte schon vorher einstimmig erklärt hatten, daß die Constitution des Kindes unhaltbar sei, so gehörte die kleine Reichsgräfin Sturm in den Augen der Welt bereits zu den Todten, und der Minister wurde stillschweigend beglückwünscht, denn er war der Universalerbe des Kindes.
Aerztlicher Verordnung zufolge wurde die Kleine in die Greinsfelder Gebirgsluft gebracht. Man umgab sie mit allem Glanz und Comfort, die ihre hohe Lebensstellung erheischte, aber auch mit der tiefsten Einsamkeit, welche nur Frau von Herbeck, ein Arzt und eine Zeit lang ein Religionslehrer theilten. Für die Bewohner von A. erlosch das junge, dem sicheren Tod verfallene Dasein bereits mit dieser Uebersiedelung, und die Dorfleute in Arnsberg und Greinsfeld sahen das bleiche Gesichtchen auch nur flüchtig hinter den Glasscheiben des vorüberrollenden Wagens, oder wenn es ihnen gelang, einmal scheu durch den streng abgeschiedenen Schloßgarten zu huschen. Nicht einmal in der Kirche hatten sie den Genuß, ihre kranke Herrin mit Muße betrachten zu können, denn sie wurde, als von katholischen Eltern, auch im katholischen Glauben erzogen und betrat das protestantische Gotteshaus niemals.
So verging ein Jahr um das andere, deren jedes nach menschlichem Dafürhalten eine Gnadenfrist war für die hinwelkende Menschenknospe. … Die Herren Mediciner hatten wichtig den Finger an die Nase gelegt und eine Prognose gestellt, an der kein Gott rütteln konnte – und aus dem prophezeiten Tod und Moder stieg fast urplötzlich eine Lilie empor und sah lächelnd dem Leben in’s sonnige Antlitz. – – – –
Da, wo das ehemalige Zweiflingen’sche und das Arnsberger Waldgebiet zusammenstießen, lag ein hübscher, kleiner See. Er gehörte noch in das Weichbild des weißen Schlosses, aber die Buchen, die seinen westlichen Saum bestanden, waren bereits Vorposten des Nachbarreviers.
Die heiße Julisonne brannte senkrecht über dem Gewässer; glatt, wie eine goldene Tafel lag sein Mittelpunkt da – nur bisweilen zitterten leise Schwingungen vom Ufer her und gruben krause, wunderliche Charaktere – vielleicht ein Gedicht des Waldes – in die Fläche. Der Wasserring aber, über welchem das Ufergebüsch und die verschränkten Eichen- und Buchenäste hingen, war dunkel und geheimnißvoll wie der Wald selbst. … Und auf dieser gründämmernden Bahn zog leise ein Kahn hin. Das Ruder reichte hinaus in die sonnendurchleuchtete Fluth und hinterließ, leicht einsinkend, eine schmale, blitzende Furche; manchmal verschwand es – dann drehte sich der Kahn und fuhr auf das Land auf.
Ein Mädchen saß am Ruder, und auf der schmalen Bank ihr gegenüber hockten drei Kinder, zwei Knaben und ein allerliebstes, kleines, blondköpfiges Mädchen. Die Kinder sangen aus voller Brust, mit glockenhellen Stimmen:
„Ich hab’ mich ergeben
Mit Herz und mit Hand
Dir, Land mit Lieb’ und Leben,
Mein deutsches Vaterland!“
Der Kahn saß fest und schwankte nicht mehr, und da ließ es sich noch einmal so schön singen über den See hinüber und zwischen die ernsthaften Waldbäume hinein.
Das Mädchen am Ruder hörte schweigend zu. Hinter ihr durchschnitt ein sanft emporsteigender, moosbewachsener Weg das Dickicht, und der Wald that sich tief auf in seiner grünen Finsterniß. Auf die Kindergruppe fiel noch ein Hauch des goldenen Tages draußen – das blonde Haar des kleinen Mädchens flimmerte, und die Knaben, die nach dem See hinaussangen, hielten die Hand schützend über die Augen. Die junge Schifferin aber saß tief im grünen Dämmerlicht, nur über ihre Kniee hin legte sich ein blasser, durch das Blätterdach zuckender Goldstreifen wie ein reichgewirkter Tunica-Saum, und die perlmutterweiße Stirn umkreiste traumhaft ein blauschimmerndes Stäbchen – eine verirrte Libelle.
Die Kinder schwiegen und horchten mit angehaltenem Athem [148] auf ein Echo, das aber so unfreundlich, oder vielleicht auch so politisch war, auf das „deutsche Vaterland“ keine Antwort zu haben.
Dafür erschien drüben am jenseitigen Ufer ein Herr in Begleitung zweier Damen. Er zuckte mißmuthig und rathlos die Schultern, während sein Blick suchend über die glatte, unbewegte Wasserfläche schweifte. Da trat ein mitgekommener Lakai respektvoll vor und deutete auf den Kahn im Gebüsch.
„Gisela!“ rief der Herr hinüber.
Das Mädchen am Ruder schrak zusammen, und das Roth einer tödtlichen Verlegenheit färbte ihr Gesicht. Einen Moment irrten ihre braunen Augen unsicher über die Kinderköpfchen hin, aber auch nur einen Moment – dann lächelte sie.
„Hinauswerfen kann ich euch nun einmal nicht, das steht fest!“ sagte sie. „Also in Gottes Namen vorwärts!“
Mit wenigen energischen Bewegungen machte sie den Kahn flott; er flog hinaus, und jetzt fluthete daß Sonnenlicht voll über das unbedeckte Haupt der Schifferin. Die weiten, offenen Aermel ihres weißen Kleides hoben sich leicht bei der Bewegung des Ruderns - wie ein Schwan kam die graciös vorgeneigte Gestalt dahergeschwommen. Das an Stirn und Schläfen mit einem hellen Seidenband leicht zurückgenommene Haar fiel in offenen Wellen über den Nacken und umwob flimmernd das weiße Gesicht mit einer Glorie.
Ihre großen, braunen Augen hefteten sich dann und wann prüfend auf die Gruppe am Ufer; aber die Röthe der Verlegenheit auf ihren Wangen war verflogen; die Ruderschläge blieben gleichmäßig, keine Spur von Hast verrieth, daß die Schifferin das Ufer rasch zu erreichen wünsche. … Ob das vielleicht da drüben übel vermerkt wurde? … Der Herr runzelte finster die Brauen, und die an seinem Arme hängende schöne Dame ließ plötzlich mit einem unbeschreiblichen Gemisch von Ueberraschung, Ungeduld und Mißfallen die Lorgnette von den Augen sinken.
„Nun, mein Kind, das ist ja eine ganz merkwürdige Situation, in der wir uns Wiedersehen!“ rief der Herr scharf hinüber, als der Kahn näher kam. „Tausend noch einmal, was für edle Passagiere fährst Du! … Ich fürchte nur, sie werden eben so leicht, wie Du selbst, vergessen, wer am Ruder sitzt!“
„Lieber Papa, am Ruder sitzt Gisela, Reichsgräfin Sturm zu Schreckenstain, Freiin von Gronegg, Herrin zu Greinsfeld etc. etc.,“ antwortete das junge Mädchen. … Das klang nicht etwa schelmisch persiflirend – es war die vollkommen ernst gemeinte Zurückweisung des Vorwurfs. In diesem Augenblick war die Sprecherin Zoll für Zoll die Trägerin der hochtönenden, aristokratischen Namen.
Sie wandte den Kahn geschickt, er stieß an’s Land, und mit einem leichten Sprung schwang sie sich auf das Ufer.
Das Kind mit dem unschönen, eckigen Gesicht, mit dem farblosen Haar und dem gelben, kranken Teint, das gebrechliche Geschöpf, das in die Einsamkeit geschickt worden war, lediglich um dort zu sterben – da stand es als hochgewachsene Mädchengestalt, und wer das Bild der Gräfin Völdern, „der schönsten Frau ihrer Zeit“, gesehen, – diese schlanken, geschmeidigen Glieder mit dem schneeweißen Gesicht unter dem voll herabfluthenden Haar – der konnte meinen, sie sei eben nur aus ihrem goldenen Rahmen herausgetreten, um hier im lebendigen Odem der Waldesluft zu wandeln. … Freilich hatten diese keuschen, nachdenklichen Augen nicht das dämonisch Ueberwältigende jener schwarzen, funkelnden, und das Haar, das dort gelb wie der Bernstein leuchtete, floß hier in einem dunklen Blond zum Nacken und lief nur an den Schläfen in einen zarten Silberschein aus, aber im Allgemeinen lebte jenes unselige Weib wieder auf in den jungen Formen, die sich aus einem langen Siechthum plötzlich entwickelten, wie die frische, weiß hervorquellende Blüthe aus der düsteren Knospenhaft.
Die Seele aber hatte diese Wandlung nicht mitgemacht. Das war noch derselbe klarkalte, unerbittliche Blick, an welchem alles Bemühen um Zuneigung scheiterte; und die eigenthümliche Scheu vor jeglicher Berührung trat in diesem Augenblick grell hervor – sie verbeugte sich leicht und ungezwungen, aber ihre Arme hingen an den Seiten nieder, und die schlanken Finger verschwanden in den Falten ihres weißen Muslinkleides – sie hatte keinen Händedruck für die Angekommenen, und doch kam Seine Excellenz direct von Paris, wo er sich drei Monate aufgehalten, und seine schöne Gemahlin hatte den Winter und Frühling mit der leidenden Fürstin in Meran zugebracht und die Stieftochter seit dreiviertel Jahren nicht gesehen.
Hatte die Dame schon gewissermaßen erschreckt die heranschwimmende Gestalt fixirt, so sah sie jetzt für einen Moment völlig fassungslos mit einer Art ungläubigen Entsetzens nach dem jungen Mädchen, das sich plötzlich so hoch und schlank aufrichtete – dieser Ausdruck verschwand indeß blitzschnell wieder. Sie ließ den Arm ihres Gemahls los und streckte der jungen Gräfin die Hände entgegen.
„Guten Tag, herzliebstes Kind!“ rief sie in weichen, warmen Tönen! „Ja, nicht wahr, da kommt nun die Mama an und muß gleich schelten? … Aber es macht mir tödtliche Angst, Dich so springen zu sehen. … Denkst Du denn gar nicht an Deine kranke Brust?“
„Ich bin nicht brustleidend, Mama,“ sagte das junge Mädchen so eiskalt, als es dieser kindlich lieblichen Stimme eben möglich war.
„Aber Herzchen, willst Du denn das besser wissen als unser vortrefflicher Medicinalrath?“ fragte die Dame achselzuckend mit einem halben Lächeln. „Ich möchte Dir ja um Alles Deine Illusion nicht rauben; allein wir dürfen ein solches Mißachten des ärztlichen Ausspruchs nicht dulden – Du übernimmst Dich sonst. … Ich kann Dir sagen, ich bin furchtbar erschrocken, Dich auf dem Wasser zu sehen. … Kind, Du leidest am Veistanz, kannst den Arm nicht zwei Minuten still halten und willst trotzdem mit diesen armen, kranken Händen einen Kahn regieren?“
Die junge Gräfin antwortete nicht. Langsam hob sie ihre, Arme, breitete sie weit aus und blieb bewegungslos stehen, und so zartbleich auch ihr Gesicht war, so geschmeidig und biegsam auch die Gestalt dort stand, sie war in diesem Moment doch das strahlende Bild jugendlicher Kraft und Frische.
„Nun überzeuge Dich, Mama, ob mein Arm zittert!“ sagte sie, den Kopf mit einer Art von glücklichem Stolz zurückwerfend. „Ich bin gesund!“
Gegen diese Behauptung ließ sich augenblicklich nichts einwenden. Die Baronin sah seitwärts, als verursache ihr das Experiment Angst und Herzklopfen, aus den halbzugesunkenen Lidern des Ministers aber glitt ein eigentümlicher, scheuprüfender, Blick über die Arme, die sich, rosig bis in die Fingerspitzen und von marmorglatter Form, aus den zurückfallenden Muslinärmeln hervorstreckten.
„Strenge Dich nicht so übermäßig an, mein Kind!“ sagtet er, indem er die Rechte des Mädchens ergriff und niederbog. „Das ist nicht nöthig. Du wirst mir erlauben, mich vorläufig noch an die Berichte Deines Arztes zu halten, und diese – weichen denn doch noch ein wenig ab von Deiner Anschauungsweise. … Uebrigens habe ich nicht, wie Mama, Angst bei Deiner Wasserfahrt empfunden. Ich will Dir aufrichtig gestehen, daß mich die burschikose Art und Weise, das Haus zu verlassen und im Walde umherzustreifen, an einer Gräfin Sturm sehr befremdet. … Mit Dir mag ich indeß nicht so streng in’s Gericht gehen – ich schreibe dies absonderliche Gelüst auf Rechnung Deines Krankseins. … Sie dagegen, Frau von Herbeck“ – er wandte sich an die Dame, die mitgekommen war – „begreife ich in der That nicht. Die Gräfin kommt mir unsäglich vernachlässigt vor – wo haben Sie die Augen und Ohren gehabt?“
Wer hätte in her unförmlich dicken Erscheinung, die purpurroth vor Alteration dem Minister gegenüber stand, die ehemals so graciöse Gouvernante wiedererkannt!
„Excellenz haben mich bereits auf dem ganzen Wege bis hierher gescholten,“ vertheidigte sie sich tief gekränkt; „jetzt mag die Gräfin der Wahrheit die Ehre geben und mir bestätigen, daß ich über ihr geistiges und körperliches Wohl wie ein Argus wache - aber leider – da genügen tausend Augen nicht! … Wir sitzen vor einer Stunde im Pavillon, die Gräfin hat ein Glas voll Blumen vor sich, um sie zu zeichnen – da steht sie plötzlich auf und geht ohne Hut und Handschuhe hinaus in den Garten; ich bin in dem guten Glauben, sie will noch einige Blumen holen –“
„Nun ja, das wollte ich ja auch, Frau von Herbeck,“ warf das junge Mädchen mit einem ruhigen Lächeln ein; „nur hatte ich Sehnsucht nach Waldblumen –“
„Kaiserlich königlicher Aushülfs-Statist.“
Es war im Frühjahr 1855, als ich meine freundliche Wohnung in Wien am Ufer der Donau aufgegeben und meine Familie, aus Gesundheitsrücksichten, auf’s Land geschickt hatte. Ich selbst konnte mich jedoch nur auf Stunden von dem großen Ofen entfernen, in welchem mein Stückchen Brod gebacken wurde, und suchte mir daher ein bescheidenes Interims-Quartier. Bald glaubte ich gefunden zu haben, was ich suchte: Zimmer, Vorzimmer und Cabinet im zweiten Stockwerke eines kleinen Hauses der Wiedner Vorstadt.
Als ich die mir vom Hausbesorger bezeichnete Thür dieser Hofwohnung öffnete, trippelte mir ängstlich ein ärmlich, aber reinlich gekleidetes graues Mütterchen entgegen, schob mir eiligst einen Stuhl im Vorzimmer hin und lispelte bittend: „Pst! Pst! Nicht zu laut sprechen, lieber Herr! Sie können ja die ganze Wohnung von hier aus übersehen, nur das Cabinet kann ich Ihnen jetzt nicht öffnen. Wir dürfen ihn nicht stören.“
„Haben Sie einen Kranken in der Kammer?“ frug ich befremdet.
„Ach nein, krank ist er nicht, Gott sei Dank, aber er studirt,“ antwortete die alte Frau geheimnißvoll.
