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Die Gartenlaube (1868)/Heft 28

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[433]

No. 28.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Prinz oder Schlossergeselle.
Historische Novellette von Louise Mühlbach.
(Fortsetzung.)


Prächtig war das Ballfest. Der Ludwig Preuß mußte ein reicher Mensch sein, denn seit Menschengedenken hatte die ehrsame Zunft der Schlossermeister nicht ein solches Fest erlebt.

Alles in Ueberfluß und Alles schön und von der besten Sorte. Der Landwein und das Bier, die Fische und der Braten zum Abendessen und die Erfrischungen für die Tänzer, die umhergereicht wurden während des Tanzes – das war etwas ganz Neues, ganz Unerhörtes. Man hatte nie dergleichen erlebt; selbst in den vornehmen Gesellschaften der Honoratioren war es bis dato nicht Sitte gewesen, Erfrischungen während des Tanzes umherzureichen.

Die ältesten und angesehensten Zunftmeister blickten mit Ehrfurcht auf den jungen Menschen hin, der Alles so köstlich veranstaltet hatte. Und die Meisterinnen und die jungen Mädchen waren ganz entzückt, denn man war ihnen niemals sonst mit solcher Aufmerksamkeit begegnet. Jede hatte beim Eintreten in den Ballsaal ein Bouquet empfangen von einem Menschen, der eigens dazu an der Thür aufgestellt war.

Und wie ein Garten war der Ballsaal anzusehen mit all’ den Bouquets und den hübschen Mädchen, und manche Wange glühte und manches Auge strahlte heller.

Der Ludwig Preuß hat sich vom Vater gleich bei dessen Eintreten in den Saal erbeten, daß die Cläre heute Abend die Ballkönigin sein solle und daß er ihm erlaube, ihr Cavalier zu sein den ganzen Abend lang.

Meister Kleemann hatte ihn etwas verdutzt angesehen und mochte wohl nicht wissen, was das bedeuten solle: „ihr Cavalier“.

Die Frau Meisterin aber hatte es mit stolzem Selbstgefühl den anderen Frauen mitgetheilt, daß die Cläre mit keinem Andern heute tanzen dürfe, als mit dem fremden Mosje, der bei ihrem Manne das Schlosserhandwerk lerne, obwohl er es gar nicht nöthig habe; denn er sei eines reichen Vaters Sohn und besitze ein Haus in Berlin und ein Bauerngut in der Mark.

Natürlich hatten die Meisterinnen, die glückliche Besitzerinnen schöner Töchter waren, gleich gefragt: „ob der Mosje Ludwig Preuß verheirathet sei?“

Und darauf hatte die Frau Kleemann erwidert: „Das wisse sie nicht; um solche Dinge kümmere sie sich gar nicht und es ginge sie nichts an. Er sei ein sehr liebenswürdiger junger Mann, das sei Alles.“

Es war heiß im Ballsaal und man hatte deshalb nicht blos die Fenster geöffnet, sondern auch die Thür, die hinausführte in den Garten. Und in den Pausen gingen die Tänzer und Tänzerinnen zur Abkühlung hinunter in die frische Luft und wanderten miteinander auf und ab in den breiten Alleen des Gartens, ruhten auch wohl ein wenig in den dichten Lauben und schäkerten und lachten da, daß es frisch und fröhlich durch die Luft klang, frischer und melodischer zuweilen, als das Quieken der Stadtmusikanten, die zum Tanz aufspielten.

Am Arme ihres Tänzers, Ludwig Preuß, war auch die Cläre hinuntergegangen in den Garten. Droben im Ballsaal war sie heiter gewesen und ihr Antlitz hatte gestrahlt von unaussprechlicher Freude und seliger Lust. Aber jetzt, wie sie an seinem Arm die dunkle Allee hinunterging, da ward ihr so seltsam beklommen und das Wort erstarb ihr auf der Lippe.

Sie antwortete gar nicht und hatte es vielleicht gar nicht gehört, daß er sie eben fragte, ob sie nicht müde sei und nicht ein wenig ruhen wollte dort in der Laube.

„Habt Ihr mich nicht verstanden, schöne Cläre? Hört Ihr nicht auf mich?“

„Was sagt Ihr?“ fragte sie zusammenzuckend.

„Ich frage, ob’s Euch nicht gefällig sei, dort in der Laube ein wenig zu ruhen?“

Und er wandte, während er das fragte, die Schritte nach der Laube hin.

Aber Cläre blieb stehen. „Nein, ich bitte Euch, nein! Wenn die Mutter hier wäre, ging ich mit Euch, denn es muß dort schön und kühl sein. Aber nicht so allein. Ich mag’s nicht!“

„O Cläre, Du traust mir nicht und willst mir nicht erlauben, daß ich mit Dir –“

„O, ich bitt’ Euch,“ unterbrach sie ihn ängstlich, „nennt mich nicht Du. Wir stehen so nicht miteinander, daß Ihr das Recht dazu hättet.“

„Und warum nicht, Cläre, warum stehen wir nicht so miteinander?“ fragte er leise, sanft den Arm um ihren Nacken legend. „Nennt Dich Hans Werner nicht auch Du?“

„Das ist etwas ganz Anderes. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir kennen uns seit langer Zeit und dann –“

„Und dann –“ flüsterte er – „und dann war er Dein Bräutigam, nicht wahr? Derjenige, der Dich liebt, der hat das Recht, Dich Du zu nennen. Und meinst Du denn, Cläre, daß ich Dich nicht liebe? meinst Du denn –“

„O, hört nur,“ unterbrach sie ihn, „die Tanzmusik beginnt schon wieder. Laßt uns zum Tanz gehen. Es würde auffallen, wenn wir hier im Garten blieben und nicht hinein gingen, und ich möcht’ um die ganze Welt nicht, daß die Leute von mir Böses dächten und Schlechtes sprächen. Kommt.“

[434] Und wie ein gescheuchtes Reh flog sie zurück, die Allee hinunter nach dein Tanzsaal hin.

Er folgte ihr langsam nach und murmelte: „Reizend ist sie und lieblich, eine wahre Rosenknospe. Gott sei dafür und stehe mir bei, daß ich tapfer bleibe und gut! Sie soll den Augenblick im Paradies nicht mit dem Tode, auch nicht mit Thränen zahlen.“

Er bat sie nachher nicht wieder, hinunter zu kommen in den Garten, aber er blieb an ihrer Seite die ganze Nacht hindurch, schwenkte sich mit ihr im Tanz, bediente sie, als wäre sie seine Herrin.

Und all’ die Meister und Gesellen und Meisterinnen und Meisterstöchter sahen es, bewunderten die Höflichkeit des fremden jungen Mannes und mußten auch gestehen, daß Cläre es gar sittsamlich und fein und bescheiden von ihm annahm.

Der Morgen dämmerte schon, als die Gäste auseinander gingen, und alle kamen sie zum reichen Mosje Ludwig Preuß und bedankten sich bei ihm mit zierlichen Knixen und freuten sich und fanden es gar hübsch, daß ein so reicher junger Mensch das Schlosserhandwerk lerne und Nägel mache, der es gewißlich gar nicht nöthig habe. Sein Wesen gefiel ihnen ausbündig und auf dem Heimwege sprachen sie Alle davon und die jungen Mädchen flüsterten miteinander und sagten: „So Einen kriegen wir nimmer, so Einer ist nimmer bei uns gesehen worden. Und er sieht gar nicht so aus, als wäre er ein richtiger Schlossergeselle. Wir glauben’s nicht, wir glauben’s nicht, – wer weiß, was das für Einer ist! Aber schön ist er und liebenswürdig, und hübsch wäre es, wenn es Viele gäbe wie er.“

Meister Kleemann und seine Alte gingen müde und matt die Straße hinunter nach ihrer Wohnung, die ein wenig entfernt war, nahe dem Hauptthor. Ihnen voran flatterten die beiden jungen Leute wie lustige Tauben vor dem Venuswagen, Seite an Seite, Arm in Arm.

„Und sagt mir, Cläre, seid Ihr zufrieden gewesen mit dem Fest? und freut’s Euch, daß wir miteinander tanzten?“

„Es war ein schönes Fest, und ich danke Euch.“

„Weißt doch, Cläre, daß ich’s für Dich allein gegeben habe? Nein, für Euch allein, wollt’ ich sagen, denn ich hab’s wohl gemerkt, daß Ihr’s nicht mögt, wenn ich Euch ,Du’ nenne, und ich will gehorsam sein, damit Ihr seht, wie viel mir daran gelegen ist, daß Ihr mir gut seid.“

Sie antwortete nicht und blickte ernst und ängstlich in die Nacht hinaus und hinaus zu dem Himmel, an dem die Sterne verblichen waren und der sich zu röthen begann von der ausgehenden Sonne.

„Ich habe Euch doch nichts zu leid gethan?“ fragte sie dann ganz leise und schüchtern.

„Mir was zu leid, Cläre? Wie solltet Ihr’s und warum meint Ihr das?“

„Ich weiß nicht,“ flüsterte sie, „es ist so etwas in Eurem Ton, was anders ist, als wie es vorher gewesen. Es klingt so herb und Ihr habt auch die letzten Stunden mich nicht so freundlich und so gut angesehen, wie Ihr es vorher gethan. Ich habe Euch doch nicht weh gethan und nicht beleidigt.“

„Und wenn es wäre,“ sagte er, „was fragt die Cläre danach? Die Cläre hat ein hartes Herz und wenig kümmert sie’s, ob sie Andern wehe thut, Andern, die ihr so unaussprechlich gut sind und ihr Leben für sie lassen möchten. Sie ist Niemandem gut und lacht dazu, wenn sie Andern wehe thut.“

„Nein, wahrlich, nein!“ sagte sie heftig, „es würde mir leid thun, herzlich leid, wenn ich Euch zu nahe getreten wäre.“

„Ich glaub’s nicht, Cläre. Ihr habt ohne Erbarmen dem Hans Werner wehe gethan und werdet es auch mir thun. Seht mich jetzt ein wenig freundlich an, und morgen oder übermorgen heißt es auch von mir: wir passen nicht zu einander. Geht nur, geht. Ich frage nichts nach Euch. Ist’s nicht so, Cläre?“

Sie schwieg, aber er hörte, wie ihr Athem keuchend aus ihrer Brust hervorging, und die Hand, welche auf seinem Arm ruhte, zitterte so heftig, als wäre es ein Fieber, das sie schüttelte.

„So sprecht doch, Cläre. Sagt’s mir nur aus einmal: Ihr fragt nichts nach mir und ich kann gehen. Nicht wahr?“

„Nein,“ sagte sie ganz leise, „ich werde nimmer so zu Euch sprechen.“

„Nimmer so zu mir, wie zu Hans Werner? Warum denn nicht, süß Clärchen?“

„Ich weiß es selbst nicht,“ sagte sie angstvoll und beklommen. „Ich bin dem Hans Werner ja recht gut, aber das ist ganz etwas Anderes, und wenn er mich nicht heirathen wollt’, dann hätt’ ich nimmer ihm so grob und böse geschrieben. Aber seht, heirathen kann ich ihn nicht, denn ich liebe ihn nicht.“

„Weiß wohl,“ sagte er lächelnd, „Ihr habt es ja dem Hans geschrieben: Heirathen ist ein gar schnurrig und curioses Ding, und Ihr hättet noch keine Lust dazu und wolltet warten, bis daß der kommt, der Euch Lust macht. Seht Ihr wohl, Cläre, ich weiß genau, was in Eurem Briefe steht.“

„Der Haus hat ihn Euch lesen lassen?“

„Ja, ich habe ihm den Brief vorgelesen, denn Ihr wißt ja, der arme Teufel kann nicht lesen. Ach, Cläre, wie beneide ich den Mann, der Euch Lust machen wird, ihn zu heirathen! Aber ich denke, es wird nimmer so einen geben, oder meint Ihr doch?“

Die Cläre schwieg wieder und ging still beklommen an seiner Seite hin. Und er selber schien beklommen und sprach nichts zu ihr, bis er auf einmal hörte, daß sie leise weinte.

Da blieb er stehen.

„Cläre, warum weint Ihr? Und was ist es, das Euch traurig macht?“

„Ich weiß es nicht,“ flüsterte sie. „Ich bin traurig, weil Ihr anders gegen mich seid, nicht mehr so gut und freundlich. Und warum nennt Ihr mich nicht ,Du’, wie Ihr es gestern und heut Abend zu Anfang gethan? Es klingt abscheulich, wenn Ihr so mit ‚Ihr’ mich anredet.“

„Cläre, süße Cläre! Ich nenne Dich ,Du’, wenn Du mich auch so nennst!“

Und da schlang er seinen Arm um sie. Es war gut, daß sie eben in den Garten eingetreten waren, – fern von der Straße – in den kleinen Hausgarten, den sie durchschreiten mußten, um nach dem Hause zu gelangen.

„O Cläre, willst mich auch ,Du’ nennen?“

Er preßte sie fest an sein Herz und kaum der Abendwind hörte es, wie sie ganz leise antwortete:

„Ja, ich will auch Dich ,Du’ nennen!“

„Und willst Ludwig zu mir sagen? lieber Ludwig?“

„Ja, lieber Ludwig!“

Da knarrte die Gartenthür und Meister Kleemann und seine Frau traten ein, und – husch waren die Beiden auseinander, die beiden Tauben, und in das Haus hinein flatterte die Cläre. Und den beiden Alten wünschte der Ludwig Preuß sittsamlich „Gute Nacht“ und ging langsam dann nach dein Wirthshaus zu, in welchem er Wohnung genommen.




5. Vernunft und Liebe.

Am Morgen später ging die Cläre wieder hinunter in den Garten. Der Meister und die Meisterin waren noch nicht aus ihrer Schlafstube heruntergekommen, aber in der Schmiede ging es schon lustig her, nur der Ludwig Preuß war noch nicht da.

Der Altgeselle stand vor seinem Ambos und hämmerte, daß die Funken stoben. Und die Gesellen standen hinter ihm, und während sie hämmerten und Nägel schmiedeten, sprachen sie von dem Ballfest heute Nacht und zerbrachen sich den Kopf, ob der Ludwig Preuß wohl ein richtiger Schlossergesell sei.

Die Cläre hörte es in der Ferne, als sie so sprachen, und ging in die Laube mit ihrem Nähzeug. Es war ein Stück von ihrer Aussteuer, denn die Mutter hatte gesagt, die Aussteuer müsse so nach und nach fertig genäht werden, und dann würde die Cläre sich schon fügen und den Hans Werner heirathen.

Sie war gar nicht zu Bett gegangen, ihr Herz hatte es nicht gelitten, denn es schlug gar so unruhig, und gar manche Gedanken waren ihr durch das kleine Köpfchen gegangen und gar wunderliche Stimmen hatten in ihrem Herzen gesungen und geklungen, hatten gesungen: ,Ich liebe ihn! ich liebe ihn! O, wenn der mich heirathen wollte, ach, dann wäre es eine selige Lust und nimmer würde ich Nein dazu sagen. Ich liebe ihn! ich liebe ihn!’ Aber dann hatte ihr Köpfchen dagegen gesprochen und hatte gesagt: ,Thörichtes Kind, wie kannst Du ihn lieben, kennst ihn ja gar nicht; es wird wohl so ein toller Bursche sein, der von weit her kommt und sich ein Späßchen macht, gleich viel, ob die Cläre nachher dasitzt und weint und an ihn denkt. Sei vernünftig, Cläre! sei vernünftig!’

Sie hatte sich das immer wiederholt: ,Sei vernünftig, Cläre!’ und so oft es in ihrem Herzen schrie und jauchzte und jubelte: [435] ‚Ich liebe ihn, ich liebe ihn!’ da hatte sie diese süße Stimme immer wieder niedergedrückt mit den Worten: ,Sei vernünftig, Cläre, sei vernünftig!’

Und gewiß, das wollte sie, sie wollte recht vernünftig sein. Mit diesem festen Vorsatz war sie hinuntergegangen in den Garten, und den Ludwig Preuß wollte sie nimmermehr allein wieder sprechen, und das wollte sie ihm sagen, jetzt, wenn er käme, um in die Schmiede zu gehen. Er wird sicherlich zur Laube kommen und nachsehen, ob die Cläre da ist, und er soll nicht denken, daß sie hier sitzt und auf ihn wartet, sie ist es gewohnt in der Laube zu sitzen und achtet gar nicht darauf, was draußen vorgeht.

Das sagte sie Alles zu sich selber, während sie auf der Bank saß und eifrig nähte. Sie hatte sich so gesetzt, daß sie dem Eingang der Laube den Rücken zuwandte und nur auf ihre Näharbeit sah. Aber das Hören konnte sie sich nicht verbieten, und da hörte sie jetzt den raschen Schritt, der den Steg heraufkam, und hörte, wie er inne hielt neben der Laube.

„Guten Morgen, schön Clärchen.“

„Guten Morgen, Mosje Ludwig Preuß.“

Und sie stand auf und machte einen ehrbaren Knix.

Er aber lachte laut auf und reichte ihr beide Hände hin.

„Wie schön Du bist, Du süßes Lieb!“

Sie legte ihre Hände nicht in die seinen, sondern hielt sie krampfhaft ineinander geschlungen, als wollte die eine die andere halten, damit sie nicht ungestüm sich in die dargereichten Hände lege.

„Ich hab’ Euch etwas zu sagen, Mosje Ludwig Preuß,“ sprach sie hastig und athemlos.

Sein Gesicht ward ernst und traurig, er zog die Hände zurück und neigte das Haupt.

„Was ist es, Jungfer Cläre? Ich seh’ es wohl, Ihr wollt mir schon jetzt den Abschied geben und der Traum ist aus. Was habt Ihr mir zu sagen?“

„Daß es nicht so geht und daß ich sehr thöricht war, Euch diese Nacht zu bitten, mich so ,Du’ zu nennen. Es schickt sich nicht für eine ehrbare Bürgerstochter, und ich weiß ja gar nicht, ob Ihr nachher nicht über mich lacht und über mich spottet.“

„Nachher! Was meinst Du damit, Cläre?“

Er trat ein in die Laube, während er das fragte, drückte sie nieder auf die Bank und setzte sich neben sie.

„Nachher! Was meinst Du damit, Cläre? Wann sollte ich Dich verspotten, wann? nachher?“

„Dann, wann Ihr fortgeht von hier, wann Ihr es satt habt, mit der Cläre zu schäkern und zu lachen, dann –“

Sie konnte nicht weiter sprechen, denn er hatte seinen Arm um ihren Hals geschlungen und drückte sie an sich und drückte einen glühenden Kuß auf ihre Lippen.

Aus der Schmiede tönte es mit frischem Klang: tick, tack, und die Funken flogen und die Gesellen sprachen und lachten durcheinander. Aber in der Laube war es still und Cläre hat das Köpfchen an Ludwig’s Brust gelehnt und hörte ganz selig zu, wie er leise Worte in ihr Ohr flüsterte, und sie klangen so süß und so hold, wie das Flöten der Nachtigall, die nicht fern von ihnen im dichten Gebüsche saß.

Aber wie sie noch lauschte und selig war, da hörte sie auf einmal wieder die Stimme: ,Sei vernünftig, Cläre, sei vernünftig!’ Und die klang lauter als die andere: ,Ich liebe ihn, ich liebe ihn!’ – ,Sei vernünftig, Cläre!’

Da hob sie ihr Köpfchen empor und sah ihn an und ihre großen blauen Augen schienen ihm tief in die Seele zu blicken. Denn er verstummte auf einmal und es ging wie ein Schreck über sein Angesicht hin und seine Wangen übergoß eine tiefe Gluth.

„Möcht’ wissen,“ flüsterte sie ganz leise, immer noch die großen blauen Augen auf sein Gesicht geheftet, „möcht’ wissen, ob Ihr’s ehrlich meint.“

„Was heißt das, Cläre, ob ich’s ehrlich meine? Willst fragen, ob ich’s ehrlich sage, daß ich Dich liebe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Liebe mag ehrlich sein, aber ich meine noch etwas Anderes. Doch, wenn Ihr’s nicht wißt, was ich meine, dann laßt uns davon schweigen.“

Und es ward ihr auf einmal, wie sie das gesagt, ganz tapfer und lustig zu Muth. Die alte Cläre wachte wieder in ihr auf, die starke, muthige Cläre, die in ihr selber sprach: ,Sei vernünftig! sei vernünftig!’

„Hört, Mosje Ludwig Preuß, ich weiß nicht, wie Ihr so hier in der Laube sitzen könnt, da Ihr doch drinnen sein müßt in der Schmiede. Und wißt Ihr wohl: Ihr stört mich hier bei meiner Arbeit, die Mutter wird mit mir zanken, wenn ich nicht weiter damit bin; ich soll heute diese Handtücher alle fertig genäht haben, und Ihr thätet wirklich besser, wenn Ihr mich allein ließet und hinginget in die Schmiede zur Arbeit.“

Er sah sie an mit leuchtenden Augen, und sie gefiel ihm mit diesem trotzigen Gesicht, den glühenden Wangen und dem stolzen Blick noch prächtiger, als vorher mit dem zärtlichen Angesicht.

„O Cläre, Du bist ein prächtiges Mädchen, und ein Jammer ist es und ein rechtes Mißgeschick, daß –“

Er sagte ihr nichts weiter, sondern nickte ihr zu und sprang aus der Laube fort.

„Ich gehe und mache Nägel. Lebt wohl, und seid recht fleißig.“

Und da ging er in die Werkstatt, legte den Rock ab, griff nach der großen Zange und holte sich die Stange Eisen aus dem Feuer her. – Die Gesellen waren aufmerksam und zuvorkommend gegen ihn.

Der Lehrbursche machte sich eigens am Feuer zu thun, um ihm behülflich zu sein, und der Altgeselle machte respectvoll am großen Ambos Platz, weil man da am besten sehen konnte.

„Singt ein Lied, Burschen!“ rief Ludwig Preuß, indem er lustig auf das Eisen losschlug, daß die Funken sprühten, „singt mir ein Lied, Burschen! Ein lustiges Lied, recht etwas Tolles, Uebermüthiges! Und wenn’s hübsch ist, lad’ ich Euch dafür Alle heut’ Abend zum Bier ein in die Herberge.“

Sie stimmten ein Lied an und schrieen und schlugen mit ihren Hämmern den Tact dazu auf dem Ambos, daß es weithin schallte. Und das war eine Musik, so prächtig, daß sie Meister Kleemann hinauslockte aus der Stube, und da stand er in der Thür zur Schmiede, die Hände in die Seiten gestemmt und brüllte jetzt mit, so prächtig und so laut, daß der Ludwig Preuß vor Wonne laut aufjubelte und lachte und triumphirend dann dem Meister Kleemann die drei großen Brettnägel hinhielt, die er schon geschmiedet hatte. Sie wären wirklich sehr gut, und der Meister belobte ihn, obwohl die Spitzen ein wenig stumpf und der Kopf oben schief gehauen war. Doch es macht nichts, das Schmiedebandwerk ist ein gar schwieriges Handwerk, und es wäre schlimm, wenn so ein junger, hergelaufener Mosje es in ein paar Tagen lernen könnte, einen ordentlichen Brettnagel zu schmieden. – Es will Alles seine Zeit und seine Uebung haben und es hat Jedes seine Wissenschaft.