„Ihr Sohn?“
„Nein, mein Zimmerherr. Er studirt – den Anschütz.“
In der That hörte ich in diesem Augenblick Nathan’s herrliche Parabel im Cabinet recitiren. Es war keine klangvolle, bestechende Stimme, die sie sprach, aber eine Stimme, welcher die Wahrheit mehr als die Dichtung zu gelten schien. Es war nicht Anschütz, der berühmte Künstler, sondern Nathan, der weise Patriarch, den der Mann da in seinem Kämmerchen studirte.
„Ihr Zimmerherr ist also – Schauspieler?“ frug ich.
„Kaiserlich königlicher Aushülfs-Statist,“ antwortete das Mütterchen bedeutungsvoll, als ob es mir den vollen Titel eines Ministerialrathes bekannt machte.
„Ah – kaiserlich königlicher Aushülfs-Statist?“
„Durch Protection seines Lehrers, des Herrn Hoftheater-Inspicienten Wilhelm Just. Aber, du lieber Gott, es ist ein Titel ohne Mittel, darum muß der arme junge Herr Rollen schreiben und auch auf Vorstadtbühnen Statisten spielen, um sein kärgliches Leben fristen, seinen Lehrer honoriren und sich die Bücher ankaufen zu können, aus denen er studirt. Auch die Miethe für sein Kämmerchen zahlt er mir pünktlich und hilft mir nebenbei mit manchem Gulden aus bitterer Noth. Er selbst, das junge Blut, versagt sich Alles, lebt fast nur vom trockenen Brode allein und ist dennoch immer heiter und guter Dinge dabei. O, er ist ein Mensch mit dem Gemüth einer Taube, und Gott muß es ihm noch wohlergehen lassen, wenn mein Glaube an die Gerechtigkeit des Himmels nicht wankend werden soll.“
„Das Herz scheint er also auf der rechten Stelle zu haben, aber –“
„O, auch den Kopf, auch den Kopf, wenn man es ihm auch nicht zugestehen will,“ fiel mir das Mütterchen eifrig ins Wort. „Da haben sie ihm endlich nach langem Bitten und Harren eine kleine Rolle zugetheilt im Theater an der Wien, aber der Regisseur meinte, er könne nicht reden, und hat ihm kurzweg jedes Talent abgesprochen. Das hat sich der arme gekränkte junge Mann so zu Herzen genommen, daß er Wien verlassen und an einer kleinen Provinzbühne sein Glück versuchen will. Ach, Herr, ich bin eine alte Wittfrau, stehe allein auf der Welt, denn Gott hat mir alle Mutterfreuden versagt, aber so etwas wie Mutterschmerz werde ich dennoch kennen lernen, wenn mir und meinem lieben Joseph die Scheidestunde schlägt.“
Dem geschwätzigen Mütterchen rollten Thränen über die gefurchten Wangen, während sich da drinnen in der Kammer der kaiserlich königliche Aushülfs-Statist vom Schemel des Weisen auf den Thron des Tyrannen schwang, denn es war ein Monolog Richard’s des Dritten, den er jetzt declamirte.
Die deutsche Taube, die sich da als britischer Geier versuchte, war der neunzehnjährige Joseph Lewinsky, vor Kurzem noch Bruder Studio, ehe ihn die Armuth der Themis entführte, um ihn der Kunst in die Arme zu legen. Der junge Mann hatte nichts für sich, die kokette und dennoch oft so spröde Dame zu gewinnen. Er war klein, schmächtig, sein Organ beschränkt, fast monoton, auch trug er nichts weniger als einen Apollokopf auf seinen Schultern, aber auf seiner hohen Stirn glänzte das Gepräge einer eisernen Consequenz und aus seinen Augen flammte die reinste und innigste Liebe zur Kunst und Poesie.
Nicht nur der Regisseur des Theaters an der Wien, auch sein eigener Lehrer und viele Andere, die ihm nahe standen, suchten ihn von einem Wirkungskreise abzulenken, für den er nichts als den guten Willen mitbrachte, aber der Jüngling war ein Mann an Muth und Ausdauer und mochte sich wohl denken: je schwieriger der Kampf, desto ehrenvoller der Sieg.
Es gab Bühnenkünstler, wie Ludwig Devrient, Eßlair und Andere, von denen man mit den Römern sagen konnte: „Non fiunt – nascuntur“ (Sie werden nicht gemacht, sondern geboren.) Sie schwangen sich von der Mutterbrust der Natur an die Ammenbrust der Kunst und hatten dann nur die Kinderschuhe von sich zu schleudern, um als Männer fix und fertig zu sein. Sie siegten, ohne zu kämpfen, und fehlten auch mit geschlossenen Augen das Schwarze nicht. Nicht so Leman, Seydelmann u. A. Wo jene spielend das Ziel erreichten, hatten diese mit der ganzen Gewalt des Geistes Stein auf Stein der Barricaden abzutragen, welche die Natur auf der großen Kunststraße vor ihnen aufgethürmt. Zu diesen muthigen und unermüdeten Barricadenstürmern zählt auch Joseph Lewinsky.
„Ich kenne die engen Grenzen meiner äußeren Mittel,“ sagt er selbst in einer seiner Notizen. „Meine ganze Persönlichkeit erlaubt mir nicht, an die Sinnlichkeit des Publicums zu appelliren. Ich habe mich an seinen Verstand und an sein Herz zu [150] wenden. Ich kann sein Herz durch keine einschmeichelnde Stimme, sein Auge durch keine glänzende Gestalt bestechen, um es über eine innere Unwahrheit meiner Darstellung hinwegzutäuschen, darum will ich Verstand, Herz und Auge mit der Macht der Wahrheit zu gewinnen suchen. Hand in Hand mit ihr hoffe ich den Kampf mit Hindernissen glücklich durchzufechten und endlich auch den Gesetzen der Schönheit gerecht zu werden.“
Als Statist, als der Unbedeutendste des Burgtheaters, erkannte und verehrte er zunächst Anschütz und Fichtner als Götter des Hauses und wurde ihr zu gelehriger Schüler, wie er selbst gesteht. Jung, ohne Führer, einzig und allein auf sich beschränkt, tappte er mehr nach der Schatten- als der Lichtseite seiner Vorbilder. Anschütz war für ihn der singende Baum des Märchens, den er belauschte und studirte, und so wurde auch seine Sprache Gesang, so oft ihn die Schönheit des Verses dazu verleitete. Er sang, ohne daß ihm der Gesang gegeben, und dennoch war es gerade diese sogenannte schöne Declamation, welcher er in den Provinzen seine ersten Erfolge verdankte.
In den Provinzen war es, wo er mit männlichem Ernst seine Studien fortsetzte und mit unermüdetem Fleiße alle Quellen durchforschte, um sich mit dem Kämpfen und Ringen der bedeutendsten deutschen Schauspieler der letzten hundert Jahre vertraut zu machen. Er durchlebte im Geiste die Kunstschulen Weimars und Hamburgs, dort, wo Goethe die Schönheit, hier, wo Schröder die Wahrheit lehrte, und diese Königin des Lichtes war es, deren Farbe der junge Mann mit begeisterter Hingebung trug.
Heinrich Marr, einer der begabtesten Zöglinge der Hamburger Schule, dessen flüchtige Bekanntschaft er in Brünn machte, war der Erste, der in dem kleinen Mann den David erkannte, der berufen war, so manchen Goliath zu schlagen, und rief ihm mit collegialer Herzlichkeit ein ehrliches „Glück auf!“ zu. Nachdem er, wie Seydelmann, gekämpft und gerungen, hatte auch er in seinem kurzen Wanderleben, mit Hülfe der Alliirten Geist, Verstand und Gedanke, so ziemlich glücklich die Barricaden der Schwierigkeiten abgetragen und kehrte auf gebahntem Wege im Frühjahre 1858 mit den ersten Lerchen fröhlich und wohlgemuth in seine Vaterstadt zurück. Rasch entschlossen, besuchte er Dr. Laube, den energischen und unersetzlichen Director des Burgtheaters, und erbot sich, vor ihm Probe spielen zu dürfen.
Der kleine Mann machte sich nicht groß, indem er bat, – im Gegentheil, er sprach sich mehr ab als zu, – aber gerade diese strenge und kalte Selbstkritik war es, mit der er den berühmten Dramaturgen mit dem Falkenblick für sich gewann. Nach kurzem Frage- und Antwortspiel wählte Laube drei Acte aus den Stücken „die Räuber“, „Donna Diana“ und „Clavigo“, in welchen Lewinsky als „Franz Moor“, „Perin“ und „Carlos“ vor Direction und Regisseuren am Abend des 10. April, nach der Vorstellung, Probe spielen sollte.
Selten hat wohl ein Probespiel die Regisseure des Burgtheaters zu so einstimmiger Acclamation hingerissen, wie das des ehemaligen Aushülfs-Statisten Joseph Lewinsky. Alle beglückwünschten ihn, – Fichtner bot ihm herzlichst die Hand, und selbst der alte gebeugte Löwe rief mit Caspar dem Freischützen: „Er hat mir warm gemacht!“
Laube aber fixirte den jungen Mann noch einmal vom Kopf bis zur Zehe nach der Probe und sagte lächelnd in seiner deutschen derben Weise: „Na! Es ist ja gegangen, – und zweiundzwanzig Jahre ist der Kerl alt!“
In seinem „Burgtheater“ schildert Laube selbst das erste Begegnen mit Lewinsky folgendermaßen: „Im Sommer 1858 stellte sich mir ein junger Mensch vor, mit der Bitte, ihm ein Probespiel zu gewähren. ‚Wozu?‘ fragte ich, und betrachtete das dürftig aussehende Menschenkind im engen schwarzen Frack, mit blassem Antlitze. Nichts erschien voll an ihm, als das dunkelblonde Haupthaar, welches dicht und üppig das Gesicht beschattete. ‚Wozu?‘ – ‚Ich möchte nach Deutschland hinaus an eine mittlere Bühne, und ein Zeugniß von Ihnen über dies Probespiel würde mir nützen.‘ – Das wurde anspruchslos und verständig gesprochen, und ich bot ihm zunächst einen Sessel, nach seiner offenbar kurzen Vergangenheit fragend. Der junge Mann kam vom Theater in Brünn und hatte Charakter-Rollen buntester Mischung gespielt. – ‚Auch humoristische?‘ – ‚Mit dem Humor steht es wohl zweifelhaft,‘ erwiderte er mit dem Lächeln einer Liebhaberin, die Abschied nimmt von den verführerischen Rollen. Diese Resignation, so selten bei den Künstlern, interessirte mich, und ich sprach nun länger, sprach wohl eine Stunde mit ihm. Diese Stunde entschied. Die kleine Gestalt war mir in den Hintergrund getreten, das ganze Wesen sprach mich an, flößte mir Zutrauen ein, ich bewilligte ihm ein Probespiel und bestimmte dazu, gemäß dem Eindrucke, welchen er mir gemacht, die Rolle des Carlos im ‚Clavigo‘.
Er spielte sie allerdings noch mangelhaft, aber ich glaubte zu sehen, daß hier nur Nachhülfe nöthig wäre, um ihn rasch auf eine gewisse Höhe zu bringen. Um mich dessen zu versichern, ging ich die Rolle privatim mit ihm durch und fand meine günstige Meinung bestätigt. Ich beschloß, ihn zu engagiren. Einer Zustimmung meiner Behörde, die mir allerdings kopfschüttelnd zusah, bedurfte ich hierzu nicht und die Frage war nur: wie den jungen Mann einführen? Ich war einmal eingenommen für ihn und meinte, man könne großes Spiel wagen mit der jungen Kraft – ich nahm die Rolle des Franz Moor mit ihm durch und es wurde mir zweifellos, daß die Fähigkeit für ein erstes Fach vorhanden war. Ich kündigte ihm an: ‚Sie sollen als Franz Moor auftreten im Burgtheater!‘
Lärm und Vorwurf überflutheten mich, als das bekannt wurde. Entweihung, thörichtes, unerlaubtes Experimentiren mit einem kleinen Provinzschauspieler und solcher Anklagen mehr flogen wie Hagel rings um mich nieder. Sehr behaglich war mir auch nicht zu Muthe, aber der junge Franz Moor zeigte Courage ohne Uebermuth, ich fühlte mich berechtigt zu dem Wagniß, wir blieben Beide fest, und der Tag kam. Der junge Mann war auch ein Wiener Kind; das werden ja doch, dachte ich, die Wiener zu schätzen wissen, wenn ohne Ahnenbriefe und ohne Ansehen der Person dem jungen Talente die Bahn geöffnet wird.
Und sie wußten es zu schätzen. Das Haus bis zum Giebel füllend waren sie gekommen und horchten in Todtenstille, und als der junge Franz seine erste große Scene gespielt – war Alles entschieden. Einstimmiger Beifall überschüttete den jungen Schauspieler, und eine erste Kraft im Charakterfache wurde getauft an diesem Abende mit dem Namen Joseph Lewinsky.“
Einen noch größeren Triumph feierte er in seinem zweiten Debut als Carlos in „Clavigo“, – ein Charakter, den er, wie er selbst bemerkt, in seinem Herzblut erwärmte. So war aus dem Statisten plötzlich ein Hofschauspieler ersten Ranges geworden.
Man vergaß, daß der Mann klein war, denn den Körper trug der Geist auf seinen Schwingen. Die Kunst ersetzte ihm zehnfach, was ihm die Natur versagte. Er hielt sich fern von jeder Nachahmung, gab sich hin, wie er sich selbst geschaffen, und wenn er hin und wieder noch das Glöcklein klingen ließ, das er einst von Anschütz, dem singenden Baum, erhaschte, trat ihm Laube schroff entgegen, der kein Versgeklimper duldete und alle alten Angewohnheiten mit der Wurzel auszurotten verstand.
Nach den genannten Debutrollen erschien Lewinsky im Laufe des Jahrzehnts als: Wurm, Cassius, Marinelli, Herzog Carl, Philipp der Zweite, Thorane, Lorenzo, Wilhelm von Oranien, Attinghausen, Michel Perrin, Eugen von Savoyen, Jago, Mephistopheles, Oliver Cromwell, Menenius Agrippa, Muley Hassan, Shylock, Richard der Dritte, Harpagon, Hamlet, Nathan der Weise, Narr (Lear), Gringoire, Lord Chatham, Warren Hastings etc., und alle diese heterogenen Charaktere zeichnet er mit dem Griffel der bescheidenen Natur, und die schlichte Einfachheit und reale Wahrheit sind es vorzugsweise, die seinen Gebilden eine geniale Bedeutung geben und in seinen Vorlesungen und Declamationen das Auditorium bis zum Enthusiasmus begeistern.
Mit dem Künstler sind wir fertig, – lassen wir aber auch den Menschen gelten, der mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit jedem Bedrängten die warme Bruderhand bietet und so manches schöne Blatt seines jungen grünen Kranzes auf den Altar der Barmherzigkeit legt. Ein Lied davon weiß noch immer das alte Mütterchen zu singen, in dessen Kammer wir den kaiserlich königlichen Aushülfs-Statisten den „Anschütz studiren“ hörten.
Ich fand die alte Frau vor Kurzem unter dem Burgthor wieder, wo sie mit verklärten Blicken das Personale oder vielmehr den Namen ihres Lieblings auf dem Theaterzettel las, der für den Abend Schiller’s „Räuber“ ankündigte.