Aber zur Noth’, das mußte der Meister Kleemann schon gestehen, zur Noth konnte der Ludwig Preuß jetzt schon einen Brettnagel fabriciren, wenn auf seinem Bauerngut in der Schmiede Niemand anders da war.

„Wenn Ihr’s erlaubt,“ sagte Ludwig Preuß, als er sein halbes Dutzend Nägel wieder fertig hatte, „wenn Ihr’s erlaubt, Meister Kleemann, so hör’ ich jetzund auf, denn mir liegt die Nacht ein wenig in den Gliedern und die Arme sind heute ein bischen schwach.“

Der Meister nickte gravitätisch und lud ihn ein, an ihrem Mittagstisch heute Theil zu nehmen und mit ihm in den Garten zu kommen.

„Wer weiß, wie lange wir uns noch sehen, Mosje,“ sagte er, „denn ich denke mir, Er wird bald wieder fort gehen, und es kann sein, daß ich selber auch in diesen Tagen fort gehe. Habe Botschaft erhalten von meinem Schwiegersohn in spe aus Magdeburg. Es kann sein, ich gehe dahin, doch wir werden’s gleich hören: kommt mit mir in die Laube, da ist die Alte mit der Cläre.“

„Höre, Alter!“ rief die Meisterin aus der Laube den Ankommenden schon entgegen, „höre, Alter, die Cläre ist schon wieder obstinat!“

„Wie so denn? Was will sie denn?“ fragte der Alte rascher vorwärts eilend.

„Ich habe ihr gesagt, daß der Hans Werner einen Boten geschickt an seinen Vater, daß er krank liegt im Lazareth zu Magdeburg.“

„Und ich habe gesagt,“ rief die Cläre eifrig, „daß es mir recht leid thut um den Hans Werner, daß ich aber nicht dafür kann, daß er krank ist, und daß er ja seinen Vater hat, der sich um ihn bekümmern kann!“

„Und ich habe gesagt,“ rief die Mutter, „daß sein Vater unmöglich aus dem Geschäft jetzt fort kann, weil sein Altgeselle [436] krank ist, und da der Hans Werner keine Mutter und keine Schwester hat, so ist es natürlich, daß wir uns um ihn bekümmern müssen!“

„Gewiß ist es natürlich!“ bestätigte der Vater. „Wir wollen nach Magdeburg und ihn hierher abholen.“

„Ich nicht, Vater!“ rief Cläre, den Kopf stolz zurückwerfend. „Ich will nicht nach Magdeburg zum Hans Werner hin! – Es schickt sich nicht!“

Der Alte zuckte die Achseln. „Dummheit! Er ist Dein Bräutigam und wird bald Dein Mann sein.“

„Nein!“ rief sie heftig, „er ist weder mein Bräutigam, noch wird er jemals mein Mann werden! Er wird’s nimmermehr – ich liebe ihn nicht!“

Meister Kleemann lachte laut auf. „Hat man solche Dummheiten schon gehört? Liebst ihn nicht! – Wollt’s mir auch schön verbitten, daß Du ihn liebst. Das schickt sich auch gar nicht, daß ein anständiges Bürgermädchen den Mann liebt, den sie heirathen soll; das muß nachher kommen! Dazu ist’s noch lange Zeit, wenn Ihr verheirathet seid!“

„Nein, Meister, nein!“ sagte Ludwig Preuß in die Laube tretend, in welcher die beiden Alten neben Cläre Platz genommen hatten. „Seht, das versteht Ihr nicht und da seid Ihr in einem rechten Irrthum. – Die Liebe muß nicht nachher kommen, wenn man verheirathet ist, sie muß vorher da sein. Und sie muß so stark und so groß und so mächtig sein, daß sie alle Bedenken überwindet und daß sie die Herzen aneinander zwingt zum ewigen Bunde. Ihr würdet der Cläre ein großes Unrecht thun, wenn Ihr sie verheirathen wolltet mit dem Hans Werner, da sie Euch gesagt hat, daß sie ihn nicht liebt.“

„Ach, sie weiß gar nicht, was Liebe ist!“ rief Meister Kleemann unwirsch.

„Sagt lieber, Ihr wißt’s nicht!“ erwiderte Ludwig Preuß und ein Lächeln ging über sein Angesicht hin. „Euer Herz ist todt und kalt in der Brust, Meister Kleemann. Ihr habt die schönen Tage längst vergessen, da Ihr um Eure liebe Alte warbt. Vielleicht hattet Ihr immer ein stilles und sanftes Herz, und vielleicht hat Euch das Schicksal nicht die höchste und heiligste Offenbarung des Daseins vergönnt: vielleicht habt Ihr niemals geliebt! – Aber die Cläre, die hat ein großes, glühendes Menschenherz in ihrer keuschen, reinen Brust, und ein solches Herz versteht und weiß, was Liebe ist, wenn es auch nicht mit Worten davon sprechen kann. Sie weiß, daß Liebe so viel heißt, als: Ich will mein ganzes Leben hingeben für Den, welchen ich liebe. Ich will an nichts hangen und nach nichts bangen, als nach ihm allein! – Ich will zufrieden sein mit Armuth und mit Noth, wenn er’s mit mir theilen will. – Ich bin reich wie eine Königin, wenn er mich liebt! – Fragt einmal Jungfer Cläre: ob sie es nicht so in ihrer Brust empfindet und ob sie es nicht weiß, daß das Liebe ist?“

Die beiden Alten sahen ganz verwundert auf den Sprecher hin, und die Cläre hatte das Haupt zu ihm erhoben und schaute ihn an, als sähe sie eine Offenbarung Gottes, – so glänzend und so prächtig wie ein Engel erschien er ihr, und sie hätte ewig so unbeweglich dasitzen und seinen Worten lauschen mögen.

Eine Pause trat ein, und es war recht ein Glück für Alle, daß eben ein Mann rasch durch den Garten daher kam nach der Laube hin. Der Bäckermeister Werner war’s; er kam, um von seinem Sohn zu sprechen, und war so erfüllt von dem Gedanken, daß sein einziger Sohn daniederliege im Lazareth zu Magdeburg, daß er den fremden Gesellen, der neben der Laube stand, gar nicht gewahrte und, ohne ihn zu beachten und zu begrüßen, gleich das Gespräch mit dem Alten anfing über den kranken Sohn und wie ihm geholfen werden könne.

Ludwig Preuß benutzte die Gelegenheit und ging fort. Mit den Augen nur nahm er Abschied von der Cläre, die zu ihm hinblickte, während die Alten sprachen, mit den Augen grüßte er sie, wandte sich dann ab und verließ den kleinen Garten. Aber nicht nach der Schmiede begab er sich, sondern ging rasch durch die Straßen nach dem Wirthshaus, in welchem er eingekehrt war. Da ging er hinauf, ohne den freundschaftlichen Gruß des Wirthes, der vor der Thür stand und bei Seite trat, um ihn vorüberzulassen, weiter zu beachten, ging auf sein Zimmer und schloß sich ein.

Es wogte und stürmte in ihm von gar wundersamen Gedanken, und die leuchteten und blitzten und zürnten vor seinem Angesicht, wie er nun mit hastigen Schritten im stillen Gemach auf- und niederging.

Er horchte auf die Stimmen, die in seinem Innern sprachen. Trübe war sein Angesicht und trübe sah es in ihm selber aus.

„Ich that Unrecht!“ sagte er zu sich selber, „ach, was sind wir Menschen doch für Egoisten! Denken immer nur an uns selber allein. Und wenn wir die Last von unseren Schultern schütteln wollen, so fragen wir nicht danach, ob sie einem Andern auf den Kopf fällt und ihn zerschmettert. Die Langeweile wollte ich mir abschütteln, die bittere, schwere Last, und sollte nun ein Stein daraus werden, der das arme Herz der kleinen Cläre zertritt! Es wäre unrecht!“ rief er ganz laut, „freilich sehr unrecht, das Herz einer Königin ist nicht mehr werth, als das einer Bettlerin! Und das Herz der Cläre ist so unschuldig und rein, ist wie der Spiegel eines klaren Bächleins, in welchem der Himmel zurückstrahlt. O Du liebe, holdselige Cläre, ich wollt’, ich könnte Dein Egmont sein! Ich wollt’, Du könntest Dich entschließen, mein Liebchen zu sein und den Matten, Gequälten Abends in der Dämmerung zu erwarten, ihm die weichen Arme zu öffnen und ihn ausruhen zu lassen von aller Lebensnoth! O Cläre, liebe Cläre, ich wollt’, ich könnte Dein Egmont sein!“

„Und warum kann ich’s nicht?“ fragte er nach einer langen Pause, in welcher er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab gegangen war, „warum kann ich’s nicht sein? Ich liebe sie wirklich von ganzer Seele, dies holde, liebreizende Geschöpf! Wäre sie eine Fürstentochter, ich würde glücklich sein, sie zu meinem Weibe machen zu können. Wäre sie eine Gräfin, eine Baronin, ich würde zu ihr hintreten und ihr meine Hand anbieten und wär’s auch nur die linke, wenn die ehrsame Etiquette und das preußische Wappen mit den wilden Männern im Schilde es mir nicht erlauben würden, eine andere als eine sogenannte ,wilde Ehe’ einzugehen. Und wäre sie eine Gräfin oder Baronin, so würde sie vielleicht die linke Hand des preußischen Prinzen annehmen! Sie sind in unseren Zeiten nicht so schwierig. Aber sie ist eines ehrsamen Bürgers Tochter, und ich kann ihr nichts bieten, nichts, als mein Herz und ihre Schande! Denn für die braven Leute würde es eine Schande sein, wenn ihr einzig Kind die Liebste eines Mannes würde, der sie nicht heirathen kann, und wär’ er auch ein Prinz!“

„Aber Cläre liebt mich,“ fuhr er dann nach einer Pause fort, „ihr ganzes Wesen sehnt sich mir entgegen. Ich hab’s ! gesehen, wie sie erröthet, wie ihr Athem stockt, wenn sie mich nur von fern gewahrt; sie liebt mich, und vielleicht ist ihre Liebe groß genug, daß sie Alles verachtet, Alles hingiebt für mich!

Ich will sie fragen, ja ich will sie darum fragen! Sie allem soll entscheiden, sie soll sagen und bestimmen, ob ich gehen soll oder bleiben. Ja, ich will ihr Alles bekennen, und die Cläre soll entscheiden! Heute Abend gehe ich hin, und dann wollen wir sehen, was das Schicksal und die Liebe über mich beschlossen haben! Aber das schwöre ich mir selber,“ rief er dann mit lauter Stimme und hob die Rechte wie zum Schwur empor, „das schwöre ich mir, ich will nicht leichtsinnig spielen mit Menschenherzen und ich sag’s und ich wiederhole es: das Herz einer Königin ist nicht mehr werth, als das einer Bettlerin! Und nun, Ludwig, werde ruhig in dir selber, ruhig und besonnen und überlege, was du thun wirst!“

Er blieb in seinem Zimmer den ganzen Nachmittag, und allgemach ward’s still in ihm und sanft, und es klang in ihm wie holde fromme Melodien. Und wäre ein Clavier dagewesen, er würde seine Schmerzen und seinen Kampf ausgetobt und ausgeklungen haben in seinen Phantasien und das Instrument würde gesagt und geklagt haben, was tief in seiner Seele rang und weinte.

Der Wirth stand unten vor der Thür; er hörte auf einmal droben eine Männerstimme singen, so sanft und so traurig, und ein recht herzbrechend Lied schien es zu sein, denn er hörte zuweilen, als ob eine Menschenstimme in Thränen schluchzte: „Lebe wohl, ich seh’ Dich nimmermehr!“ Und so sehnsuchtsvoll und so schwermüthig klang es, daß es dem Wirth Thränen in die Augen trieb, und er dachte bei sich, der fremde Mosje hätte sicherlich in der Ferne irgendwo ein Liebchen, um das er weinte und klagte und nach dem er sich sehnte.




(Schluß folgt.)
[437]
Ohne Arme!
Von J. C. Lobe.

Es hat Personen gegeben, die mit den Fußzehen zu schreiben, zu sticken, ja zu malen vermochten. Der Gedanke jedoch, daß ein Mensch ohne Arme ein Violinvirtuose sein könne, ist wohl noch niemals in eines Sterblichen Kopf gekommen. Indeß haben wir vor Kurzem ein solches halbes Wunder in Leipzig gesehen.

Hermann Unthan.
Nach einer im Besitz der Gartenlaube befindlichen Originalphotographie.

Hermann Unterthan, der Sohn eines armen Dorfschullehrers zu Sommerfeld bei Elbing, führt mit seinen Füßen aus, was bis zu ihm nur mit den Händen zu vollbringen möglich schien. Auf einer Art Fußschemel, den Unthan selbst erfunden und vorgezeichnet, liegt die Violine. Vor denselben, auf einen gewöhnlichen Stuhl, setzt sich der junge Virtuos. Nun dreht er die Wirbel mit den Zehen des rechten Fußes und stimmt die Violine auf’s Reinste. Alsdann faßt er den Bogen zierlich und leicht mit der ersten und zweiten Zehe des linken Fußes und greift die Saiten durch Aufdrücken der Zehen des rechten Fußes.

Was er auf diese Weise ausführt, Piècen von Singélée, Meyerbeer, Berriot u. a. m., wenn es auch die rapiden Virtuosenkünste nicht erreicht, grenzt doch immer noch an das Wunderbare. Er trägt nicht allein langsame, gesangvolle Stellen, sondern auch ziemlich schnelle Passagen von den tiefsten bis in die höchsten Tonregionen, über alle vier Saiten gleitend, sauber und rein vor; er producirt Triller mit zwei Zehen so schnell und nett, wie der beste Virtuose mit zwei Fingern; er spielt ganze Reihen von Doppelgriffen in Terzen und Decimen. Was aber fast noch mehr sagen will, er trägt mit geläutertem Geschmack und vieler Empfindung vor, indem er alle Nüancen des Ausdrucks vom Pianissimo bis zu mittleren Stärkegraden in seiner Gewalt hat. Fügen wir hinzu, daß er das durchaus zu vermeiden weiß, was uns bei gar manchen sehr hochgerühmten Virtuosen auf Streichinstrumenten nicht selten peinigt und ihre ganze Spielfertigkeit werthlos macht – das ohrzerreißende Bogenkratzen – und bemerken wir endlich, daß der junge Mann, eben in das zwanzigste Jahr getreten, erst seit drei Jahren seine Kunst treibt, so wird man wohl zugeben, ein Phänomen der seltsamsten Art vor sich zu haben.

Aber – „Ach der Arme! Ohne Arme!“ so hörten wir eine junge Dame bei der Ankündigung des Concertes ausrufen; „das [438] muß ja ein erbarmungsvoller und ganz unästhetischer Anblick sein. Nein, das könnte ich nicht mit ansehen, da würde mir das Herz vor Mitleid zerspringen!“

Fürchten Sie nichts dergleichen, meine Schöne; Sie mögen zittern, wenn ein Mensch auf dünnem Seile zu schwindelnder Thurmeshöhe hinauf balancirt; Sie mögen schaudern, wenn der Thierwärter den Käfig seiner wilden Bestien betritt, sie mit der Peitsche schlägt, reizt und dann seinen Kopf in ihren Rachen steckt; Sie mögen bei dem Anblick der lebensgefährlichen Sprünge, Klettereien etc. der Kunstreiter, Seiltänzer, Seilschwenker etc. ein ängstliches Gefühl nicht los werden können, – bei dem Anblick unseres jungen Virtuosen, mit dem blühenden, heiteren Antlitz, dem intelligenten Blick, werden Sie weder einen ängstlichen, noch mitleidigen, noch unästhetischen Eindruck empfangen. Im Gegentheil haben wir nur angenehme Empfindungen und erhebende Gedanken bei seinen Productionen. Wir werden unwillkürlich auf die Betrachtung geführt, welche wunderbare Kräfte und Fähigkeiten in dem Menschen liegen, wovon er selbst keine Ahnung hat, bis ihn die Nothwendigkeit darauf führt, danach zu suchen, sie zu wecken und auszubilden. Wir müssen den für alle Lebensnöthen so trostvollen Gedanken fassen, wie ein empfindlicher Nachtheil durch Muth, Kraft und Beharrlichkeit in einen Vortheil, ein anscheinend sehr trauriges Geschick in ein heiteres umgewandelt werden können. Hermann Unthan ist kein bemitleidenswerther, er ist ein vollkommen zufriedener Mensch. Er ist glücklich durch den Gedanken, sich selbst geholfen, die scheinbare Hülflosigkeit, mit welcher er auf die Welt gekommen, vollständig überwunden zu haben. Den Mangel der Arme empfindet er nicht, denn er hat sie nie besessen. Seine Beine sind seine Arme, seine Füße sind seine Hände, seine Zehen sind seine Finger, und damit vollbringt er Alles, was andere Menschenkinder mit ihren Armen, Händern und Fingern thun. Er kleidet sich selbst an und aus, er wäscht und kämmt sich, er speist und trinkt etc. Seht ihn, wenn er in Gesellschaft seine Cigarre anbrennt, in den Mund bringt, dann seine Tasse Kaffee behaglich dazu schlürft, und ihr müßt recht aufpassen, wenn ihr bemerken sollt, daß er das Alles nicht mit den Armen, sondern mit den Beinen thut. Ja, er kann sogar unvorsichtig damit gebahren. In seinem dreizehnten Jahre ergriff er eine Flinte, die er für ungeladen hielt, um damit zu spielen, und schoß sich durch die linke Schulter. Der junge Mann ist lebens- und reiselustig und will womöglich die ganze Welt durchziehen, in Begleitung zweier sicherer und gewandter Führer, wovon der eine, immer vorauseilend, die Geschäfte, Wohnung, Concerte etc. besorgt. Möge ihn ein günstiges Geschick begleiten und ihm vor Allem volle Concertsäle verschaffen! Er verdient es, nebenher gesagt, auch durch sein liebevolles, kindliches Gemüth, indem er den Ueberschuß der Einnahmen regelmäßig seinen armen Eltern nach Hause sendet.




Aus meiner Vogelstube.
2.

„Beobachtung bildet überall; jedoch nur Der versteht und genießt die Natur recht, der in und mit ihr lebt.“ Dieser Ausspruch einer geistreichen Frau kam zur vollsten Geltung nicht allein bei der Einrichtung meiner Vogelstube, sondern auch bei der Verpflegung und ganzen Behandlung meiner Vögel. Denn wollte ich einerseits in der Zucht befriedigende Ergebnisse haben, wollte ich andererseits die Lebensweise aller dieser Vögel ersprießlich beobachten, so mußte ich, wie bereits angedeutet, die Verhältnisse, welche die Natur, wohlverstanden aber die tropische Natur ihrer Heimathsländer, ihnen bietet, möglichst treu nachzuahmen suchen. Zugleich mußte ich, außer der erwähnten freiwilligen Zähmung, die Vögel von vornherein so gewöhnen, daß mein häufiges und anhaltendes Verweilen in ihrer Nähe sie keinenfalls störte. Nach dieser kurzen Bemerkung sehen wir uns nun weiter in der Vogelstube um.

Ein immerfort frisch sprudelndes Gewässer feuchtet die Luft und verbreitet Kühle in der tropischen Temperatur, welche durchaus regelmäßig zwischen sechszehn bis zwanzig Grad Reaumur erhalten wird. Zahlreiche, sehr häufig frisch gefüllte und stets äußerst sauber gehaltene Trinkgeschirre, sowie mehrere geräumige und flache Badenäpfe schließen die Möglichkeit aus, daß auch die kleinsten und schwächsten der Gesellschaft nicht stets vollste Befriedigung fänden. Nicht minder reichlich ist dies sowohl in Hinsicht der Anzahl der Futtergefäße, als auch des mannigfaltigen Futters der Fall. Ein Gemisch aus zwei Theilen Hirse, einem halben Theil Canariensamen und je ein sechszehntel Theil Hanf, Rübsen, Mohn, Buchweizgrütze und geriebener Semmel wird trocken gegeben und zugleich allabendlich in ausreichender Menge eingeweicht, zum Quellfutter, welches für die Aufzucht der Jungen durchaus nothwendig ist. Angequellte Ameiseneier im Winter, frische im Sommer, eingeweichte Semmel, namentlich aber zu jeder Jahreszeit frisches Grünfutter (Vogelmiere, Salat oder Grünkohl), ferner stets frischer, trockener und sehr reiner Stubensand, sodann Kalk, am besten Sepia oder frische Hühnereierschalen, auch einige Talgstücke – das sind die Gesammtbedürfnisse, an denen es niemals fehlen darf.

In der einen Ecke des Zimmers, unweit des größten allgemeinen Futterplatzes, steht eine mächtige Tanne, von deren Zweigen dichte Epheuranken malerisch herabhängen, und das ganze, der vollen Mittagssonne ausgesetzte Fenster ist mit verschiedenen, sehr häufig erneuerten Blattgewächsen angefüllt. Denn dieser möglichst reichliche Pflanzenwuchs ist ja zur Luftverbesserung, bezüglich zur Erhaltung der Gesundheit der Vögel nothwendig. Für diesen letztern Zweck ist zugleich die regelmäßige Lüftung mit Hülfe eines Gazefensters ermöglicht, und ein ausgebuchtetes Drahtfenster dient dazu, daß die Vögel bei warmem Wetter sich beregnen lassen können.

Nicht blos in reichlichster Anzahl, sondern auch in größter Mannigfaltigkeit sind sodann die Nistgelegenheiten vorgerichtet. Sie bestehen in dichten Gebüschen verschiedener Art, in Nesthöhlungen und Nestkästen der mannigfachsten Einrichtung und Größe, namentlich aber in vielen und vom Fußboden bis zur Decke der recht hohen Stube hinauf in allen möglichen Variationen angebrachten und meistens mit Nestkörben versehenen Harzerbauerchen Als Nestmaterial werden alle diejenigen Stoffe ausgestreut, welche finkenartige Vögel zu lieben pflegen; doch haben einige ganz absonderliche Neigungen, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Lange und weiche Heufäden, Pferde- und außerdem Kuhhaare, weiche Federn, zarte Würzelchen, Grasbüschel, kurz zerschnittene Baumwollenfäden, Charpie, kleine Wattenflöckchen – das sind die passendsten Dinge zum Nestbau. Sehr beliebt und gesucht sind die dünnen Aestchen der Spargelsträucher, welche namentlich Astrilds und Fasänchen in großem Eifer selbst abpflücken, um daraus sehr niedliche Nester aufzubauen, und als ich kürzlich von Leipzig eine Kiste mit Büchern erhielt, die geleert vorläufig in die Vogelstube gestellt wurde, fiel die ganze Gesellschaft darüber her, um mit den dünnen und weichen Papierstreifen, welche zur Verpackung der Bücher gedient, ihre Nester zu überwölben oder auszupolstern.

Im Uebrigen habe ich bei der Einrichtung der Vogelstube es als die Hauptsache betrachtet, die Grundbedingungen des Wohlgedeihens aller hochorganisirten Thiere: Licht, frische, reine Luft, Wärme und Reinlichkeit, niemals außer Acht zu lassen.