„Ja, ja,“ murmelte sie vor sich hin, „er muß wohl ein großer Künstler sein, weil er mit einem so guten edlen Herzen [151] einen solchen Bösewicht spielen kann. Er vergißt in seinem Glück die Unglücklichen nicht, – was wäre ohne ihn aus mir geworden? Ach, ein Häuflein Asche, denn Noth und Elend hätten mich schon längst in irgend einen Winkel des Friedhofs eingescharrt.“ Sein guter Vater sagte kurz vor seinem Tode: „Gebt Acht, der Bube wird ein Komödiant!“ Der gute Mann hat Recht gehabt, – wir aber haben auch Recht, wenn wir rufen: Den Hut ab vor solchem Komödianten!
„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich etc.“
Der Beifall, mit welchem die verschiedenen Erläuterungen zu dem Leben und den Werken unserer Dichterfürsten von den Lesern der Gartenlaube aufgenommen sind, hat mich ermuntert, einen kleinen Beitrag zu liefern, in der Hoffnung, daß auch diese Kleinigkeit dazu dienen möge, die unvergänglichen Werke dieser Heroen als einen unerschöpflichen Schatz dem deutschen Volke lieb und werth zu machen. Indem ich die historische Unterlage des in der Ueberschrift angedeuteten Gedichtes zum Gegenstand dieses Aufsatzes mache, beginne ich zunächst mit derjenigen Darstellung , welcher
Schiller unmittelbar den Stoff entnommen hatte. Sie befindet sich in dem Fabelwerke des Hyginus, eines Schriftstellers, der vermuthlich gegen Ende des vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung lebte. Derselbe erzählt:
„Mörus wollte den grausamen Tyrannen Dionysius von Sicilien tödten, weil derselbe seine Unterthanen auf mannigfache Weise quälte. Die Leibwachen aber ergriffen ihn und führten ihn mit seiner Waffe zum Könige, auf dessen Frage erklärte er, er habe den Tyrannen tödten wollen, worauf der König befahl, ihn zu kreuzigen. Mörus bat um eine Verzugsfrist von drei Tagen, damit er seine Schwester verheirate; er werde seinen Freund und Gefährten Selinuntius stellen, der sich für seine Rückkehr bis zum dritten Tage verbürge. Der König gewährte ihm dieses und sagte zum Selinuntius, daß, falls Mörus nicht an dem bestimmten Tage käme, er dessen Strafe erleiden müsse, wogegen Mörus frei wäre. Nachdem Mörus seine Schwester verheirathet hatte, kehrte er zurück, aber ein plötzlicher Gewitterregen hatte den Fluß so angeschwellt, daß es unmöglich war ihn zu durchwaten oder hinüberzuschwimmen. Mörus setzte sich am Ufer nieder und beweinte seinen Freund, der nun für ihn sterben müsse. Inzwischen befahl Dionysius den Selinuntius zu kreuzigen, weil es schon sechs Uhr des dritten Tages sei und Mörus sich noch nicht gemeldet hätte. Selinuntius entgegnete, der dritte Tag sei noch nicht zu Ende. Um neun Uhr befahl der König abermals, den Selinuntius zu kreuzigen. Unterwegs holte Mörus, der den Fluß glücklich passirt hatte, den Henker ein, und rief ihm von Weitem zu. ‚Halt, Henker, ich, der Verbürgte, bin angekommen.’ Auf diese Nachricht ließ Dionysius Beide vor sich führen und bat sie, ihn als Freund aufzunehmen.“
Polyän, ein Schriftsteller, welcher ungefähr um das Jahr 160 in Rom lebte, giebt eine etwas abweichende Darstellung. Er berichtet wie folgt:
Einige eifrige Anhänger des Pythagoras waren von Parium (in Mysien am Marmara-Meere, jetzt Kemer genannt) nach Italien gekommen, wo sie sich aufhielten. Dionysius, Tyrann von Sicilien, ließ den Metapontinern und anderen italienischen Städten seine Freundschaft anbieten. Evephenus aber rieth seinen jungen Zuhörern und ihren Eltern, dem Tyrannen auf keine Weise zu trauen. Darüber aufgebracht, ließ Dionysius ihn aufgreifen und von Metapont nach Rhegium bringen und ihm vor dem dortigen Gericht den Proceß machen, weil er sich in staatsgefährliche Umtriebe eingelassen hätte. Evephenus erklärte, er habe hierin recht gehandelt, jene jungen Leute wären seine Freunde und Zöglinge, auf den Tyrannen aber habe er gar keine Rücksicht zu nehmen. Er wurde demnach zum Tode verurtheilt. Unerschrocken sagte er zum Dionysius: ‚Ich unterwerfe mich dem Urteilsspruche, da ich aber in Parium noch eine unversorgte Schwester habe, so möchte ich vorher nach meiner Heimath schiffen und die Aussteuer der Schwester besorgen, dann werde ich unverweilt zurückkehren und sterben.’ - Alle lachten über diese Rede, Dionysius aber fragte verwundert, welche Sicherheit er bieten könnte. Er antwortete: ‚Ich werde Dir einen Bürgen für meinen Tod stellen,’ und ließ den Eukritus kommen, den er um diese Bürgschaft ersuchte. Eukritus erklärte sich sofort bereit, diese Bürgschaft zu übernehmen, und es wurde ausgemacht, daß jener abreisen könnte und nach sechs Monaten zurückkehren, dieser aber bis dahin in Haft bleiben müßte. Das war eine wunderbare Sache, noch wunderbarer aber das, was nachher geschah. Denn nachdem Evephenus seine Schwester ausgesteuert hatte, kehrte er nach sechs Monaten nach Sicilien zurück, stellte sich den Behörden und bat, man möchte den Bürgen entlassen. Dionysius, über solche Tugend ganz entzückt, schenkte Beiden die Freiheit, ergriff sie bei der Hand und bat, sie möchten ihn als Dritten in ihren reundschaftsbund aufnehmen und mit ihm seine Glücksgüter theilen. Jene wurden nun Anhänger des Tyrannen, baten aber, da er ihnen das Leben geschenkt hätte, um die Erlaubniß zu ihren gewohnten Beschäftigungen mit der Jugend zurückzukehren. Dionysius willigte ein, und dieses Ereigniß veranlaßte viele Italioten, dem Dionysius Zutrauen zu schenken.“
Aus dieser Darstellung geht hervor, daß Polyän unzweifelhaft den älteren Dionysius im Sinne hatte, während die folgende Erzählung das Ereigniß dem jüngern Dionysius zuschreibt. Ich mache noch darauf aufmerksam, wie in Vorstehendem schon ein schwacher Versuch vorliegt, das Ereigniß mit dem Morgenlande in Verbindung zu bringen, indem Polyän die beiden Freunde zu Pariern macht. Jamblichus und Porphyrius, Biographen des Pythagoras, geben nach Erzählungen von Zeitgenossen folgende Darstellung des Hergangs:
„Die Pythagoräer lehnten jede Freundschaft mit Anderen entschieden ab, bewahrten aber gegen einander Jahrhunderte lang eine unverletzte Freundschaft und Liebe, wie aus dem erhellt, was Aristoxenus in seinem Leben des Pythagoras berichtet. Derselbe sagt, als Dionysius, Tyrann von Sicilien, in Korinth Schullehrer war, habe er von ihm Folgendes gehört. Dionysius, sagte er, erzählte uns oft, daß der Pythagoräer Damon sich für den zum Tode verurtheilten Phintias verbürgt habe. Einige Höflinge machten sich bei verschiedenen Gelegenheiten über die Pythagoräer lustig, indem sie sagten, es wären nur Großprahler, und ihre angebliche Würdigkeit, Treue und Unempfindlichkeit würde bei einer ernstlichen Gefahr nicht Stand halten. Da jedoch andere diesen Behauptungen widersprachen, so beschloß man, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Es wurde ein Angeber angewiesen, den Phintias der Theilnahme an einer Verschwörung gegen das Leben des Dionysius zu beschuldigen, es wurden Zeugen vorgeführt und die Anklage wurde mit allen möglichen Scheingründen unterstützt. Phintias gerieth darüber in Bestürzung, als Dionysius ihm aber ausdrücklich erklärte, die ganze Sache sei schon erforscht und untersucht, und er müsse sterben, bat er, da es nun einmal so weit gekommen sei, man möge ihm den Rest des Tages gestatten, damit er seine und Damon's Angelegenheiten ordne. Diese beiden Männer lebten nämlich in Gütergemeinschaft, und Phintias, als der ältere von ihnen, hatte die Verwaltung ihrer Angelegenheiten übernommen, man möge ihn also einstweilen entlassen, wogegen er Damon als Bürgen stelle. Verwundert fragte Dionysius, ob es irgend einen Menschen gäbe, der sich für einen zum Tode Verurtheilten verbürge, und da Phintias bei seiner Erklärung beharrte, wurde Damon geholt. Als dieser von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt war, erklärte er sich bereit, die Bürgschaft zu übernehmen und bis zur Rückkehr des Phintias dort zu bleiben. Dionysius sagte, er sei darüber ganz erstaunt gewesen, die Anstifter des Versuches aber hätten den Damon verhöhnt, der sich gleichsam zu einem Sündenbock mache. Als aber die Sonne sich schon zum Untergang neigte, stellte sich Phintias ein, um zu sterben, zum Erstaunen und zur Enttäuschung aller Anwesenden. Dionysius aber umarmte und küßte die beiden Männer und bat, sie möchten ihn als Dritten in ihren Freundschaftsbund aufnehmen, was sie jedoch ganz entschieden ablehnten. So weit Aristoxenus.“
Ich übergehe die kürzeren Darstellungen des Diodor und römischer Schriftsteller, wie des Cicero, Lactantius und Valerius Maximus, da sie nur geringfügige Abänderungen der hergebrachten Erzählung enthalten. Dagegen kann ich noch zwei anderweitige Berichte über [152] dasselbe Ereigniß aus dem Morgenlande beibringen, welche schon deshalb, weil sie die Sache aus einem anderen Gesichtspunkte auffassen, von Interesse sein dürften.
In der Stadt Hira, in der Nähe des alten Babylon, am Euphrat, herrschte ein König mit Namen Numan Abu Kabus, als Vasall des Königs Chusrav Parviz von Persien, gegen das Jahr 600 unserer Zeitrechnung. Obgleich das Christenthum schon frühzeitig nach Babylonien vorgedrungen war, so hatte es doch nur geringe Fortschritte in jenen Gegenden gemacht; die persische Regierung zeigte sich demselben von jeher feindselig und die Mehrzahl der Bewohner Hira's waren Heiden, mit ihnen der König. Dieser mochte eben nicht viel mit Regierungssorgen gequält sein; das Vielregieren war damals überhaupt noch nicht Mode und ist es bei den Arabern nie gewesen; um seine müßigen Stunden, deren er des Tags ungefähr vierundzwanzig hatte, auf eine angenehme Weise auszufüllen, hatte er sich ein paar gute Freunde ausgesucht, mit denen er sich täglich berauschte. Einmal aber scheint er dem Weine mehr zugesprochen zu haben als gewöhnlich, und befahl in seinem Rausche, seine beiden Zechgenossen lebendig zu begraben, ein Befehl, der nur zu pünktlich ausgeführt wurde. Nach der Ernüchterung empfand er eine große Reue; der Tag, an welchem er sich so weit vergangen hatte, galt ihm als ein Unglückstag; so oft derselbe wiederkehrte, brachte er ihn am Grabe seiner Zechgenossen zu, und Niemand durfte sich ihm dort bei Todesstrafe nähern.
Eines Tages verirrte er sich auf der Jagd und kam in das Zelt eines Arabers vom Stamme Tai, den er um Gastfreundschaft bat; nach echt arabischer Weise nahm der Tajite ihn auf, ohne sich nach der Herkunft und dem Stande seines Gastes zu erkundigen, und als Numan am folgenden Morgen beim Abschiede sich zu erkennen gab und ihm erlaubte, sich irgend eine Gnade zu erbitten, erwiderte er freimüthig: für jetzt brauche er nichts; sollte dies aber später der Fall sein, so werde er nicht ermangeln sich an ihn zu wenden. Numan ritt fort, und nach einiger Zeit traf es sich wirklich, daß der Tajite sich in großer Verlegenheit befand. Auf Zureden seiner Frau begab er sich nach Hira, aber es war gerade der Unglückstag Numan's. Der Tajite, der von diesem Umstande nichts wußte, ging zu ihm und brachte sein Anliegen vor; der König fühlte sich sehr bedrängt; einerseits wollte er sein Gelübde nicht verletzen, andererseits waren ihm die Rechte der Gastfreundschaft zu heilig, als daß er den Ankömmling, der ihn um Hülfe anflehte, umbringen lassen sollte. Er wählte einen Mittelweg und bot ihm an, nach Hause zurückzukehren und seine irdischen Angelegenheiten zu ordnen und nach einer bestimmten Frist wieder zu kommen, um hingerichtet zu werden; doch sollte er als Unterpfand seiner Rückkehr einen Bürgen stellen. Ein Höfling übernahm die Bürgschaft und ließ sich in's Gefängniß führen. Die Zeit war bis aus einen Tag verstrichen, die Anstalten zur Hinrichtung wurden getroffen, und noch war der Tajite nicht angekommen; schon neigte sich auch dieser letzte Tag zum Untergange und Numan war im Begriff, die nötigen Befehle zu ertheilen, als einer seiner Beamten ihm bemerklich macht, er müsse wenigstens das Ende des Tages abwarten. Wirklich kam der Tajite noch Abends an, zum großen Verdruß Numan's, der ihn anfuhr. „Wer hat Dich wiederkommen heißen, nachdem ich Dich habe gehen lassen?“ Ruhig antwortete der Tajite: „Meine Religion.“ - „Welche Religion?“ fragte Numan; der Araber sagte ihm, er sei ein Christ. Numan war begierig, eine solche Religion kennen zu lernen; die Hinrichtung wurde aufgeschoben und der König ließ sich mit seiner ganzen Familie taufen. Von einer ferneren Feier des Unglückstages, von einer Hinrichtung des Tajiten oder seines Bürgen war nicht weiter die Rede.
So lautet die Erzählung bei Meidani in seinem großen Werke über die Sprüchwörter der Araber. Die Bekehrung Numan's zum Christenthum ist eine historisch beglaubigte Thatsache, und wenn wir auch die Erzählung Meidani's über die Beweggründe dieser Bekehrung als einen Mythus oder als eine phantastische Anknüpfung an die Freundschaft der Pythagoräer ansehen wollen, so bin ich doch überzeugt, daß die große Mehrzahl meiner Leser ihr den Vorzug vor der albernen Erzählung des Syrers Amru geben werde. Dieser behauptet nämlich, Numan sei einst vom Teufel besessen gewesen, und nachdem seine heidnischen Opferpriester die Heilung vergebens versucht hätten, wäre er durch die inbrünstigen Gebete des Bischofs Simeon von Hira, des Bischofs Sabarjesu von Laschum und des Mönchs Jesuzacha geheilt worden, worauf er und seine beiden Söhne Mundir und Hassan das Christenthum angenommen hätten.