Alle diese fremdländischen Vögel müssen bekanntlich eine entsetzlich trübselige, lange Seereise überstehen, auf der von Tausenden kaum ebenso viele Hunderte am Leben bleiben; Dank ihrer schmiegsamen und elastischen Natur erholen sie sich aber sehr schnell. Ich hatte mit Herrn W. Mieth, dem Besitzer der größten Vogelhandlung in Berlin, ein Abkommen getroffen, nach welchem ich zu ermäßigten Preisen stets die „schlechtesten“ der Ankömmlinge erhielt. Fast völlig federlos, über und über beschmutzt, lahm oder sonst krank, mit hängenden Flügeln, kurz und gut, größtentheils in fast hoffnungslosem Zustande gelangten sie in die Vogelstube; ohne Besinnen haben sie sich dann kopfüber in den Badenapf gestürzt, in erstaunlich kurzer Zeit haben sie sich herausgemustert, ein neues Gefieder bekommen, sich prächtig verfärbt und in wenigen Monaten, ja zuweilen in wenigen Wochen, zu nisten begonnen. Nur sehr wenige sind nachträglich den Reisebeschwerden erlegen.

[439] Erst allmählich entwickelte und ordnete sich gleichsam aus dem Chaos der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft ein regelmäßiges und charakteristisches Leben. Die ersten Prachtfinken, welche ich erhielt, waren je ein Pärchen Goldbrüstchen, Amaranthvögel, Tigerfinken, graue Astrilds, Gelbbäckchen, Silberfasänchen und Elsterchen. Sie hatten im Käfige sich aneinander gewöhnt und lebten sehr verträglich. Doch hier war es ganz anders, hier wollte nun Jedes die günstigste Nistgelegenheit, das beste Baumaterial etc. haben, und es begannen erbitterte Kämpfe. Auch die Sperlingspapageien eröffneten eine Fehde gegen die Wellensittiche, indem sie diese hartnäckig aus allen Bruthöhlungen jagten. Am übelstem in der Gesellschaft zeigten sich aber die Bandfinken, indem sie alle anderen nicht etwa bissen und verfolgten, sondern nur immer aus ihren Nestern verdrängten. Da mußte zunächst geschlichtet werden: die Wellensittiche und Bandfinken wurden je abgesondert in passende Käfige gesetzt und für die anderen wurden noch möglichst viele neue Nistgelegenheiten angebracht oder die alten günstiger aufgehängt.

Nicht lange - bereits mit dem Beginn des September - begannen die Elsterchen, Silberfasänchen und Bandfinken zu nisten. Diese drei sind unter allen diejenigen, welche am allerleichtesten zur Brut zu bringen sind; demnächst folgen in dieser Hinsicht die Goldbrüstchen, Amaranthvögel und Tigerfinken. Alle diese Astrilden, Kappenfinken, Streifenfinken etc., welche zusammen zu der großen Gemeinschaft der Webefinken gehören, bauen ziemlich gleichgestaltete, oben überwölbte, kugelförmige Nester, mit seitlichem Flugloch. Meine Freude war sehr groß, als in den beiden ersteren Nestern je vier, im letzteren gar fünf Eier sich befanden, allein sie sollte bitter vergällt werden, denn die ersteren Eier verschwanden auf räthselhafte Weise, und als die Bandfinken wirklich Junge hatten, wurden diese lebend aus dem Nest geworfen und kamen, trotz mehrmaligen Zurückbringens, elend um.

Da hieß es nun, die Augen offen zu haben, um die Ursachen dieser Unglücksfälle zu ergründen. Das widernatürliche Beginnen der Bandfinken wiederholte sich leider noch dreimal; ich wechselte das Weibchen, bot ihnen allerlei andere Nahrung, gehacktes Ei etc., doch Alles vergeblich, bis ich endlich das Männchen als den Thäter entdeckte und nun sofort gegen ein anderes vertauschte. Während dessen waren auch die Bruten der Goldbrüstchen und Amaranths zu Grunde gegangen. Endlich bemerkte ich, daß das Weibchen des Blutschnabelweber oder Dioch ganz heimlich und geräuschlos von Nest zu Nest schlüpfte und die Eier ausfraß. Obwohl ich, im Widerspruch mit den meisten anderen Beobachtern, selbst die Diochs durchaus friedlich in der Vogelgesellschaft gefunden hatte, so wurden jetzt doch sofort alle drei Weberfamilien, Diochs, „Orange“- und „Napoleonsvögel“ vorläufig abgeschafft.

In aller Stille hatten inzwischen, in der Mitte des Octobers, die Sperlingspapageien zu nisten begonnen; auch die Elsterchen, Silberfasänchen, Goldbrüstchen und Amaranths brüteten wieder anf’s Neue. Anfangs November flog wirklich die erste Brut der Elsterchen von vier Jungen glücklich aus; nebenbei sei bemerkt, daß diese ungemein leicht zu züchtenden Finken von vielen Vogelfreunden bereits oft und in großer Anzahl und sogar in ziemlich kleinen Käfigen mit Glück großgezogen worden sind. Aus den beiden anderen Bruten wurde nichts; bei der Untersuchung der Nester zeigten sich verdorbene Eier oder ganz kleine todte Junge, in denen der Silberfasänchen sogar acht Eier. Noch zwei Mal wiederholte sich dies, bis anhaltende Beobachtungen mich zu Erfahrungen und endlich immermehr zum Ziele führten.

Die Silberfasänchen waren zwei Weibchen, ein Uebelstand, der um so leichter eintreten kann, da bei vielen dieser Vögel, z. B. bei den malabarischen Silberfasänchen, welche fast gar nicht singen, die Geschlechter nur schwierig von einander zu unterscheiden sind. Den Amaranthvögeln fehlte, da draußen bereits fußhoch Schnee gefallen war, das für die Jungen nothwendige Grünfutter; nachdem ich mir dennoch Vogelmiere beschafft hatte, zogen sie die erste Brut von vier Jungen, mit der zweiten der Elsterchen zugleich, glücklich auf. Man bedenke nun aber, was dies besagen will, welche fast wunderbare Erscheinung uns darin entgegentritt - da in dieser Zeit, zu Ende des December, das Weibchen von des Abends halb fünf Uhr bis des Morgens um halb neun Uhr, also volle sechszehn Stunden, auf dem Neste sitzen und die Jungen aus dem Kropfe füttern muß, ohne Nahrung zu sich nehmen zu können!

Jetzt zeigten sich auch die ersten Jungen der Sperlingspapageien. Wer beschreibt unsern Schmerz, als das erste derselben von der Nisthöhle aus sofort mit dem Kopfe gegen das Fenster flog und sich tödtete! Es ist ausgestopft, zum Andenken an unsere erste Papageienzucht; das Fenster ist seitdem aber mit einem starken Netz überzogen. Doch wir wurden getröstet, denn noch zwei andere Junge, und glücklicher Weise ein Pärchen, kamen zum Vorschein.

Sonderbare und leider nicht erfreuliche Erfahrungen machte ich mit den Goldbrüstchen. Diese unendlich zierlichen Vögelchen nisteten fast am frühesten von allen – ohne jedoch jemals wirklich eine Brut glücklich zu erziehen. Um ein sicheres Urtheil zu gewinnen, schaffte ich drei Paare an, und nach einigen hitzigen Kämpfen beruhigten sie sich und haben alle drei fast fünf Monate hindurch ununterbrochen genistet. Ich besitze von ihnen zahlreiche Eier und Junge, letztere in Spiritus, vom Ausschlüpfen aus dem Ei bis zur vollen Befiederung in allen Stadien. Dennoch gab ich die Versuche nicht auf; und nachdem ich ihnen alle nur möglichen Futterarten, außer feingehacktem Hühnerei noch verschiedene Gemische, geriebene Möhren, frischen Käse etc. vergeblich geboten, erhielt ich zufällig ganz kleine frische Ameiseneier - und seitdem haben meine ersten Goldbrüstchen, die sieben Mal (!) vergeblich genistet, eine Brut von fünf Jungen zum Ausfliegen gebracht.

Die erste Brut fast aller dieser Vögel geht regelmäßig zu Grunde; so auch die der Tigerfinken, Astrilds, Fasänchen etc., und ich besitze daher schon eine Sammlung von Eiern exotischer Finken, wie sie wohl kaum eine andere Privatperson aufzuweisen hat. Seitdem ich indeß mit den kleinen frischen Ameiseneiern und dabei mit stets frischer, weicher Vogelmiere füttere, haben ein Paar der so sehr zarten Schmetterlingsfinken sogar ihre ersten Jungen glücklich erzogen, ferner sind seitdem ebenfalls Bruten groß geworden von den Bandvögeln, von zwei Paar Tigerfinken und einem Paar Astrilds, und die der Helenafasänchen und der Orangebäckchen sind soeben dem Flüggewerden nahe. -

Außerordentlich interessante Beobachtungen gewähren die so sehr verschiedenen Gewohnheiten dieser lieblichen Vögel; die Neigungen und Feindschaften der einzelnen Arten gegen einander, die unendlich innige Zärtlichkeit eines Gatten gegen den andern, ihre Liebesspiele, der trotz mancher Uebereinstimmung doch sehr verschiedenartige Nestbau, wie die verschiedene, jedoch bei jeder Art stets gleiche Wahl des Nistorts und Baumaterials, ferner die hitzigen, aber stets unschädlichen Kämpfe der Männchen, das Erziehen der Jungen, die Verfärbung des Gefieders und vieles Andere. Kurz, es bietet sich hier dem Thier- und Naturfreunde eine ganz neue Welt, voller Erscheinungen, die zu den anmuthigsten und anregendsten gehören, welche uns das Thierleben gewähren kann.

Ein Pärchen der grauen Edelfinken (der berühmte Reisende Heuglin theilt in Cabanis’ „Journal für Ornithologie“ mit, daß er sie in Sennaar, namentlich um Qualabat, am Atbara und Dender und im Gebiet des Gazellenflusses heimisch gefunden hat) begann ebenfalls zu nisten. Sie bauten, im Gegensatz zu allen Astrilden, ein offenes muldenförmiges Nest; und nicht allein der herrliche Gesang des Männchens während der Liebeszeit, sondern auch das gegeneinander so innig zärtliche und gegen mich so zutrauliche Benehmen dieser Vögelchen gewann ihnen mein ganzes Herz. Doch – das Weibchen starb vor dem Beginn der Brut. Es ist, nebenbei bemerkt, überhaupt ein sehr großer Uebelstand, daß vor oder während der Brut die Weibchen aller dieser Finken so gar leicht sterben. Beim Untersuchen des Nestes fand ich ein bereits früher gelegtes Ei. Dagegen hat der zweite graue Edelfink, dessen Weibchen mir auf der Reise von Paris hierher gestorben war, mit einem Canarienweibchen genistet und zum ersten Male ein Junges glücklich großgezogen. Dieser Bastard wird gewiß das Interesse aller Vogelliebhaber in hohem Grade erregen; seine Mutter brütet soeben zum zweiten Male auf vier Eiern, und sobald diese Brut ebenfalls vollendet ist, will ich Weiteres darüber veröffentlichen.

Wenn ich meine Erfolge im Ganzen überblicke, so muß ich mir freilich sagen, daß dieselben - im Verhältniß zu Mühe und Kosten und im Verhältniß zu den Aussichten, die sich bereits gezeigt - außerordentlich gering sind. Dennoch sind sie dazu vollkommen ausreichend, daß sie mich zu bedeutend erweiterter Fortsetzung der Züchtungsversuche ermuthigen. Bis jetzt habe ich also von den Sperlingspapageien, Elsterchen, Amaranthvögeln, Tigerfinken, Goldbrüstchen, Bandfinken und Schmetterlingsfinken flügge Bruten erstehen [440] sehen. Dies sind im engen Raume einer Stube Züchtungserfolge, wie man sie theils in Europa noch gar nicht, theils erst in Frankreich (besonders Veuillot) und in Holland in Gewächshäusern oder anderen großartigen Anstalten erzielt hat. Dazu brüten augenblicklich, obwohl bereits in der Mitte des Juni, noch je ein oder zwei Pärchen Astrilds, Schönbürzel, gewöhnliche und malabarische Silberfasänchen, und Muskatvögel; von den vorhin genannten befinden sich ebenfalls noch einige in neuen Bruten und die Sperlingspapageien rüsten sich sogar schon zum vierten Male. Allen Anzeichen nach beginnen in diesen Tagen auch die Tropfenfinken oder Diamantvögel, ein Paar Hartlaubszeisige und sogar ein Paar Inseparables zu nisten. Außer der Bastardzucht des grauen Edelfinken hoffe ich auch den sonderbaren dunkelblauen Indigovogel, ebenfalls mit einem Canarienweibchen, zur Zucht zu bekommen; der gemeinsame Nestbau hat wenigstens schon begonnen. Somit sind aus der in den letzten Wochen bis viel über hundert Köpfe angewachsenen Gesellschaft nur wenige Paare, wie die Atlasvögel, beide Wittwenpärchen, die weißköpfigen Nonnen (Maja aus Ost- und Südindien), Korellas und wenige andere, ganz unthätig verblieben. Da diese jedoch theils erst seit kurzer Zeit meine Vogelstube bewohnen, theils die Nistzeit ihrer Heimathländer hier noch nicht erlebt haben, da zugleich einige von ihnen bereits anderwärts in der Gefangenschaft genistet haben, – so darf ich bereits jetzt die feste Ueberzeugung aussprechen: daß alle die in meinem Besitz befindlichen, bis hierher genannten Finken- und Papageienearten ohne Ausnahme sich bei uns züchten lassen werden.

Mit den bisher mitgetheilten Ergebnissen war die Aufgabe meiner Vogelstube jedoch nur zum Theil gelöst; für die im ersten Artikel erörterten Ziele war damit doch noch gar wenig geschehen. Darum begann ich nun auch sofort mit der eigentlichen Zucht für die Wohnstube, das heißt mit Versuchen, durch welche ich dieselben Vögel bei gewöhnlicher Stubentemperatur, in nur mäßig großen gewöhnlichen Heckkäfigen, bei möglichst vereinfachtem Futter und in der Jahreszeit unseres Frühlings zu züchten beabsichtigte. Damit erst würden sie dem Canarienvogel als beliebte Stubengenossen gleichkommen können. Natürlich wählte ich für diese Versuche die in meiner Vogelstube erwachsenen Jungen und zwar vorläufig von den Sperlingspapageien, Amaranthvögeln und Elsterchen und werde die Tigerfinken und alle übrigen, die in der Vogelstube erwachsen, folgen lassen.

Diese Versuche sind noch viel zu jung, als daß ich schon etwas Sicheres darüber veröffentlichen könnte. Dennoch bin ich schon jetzt davon überzeugt: daß sich, in der angegebenen Weise, die Sperlingspapageien zweifellos als herzige, in jeder Hinsicht liebenswürdige Stubenvögel völlig einbürgern lassen werden. Auch von den Amaranths glaube ich dies bestimmt. Zuverlässige Mittheilungen hierüber muß ich mir jedoch für später vorbehalten.

Karl Ruß.





Meister Hans.

Blätter aus einem zugeklappten Buch.

Es war, glaube ich, im Jahre 1854, als eine Landsmännin des unlängst verstorbenen österreichischen Bildhauers Hans Gasser, dem die Kunst außer vielen anderen bedeutenden Statuen und plastischen Gruppen die in Weimar errichtete Wielandstatue verdankt, mich zum ersten Mal in sein Atelier führte. Auf Bestellung gearbeitete, eben fertig gewordene Portraitbüsten besichtigend, waren mehrere Personen anwesend. Wir wechselten nur wenige Worte mit dem Künstler, doch konnte ich nicht umhin, der scharf ausgeprägten Eigenthümlichkeit seiner Erscheinung und seines Benehmens eine neugierige, verwunderte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Hans Gasser wurde zu den bedeutendsten Künstlern Oesterreichs gerechnet, und auch im Auslande hatte sein Name einen guten Klang. Die Wielandstatue in Weimar, Statuen im Karltheater und im neuen Arsenal in Wien, die Büste der vielberühmten, früh verstorbenen Schauspielerin Viereck und viele andere Arbeiten legten Zeugniß ab von der seelenvollen Innigkeit seines Denkens und von der gewissenhaften Sauberkeit seiner technischen Ausarbeitung. Wie viele Jahre, deren fieberhafte Kämpfe ausführlich zu schildern er nicht Lust und nicht Zeit hatte, wie viele schwere Jahre mußten an ihm vorbeigegangen sein, ehe der arme Bauernbursche aus Kärnthen es so weit bringen konnte! Die Berührung mit dem Stande, dem er entwachsen war, mußte in der langen, langen Zeit nothwendiger Weise in dem Maße aufgehört haben, in dem seine Thätigkeit ihn mehr und mehr den höheren, den höchsten Gesellschaftskreisen näher brachte. Dennoch hat er Zeit seines Lebens von den äußeren Gewohnheiten, von den Sitten und Manieren dieser Kreise nicht das Mindeste sich angeeignet. Wie man sich bei dieser und jener Gelegenheit kleidet, wie man sich gegen Diesen, wie gegen Jenen verbeugt, in welcher Form man mit dem Einen oder dem Andern redet, wie und wann man kommt und wieder geht, sich setzt, spricht, schweigt, lächelt, ernsthaft ist – von Alledem wußte Hans Gasser nichts. Die ganze Stufenleiter äußerlicher Verfeinerung, auf deren Gipfelpunkt der vollendete Cavalier und die vollendete Weltdame stehen, war ihm völlig unbekannt.

In einem Arbeitskittel von grauer Leinwand steckte er, wenn er zu Hause war; eine schwarze Alltagsblouse, eine schwarze Sonntagsblouse – er nannte natürlich alles Kittel – und der Hut seiner Großmutter[1] (sein Sonnen- und Regenschirm zugleich) bildeten seine Tracht außer dem Hause. Wenn ein rothseidenes Halstuch, unter einen reinen Hemdkragen geknüpft, an ihm zu sehen war, wenn sein langes braunes Haar und sein langer Bart, auf den er große Stücke hielt, staublos und seine Hände ganz rein gewaschen waren, dann hatte Hans Gasser Alles geleistet, was er in dieser Richtung zu leisten vermochte.

Was seinen Gruß betrifft, so war es seine immer gleiche Art, wenn Fremde zu ihm kamen, sich von der Arbeit ab- mit einem ernsthaften, fragenden Blicke, von einem kaum merklichen Neigen des Hauptes begleitet, ihnen zuzuwenden und zu warten, bis sie ihn anredeten. Wollten sie sein Atelier besichtigen, so ließ er sie herumgehen, ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen; doch hörte er mit scharfem Ohr auf kunstgerechte Bemerkungen, und nur solche veranlaßten ihn manchmal, mit dem, der sie geäußert, ein Gespräch anzuknüpfen. Uebrigens kam das, wie er uns selbst[WS 1] mitgetheilt, selten vor.

„Die Wiener leben zu gut und lernen zu wenig,“ pflegte er zu sagen. Waren es Bekannte, liebe Bekannte, Freunde, die ihn besuchten, dann sagte er „Grüeß Gott!“ und streckte ihnen die Hand, wohl auch beide Hände entgegen, in welch’ letzterem Falle er dann wohl Meißel oder Maßstab, zuweilen Beides zwischen die Zähne faßte, bis er mit der Begrüßung fertig war. Im Uebrigen kümmerte er sich auch um die liebsten Bekannten nicht weiter, wenn er eben recht in der Arbeit war.

Verbinden wir also mit dem Worte Bauer den Begriff der Unkenntniß oder Nichtbeachtung aller üblichen Lebensformen, dann war Hans Gasser, der liebe, gute, „lange Hans“, wie wir ihn unter uns mit aller Innigkeit zu nennen pflegten, ein Bauer durch und durch. Wollte man aber das gemein Unmanierliche, das grob Derbe und andererseits wieder scheu Zurückhaltende oder gar Duckmäuserische darunter verstehen, dann paßte nichts so wenig auf den unbefangenen, offenen, naiv rückhaltslosen Mann wie eben dieses Wort. In der Haltung, in dem Benehmen, in der Sprache, in der ganzen Art, wie Gasser sich gab und was er war, lag so viel natürliche Würde, so viel von jenem ursprünglichen Adel, den weder Geburt noch Erziehung geben können, daß man das, was er nicht war, nicht vermißte.

Zur Zeit, wo wir, d. h. meine Mutter, meine Freundin Auguste und ich, den Künstler näher kennen lernten, häuften sich ihm die Arbeitsbestellungen.

Die Kärnthner Stände unterhandelten wegen einer heiligen

[441] Elisabeth, die sie der jungen Kaiserin für ihren Betstuhl zum Geschenk machen wollten. Bald darauf sollte er für die Westbahngesellschaft das überlebensgroße Standbild der Kaiserin anfertigen, das jetzt den großen Wartesaal im Bahnhofgebäude schmückt.

Wir wußten von der Bestellung der heiligen Elisabeth und hatten den Meister lange nicht bei uns gesehen, als eines Tages sein langer Schatten in das Fenster fiel, an dem meine Mutter, immer fleißig arbeitend, zu sitzen pflegte. Wir freuten uns, ihn zu sehen, und sagten es ihm auf’s Freundlichste, merkten aber bald, daß er in sich gekehrt war.

„Ihre Gedanken sind nicht bei uns, lieber Gasser!“ bemerkte ich.

„Sind überall und nirgends,“ sagte er. „Ich suche und finde nicht!“

„Was suchen Sie?“ frug meine Mutter.

„Eine fromme Hand,“ entgegnete er.

Wir sahen ihn verwundert an.

„Wie schade, daß die Frau Mutter zu alt ist!“ sagte er, ohne unser Erstaunen zu bemerken., „Sie würden sie mir doch gewiß geben, nicht wahr?“

„Wir verstehen Sie nicht, Meister Hans,“ antwortete ich an meiner Mutter Stelle, die gar nicht begriff, um was es sich handelte.

„So? Habe ich denn nicht gesagt, daß mein Elisabethmodell fertig ist und daß die Herren nächstens kommen wollen, um es anzusehen?“

„Nein, davon haben Sie nichts gesagt. Aber was weiter?“

„Was weiter? Das Modell hat keine Hände, und die Hände sind eben hier die Hauptsache! Verstehen Sie jetzt?“

„Halb und halb,“ meinte ich. „Sie werden in Wien, wo es so viel schöne Mädchen und Frauen in allen Ständen giebt, doch zwei schöne Hände finden –“

Er ließ mich nicht ausreden.

„Schöne Hände – ja – zu schöne sogar! Aber fromme Hände! das ist selten – äußerst selten.“

Der Ausdruck war mir so neu, daß ich noch immer nicht an dessen Ernsthaftigkeit glaubte. Er merkte es und sagte:

„Die Hände haben so gut ihren Charakter wie das Gesicht. Von der üppigen Hand, welche das Auge reizt, bis zu der frommen Hand, die das Gemüth bewegt, giebt es gar viele Abstufungen, die von der Weisheit Gottes zeugen.“

„Sie sind schon ein einziger Mensch, Gasser,“ rief ich seelenvergnügt, „und dafür sollen Sie auch Ihre Hand haben. Warten Sie nur ein wenig!“

Er sah mich ungläubig an. Bald darauf hörte ich Augusten, die im anstoßenden Zimmer geruht hatte, sich bewegen. Ich rief hinein, daß Meister Gasser da sei, woraus sie auch bald eintrat. Ich hatte mich nicht geirrt: ihre Hände, diese beinahe zu schmalen, durchsichtig weißen Hände mit den feinen Fingern, die zu beben anfingen, wenn sie etwas festhalten sollten, paßten, wie der Meister es sich nicht besser wünschen konnte. Er fing gleich zu zeichnen an, und schon am nächsten Tage sollte Auguste ihm in seinem Atelier zur ersten Probe sitzen. Da mehrere Sitzungen dieser ersten folgten, begleitete ich meine liebe Freundin manchmal dahin.