Die Erzählung Meidani's scheint in Deutschland wenig bekannt zu sein, obgleich sie schon vor mehr als zweihundert Jahren übersetzt und gedruckt worden ist in dem Buche „Specimen Historiae Arabum“ von E. Pocock, Oxford 1650. Dagegen las ich kürzlich in einer arabischen Handschrift noch eine andere Erzählung, welche von der vorstehenden in mehreren wesentlichen Punkten abweicht; sie lautet wie folgt:
In der Nähe von Medina hatten zwei Araberstämme ihre Wohnungen aufgeschlagen. Eines Tages war ein Kameel, Eigenthum eines Arabers von dem einen Stamme, in einen Garten der zum andern Stamme gehörte, eingedrungen und hatte dort die Eier einer Henne zertreten. Der Eigenthümer des Gartens tödtete das Kameel, und der Eigenthümer des Kameels tödtete diesen dafür. Darüber entstand ein Zwist, der endlich dem Kalifen Omer vorgetragen wurde. Omer ließ den Mörder und die Angehörigen des Ermordeten in die Rathsversammlung kommen, und da der Mörder seine That eingestand, der Vorwand des getödteten Kameels aber als zu geringfügig angesehen wurde, so lautete der Urteilsspruch des Gerichts auf Todesstrafe, die auch sogleich vollzogen werden sollte.
Der Mörder unterwarf sich willig dem Ausspruche, bat aber um einen Aufschub, damit er nach Hause gehen und dort seine Familienangelegenheiten ordnen könnte. Omer fragte ihn, welche Sicherheit er für seine freiwillige Rückkehr bieten könnte. Ohne sich lange zu besinnen, wandte sich der Mörder an einen der Richter und bat ihn um die Bürgschaft. Dieser erklärte sich auch sofort bereit, diese Bürgschaft zu übernehmen und, falls der Mörder nach abgelaufener Frist nicht zurückkehren würde, für ihn der Familie des Ermordeten den Preis des vergossenen Blutes mit seinem eigenen Blute zu zahlen. Der Mörder wurde also entlassen, der Bürge dagegen in's Gefängniß abgeführt.
Am letzten Tage der Frist war der Verurtheilte noch nicht erschienen, und Omer ertheilte Befehl, den Bürgen zu enthaupten, falls der Mörder vor Sonnenuntergang nicht zurückgekehrt sein würde. Schon waren alle Anstalten getroffen, das Schwert und der Scharfrichter bereit, die Sonne neigte sich zum Untergange, als die Thorwächter von Medina schon von Weitem den Mörder in voller Eile heranlaufen sahen. Athemlos stürzte er zur Stadt hinein, stellte sich dem Kalifen und verlangte dringend, daß der Bürge freigelassen würde. Voller Erstaunen über eine solche unerschütterliche Treue befahl der Kalife den Bürgen vorzuführen, denn das ganze Ereigniß schien ihm so außerordentlich, daß er sich näher darüber unterrichten wollte. Er fragte den Bürgen, in welchem Verhältniß er zu dem Verbürgten stehe, der Bürge erklärte, er habe diesen Menschen vorher nie gesehen oder gekannt. „Und was konnte Dich veranlassen, Dich für einen Mörder zu verbürgen, den Du vorher gar nicht gekannt hast?“ fragte Omer. „Ich wußte,“ entgegnete dieser, „daß er als ein wahrer Moslim sein Wort halten würde“ - „Und Du,“ sich an den Verurtheilten wendend, „was veranlaßte Dich, einen Menschen, den Du vorher nie gekannt hast und der Dich zum Tode verurtheilt hat, um eine solche Bürgschaft anzusprechen?“ - „Während des Verhörs machten die Gesichtszüge dieses Richters auf mein Gemüth einen solchen Eindruck, daß ich mich unwillkürlich gefesselt fühlte, und als ich von Dir aufgefordert wurde, einen Bürgen für meine Rückkehr zu stellen, wandte ich mich an ihn in der festen Ueberzeugung, daß er als wahrer Moslim einem Moslim diese Gefälligkeit nicht verweigern würde.“ - Der Kalife bewunderte diese echt islamitische Gesinnung, die jeden Gläubigen als einen Bruder anzusehen befiehlt, und indem er dem Mörder die Todesstrafe erließ, sorgte er dafür, daß den Angehörigen des Ermordeten der Blutpreis in Kameelen und Schafen ausgezahlt wurde.
Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, welche von diesen Erzählungen der historischen Wahrheit gemäß ist, oder ob sie alle nur Nachklänge und Ausschmückungen eines noch älteren Ereignisses sind, ebenso wenig fühle ich mich berufen, zu erörtern, ob die Pythagoräer diese Erzählung durch Vermittelung ihrer Verbindungen mit dem Morgenlande nach Europa gebracht und ihrer Lehre zugeeignet haben, oder ob die christlichen oder mohammedanischen [153] Araber von Hira und Medina die That des Pythagoräers zur Verherrlichung des Christenthums oder des Islams verwerthet haben; oder endlich, ob sich ein ähnliches Ereigniß im Laufe der Zeiten an verschiedenen Orten wiederholt habe. So viel scheint aber jedenfalls gewiß zu sein, daß der Vorfall an sich eine historische Thatsache ist und das Außerordentliche dieser Thatsache im Alterthum einen solchen Eindruck gemacht hat, daß nicht weniger als drei Religionen sich die Ehre dieser That anzueignen versucht haben. Die Möglichkeit einer Wiederholung desselben Vorfalles zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern ergiebt sich noch aus der folgenden Erzählung.
Der König Chusrav Nuschirevan, welcher von 531 bis 579 nach Christi Geburt in Persien regierte und einer der ausgezeichnetsten Fürsten war, ließ in seiner Residenzstadt Ktesiphon, in der Nähe des heutigen Bagdad, am Tigris einen prachtvollen Palast erbauen, dessen Trümmer bis auf den heutigen Tag noch vorhanden sind; einer meiner hiesigen Bekannten, ein Bagdader Namens Mehemed Aga, der in der Welt viel umhergereist ist, erzählte mir, er habe als Knabe oft in den Räumen dieses Palastes gespielt und die außerordentliche Härte des zum Bau verwendeten Holzes bewundert, in welches kein Nagel eindringen könne; später habe er auf seinen Reisen in Indien den Baum gesehen, von welchem das Holz herrühre, und erfahren, daß die Engländer dieses Holz (Teakholz) zum Bau ihrer Schiffe verwenden. Ueber den Bau erzählte er mir eine Geschichte, die mir schon aus Mirchond und aus Mohammed Aufi, einer Handschrift der Hamburger Stadtbibliothek, bekannt war. Diese Erzählung lautet: Eines Tages habe ein Gesandter des griechischen Kaisers diesen Palast besehen und seine Führer auf eine Unregelmäßigkeit in der Anlage aufmerksam gemacht. Man sagte ihm, die Unregelmäßigkeit rühre davon her, daß in der Nähe des Gebäudes eine alte Frau, Namens Zal Madain, eine kleine Wohnung hatte, welche sie dem König nicht abtreten wollte, obgleich dieser ihr eine namhafte Summe dafür anbot. „König,“ sagte sie, „möge Deine Herrschaft, Dein Reichthum und Deine Macht bis an’s Ende dauern, damit ich täglich auf Deine Gerechtigkeit schauen und in ihrem Schatten mein Tagewerk vollbringen könne.“ Chusrav, welcher von seinen Untergebenen die strengste Gerechtigkeit verlangte, wagte es nicht ein böses Beispiel zu geben; er ließ die Alte ruhig im Besitz ihrer Wohnung, und wenn die Kuh, von welcher sie ihren Unterhalt hatte, die Hallen des Palastes beschmutzte, so pries man den gerechten Sinn des Königs. Der Gesandte rief aus: „Diese Unregelmäßigkeit, verbunden mit Gerechtigkeit, ist eine schönere Zierde, als eine durch Gewaltthätigkeit erzielte Symmetrie.“
So weit die Erzählung meines Gewährsmannes, zu deren Beglaubigung der ehemalige englische Consul Rich in Bagdad die Erläuterung giebt, daß an der dem Flusse zugekehrten Seite des Palastes ein Theil des Mauerwerkes augenscheinlich dem ursprünglichen Plane fremd sei, obgleich sich oberhalb desselben eine Reihe von Nischen befindet. Diese Mauer gehörte also eigentlich zu dem Hause der Alten, und da der Palast ihr jeden andern Ausweg versperrte, so mußte sie mit ihrer Kuh jedesmal durch die große Halle in der Mitte des Palastes gehen, wo der König öffentliches Gericht hielt. Friedrich der Zweite und der Müller von Sanssouci sind historische Personen aus der neuesten Zeit, aber die Handschrift des Mirchond auf der Pariser Bibliothek, aus welcher Silvestre de Sacy übersetzte, und die Handschrift des Mohammed Aufi auf der Hamburger Stadtbibliothek (Nr. 190 und 191), aus welcher ich übersetzte, waren lange vor der Geburt des großen Friedrich und des Müllers von Sanssouci geschrieben.
Aus der Welt jugendlicher Verbrecher in Berlin.
Die folgenden Mittheilungen haben nicht den Zweck, ähnlich der gegenwärtig vielbegehrten Gerichtssaal-Literatur flüchtig zu unterhalten. Sie fordern ein tieferes, nachhaltigeres Interesse, welches zu entzünden schon der Ueberschrift gelingen sollte. Es muß bewiesen werden, daß für keinen Zweig der öffentlichen Erziehung so wenig gethan wird und so viel zu thun erübrigt, als für die Rettung sittlich-verwahrloster Kinder, und daß weitaus das Meiste dessen, was geschieht, hervorgegangen ist aus der Religiosität oder der Humanität Einzelner, aber nicht aus der Verpflichtung Aller. Vor dem Bemühen, diese allgemeine Verpflichtung zum Bewußtsein zu bringen, treten zunächst alle Fragen nach den Ursachen jener Interesselosigkeit und nicht minder alle etwaigen Vorschläge für die beste Lösung der großen Aufgabe in den Hintergrund. Jedes Rettungshaus, gleichviel ob „rauhhäuslerisch“ oder „zuchthäuslerisch“ organisirt, ist als Abschlagszahlung auf die öffentliche Schuld Jedermanns der Anerkennung und Unterstützung würdig. Wir wünschen Propaganda nicht für eine Richtung, sondern für die Sache zu machen, welche zunächst allerdings den Staat angeht. Der Pflicht, für die Sicherheit der Staatsbürger zu sorgen, wird gewiß nicht damit genügt, daß man die der Gesellschaft feindlichen Elemente zeitweilig ausstößt. Man muß sie vielmehr derselben versöhnt zurückgeben. Das ist Sache der Erziehung. Mit Erfolg läßt sich aber nur die Jugend erziehen, darum beginnt jene Schutzpflicht des Staates schon mit Rücksicht auf die Jugend, und es ist falsch, den Stadtgemeinden diese Pflicht zuzuschieben. Sollte sich unsere Beweisführung der exacten Jurisprudenz gegenüber nicht stichhaltig erweisen, so wird ein Appell an die öffentliche Meinung um so sicherer gelingen.
Tausende von Familien, und nicht ausschließlich der ärmeren Classe, kennen die herzbrechende Last eines mißrathenen, eines verlorenen Sohnes. Sie alle wissen es, welch’ reißende Fortschritte das Laster in dem Kinde macht, trotz der Mutter Milde und Thränen, trotz des Vaters Autorität und Strenge. Einige Wenige können voll Dankbarkeit den Tag preisen, der in ihnen den Entschluß zur Reife brachte, das noch junge Kind einer Rettungsanstalt zu übergeben. Viele aber bereuen es, zu diesem Entschlusse „zu spät“ oder gar nicht gekommen zu sein. Die Frage nach der Nothwendigkeit eines besonderen Erziehungsapparates wird tausendstimmig bejaht werden. Eine andere Frage ist, ob die Massenerziehung in Anstalten, oder mehr die Einzelerziehung in Familien einen günstigen Erfolg sichert. Die letztere Form hat unerreichte Vorzüge, wenn – man die geeigneten Familien gefunden hat, in welchen die Erziehung der verwahrlosten Kinder gleichmäßig von Mann und Frau mit liebevoller Hingabe und peinlicher Treue von vorn angefangen wird. Das einzig-sichere Besserungsmittel bleibt ja unter allen Umständen die Neugewöhnung. Gegenüber der Verwahrlosung durch Armuth, Charakterschwäche oder böses Beispiel hat aber nur ein Jahr einer nach festen Grundsätzen geordneten Erziehung noch nicht einmal den Erfolg der Aussöhnung mit den neuen Verhältnissen. Darum sei wiederholt auf das drohende „zu spät!“ verwiesen.
Was die Mittheilungen selbst anbelangt, so beruhen sie durchweg auf eigenen Erlebnissen des Verfassers, der als Lehrer in der bekannten Anstalt Rummelsburg bei Berlin fungirt. Jeder romantische Aufputz ist verschmäht in der Annahme, daß das Leben in seiner wahren Gestalt eine eindringlichere Sprache redet, als das kühnste und gelungenste Phantasiegebilde. Mit der objectiven, fast protokollarischen Fassung sollte die drohende Klippe pädagogischer Problemhascherei und Wahrsagerei umsteuert, das Nachdenken und ein thatkräftiges Gefühl für die Rettung verwahrloster Kinder aber um so unmittelbarer angeregt werden. Wie weit dies gelungen – der Leser mag’s entscheiden.
Die Glocke am Eingange des Rettungshauses läutete auffallend stark und anhaltend. Von allen Seiten, aus den Wohnräumen, vom Arbeitssaal, von der Gartenthür her richteten sich neugierige Blicke auf die Pforte. Gleichzeitig öffnete sich diese, und ein Schutzmann, mit kräftiger Faust einen etwa dreizehnjährigen schlanken Burschen vor sich her schiebend, wurde sichtbar. Er verlangte zum Director geführt zu werden. Ich, als dessen zeitweiliger Vertreter, ging ihm entgegen. Er überreichte mir ein [154] Actenfascikel, empfahl, auf seinen jungen Begleiter deutend, im Auftrage seines Chefs die größte Vorsicht und entfernte sich militärisch grüßend. Ich führte den Knaben in mein Zimmer und begann ein kurzes Examen. Das Ergebniß desselben war eine Wiederholung der düstern Geschichte, die wir von fast jedem der uns zugeführten Kinder hören müssen. Auch unser Neuling kam direct aus dem Polizeigefängniß, wo er für Diebstahl im dritten Rückfalle eine vierzehntägige Gefängnißstrafe verbüßt hatte. Ehe ich ihn zu reden nöthigte, ließ ich meine Augen eine Weile prüfend auf seinem Gesicht ruhen. Er begegnete meinem Blick und erröthete. Dies war mir das erste Zeugniß über sein inneres, und im Andenken an meine täglichen Erfahrungen mußte ich es ein günstiges nennen, obwohl mich die grauen Augen mit den bläulichen Schatten unangenehm lauernd maßen. Sie füllten sich schon bei den ersten Worten der Erzählung mit Thränen. Unter Schluchzen bekannte er seine Diebstähle, ergriff endlich meine Hand und gelobte ernstliche Umkehr und Besserung.
Ich war vor anderthalb Jahren, erfüllt von heiligem Eifer und warmer Theilnahme für die verwahrloste Jugend, nach Berlin gekommen, hatte bisher nicht vergeblich gearbeitet, diesen Erfolg aber mir selbst durch die Annahme erklärt, daß die Vorgeschichte meiner Zöglinge, wie es in vielen Fällen erwiesen war, durch die eigenen Angehörigen übertrieben schlimm dargestellt, daß das Werk der Rettung also nichts Unmögliches sei. Die soeben erlebte Scene war mir nun durchaus neu, denn Aufnahme und Einweisung der Knaben gehörten naturgemäß zu den Obliegenheiten des Directors. Zudem befand sich das amtliche Schriftstück in bester Uebereinstimmung mit dem mündlichen Bericht, und so war ich geneigt, die Reue des Knaben zunächst für echt und jene Warnung des Schutzmanns für überflüssig zu halten. – Abends erschien der Director, um meine Mittheilungen entgegen zu nehmen. Er war wie immer für die mildeste Auslegung des Falles geneigt und hatte schon nach wenigen Tagen von Matthias, wie der Knabe genannt wurde, eine auffallend günstige Meinung gewonnen. In der That überflügelte dieser an geistiger Begabung, gutem Anstande, entgegenkommender Dienstfertigkeit und körperlicher Gewandtheit alle seine Genossen. Bald machte sich sein Einfluß bemerklich. Damit verdoppelte sich unsere Aufmerksamkeit. In den nächsten Conferenzen spielte Matthias eine nicht geringe Rolle. Ich erklärte auf Grund scheinbar unbedeutender Vorkommnisse offen mein Mißtrauen und mahnte, den Knaben vor der Hand noch unter besondere Aufsicht zu stellen, ihn aber keinesfalls auszuzeichnen. Ich fand kein Gehör, denn die geistige und körperliche Kraft des Knaben hatte, wie ich bemerken mußte, nicht nur den Zöglingen, sondern auch den Aufsehern und Dienstboten imponirt. Der Director faßte den Plan, dieses Uebergewicht zum Besten der Ersteren walten und wirken zu lassen.
Drei Wochen that Matthias seine Schuldigkeit. Schon war ich geneigt, jener milderen Anschauung das Feld zu räumen, da – es war am Morgen eines Sonntags und Alles zum Kirchgange gerüstet – wurden Matthias und gleichzeitig Rock, Stiefel und Geldbeutel des kleinsten der Aufseher vermißt. Bald war die Stelle der Gartenwand gefunden, die dem Flüchtling für den Rückzug geeignet erschienen war. Doch nicht lange sollte er seiner Freiheit sich freuen. Der Telegraph trug den Befehl, auf ihn zu fahnden, nach allen Polizei-Stationen, seine Photographie war schon früher mitgetheilt und schon am nächsten Morgen wurde er uns von demselben Schutzmanne zugeführt, der zum ersten Male sein Begleiter war. Sein Weg ging jetzt ohne Weiteres in das Carcer, eine einfenstrige geräumige Stube des dritten Stockwerks, welche ihrer eigentlichen Bestimmung nur äußerst selten übergeben und gewöhnlich zur Schneiderei benutzt wurde. Der Director ordnete an, daß Matthias in diesem Raume bis Ende der Woche wie ein Gefangener behandelt, das heißt zur Arbeit von früh bis spät angehalten und, so weit dies möglich, nie ohne Aufsicht gelassen werden sollte. Die Woche verging. Sonnabend Abend war Conferenz. Ich warf, ehe ich das Conferenzzimmer betrat, noch einen Blick durch das auf demselben Corridor befindliche Flurfensterchen des Carcers. Matthias lag schon im Bette. Der wachhabende Aufseher meldete mir, sein Schützling habe über Kopfweh geklagt und sei schon um sechs Uhr zur Ruhe gegangen. In meiner Neigung zum Mißtrauen hielt ich das Kopfweh für simulirt, trat in den Raum und fühlte Matthias nach Puls und Stirn. Ich mußte sein Befinden für normal halten. Der Umstand aber, daß er, der sonst so leise schlief, bei meiner Berührung nicht erwacht war, gab mir einen weiteren Verdachtsgrund. Ich untersuchte genau Ofen, Thür und Fenster. Letzteres war mit starken Eisenstäben vergittert, dies jedoch in ungewöhnlicher Weise so, daß sich von oben viertelkreisförmige und von den Seiten gerade Stäbe nach außen schwangen. Die so entstehende Oeffnung nach unten füllte ein schwerer hölzerner Fensterladen aus, welcher geschlossen oben nur eine Oeffnung von neun Zoll ließ, geöffnet aber von den umgebogenen Enden der krummen Stäbe aufgefangen wurde. Die unter der Brüstung außen eingegypsten Charniere waren sehr dauerhaft. Eine Flucht durch dieses Fenster im dritten Stockwerk war schlechterdings undenkbar. Das Thürschloß jedoch fand ich lose in den Schrauben. Auf meine Mahnung wurde noch ein Vorlegeschloß angebracht und so hielten wir unsern Gefangenen für hinlänglich verwahrt.
Die Sechs-Uhr-Glocke hatte den Anbruch des Sonntags noch nicht verkündet, als mich auffallendes Laufen und Lärmen auf dem Hofe weckte. Ich fuhr an’s Fenster und: „Matthias ist ausgerückt!“ war das Erste, was ich hörte. Nach fünf Minuten war ich in der leeren Zelle. Die Flucht war durch das Fenster erfolgt. An einem der runden Stäbe hing ein langer, geknoteter Streifen Leinwand: das zerschnittene Betttuch. Matthias hatte es zur Vergrößerung der Haltbarkeit in seinem Nachtgeschirr angefeuchtet. Wie aber war der Bursche über den unversehrten Fensterladen und wie war er bis hinunter gekommen? Ein Knabe fand die Erklärung. Sie lautete: Matthias hat den Fensterladen aufgezogen, den leinenen Streifen befestigt, sich durch die neunzöllige Lücke gedrängt und dann bis zum Fenster des ersten Stockwerks hinabgelassen. Hier hat er mit den Füßen die Scheiben eingestoßen und das Fensterkreuz umfaßt, endlich das dünne Weinspalier erreicht und an diesem die Flucht fortgesetzt. Die Stäbe desselben sind gebrochen und Matthias ist herabgestürzt. Zahlreiche Spuren an der Hauswand und im Sande des Gartens bezeugten die Richtigkeit dieser Auslegung. Matthias war verschwunden. Alle Versuche, seiner habhaft zu werden: Nachfragen bei den Verwandten, Verhöre der Knaben, welche Matthias ausgezeichnet hatte, Anzeigen bei in der Stadt zerstreut wohnenden Freunden der Anstalt und schließlich bei der Polizei – blieben erfolglos. Die Aeußerungen zweier Knaben lenkten meine Aufmerksamkeit auf zwei Orte, welche Matthias möglicherweise zu seinem zeitweiligen Aufenthalte nehmen konnte: ein Kaffee-Local niedersten Ranges in der Klosterstraße und ein berüchtigter Keller am Alexanderplatz. Hier erschien ich wiederholt zu verschiedenen Tageszeiten, in jenem Keller allerdings nur in Begleitung eines Schutzmannes. Meine Gänge waren vergebliche. Fünf Wochen vergingen. Jede Spur von dem Knaben schien verloren.
Da, eines Sonnabends – es war Jahrmarkt auf dem Dönhofsplatz – ging mir’s durch den Kopf, daß Matthias im Gedränge des Marktverkehrs leichte Arbeit für seine langen Finger erhoffen, er selbst also auf dem Markte zu finden sein würde. Von diesem Gedanken ganz erfüllt, beurlaubte ich mich unter Angabe meiner Aussicht beim Director schon ein Uhr Mittags. Bis vier Uhr patrouillirte ich zwischen den Buden auf und ab. Als ich merkte, daß die Menschenmenge sich lichtete, wählte ich den nächsten vom Dönhofsplatz nach den nördlichen Vorstädten führenden Weg über den Hausvoigteiplatz, den Werderschen Markt und den Schloßplatz nach der Königsstraße, machte beim Hegel’schen Bilderladen (Poststraßen-Ecke) Halt und beobachtete genau die Vorüberziehenden. Später machte ich Kehrt und setzte meine Beobachtung im Spiegel der großen Schaufensterscheiben fort. Etwas abgespannt, verließ ich halb sechs Uhr meinen Posten, um, dem Menschenstrome entgegen, auf dem vorher zurückgelegten Wege den Dönhofsplatz wiederzugewinnen. Ich kam bis zur sogenannten „gleichgültigen“ Ecke.[1] Hier winkte ganz in der Nähe das Schauspielhaus. Shakespeare’s „bezähmte Widerspenstige“ war angekündigt, und ich beschloß, meine Schaulust nicht zu bezähmen. Bei Bothe u. Bock aber lagen einige musikalische Novitäten aus, und ich blieb stehen, sie zu mustern.
Unwillkürlich benutzte ich die Fensterscheiben wieder als Spiegel, ein Blick und – drüben auf dem Trottoir ging Matthias [155] Arm in Arm mit zwei Burschen seines Alters. Einen Augenblick traute ich meinen Augen nicht. Das in den fünf Wochen langgewachsene Haar und der feine modische Anzug entstellten den jungen zu seinem Vortheil. Im nächsten Augenblick jedoch hatte ich ihn erkannt. Mich durchzuckte es ganz eigenthümlich. Obwohl ich mich freute, der Anstalt einen Dienst erweisen zu können, überwog doch das unheimliche Gefühl meiner halbpolizeilichen Mission. Enfin – es galt den Burschen zu fassen! Ich drehte mich nicht gleich um, sondern ließ die Drei, welche ganz und gar mit ihren Cigarren beschäftigt schienen, fast bis zur Ecke kommen. Sie schwenkten ab, um die Jägerstraße rechtwinklig zu schneiden und der Oberwallstraße zu folgen. In demselben Augenblick sah und erkannte mich Matthias, ließ seine Begleiter los und war pfeilschnell in der Wallstraße verschwunden. Ich ihm nach. Er gebrauchte die Schlauheit, auf dem Trottoir zwischen den Menschen zu bleiben, so daß ich ihn aus den Augen verlieren mußte. Ich wählte mit mehr Vortheil das Pflaster, wo ich nicht auszuweichen hatte. In der Nähe des jetzigen Telegraphen-Amtes erreichte ich ihn. Sogleich suchte ich seine rechte Hand zu fassen, weil mich eine verdächtige Bewegung derselben nach der Tasche auf eine Messer-Vertheidigung gefaßt machte. Ein kurzer Kampf entspann sich. Matthias befreite seine rechte Hand, fuhr damit in die Tasche und – hob sie einen Augenblick darauf mit allerlei Silbermünzen gefüllt schreiend in die Höhe: „Das Geld habe ich gestohlen! Ein Schutzmann soll mich arretiren!“
Die ganze Scene hatte genügt, einen Knäuel von etwa zweihundert Menschen um uns zu versammeln. Wie auf ein gegebenes Zeichen drängten sich unheimliche Gestalten in unsere unmittelbare Nähe und suchten unter Drohungen den Knaben meiner Hand zu entwinden. Aber diese saß wie eine eiserne Klammer am linken Handgelenk meines Gefangenen. Mit wenigen Worten hatte ich einige anständige Herren in’s Interesse gezogen, diese bildeten eine schmale Gasse durch die Menge, ich ließ plötzlich die Hand des Knaben los, umklammerte aber in demselben Augenblicke seinen Nacken, schob ihn vor mir her, setzte mich, als Raum gewonnen war, mit ihm in schnelle Gangart und stürmte das Endstück der Französischen Straße entlang dem Werder’schen Markte zu. Hier standen Droschken. Einer der Kutscher hatte die Scene von Weitem beobachtet, merkte, als ich ihm zuwinkte, meine Absicht, öffnete den Wagenschlag und saß zum Abfahren bereit, als ich mit Matthias ankam. Kopfüber warf ich diesen in den Wagen, sprang hinterdrein, und fort ging es durch die gaffende Menge hindurch dem Rettungshause zu. Das Ganze war das Werk weniger Minuten und Matthias durch die überraschende Schnelle des Vorgangs etwas verblüfft. Aber bald hatte er die Situation erkannt, stürzte mir zu Füßen und bat mich weinend und händeringend, ihn nicht in die Anstalt, sondern zur Stadtvoigtei zu bringen, vorher aber ihm sein Geld abzunehmen. Auf die letzte Forderung ging ich ein. Er mußte mir Alles zuzählen. Aus großen und kleinen Silbermünzen wurden bald gegen dreißig Thaler. Er gestand ohne Weiteres, daß er dieses Geld gestohlen und zwar nur aus Damentaschen. Mit gleicher Offenheit beschrieb er die ganze Manipulation.[2] Mit größerer Dringlichkeit kam er auf seine erste Bitte zurück. Als ich unerbittlich blieb, wurde er still. Ich blieb ebenfalls still, denn die eben gemachte Erfahrung nahm mir jede Hoffnung, den bald vierzehnjährigen Knaben im Rettungshause zu halten und zu bessern: er war schon jetzt für eine Correctionsanstalt reif.
Der Wagen hielt. Der Kutscher zog die Anstaltsglocke. Es war gerade die Zeit des Arbeitsschlusses. Alle Knaben waren auf dem Hofe oder in der Nähe desselben. Als ich mit Matthias erschien, erhob sich von allen Seiten ein jubelndes Rufen: „Matthias ist wieder da! Herr K. hat ihn gefangen!“ Die Knaben wußten, wie sehr uns die Sache interessire, so war ihr Interesse mit erwacht, allerdings aus ganz verschiedenen Beweggründen. Einige Wenige zeigten aufrichtiges Bedauern, daß uns der Junge so viel Arbeit mache –; Andere hielten es für ehrenrührig und schändend für’s Haus, wenn Matthias ferner unter uns lebe, wieder Andere hatten nur die Frage erwogen, ob es uns gelingen würde, ihn zu fangen oder nicht; die Letzten endlich freuten sich unverhohlen über die Bravour ihres Cameraden und stellten neue, schlimmere Streiche in Aussicht. Allen aber imponirte es, daß ich Mittag ein Uhr mit der ausgesprochenen Absicht, Matthias zu fangen, die Anstalt verlassen und nun mein Versprechen gelöst hatte. Sie glaubten mich mit der geheimen Polizei in Verbindung, und mit dieser Annahme war manches Project zum „Ausrücken^ aufgegeben.
Matthias blieb ganz gegen Erwarten ruhig in der Anstalt. Er hatte seinen Plan geändert und machte eine besondere Aufsicht nach und nach überflüssig. Ein halbes Jahr hielt er aus, dann wurde er auf sein Drängen von seinen Verwandten reclamirt und entlassen. Er ist mir nicht aus den Augen gekommen. Noch Anfang December sprach ich ihn – im Zellengefängniß, wo er für Theilnahme am Raubmord eine fünfzehnjährige Einzelhaft verbüßt. Ein von ihm geschnitzter Brodteller mit der Randschrift: „Unser täglich Brod gieb uns heute!“ steht täglich vor mir.
Ein Tag in den Höhlen Westphalens.
In einigen der größeren Kammern hat Baumeister Sebald mit trefflichem Verständniß tiefe Gräben ausgeworfen und die darin gefundenen Schätze auf Tafeln ausbreiten lassen. Denn dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse und Untersuchungen nach bilden die Tropfsteine nur den architektonischen Schmuck und die Decke der riesigen Sarkophage, als welche sich die Höhlen darstellen. Unter dem Tropfsteinboden liegen, in Modererde eingehüllt, die zum Theil riesigen Knochen von Thieren, welche früher die Gegend bevölkerten, die Kieselwerkzeuge, die Instrumente, die Mahlzeitreste, welche beweisen, daß der Mensch mit diesen ausgestorbenen Thierarten zusammen auf der Erde lebte und mit ihnen, ein Wilder, den harten Kampf um das Dasein stritt, in dem manches Individuum zu Grunde gegangen sein mag, während das Geschlecht aus demselben siegreich hervorging. Wenn man früher die Höhlen mehr auf diejenigen Einschlüsse untersuchte, die von Thieren herrührten, und besonderen Werth auf die Erhaltung der einzelnen Stücke legte, aus denen man die ausgestorbene Thierart mit ihren Eigenthümlichkeiten wieder construiren konnte, so hat sich die neuere Forschung, ohne diesen Punkt zu vernachlässigen, mehr denjenigen Fragen zugewandt, welche mit dem Menschen in näherer Beziehung stehen. In den Händen von Lartet, Dupont, Steenstrup, Falconer hat das kleinste Knochenstückchen, das ärmlichste Bruchstück, eine Bedeutung erlangt, die man früher nicht hätte ahnen können, und wir dürfen mit Stolz sagen, daß keine Wissenschaft so glänzende Beweise tiefeindringender Untersuchungen und scharfsinniger Schlußfolgerungen aufzuweisen hat.