An einem solchen Tage, wo er bereits im Stein arbeitete, sprach ich nach langem, unverwandtem Zusehen meine Bewunderung der Bildhauerkunst in Worten aus.

„Der Streit, welcher unter den schönen Künsten der Vorrang gebührt, wird wohl nie entschieden werden,“ sagte ich, „aber, wie ich Ihnen so bei der Arbeit zusehe, Meister Hans, scheint es mir, als ob Ihre Kunst die unbegreiflichste, die schwierigste wäre. Der Baumeister fügt Stein zum Stein, wenn er schafft; der Maler Farbe zur Farbe, der Musiker Ton zum Ton, der Dichter Wort zum Wort. Der Bildhauer aber muß zerstören, um zu schaffen! Er, von dem das, erhabenste Ebenmaß, die edelsten Linien gefordert werden, muß durch Zerstörung zum Ideal des Schönen gelangen.“

Gasser hörte ruhig zu und sagte dann, die Augen fest auf den Marmor gerichtet, aus dem er die heilige Elisabeth herausarbeitete:

„Das Bild ist ja drin, ich brauche nur die Umhüllung wegzunehmen.“

Wie wir den schlichten Mann im grauen Leinwandkittel anstaunten, wir Kinder der feinen, vornehmen Welt! Wie glücklich wir uns priesen, daß uns der Sinn für seine Höhe nicht verloren gegangen war, daß wir sein echtes Künstlerwort in unsere bewegten Herzen aufnehmen und darin bewahren konnten, gleich wie wir die Erinnerung an ihn für alle Zeit darin bewahren werden!

Die obenerwähnte Landsmännin Hans Gasser’s, welche unser erstes Bekanntwerden mit ihm vermittelte, ist unzertrennlich mit unserer Erinnerung an ihn verflochten. Wir wollen sie in diesen kleinen Mittheilungen als Caroline B. bezeichnen. Immer eifrig bemüht, ihren hilfsbedürftigen Mitmenschen, insonders ihren Landsleuten, wo und wie es ging, durch Rath und That beizustehen, interessirte sich Caroline auch für Hans Gasser zu einer Zeit, wo noch Berge von Hindernissen in seinem Wege lagen, wo er als unbekannter Handlanger eines nicht minder unbekannten Grabsteinschneiders noch keinen Maßstab für die Kunst, noch keinen für das eigene können hatte, wo dem den lieben langen Tag um Brod und Obdach Ringenden bei Nacht zu Muthe war, „als ob ihm die Welt den Brustkasten eindrückte“.

Caroline B. benutzte ihre ausgebreiteten Bekanntschaften in den verschiedensten Gesellschaftskreisen, um den armen Burschen in aller Stille unausgesetzt zu fördern, bis er endlich nach München gehen und dort noch tüchtig darben – aber auch tüchtig lernen konnte. Als er nach Wien zurückkehrte, war wieder sie es, die ihm die ersten Bestellungen zu verschaffen wußte, an die sich nach und nach mehrere reihten, bis endlich die Werke für den Meister sprachen und er des Anpreisens nicht mehr bedurfte. Dann freute sich die Edle wie eine Mutter über den Sohn, wie eine ältere Schwester über den Bruder, wenn sie das Gedeihen sah, an dem sie so unablässig mitgearbeitet hatte; es ängstigte sie aber auch Alles, was das Emporkommen des Meisters in materieller Beziehung gefährden konnte. –

Hans Gasser hatte keine Zeit und keinen Hang, sich irgend einer anderen Leidenschaft, als der für seine Kunst, hinzugeben.

An die weiten, kellerartig kühlen Räume seines Ateliers stieß eine Kammer, in der zwischen altem Gerümpel ein Feldbett, ein Stuhl und ein Tisch standen. Eine grobe Wolldecke verhüllte das Bett, eine Waschschüssel stand auf dem Stuhle, Zeichnungen, Bleistifte, Meißel, Grabstichel und das Nibelungenlied lagen auf dem Tische. Ein kleiner Mauerschrank enthielt nebst dem ganzen Toilettebedarf des Meisters ein Brod, von dem er hastig ein Stück abschnitt, um seinen Hunger zu stillen, wenn er die Mittagsstunde in dem nächsten Speisehause versäumt hatte, und eine Flasche Lacrimä Christi, aus der er einen raschen Zug that, um sich zu erwärmen, wenn seine Hände so kalt waren, daß er sein Werkzeug nicht mehr halten konnte. Ein Eichhörnchen, das er einmal aus dem Walde heimgebracht hatte, wo er es halb erstarrt vorgefunden, und die Milchschüssel des niedlichen Thierchens, das bald zwischen den Büsten und Statuen an den Wänden, bald auf der Achsel seines Retters Quartier nahm und sich dann allerlei Freiheiten mit seinem Bart erlaubte, vervollständigten den Hausrath des originellen Mannes. Der dicke, rothwangige Geselle, der einzige, den er damals hatte und der unter seiner – ich glaube, sehr nachsichtigen – Aufsicht aus dem Groben herausarbeitete, lebte ohne Zweifel besser, als sein Herr. Der gutmüthige Bursche erzählte uns manchmal, „daß er den Herrn heut’ wieder vergeblich daran erinnert habe, zum Mittagessen zu gehen.“

„Er gönnt seinem eigenen Leibe nichts, sieht aus wie die sieben mageren Jahre’ und steckt das Geld in den alten Moder,“ jammerte die gute Caroline B., als Gasser uns zum ersten Male in diese Kammer, „in seine Schatzkammer“ führte und mit unsäglichem, sein ernstes Gesicht verklärendem Behagen die Gegenstände vor uns ausbreitete, die ich weiter oben - o Schatten des edlen Meisters, verzeih’ mir! – in den schnöden Ausdruck „altes Gerümpel“ zusammengefaßt habe.

Größere und kleinere, von Motten und Mäusen zernagte Stücke uralter Gobelins, altdeutscher Kirchenteppiche, vergilbte Altarspitzen, vom Zahn der Zeit und von Holzwürmern halb zerfressene Holzstücke, die einst Pulte, Kelche, Schemel und dergleichen vorstellten, lieferten das zahlreichste Contingent zu dem Steckenpferde unseres Freundes. Auf dieses bezieht sich ausschließlich mein obiges schnödes Wort. Denn, obgleich wir im Princip gegen alle derartigen Ankäufe stimmten, konnten wir doch nicht umhin, den wundersam anziehenden Altarstücken und Holzbasreliefs, Scenen der Anbetung und der Leidensgeschichte Christi darstellend, unseren Tribut an Lob, ja an Ekstase darzubringen. Das bei weitem [442] Liebste an der Sache war und blieb uns jedoch die sinnige Art, mit welcher der Meister sich in die kindliche Reinheit jener ersten Kunstbestrebungen vertiefte. Alles, was damit zusammenhing, packte und bewegte ihn, und wir konnten bei dieser Gelegenheit bemerken, daß er jede freie Stunde dem Studium der altdeutschen Geschichte und Poesie, des alten Kirchenwesens und der ihm dienenden Kunstentfaltungen widmete. Meines Wissens hat das Griechenthum ihn kalt gelassen. Er äußerte sich wenigstens zum öftersten dahin, daß im deutschen Geiste, nach allen Seiten hin, das Höchste, das Beste, das Schönste verborgen liege, daß er allein bestimmt ist, als Führer auf allen Wegen zu dienen. Entwürfe zu Nibelungen-Gruppen beschäftigten sein tiefstes Denken, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß dem Meister die Gestalt Volker’s vorschwebte, als er die vielleicht zu wenig bewunderte, weil zu wenig bekannte Gestalt des Hammerschmiedes, eine seiner Arsenal-Statuen, meißelte. –

Während einer Pause, die Gasser nothgedrungen in seinen Arbeiten machen mußte, weil die Blöcke, die er erwartete, sich verspäteten, kam er öfters zu uns, und wenn er einmal da war, vergaß er leicht das Fortgehen. So fand ich ihn einmal, als ich kurz vor Tische von einem Ausgange heim kam, vor meiner Mutter sitzend und eifrig erzählend.

„Wollen Sie einen Löffel Suppe mit uns essen?“ sagte ich.

„Suppe?“ antwortete er, rasch aufstehend. „Ich esse keine Suppe.“

„Nun, nun,“ sagte ich lächelnd, „das ist so eine Redensart, wenn man Jemand einladet, ohne sich vorher auf einen Gast eingerichtet zu haben.“

„Sie machen also auch Redensarten!“ brummte er, sich den Bart zausend. „Wozu nur das gut ist? Die Frau Mutter macht keine Redensarten.“

„Ich bin schon zu alt,“ schaltete meine Mutter mit sanfter Stimme ein. „Ich rede überhaupt nicht.“

„Caroline B. macht auch keine Redensarten,“ bemerkte er dagegen. Es war schwer, ihn von einem Gegenstande abzubringen, der seine Gedanken, ob angenehm, ob unangenehm, beschäftigte. Wir saßen schon bei Tische, Auguste sprach von der Madonna mit dem Kinde, die er ihr vor Kurzem geschenkt hatte, und ich frug ihn, wieso er ihr seine Madonna und mir seine schöne Flußnymphe zugedacht habe, als er mit demselben brummigen Tone von vorhin murmelte: „Wo die Leute nur die Zeit hernehmen?“

„Die Zeit wozu, Meister Hans?“ fragte Auguste.

„Nun, zum Redensarten machen.“

Wir mußten herzlich lachen, und ich sagte, indem ich ein schönes Stück Fleisch auf seinen Teller legte: „Sie sind furchtbar eigensinnig, Meister Hans!“

„Ja, das bin ich!“

„Nun, so lassen Sie mit sich handeln,“ meinte Auguste. „Gewöhnen Sie sich den Eigensinn ab – wir “

„Nein, das geht nicht!“ fiel er ihr in’s Wort, „das ist so die Art des Landvolks –“

„Ja, dann,“ fuhr Auguste, die er sehr lieb hatte, scherzend fort, „dann geht es wohl auch nicht, daß wir uns die Redensarten ganz und gar abgewöhnen! Das ist so die Art des Stadtvolks.“

„Na – nichts für ungut!“ sagte Gasser jetzt freundlich, „der liebe Gott läßt Jeden mit seinen Fehlern anrennen! Wenn Sie mich wieder einmal Heimsuchen – die Frau Mutter kommt vielleicht auch mit, und die liebe Caroline B. auch – dann trinken Sie von meinem Lacrimä Christi auf die Natur und auf die Kunst … da ist Alles wahr, einfach und schön.“

Gasser nannte meine Mutter nicht „Gnädige Frau“. Das Titelgeben verstand er nicht. Wenn er aber in der dritten Person zu ihr sagte: „Hat die Frau Mutter gut geschlafen?“ oder: „Na, wie geht es der Frau Mutter?“ so lag in dem Tone, mit dem er diese nach unseren Ansichten ungehörige Form gebrauchte, eine so kindliche Ehrfurcht, daß wir Alle, und meine gute Mutter vor Allen, auch nicht ein Iota daran hätten ändern mögen.

Bemerkte er, daß meine Mutter etwas sagen wollte, so brach er die lebhafteste Unterhaltung kurz ab, winkte uns still zu sein und lauschte, seinen Oberkörper so weit er konnte vorbeugend, den leisen Worten der alten Frau mit einer Aufmerksamkeit, als ob sie das Beste enthielten, was an das Ohr eines Menschen dringen kann.