Zu ähnlichen Forschungen können die westphälischen Höhlen Gelegenheit geben, denn die meisten derselben sind noch völlig unbetreten und die anderen wurden fast alle zu Zeiten untersucht, wo die jetzigen Fragen der Wissenschaft noch nicht vollständig aufgestellt waren.
Die meisten, sage ich, sind noch ununtersucht. Lottner in seiner trefflichen „Geognostischen Skizze des Westphälischen Steinkohlengebirges“ führt höchstens ein Dutzend von bekannteren Höhlen auf, von denen einige in den vierziger Jahren „unter Verwendung amtlicher Mittel“ untersucht wurden – der Anblick des Gebirges überzeugt leicht, daß die Zahl der Höhlen, Grotten und Spalten, welche Ausbeute liefern können, weit in die Hunderte gehen muß. [156] Außer der großen Höhle an der Grüne hat die Eisenbahn an manchen Stellen Reihen von kleinen Grotten entblößt, die fast wie Arcaden nebeneinander stehen und ihre Oeffnungen dem Schienenwege zukehren, und in jedem Orte, der auf oder an dem Kalksteinzuge liegt, hört man von Gängen und Löchern erzählen, in welche die Schulknaben hineinschlüpfen und manchmal gefährliche Abenteuer bestehen. „Wer sucht, der findet“ ist ein altes, wahres Wort. In denselben Gegenden Belgiens, die man seit Schmerling’s Untersuchungen in den zwanziger Jahren vollständig ausgebeutet glaubte, hat Dupont in kurzer Zeit mehr als hundert Höhlen und Grotten entdeckt und untersucht und daraus in Brüssel ein Museum zusammengestellt, welches seines Gleichen in der Welt nicht hat. Freilich hat die Regierung dieses kleinen, nach der heutigen Staatentheorie „nicht lebensfähigen“ Landes die nöthigen Mittel bewilligt, damit der junge Forscher sich ganz dieser Untersuchung und nur ihr allein widmen und tüchtige Arbeiter heranziehen konnte, die mit dem Gegenstande und den Vorsichtsmaßregeln solcher Untersuchungen innig vertraut sind. Es wäre wahrlich an der Zeit, etwas Aehnliches für die Untersuchung der westphälischen Höhlen in’s Leben zu rufen, und mir würde es am geeignetsten erscheinen, wenn dort ein Verein sich bildete, der die nöthigen Mittel zusammenbrächte, durch einen mit dem Gegenstande so vertrauten Mann, wie Dupont, einen jungen Gelehrten und einige Arbeiter anlernen ließe und auf diese Weise Gleiches für Westphalen leistete, wie es in Belgien mit Staatsmitteln geleistet worden ist und noch geleistet wird. Die Bestrebungen einzelner Forscher und Sammler, welche nur nebenbei, in ihren wenigen Mußestunden, solche Untersuchungen betreiben, können unmöglich zu so umfassenden und genauen Resultaten führen, wie die heutige Wissenschaft sie verlangt.
Welches sind denn die Fragen, deren Lösung man anstrebt? wird man hier fragen, und ich halte es für nöthig, darüber einige Andeutungen an der Hand der Thatsachen zu geben.
In fast allen Höhlen und zwar in denen, welche Tropfsteinbildungen zeigen, unter dem Tropfsteinboden, finden sich oft ungemein mächtige Ablagerungen einer Art von Erde oder Lehm, den man den Knochenlehm genannt hat. Meist von gelblicher oder röthlicher Farbe zeigt sich dieser Lehm oft so von Kalksinter durchzogen und zusammengebacken, daß er eine feste Masse darstellt, die man sogar, ihrer Härte wegen, mit Pulver aufsprengen muß. In den westphälischen Höhlen ist er eine erdige Substanz, die eine große Menge phosphorsauren Kalkes, bis zu einem Viertel der Masse sogar, enthält und demnach offenbar großenteils aus der Verwesung thierischer Stoffe hervorgegangen ist. Diese phosphorreichen Erdmassen liefern ein vortreffliches Düngemittel, wie man in Balve nur zu gut weiß, denn dort wird, wie ich mir habe sagen lassen, die Höhle förmlich auf Gewinnnug der Erde ausgebeutet. Auch andere Erfahrungen bestätigen dies. In den Höhlen von Sundvig hört man stellenweise unterirdische Wasser rauschen. „Sie waschen ganz gewiß uns noch unbekannte, mit Knochenlehm gefüllte Spalten aus,“ sagte mir der freundliche Besitzer, Hr. von der Becke, „denn wo diese Wasser zu Tage treten, entwickelt sich eine weit üppigere Vegetation, als in der Nähe anderer Quellen, und der gelbliche Lehm, den diese Wasser ablagern, so wie die Einstürze der Tropfsteinböden, welche hie und da eintreten, zeugen für die Unterwaschung und Fortführung des Lehmes.“ Daß der Gehalt an phosphorsaurer Kalkerde aus der Zersetzung von Excrementen, Fleisch, Knorpeln und Knochen hervorgegangen sei, wird aber endgültig bewiesen durch die ungeheure Menge von Knochen, welche sich darin finden und die zum Theil riesigen Thieren angehören.
Hier kommt die erste Frage: Welches waren diese Thiere und zu welcher Zeit lebten sie?
Die Vergleichung mit den Knochen jetzt wild lebender Thiere zeigt bald, daß diese Knochen zum Theil ausgestorbenen, zum Theil aus unseren Klimaten ausgewanderten, zum Theil jetzt noch bei uns lebenden Thieren angehören – daß ferner unter diesen Thieren solche sind, die heute noch in Höhlen leben, andere dagegen, welche nicht durch sich selbst, sondern durch fremde Kraft in die Höhle gebracht worden sein müssen. Der Vielfraß, der Dachs und der Fuchs, der riesige Höhlenbär, die Höhlenhyäne, der Höhlenlöwe haben ganz gewiß Höhlen bewohnt und ihren Jungen dorthin ganze Thiere oder Stücke derselben zur Mahlzeit gebracht. Aber der Elephant der Schwemmzeit, das Mammuth, das ebenso wie sein steter Begleiter, das Nashorn mit knöcherner Nasenscheidewand, mit einem Wollpelze zum Ertragen kälterer Klimate ausgerüstet war, das Nilpferd, der Urstier, welcher der Stammvater der friesischen Hornviehrace geworden ist, der Bison, der jetzt noch in den lithauischen Wäldern lebt, der Riesenhirsch, den man unter den Torfmooren Irlands so häufig gefunden hat, unser jetziger Edelhirsch, das in den Norden ausgewanderte Rennthier, das wilde Pferd und der wilde Eber, diese haben gewiß nicht in Höhlen gelebt, sondern ihre Knochen sind auf andere Weise dort hinein gebracht worden.
Daß alle diese Thiere zu einer gewissen Zeit auf der rothen Erde zusammenlebten, das beweist nicht nur das Vorkommen der Knochen in denselben Ablagerungen, sondern auch namentlich der Umstand, daß viele Knochen der Pflanzenfresser unstreitig von den Fleischfressern benagt worden sind. Man sieht die Spuren der Zähne an den schwammigen Theilen, die Eindrücke und Rillen, in welche die nagenden Zahnkronen passen – man findet im Allgemeinen nur diejenigen Knochen der Pflanzenfresser, welche nicht zerkaut, zerknackt und verschlungen werden konnten, und die Zähne alter Bären und Hyänen, namentlich der letzteren, sind abgenutzt bis an die Wurzel, so daß von der Krone oft kaum noch ein Stumpf übrig ist. Wie heute noch hatten die Fleischfresser ihre gesonderten Standorte – Sundvig bewohnten vorzugsweise die Bären, Rösenbeck bei Brilon die Hyänen –; zuweilen auch mögen die Bewohner im Laufe der Zeiten gewechselt haben – Dupont hat wenigstens in einigen belgischen Höhlen verschiedene Schichten gefunden, wo in der einen nur Bären, in der andern nur Hyänen vorkamen. So mögen auch die Pflanzenfresser ihre besonderen Stationen gehabt haben. Die Mammuthzähne, welche man in den westphälischen Sammlungen sieht, stammen, wenn sie nicht aus Geschieben und Flußbetten herrühren, meist aus der Höhle von Balve, die mit ihrem weitgewölbten, domartigen Eingang vielleicht ein Zufluchtsort dieser Thiere bei schlechtem Wetter gewesen sein mag. Die genaue Vergleichung des Inhalts der einzelnen Höhlen untereinander und mit denen anderer Länder würde gewiß in Hinsicht auf die Vertheilung und die Lieblingsstationen der einzelnen Thiere des Schwemmlandes interessante Resultate zu Tage fördern.
Doch dies ist nicht genug. Unsere Thierwelt hat im Laufe der Zeiten nach und nach sich verändert. Die gewaltigen Fleischfresser sind verschwunden, die großen Pflanzenfresser sind zu Grunde gegangen. Wo früher Mammuthe und Nashörner in Ueberzahl auftraten, begegnen wir jetzt Heerden von wilden Rennthieren, Pferden und Ochsen. Diesen Veränderungen entsprechen in vielen Höhlen verschiedene Absätze von Knochenlehm, welche häufig durch Tropfsteinböden von einander getrennt sind. Was Dupont für Belgien nachgewiesen, kann auch für manche Vorkommnisse in Westphalen Geltung haben. Wir haben aufmerksam die verschiedenen Versuchsgräben betrachtet, welche in der neuen Höhle angelegt waren. In keinem war man noch auf den festen Felsgrund gekommen, obgleich man mannstief eingedrungen war – in jedem ließen sich mehrere, zwei bis drei, Tropfsteinböden erkennen, welche verschiedene Schichten von Knochenlehm trennten. Hier ist es nun Aufgabe des Forschers, die Einschlüsse der verschiedenen Schichten gesondert zu halten, jedes Knöchelchen, jeden Splitter sorgsam zu trennen von denen der anderen Schicht, um dann die Einschlüsse mit einander vergleichen und die relative Häufigkeit der einen und anderen Art constatiren zu können. Denn die Veränderungen in der Thierwelt, die hier lebte, sind langsam und allmählich vor sich gegangen – die eine Art wurde seltener und seltener, bis sie endlich gänzlich vom Schauplatze verschwand und ebenso durch eine nach und nach häufiger werdende ersetzt wurde.
Zu diesem Zwecke muß, wenn ein Versuchsgraben senkrecht bis in die Tiefe des Lagers durchgeschlagen ist und die einzelnen Schichten dadurch nachgewiesen sind, eine jede dieser Schichten in horizontaler Ausbreitung verfolgt und abgeräumt und das so in einer Kammer gewonnene Resultat mit den Ergebnissen aus den anderen Kammern derselben Höhle und endlich mit denen der benachbarten Höhlen verglichen werden. Weitläufige, zeitraubende Untersuchungen, die mit der größten Sorgfalt und Genauigkeit unter den Augen desjenigen, der die Arbeiten leitet, durchgeführt werden müssen, über die an Ort und Stelle ein laufendes Register hergestellt werden muß, während jedes Stückchen eine Etikette erhält, die mit deutlichen Zeichen den Ort und die Schicht angiebt,
[157][158] in welcher es gefunden wurde. Auf diese Weise hat Dupont jene wunderbaren Resultate gewonnen, die nachweisen, daß die verschiedenen belgischen Höhlen zu verschiedenen Zeiten sich anfüllten, daß die höher im Niveau über der Thalsohle gelegenen mit Thierresten aus älterer Zeit angefüllt wurden, weil die Gewässer, die im Thale strömten, damals einen höheren Stand hatten, während die tiefer gelegenen, von welchen sich das Wasser erst später zurückzog und ihre Oeffnungen freigab, auch erst in späterer Zeit bevölkert wurden. Während so einzelne Höhlen zu verschiedener Zeit angefüllt wurden, fanden in anderen Absätze aus mehreren Perioden statt und diese letzteren bilden dann gewissermaßen den Zeitmesser, welcher die Epoche angiebt, in welcher die nur in einer einzigen Periode erfüllten Höhlen ihre Einschlüsse erhielten. Aus den verschiedenen Niveaus aber ergeben sich wieder die mannigfachsten Schlußfolgerungen über die Gestaltung der Thäler, die Mächtigkeit der Gewässer, die sie durchströmten, die Ausdehnung der Binnenseen und Buchten, welche diese Gewässer aufnahmen. Alle diese Fragen harren noch ihrer Lösung für Westphalen – die Antworten daraus können aus den bisherigen Forschungen nicht entnommen werden.
Aus diesen unmittelbaren Resultaten kann nun auch wohl die relative Bestimmung der Epoche entnommen werden, in welcher die Anfüllung der Höhle oder einer bestimmten Schicht derselben geschah. Wir wissen jetzt mit vollkommener Sicherheit, daß, im Westen Europas wenigstens, die großen Fleischfresser und Dickhäuter früher lebten und früher vom Schauplatze verschwanden, als die nordischen Thiere, wie Rennthier, Eisfuchs und Vielfraß; – wir wissen, daß diese zugleich mit den Hochgebirgsthieren, wie Steinbock, Gemse und Murmelthier, selbst in den Ebenen lebten, die damals, wie heute die Ebenen anderer Continente, noch von wilden Pferden und Ochsen vorgezogen wurden; – läßt sich für Westphalen eine ähnliche Folge nachweisen oder wurden hier die ausgestorbenen Thiere unmittelbar durch die jetzigen und die Hausthiere ersetzt? Bis jetzt wurden, so scheint es, nur Höhlen aufgedeckt, welche der Zeit des Höhlenbären und der Höhlenhyäne entsprechen – aber beweist dies, daß die anderen fehlen? Vor zwei oder drei Jahren traf ich einmal mit meinem Freunde Dupont zusammen und machte ihn auf den schneidenden Contrast aufmerksam, der zwischen seinen Forschungen und denen seines längst verstorbenen Vorgängers Schmerling bestehe. „ich weiß es wohl,“ sagte er, „Schmerling hat nur Höhlen aus der Zeit des Bären und der Hyäne untersucht – ich habe bis jetzt, freilich etwas mehr westlich, nur Höhlen aus der Rennthierzeit gefunden. Ich weiß nicht, soll ich an einen specifischen Unterschied der Gegenden glauben, soll ich an Schmerling oder lieber an mir selbst zweifeln?“ Im Jahre darauf begrüßte er mich mit dem Ausrufe: „Jetzt habe ich Bärenhöhlen bei mir und Rennthierhöhlen im Gebiete Schmerling’s – Alles ist aufgeklärt – wir waren in zwei verschiedenen Niveaus mit unseren Untersuchungen geblieben!“
Für die Entscheidung der Frage, wie viel Jahre verflossen sein mögen, seitdem Bären, Löwen, Hyänen, Mammuthe und Nashörner auf der rothen Erde gehaust haben, dürften die westphälischen Höhlen kaum einen Beitrag liefern. Ein englischer Forscher, Vivian, hat den Absatz des Tropfsteins als Zeitmaß zu benutzen versucht. In der Kent-Höhle in Devonshire fand man römische Ziegel mit einer Tropfsteinkruste überzogen. Vivian maß die Dicke dieser Kruste und berechnete daraus die Zeit, die über der Bildung des Tropfsteinbodens der Höhle verstrichen sein mußte. Er kam auf 210,000 Jahre! Wer aber die Bedingungen der Tropfsteinbildung kennt und weiß, daß kein veränderlicheres Moment aufgefunden werden kann, als dieses, der wird auch unmittelbar zu dem Schlusse kommen, daß eine solche Berechnung keinen absoluten Werth in Anspruch nehmen kann. Dem Kundigen bietet diese Frage überhaupt nur geringes Interesse. Auf einige Nullen mehr oder weniger kommt es dabei nicht an – denn so viel ist wenigstens klar, daß man die Zeit nicht auf einige lumpige Tausende von Jahren zurücksetzen kann!
Wohl aber ist die Entscheidung anderer Fragen von höchster Wichtigkeit. Wie kamen die Knochen in die Höhlen?
Früher, wo man in der Geologie noch mit Revolutionen, Kataklysmen, Diluvialfluthen und ähnlichen Hochdruckmaschinen arbeitete, war es ein Leichtes, die Höhlen durch eine große Fluth ausfüllen zu lassen, welche über die Länder wegbrauste, fortriß, was ihr beliebte, in die Spalten und Höhlen hineinwarf, was Platz hatte, und dann verlief, ohne daß man wußte, wohin. Heute kommt man nicht so leichten Kaufes davon. In den wenigsten Höhlen nur findet man unzweideutige Beweise von Wirkungen bedeutender unterirdischer Wasserströmungen, wie Rollkiesel, Grus und Sand; die Gewässer, welche früher die Thäler bis zu bedeutender Höhe ausfüllten, verhinderten im Gegentheil Absätze im Innern, wie dies die belgischen und südfranzösischen Höhlen beweisen. Starke Strömungen reißen fort – die unterirdischen Flüsse im Karst und an anderen Orten erweitern die Klüfte, statt sie anzufüllen. In den westphälischen Höhlen ist, so viel mir bekannt, kein Beweis von stärkeren Durchströmungen zu finden – die dortigen Absätze müssen unter anderen Einwirkungen zu Stande gekommen sein.
Der Höhlenlehm ist ein Gemenge von phosphorsaurem Kalk (Knochenerde), von eingesickertem kohlensaurem Kalk und feingeschlämmten erdigen und unlöslichen Bestandtheilen. Ueber den Ursprung der Knochenerde kann man nicht im Zweifel sein. Viele Knochen sind zerfallen, andere in der Zersetzung begriffen; das verwesende Fleisch läßt phosphorsauren Kalk zurück, und die Excremente der Fleischfresser, ganz besonders der Hyänen, bestehen großentheils aus Knochenerde. Alles dieses hat sich zersetzt, in Pulver verwandelt und mit der seinen, eingeschlämmten Erde gemengt. An manchen Stellen findet man fast rein weiße Flecken, unbestimmt begrenzte Knollen, die gewiß aus zersetztem Koth und Knochen hervorgegangen sind – an anderen mehr schwärzliche Massen, die eher auf Entstehung aus faulendem Fleisch und Blut hindeuten dürften. Daß aber die in den Boden eindringenden Sickerwasser aus dem Lehm und Thon der Mark, den Jeder zu seinem Leidwesen kennen lernt, der dort einige Regentage zubringt, bedeutende Mengen einschlämmen und absetzen, kann Niemanden Wunder nehmen. So wäre also der Knochenlehm eine während langer Zeit hergestellte Mischung von zersetzter thierischer Substanz, eingeschlämmter Erde und eingesickertem Kalk, und es kann bei dieser Bildung nicht. auffallen, daß die Verhältnisse seiner bildenden Elemente bedeutend untereinander abweichen.
Aber die Knochen? Es giebt solche, die Spuren von Rollung durch die Gewässer zeigen, und diese mögen durch die offenen Spalten des Gebirges in die Höhlen hineingeschwemmt worden sein – die meisten aber gehören doch wohl Bewohnern der Höhlen selbst an oder wurden von diesen eingeschleppt. Die Brutstätten der reißenden Thiere, Säugethiere wie Vögel, sind wahre Schindanger, überfüllt mit halbverzehrten Aesern, mit Knochen und herumgezerrten Resten der Beute, welche den jungen zugetragen wird. Die jungen Thiere spielen damit, wie Kinder mit Spielzeug, und die Alten nagen zum Zeitvertreib daran, wenn sie sich von den Anstrengungen der Jagd ausruhen. Man hat viel Wesens aus dem Umstande gemacht, daß man von den meisten Thieren nur einzelne Stücke, unzusammenhängende Knochen findet – erklärt sich dies nicht auf die befriedigendste Weise in dieser Art? Die angenagten, zerknackten Knochen finden sich in großer Anzahl – kurz, alle Bedingungen sind vorhanden, welche die meisten Höhlen als von Fleischfressern bewohnt und von ihnen mit eingeschleppter Beute erfüllt erscheinen lassen.
Die alten Fleischfresser verendeten in diesen düsteren Wohnungen – grimmige Kämpfe fanden unter den Bewohnern statt, davon manches Opfer fiel – man kennt ja aus der Gailenreuther Höhle den vom alten Sömmering beschriebenen Schädel einer Hyäne, die einen grimmigen Biß auf den Kamm erhalten hatte und davon geheilt worden war – und daß der Humor und die Gesundheit dieser höhlenbewohnenden Thiere nicht stets blühend waren, beweisen uns die vielen kranken Knochen und hohlen, angefressenen Zähne. Man denke sich einen solchen Höhlenbären von der Größen eines Rindes hereinzottelnd mit grimmigem Zahnweh und fürchterlichen Schmerzen (obgleich ich nicht behaupten will, daß die Größe der Schmerzen nach der Größe der Zähne bemessen werden könne) und stelle sich nun vor, in welcher Weise er die Begrüßungen der Cameraden und die Liebkosungen der Familie mag aufgenommen haben!
Damit aber, daß die meisten Knochen von Raubthieren Höhlenbewohnern entstammen, daß die meisten Knochen von Pflanzenfressern durch die Raubtiere eingeschleppt sind, damit sind andere Ausfüllangsarten nicht ausgeschlossen. Die langsame [159] Einsickerung, die Einströmung des Wassers durch kleinere Spalten und Ritzen, ist eine erwiesene Sache. Damit sind auch gewiß viele Knochen hinabgespült und in dem Lehm mit abgesetzt worden. Man findet scheinbar hermetisch geschlossene Steinsärge zuweilen voll Erde, und auf den ersten Blick scheint es uns unmöglich, zu begreifen, wie dieselbe hineingekommen. Ein paar Würzelchen haben den Deckel etwas gehoben, das im Erdboden sickernde Wasser hat einige Krümchen Erde eingeführt, und nach und nach hat sich der Sarg angefüllt. Stete, höchst geringe Wirkung, lange Zeit hindurch fortgesetzt, bringt meist dieselben Resultate hervor, wie kurze, heftige Wirkung, die schnell vorüberrauscht, und häufig sind es nur die begleitenden Umstände, welche entscheiden, ob die eine oder andere stattgefunden. Der Backzahn eines Mammuth, der zwanzig und mehre Pfunde wiegen kann, und der vielleicht in dem Schwemmgebilde auf einem Bergrücken liegt, in welchen ein zu einer Höhle führendes Kamin mündet, wird gewiß nicht unmittelbar von einigen Regentropfen weiter bewegt. Aber diese Regentropfen unterwaschen seine etwas geneigte Unterlage und machen sie schlüpfrig – er gleitet, vielleicht nur um den Bruchtheil einer Linie, aber nach und nach kommt er doch an die Oeffnung des Kamins und wird durch diese den Ablagerungen der Höhle zugeführt. Das kann im Hintergrunde der Höhle geschehen, während in einer Seitennische die Hyäne ihre Jungen mit Resten einer Mammuth-Leiche füttert und in der Vorgrotte der wilde Mensch ein eben erjagtes Mammuthkalb als Festmahl verzehrt. Der wilde Mensch! Und mit ihm sind wir auf einen Kernpunkt der Höhlenfrage angelangt.
Andere Höhlen haben die unzweideutigsten Beweise des Zusammenlebens des Menschen in Mitteleuropa mit dem Höhlenbären, dem Mammuth, dem Nashorn und später mit der ganzen nordischen Fauna der Rennthierzeit geliefert. Man hat nicht nur seine aus Kiesel, Horn und Knochen gearbeiteten Waffen und Geräthschaften gefunden, die Heerde aufgedeckt, auf welchen er am Feuer seine Fleischnahrung röstete, man hat auch aus den Knochen und Geweihen selbst nachgewiesen, daß der Mensch und nur der Mensch sie bearbeitet und benutzt hat. Die festen Röhrenknochen der Dickhäuter und großen Grasfresser kann kein Raubthierzahn öffnen und bewältigen. Der Mensch zerschlägt sie, um das Mark herauszunehmen, er öffnet die Schädel, um das Gehirn zu verzehren, er schleppt von seiner Jagdbeute nur bestimmte Stücke nach Hause, während er die andern an Ort und Stelle verzehrt oder liegen läßt. Es giebt Höhlen in Menge, die nur von dem Menschen bewohnt, nur von ihm angefüllt worden sind, es giebt andere, um deren Besitz Höhlenthiere und wilde Menschen gekämpft, die sie abwechselnd in Besitz genommen haben, andere wieder, in welche vor der Eröffnung in unserer Zeit der Mensch nie einen Fuß gesetzt hat. Wie leicht begreiflich, können Höhlen, in dieser Hinsicht grundverschieden, in derselben Gegend sich finden und haben sich auch z. B. in Belgien gefunden. Wie verschieden zeigen sich ferner die Höhlen in Beziehung auf ihre Benutzung durch den Menschen nach Zeit und Art der Benutzung! Dort wohnte er permanent, hier hielt er sich nur zu bestimmten Zeiten auf; jene Grotten dienten in ihrem Hintergrunde als Begräbnißstätten, unter ihrem Vordache als Wohnungen und Zufluchtsörter, manche Höhlen waren bewohnt von der Periode des Mammuth an bis in die periodischen Zeiten hinein, in manche flüchteten sich die Umwohner nur bei Gefahr und Verfolgungen; jene wurden zu verschiedenen Zeiten umgewühlt, um Leichen oder Schätze zu begraben oder letztere aufzusuchen, diese blieben unberührt von Anbeginn an. Alle diese verschiedenen Verhältnisse lassen sich aus den durch genaue und bis in’s Kleinste durchgeführte Untersuchungen gewonnenen Thatsachen erschließen – für alle liegen analoge Vorkommnisse vor.
Was haben nun die westphälischen Höhlen in dieser Beziehung bis jetzt geleistet? Nur wenige Thatsachen liegen vor, nicht genug zu zwingenden Beweisen, zu viel, um auf gänzliche Abwesenheit zu schließen.
Die menschlichen Knochen aus der nun zerstörten Grotte des Neanderthals gehören mit größter Wahrscheinlichkeit der Periode des Höhlenbären an. Fuhlrott hat aus der Lagerung und Beschaffenheit des Lehmes, in dem sie sich fanden, und aus den allgemeinen Verhältnissen der anderen Grotten im Neanderthal und der Umgegend, Schaaffhausen aus der Bildung des furchtbaren, niedrig gestalteten Schädels, dem jetzt mehrere andere zur Seite stehen, die Beweise geführt, so weit sie sich irgend aus den vorhandenen Thatsachen führen lassen. Aber durchaus zwingend sind diese Beweise nicht. Außer den menschlichen Knochen wurde kein Thierknochen in der Grotte gefunden und die entsetzlich thierische Bildung, die freilich mit derjenigen eines Schädels übereinstimmt, der im Canstatter Kalktuff mit Mammuthknochen zusammengefunden wurde, beweist zwar ein sehr hohes Alter, aber gerade nicht absolut die Einreihung in die Periode des Höhlenbären.
Ebenso geht es mir mit einigen anderen Andeutungen. Ich habe bei Apotheker Schmitz in Letmathe zwei Röhrenknochen gesehen, die ich, hätte ich sie unter einem Haufen anderer, ebenfalls vom Menschen zerschlagener Knochen gefunden, unmittelbar für vom Menschen bearbeitet angesehen haben würde. Man sieht, an dem einen namentlich, Eindrücke, ähnlich denen, welche von den halbscharfen Steinäxten erzeugt wurden, mit denen man die Knochen aufschlug. Findet man hunderte und tausende solcher Knochen, so ist der Zufall beseitigt, findet man aber unter hunderten nur zwei, so darf man zweifeln. Es giebt kaum eine Höhle, in welcher nicht eine Menge großer und kleiner Bruchstücke liegen, die von der Decke abgestürzt sind. Konnte nicht ein solches Felsstück einen Bären erschlagen, seine Knochen zertrümmern?
In einer Höhle am Bärentroß oberhalb Schwyz fand man das Skelet eines Bären, dessen Vorderpranken von einem herabgestürzten Felsstück, das noch auf den Knochen lag, zerschmettert worden waren. Konnte nicht ein ähnlicher Zufall in einer westphälischen Höhle sich ereignet und die gefundenen Knochen zerschlagen haben?
So viel ich weiß (ich lasse mich gern über meinen Irrthum belehren), haben die westphälischen Höhlen noch keine Spur jener roh zugeschlagenen Kiesel-Aexte und -Messer und noch weniger jener feineren Instrumente und Bildwerke geliefert, von denen andere Höhlen wimmeln. So viel ich weiß, sind außer den Neanderthaler Menschenknochen noch welche an anderen Orten, aber auch nur in sehr geringer Zahl, gefunden worden; über die Lagerung derselben herrscht aber keine Gewißheit. Höhlen-Untersuchungen aus früheren Zeiten können hier keinen Ausschlag geben, sie wurden zu einer Zeit angestellt, wo man die Bedeutung der Kieselinstrumente noch nicht kannte und deshalb nicht besonders auf sie achtete. Der Beweis, daß Menschen, und zwar jedenfalls Wilde, zur Zeit des Höhlenbären in den westphälischen Höhlen lebten, ist demnach bis jetzt noch nicht mit derjenigen Schärfe hergestellt, die er verdient. Die Wahrscheinlichkeit aber ist nachgewiesen, und es handelt sich darum, sie zu solcher Gewißheit zu erheben, daß nur Knak und Spießgesellen sie leugnen können.
An’s Werk also, ihr Söhne der rothen Erde! Die Mark mit ihren Höhlen muß ebenso classischer Boden für die Urgeschichte des Menschen werden, wie Belgien und Südfrankreich! Neben der Kohle, dem Eisen und dem Gußstahl müssen noch andere Schätze aus dem Boden gewühlt und an das Tageslicht gebracht werden, und wie die persönliche Initiative in der Industrie, so muß sie auch hier auf wissenschaftlichem Gebiete vorangehen. Zu dem ehrenden Luxus, den der Wohlhabende sich gewähren kann, gehört der Aufwand für Kunst und Wissenschaft! Beide brauchen Geld, sogar viel Geld, und so lange die Staaten den besten Theil ihrer Einkünfte zur Zinszahlung ihrer Schulden und zur Erhaltung derjenigen verwenden, welche die Schulden machen, so lange muß die freie Association eintreten für allgemeine wissenschaftliche Zwecke! –
Dies mag etwa der Inhalt der Gespräche und der Discussionen gewesen sein, welche unter der Gesellschaft während des Besuches der Höhle und auf dem Wege nach Iserlohn gepflogen wurden, wo die Gastfreundschaft unser mit offenen Armen wartete. Soll ich nun noch erzählen, wie die Einen Abends in den Strudel social-politischen Treibens hineingerissen wurden, während die Andern den letzten Zug benutzten, um der Heimath zuzurollen, und wie ein kleiner Bruchtheil der Gesellschaft, nicht zufrieden mit den Ergebnissen des einen Tages, noch am folgenden Morgen die Höhlen von Sundvig durchkroch, von den freundlichen Besitzern geleitet, um dort mit eigenen Augen sich von der frevelhaften Zerstörung der Tropfsteine und von der fabelhaften Anhäufung von Knochenlehm zu überzeugen, die noch jetzt, nach jahrelanger Ausschürfung, in diesen Höhlen zu finden ist? Ich denke, es wäre genug!
Eine junge Königin. Im Jahre 1834, dem denkwürdigen Weinjahre,
besuchte ein junger katholischer Geistlicher von guter Erziehung
und den gefälligsten Umgangsformen, dessen äußere Erscheinung auch eine
sehr empfehlende war, in der Eigenschaft als Hauscaplan im Gefolge
einer fürstlichen Familie Bad Ems. Seine Obliegenheiten waren kaum
nennenswerth, denn nachdem er in Gegenwart der Familie ziemlich früh
am Morgen in der Capelle zum Spiß, dem Bade gegenüber, Messe gelesen,
war er mit Ausnahme der Mittagstafel, bei der er die Gebete zu
sprechen hatte, den ganzen Tag sein eigner Herr. Diese Freiheit benutzte
er dazu, botanische und mineralogisch-paläontologische Excursionen, wozu
die Umgebungen des berühmten Curortes reichliche Gelegenheit darboten,
zu unternehmen; oder wenn das Wetter – wie im Sommer 1834 selten
vorkam – hierzu nicht geeignet war, auf der Promenade neue Bekanntschaften zu machen und schon gemachte zu pflegen. Sein geistlicher
Stand, der sonst so leicht Zurückhaltung erweckt, war ihm dabei wegen
der Milde seiner Grundsätze und der Liebenswürdigkeit seines Charakters
durchaus nicht im Wege, er war vielmehr – und besonders bei den
Damen – ein sehr gesuchter Gesellschafter.
Unter den Badegästen, welche in derselben Saison die Aufmerksamkeit des Curpublicums auf sich zogen, befand sich eine junge Dame, die in der Curliste als Gräfin von Lamego aus Portugal aufgeführt war. Sie trat, obgleich noch sehr jugendlich und eine Schönheit ersten Ranges, doch anspruchslos und für diejenigen, welche sich ihr nähern zu können das Glück hatten, höchst gewinnend auf. Sonst war aber ihre ganze Erscheinung eine ehrfurchtgebietende, und aus ihrem Benehmen und dem ihres Gefolges mußte man schließen, daß sie von ebenso hoher wie reicher Abkunft sei. Es war daher nicht zu verwundern, wenn dieses interessante Wesen bald der Gegenstand allgemeiner Bewunderung und achtungsvoller Huldigung wurde.
Die junge Gräfin von Lamego besuchte jeden Morgen mit einer ihrer Camareras die Messe des fürstlichen Hauscaplans und wußte nach Beendigung derselben – indem sie ihm Geld für die Armen zu geben oder sonst etwas zu sagen hatte – es fast jeden Tag so einzurichten, daß sie unter seinem Geleit auf der Promenade erschien. Sie unterhielt sich dann so angelegentlich und herzlich mit ihm, als wenn er zu ihr oder ihrer Familie in den engsten Beziehungen gestanden hätte. Dieser Umgang, obgleich von Seiten der Betheiligten in unschuldigster Weise gepflegt, mußte doch Aufsehen erregen, und so wurde auch der Pfarrer vom Spiß, ein wohlwollender, dem jungen Hauscaplan aufrichtig ergebener Mann, hierauf aufmerksam und suchte in Gegenwart desselben auf das vielbemerkte, wenn auch nicht verdächtige Verhältniß zu der schönen jungen Portugiesin hinzuweisen. Diese Theilnahme hätte aber für die jungen Leute, die nichts Bedenkliches in ihrem arglosen Umgange fanden, durch Erkenntniß ihrer Lage gefährlich werden können, wenn nicht ein anderer Umstand dazwischen gekommen wäre und der Sache eine ganz unerwartete Wendung gegeben hätte.
Als nämlich der Hauscaplan eines Morgens die Messe gelesen und sich vergebens nach seiner lieblichen Begleiterin umgesehen hatte, kam er etwas verstimmt auf die Promenade und bemerkte hier eine ganz ungewöhnliche Aufregung, welche, wie der Wind einen Haufen dürrer Blätter, die ganze Bade-Gesellschaft in höchstem Erstaunen durcheinander wirbelte. Der Caplan, welcher sich in diesem allgemeinen Sturm anfangs wenig beachtet sah, ließ auch hier seine Augen umsonst nach der schönen Portugiesin umherschweifen – er wurde aber bald von mehreren Matadoren der Saison und einigen Löwinnen bemerkt und sofort wegen des Ereignisses ausgeforscht, welches die Curgäste so in Anspruch genommen hatte. Er sollte und mußte es gewußt haben, und seine Schweigsamkeit war allein daran schuld, daß man so spät die Wahrheit erfahren hatte!
Nur mit vieler Mühe gelang es dem jungen Caplan, die Stürmenden zu beruhigen und herauszubringen, daß sich vor einer halben Stunde das Gerücht verbreitet habe, die so allgemein gefeierte Gräfin von Lamego sei die Königin Maria da Gloria von Portugal und habe diesen Morgen durch einige Couriere von verschiedenen Seiten die Aufforderung erhalten, unverweilt ihr Reich in Besitz zu nehmen. Diese Nachricht traf den jungen Geistlichen wie ein Donnerschlag, und kaum war er fähig, seine äußere Ruhe zu behaupten und sich anscheinend unbefangen unter die Gesellschaft zu mischen, von wo er unbeachtet sich nach seinem Quartier zurückziehen könne, als eine tief verschleierte Dame dicht an ihn herantrat, ihm einen Zettel in die Hand drückte und dann, wie ihn erwartend, in einiger Entfernung stehen blieb.
Auf dem Zettel, den er verstohlen las, stand nur: „Ich erwarte Sie! M.“ – Indem er, dieser Aufforderung entsprechend, der Dame, in welcher er die jüngere der Camareras zu erkennen glaubte, langsam folgte, bestürmten ihn die wehmüthigsten Gefühle. Er war nun mit einem Male aus dem Himmel der seligsten Empfindungen, die sein Herz zum ersten Mal erfüllten, ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre, in die rauhe Wirklichkeit hinausgeschleudert und sein Paradies auf immer verschlossen. Wenn sie aber auch nur eine schlichte Bürgerstochter gewesen wäre, so hätte ihm ja doch sein Stand jede weitere Annäherung an das holde Geschöpf, wie sie bisher in aller Unschuld geschehen war, untersagt. Er war indeß auch ein Mensch und konnte es nicht verhindern, daß sein warmes Herz für die hochgeborene Königin eben so laut schlug, als wenn sie in der Hütte der Armuth geboren und er durch kein Gelübde gebunden gewesen wäre.
In diesem bewegten Zustande betrat er, von der jungen Camarera geführt, zum ersten Mal das jungfräuliche Heiligthum der fünfzehnjährigen Königin.
Ein unnennbares Weh bemächtigte sich seiner, als sie ihm, nachdem er aus dem Vorzimmer in ihr Gemach geführt, in all’ der süßen Anmuth, aber doch bekümmert entgegentrat und ihm, der unwillkürlich auf ein Knie niedergesunken war und kaum aufzublicken wagte, mit Thränen in den holden Augen die Hand reichte. Als er aber diese Hand, die in der seinigen zitterte, mit seinen Lippen berührte, mischten sich ihre Thränen auf derselben und sie beugte sich, wie von heftigem Schmerz ergriffen, über ihn.
Sie faßte sich jedoch zuerst wieder, forderte ihn auf, sich zu erheben, und dann erzählte sie ihm mit tief bewegter Stimme den Lauf der Begebenheiten, welche sie auf den Thron von Portugal erhoben. Obschon noch so jung und schon eine Königin, verhehlte sie sich doch nicht, daß die Krone ihres Reiches eine Dornenkrone werden könne und ihr Thron auf einem Vulcan stehe, sie überreichte ihm zum Andenken an die verlebten glücklichen Tage ihr in ein kostbares Medaillon gefaßtes Bildniß und entließ ihn dann schmerzerfüllt, wie sie ihn empfangen hatte. So waren sie denn auf immer geschieden und Beider süßes Jugendglück zerstört.
Der Hauscaplan, jetzt ein ehrwürdiger Greis und Seelsorger einer großen, ihn hochverehrenden Gemeinde, hat den Schmerz der Trennung standhaft ertragen und wurde glücklich in seinem geistlichen Berufe; die schöne, von aller Welt hochgefeierte junge Königin aber wurde vom herbsten Geschick verfolgt und sank, von ihrem Volk, mit dem sie es so wohl meinte, fast unbeweint, in ein frühes Grab!
Ein Mäusezug. Es war vor einigen Jahren, als ich eines Tages,
als Lehrer an der hiesigen Bürgerschule, den Nachmittagsunterricht um
ein Uhr begann. Auf dem Lectionsplane stand Lesen. Der Unterricht
mochte etwa eine halbe Stunde gedauert haben, als derselbe plötzlich durch
lautes Aufschreien der in den ersten Bänken befindlichen Kinder gestört
wurde. Dieselben sprangen auf ihre Sitzbänke, ja einige sogar auf die
Tische und sahen alle ängstlich nach einer Stelle hin. Ich, der ich mich in
der Nähe der ersten Bank befand, wandte mich um, die Ursache dieser
Störung zu entdecken, und bemerkte denn auch sogleich, daß unter dem
zwischen der Wand und dem Pulte befindlichen ungefähr fünf Zoll hohen Trittbrette
etwa sechs oder sieben Mäuse hervorgekommen waren, die sich in
einer Linie und so dicht hinter einander fort bewegten, daß die zweite
den Kopf auf den Rücken der ersten, die dritte ihren Kopf auf den Rücken
der zweiten gelegt hatte u. s. f.: ja es schien fast, als ob alle sechs oder
sieben Mäuse auf diese Weise an einander befestigt seien. Als ich hinsah,
war der Mäusezug etwa einen Fuß weit hervorgekommen und stand still,
vielleicht in Folge des Geschreies der Kinder. Bald aber bewegte er sich
langsam vorwärts und ließ sich auch nicht wieder stören, trotz des fortwährenden
Geräusches, welches die Kinder verursachten. Der Mäusezug
bewegte sich nun nahe an meinen Füßen vorbei, bis unter den Tisch, wo
die ersten Kinder saßen, machte hier einen Bogen und ging zurück nach
dem in der Nähe des Pultes befindlichen Ofen, unter demselben her und
von hier wieder nach dem Loche, woraus er hervorgekommen war; –
damit hatte das Schauspiel ein Ende.
Die Bewegung der scheinbar an einander befestigten Mäuse, welche alle ausgewachsen und von einer Größe, war, wie gesagt, immer langsam und es schien, als wenn bei ihren Bewegungen ein Wille alle beseelt hätte; unheimlich war es auch, anzusehen, daß die Mäuse von der Unruhe der Kinder durchaus keine weitere Notiz nahmen und sich in ihrer langsamen Fortbewegung nicht stören ließen.
Wie ist diese Erscheinung zu erklären? – Wer hat etwas Aehnliches erlebt? – In naturgeschichtlichen Werken, die mir zu Gebote standen, habe ich darüber nichts gefunden.
Hfd.T.
Der verzagte Freier. Dieses (S. 157 abgedruckte) Bild des berühmten
Carl Hübner, jenes Meisters der Düsseldorfer Schule, welcher
noch vor dem Sturmjahre 1848 im Vorgefühl desselben das sociale Tendenzbild – man denke an seine „schlesischen Weber“ und sein „Jagdrecht“! – der Genremalerei einverleibte, gehört einer späteren Zeit des Künstlers
an, welche ihn wieder zu friedlicheren Stoffen zurückgeführt hat.
Hübner’s vorliegendes Bild spricht deutlich genug, um keines Commentars zu bedürfen. Oder sollten wir dennoch über die wirklichen geheimen Wünsche des Mädchens im Unklaren bleiben? Wie geschickt ist’s in dem Auge angedeutet, daß es nicht auf den Faden und seinen richtigen Weg durch das Nadelöhr, sondern innerlich rückwärts zum erwarteten Freier blickt! Der Faden hätte längst seinen Weg gefunden, aber ihr lauschendes Ohr vernimmt ja das Geflüster der Ermuthigung, sie muß in ihrer Stellung beharren und so lange einfädeln, bis der Freier seinerseits mit dem Einfädeln seines Antrags fertig geworden ist. Mit dem Mädchen correspondirt reizend die nichts weniger als ängstliche Mutter; ihr Mutheinpredigen geschieht mit heiterem Lächeln, während dem alten Vater einige unmuthige Besorgniß nicht fremd ist. Er aber, der Held des Bildes in seiner musterhaften Zauderergröße, läßt uns völlig im Dunkeln, ob er eigentlich auch Liebe oder nur Beklemmung fühlt; – geheirathet wird er in jedem Fall. Ob aber seine Größe ihm in der Ehe endlich zu Gute kommt, oder ob die kleine Frau ihm das lange Einfädeln durch um so strengeres Regiment entgelten läßt, darüber könnte wohl nur der Künstler uns vielleicht in einem späteren Bilde Auskunft geben.
Max Ring’s Romane finden im Auslande Verbreitung und Anerkennung.
In Neuyork erscheint in englischer Sprache eine Uebersetzung von
Max Ring’s früherm Roman „John Milton“ unter dem Titel. „John
Milton and his times, an historical novel, translated from the German
by F. Jordan.“ Die amerikanische Kritik spricht sich sehr günstig über das
Werk aus. Gleichzeitig erscheint in der mailändischen Zeitung „Perseveranza“
eine italienische Uebersetzung von Max Ring’s „Verlorenem Geschlecht“,
einem Roman, dessen Vorzüge auch in deutschen Blättern nach Verdienst
gewürdigt worden sind.
- ↑ Bei der Kreuzung von Oberwall- und Jägerstraße ist auf der einen Seite die bekannte Parfümerie von Treu u. Nuglisch, auf der andern das vielbesuchte Wurstgeschäft von Niquet. Der Berliner sagt nun: „Auf der einen Seite ist mir alles Wurscht, auf der andern alles Pomade!“
- ↑ Die beiden anderen Knaben waren seine Compagnons. Der erste geht dicht an einer schon vorrher beim Einkauf beobachteten Dame vorüber und überzeugt sich durch schnelles, leises Betasten, daß das Portemonnaie etwa in der rechten Kleidtasche ist. Der zweite drangt jetzt unter irgend einem Vorwande von der andern Seite gegen die Dame, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Im gleichen Moment escamotirt der dritte das Portemonnaie und steckt es dem zurückkehrenden ersten blitzschnell zu. Dieses letzte Manövre hat für den Fall der Ertappung in flagranti den Vortheil, daß das corpus delicti nicht gefunden wird. Matthias hatte als der Gewandteste stets die Rolle des Dritten gehabt.