Einmal kam er mit seinem gewöhnlichen langausschreitenden Gange über den Corridor, der an unserer Wohnung entlang lief, als die Glasthür, die nach unserem Vorzimmer führte, sich öffnete und meine Mutter langsam und vorsichtig heraustrat, um nach der Kirche zu gehen. Gasser hielt plötzlich an, und den Hut seiner Großmutter rasch vom Kopfe ziehend, drückte er sich, so fester konnte, an das Geländer, um ihr Platz zu machen. Auguste und ich sahen den Vorgang aus dem Fenster, an dem wir saßen, und konnten nicht umhin, dem sonst so formlosen Manne diese Ehrerbietigkeit hoch auzurechnen. Wir sahen auch, daß er meine Mutter nicht anredete, sondern mit entblößtem Haupte so lange stehen blieb, bis sie in der Treppenbiegung verschwand. Wie hätte er auch mit einem Wort die Andacht stören mögen, mit der sie selbstverständlich den Weg nach dem Gotteshause antrat!

„Es freut mich, daß Sie meine Mutter so verehren, lieber Gasser!“ sagte ich eines Tages zu ihm.

„Mütter sind heilig!“ antwortete er und fügte nach einer Pause hinzu: „Die Frau Mutter mahnt mich an meine Mutter.“

Nun hatte ihn Auguste bei dem Thema, auf das sie ihn schon lange bringen wollte, und ließ ihn nicht mehr los. An diesem Abende erfuhren wir von ihm, der sonst nie von sich selbst reden wollte, einige interessante Züge aus seiner Kinderzeit.

Er war der jüngste von sechs Brüdern. Ein Geschlecht von Riesen wären sie. Der Vater ein Goliath. „Mit zwölf Jahren konnt’ ich meine Mutter schon unter meinem Arm weggehen lassen.“ Doch war Hans als Kind schwächlich gewesen und deshalb lange bei der Mutter zurückgeblieben, wenn die Brüder mit dem Vater und mit der Großmutter auf’s Feld gingen, um zu arbeiten. Die Mutter liebte ihn sehr, erzählte ihm Geschichten, und wenn sie Brod buk, durfte er ihr helfen und die Teigreste aus dem Troge für sich zusammenscharren. Anstatt aber aus diesem Teige ein kleines Brod für sich zusammenzukneten, was die Mutter wohl beabsichtigen mochte, knetete er allerlei kleine Figürchen daraus. Der Vater schalt, die Brüder neckten das müßiggehende Muttersöhnchen oft, und Ersterem riß endlich die Geduld, so daß er den Birken-Hans zu Hülfe nehmen wollte, um seinem Sohne Hans etwas Kraft einzubläuen. Die Mutter schützte und rettete ihn oft. Als aber der Vater eines Tages sich selbst mit rollenden Kohlenaugen und zum Dreinschlagen erhobenen Händen, seine fünf fleißigen Söhne als ungeschlachte Riesen, den Herrn Pfarrer und den Herrn Caplan, mit Einem Worte alle Leute aus dem Dorfe, nur Mutter und Großmutter ausgenommen, aus Brod, der lieben heiligen Gottesgabe, geknetet auf einem Brette aufmarschirt und leider mehr oder weniger carikirt vorfand, da half kein Flehen der Mutter, kein Bitten der Großmutter mehr! Durchgebläut wurde der „mißrathene“ Bursche von Vater Goliath, daß ihm Hören und Sehen verging, und den nächsten Tag mußte er mit, um tüchtig zu dreschen, wollte er selbst nicht nochmals gedroschen werden.

Darauf folgte eine lange böse Zeit und endlich der Tod der lieben Großmutter, die ihrem Lieblingsenkel Hans sechs Silbergulden, in einen alten Strumpf vielfach eingenäht, und ihren breitkrämpigen schwarzen Filzhut vermachte. Verstohlen schlich Hans da und dorthin, um Thiere und Menschen zu beobachten und abzuzeichnen. Zwischen ihm und dem Vater gab es niemals Frieden.

Einmal, als die Familie aus dem Sonntagsgottesdienste heimgekehrt war und sich eben wieder zwischen Vater Goliath und seinem „nichtsnutzigen“ Sohn ein arger Auftritt entsponnen hatte, fiel es der Mutter in ihrer Herzensangst ein, zu dem Vater die Worte zu sagen: „Aber, lieber Mann, der liebe Gott, der die Leute erschafft, die die ganze Woche auf dem Felde arbeiten, muß doch auch die Leute erschaffen, welche die schönen Muttergottesbilder machen, die sie am Sonntag um Beistand in der Arbeit und in aller Noth bitten können. Unser Hans ist vielleicht vom lieben Gott dazu bestimmt.“

Vater Goliath sah sein Weib verwundert an und sagte nichts. Er sagte mehrere[WS 2] Tage nacheinander nichts. Auch die Mutter und Hans waren ganz still. Eines Tages ging der Alte zu dem Gutsherrn, der die Familie kannte und sich schon einige Mal dahin geäußert hatte, daß sie den Hans in die Welt ziehen lassen sollte, damit er etwas lerne. Als der Alte wieder kam, zog er die Schublade des Kastens auf, in welcher der Beutel mit dem Gelde lag. Nach einigem Besinnen seufzte er tief auf, nahm fünf Gulden heraus, wog und drehte sie in den Händen hin und her, und endlich gab er sie mit abgewendetem Gesichte seinem Sohne Hans.

[443] „Der Herr fahrt nach Wien. Du darfst hinten aufsitzen und mitfahren. Der Herr will auch schau’n, daß er Dich zu einem Steinmetz in die Lehr’ bringt. Ich erlaub Dir’s, Hans! Die Muttergottes soll Dich beschützen!“

Hans Gasser nahm die sechs Gulden von der Großmutter und die fünf Gulden vom Vater, den grauen Leinwandkittel und den Hut von der Großmutter und den Segen des Vaters und das Gebet der lieben lieben Mutter und ging – in die weite, weite Welt! –

In jenen dem Künstler aufgedrungenen Ruhetagen ward uns auch ein Mal die Gelegenheit geboten, ihn im Freien zu sehen, uns an dem Behagen, sagen wir an dem Jubel zu ergötzen, mit dem er Wald und Wiese, jede Blume, jeden Baum wie liebe lang entbehrte Freunde grüßte. Wir machten für einen ganzen Tag einen weiteren Ausflug über Land. Es war eine größere Gesellschaft, auch mehrere junge Mädchen; wir baten ihn herzlichst mitzukommen, und er nahm es an. So wie an diesem Tage haben wir ihn vorher und nachher nie gesehen, Caroline B. behauptete schon damals, daß sein Körper überarbeitet sei, daß er den Keim einer Krankheit, die an seinen Säften und Kräften nage, nicht beachte oder nicht beachten wolle. Wir redeten ihm zu, öfters dergleichen Ausflüge zu machen, mehr von Sonnenlicht und kräftiger Nahrung zu sich zu nehmen und - zu heirathen, damit er Jemanden um sich habe, der für ihn sorge etc. Er hörte uns ruhig, ja mit einer gewissen Freudigkeit an, wie wir Pläne für seine Zukunft machten, und Caroline B. vertiefte sich so lebhaft in den Gegenstand, daß sie zu unserem und des Meisters Ergötzen schließlich in die Worte ausbrach:

„Sehen Sie, Gasser! Sie müssen zu Grunde gehen, wenn Sie nicht eine Frau nehmen, die Sie aus dem Staube erlöst, in dem Sie sich statt im Wasser baden! eine Frau, die pünktlich kommt und sagt: ,So, lieber Hans, jetzt wasche Dich, zieh’ Dich ordentlich an, und komm zum Essen,’ und dann wieder: ,So, lieber Hans, jetzt hast Du genug gearbeitet, jetzt wasche Dich, zieh Dich ordentlich an, dann gehen wir spazieren!’ Sie brauchen eine Frau, welche die Trödeljuden zum Teufel schickt, die Ihnen Ihr Geld für den alten Plunder aus der Tasche stehlen u. s. f. ...“

Es war rührend, wie der lange Hans seiner alten Freundin aufmerksam zuhörte, die noch Vieles, Vieles hinzusetzte, was sich nicht nacherzählen läßt! Rührender noch war es, wie er nach wiederholten treuherzigen Versicherungen, daß sie Recht, sehr Recht habe, dem Gespräch damit ein Ende machte, daß er tief aufseufzend sagte:

„Wo ist aber das Mädchen, das mich nimmt wie ich bin, ungewaschen, ungebürstet, uneingerichtet, mit all’ dem Staub und Plunder meiner Werkstatt und meiner – Schatzkammer – wo sie alles findet, nur das Nöthigste nicht – Geld!?“

Wir kannten ein sinniges, einfaches junges Mädchen, das ihm sehr gefiel und das ihn gern genommen hätte so wie er war. Aber ihr Vater war ein aufgeblähter reicher Narr und sie – ist bald nach jenen Tagen, wo Hans Gasser’s Freunde für ihn schöne Luftschlösser bauten, unter dem grünen Hügel schlafen gegangen.

Auch meine gute Mutter ging dahin, und der kleine Kreis, der den strebsamen edlen Künstler, den allzuspärlich lebenden, allzumagern, allzubleichen langen Hans eine Zeitlang warm und innig umschlossen hatte – fiel auseinander. –

Anekdotische Bruchstücke aus seinem Leben, einige scherzhafter, andere tiefernster Natur, sind mir seitdem aus dritter Hand zugekommen.

Der Kaiser hatte das Standbild der Kaiserin besichtigt und Gräfin E., die damalige Obersthofmeisterin, beauftragt, dem Meister zu sagen, daß das Gesicht allzuernst sei und der Krönungsmantel zu hoch über die Schultern heraufkomme. Die Gräfin entledigte sich ihres Auftrages in zartester Weise. Als sie die Bemerkung wegen des Mantels machte, sagte Gasser:

„Ausziehen kann ich leicht, anziehen wäre schwerer,“ und als die Dame des Kaisers Wunsch wegen des Ausdrucks in den Zügen vorbrachte, meinte der Meister:

„Wenn die Frau Kaiserin mir ein freundliches Gesicht macht, kann ich ihr auch eines machen.“

Hoher Rath wurde gepflogen und in diesem beschlossen, Hans Gasser während der Sonntagsmeßzeit in dem Corridor in der Burg aufzustellen, wo der Hof durchgehen muß, wenn er aus der Kirche kommt. Man rechnete auf die Wirkung, welche der plötzliche Anblick des Blousenmannes inmitten der festlich gekleideten Hofchargen hervorbringen mußte. Gasser wurde ersucht, sich dahin zu verfügen, um die Kaiserin, die er nach einem Portrait abgenommen hatte, persönlich vor sich zu sehen. Er kam. Den Hut in den riesigen, unbekleideten Händen haltend, das rothe Halstuch als den höchsten Putz um den Hals geschlungen, stand er zwischen den Pagen und den Officieren der Garde, die hier auf ihrem Posten waren. Man hatte sich nicht verrechnet. Die junge Kaiserin lachte über das ganze, von der Anstrengung, ein lautes Auflachen zu unterdrücken, auf’s Rosigste angehauchte Gesicht und ging langsam vorüber. Der Kaiser blieb vor Gasser stehen und frug ihn, „ob das genügend sei, ob er den Ausdruck im Gedächtniß behalten werde.“

„So lang ich lebe,“ antwortete er. –

Hans Gasser ließ es sich in den Sinn kommen, ein Haus zu kaufen, was er schon erworben, hineinzustecken, zu bauen und dabei, Gott weiß wie, übervortheilt zu werden und Sorgen ohne Ende auf sein Haupt zu laden. Das zweite Steckenpferd vollendete den Ruin, den das erste langsam angebahnt hatte. Hans Gasser, der zu entbehren und zu darben verstand, wie kaum ein Anderer – zu rechnen, richtig zu rechnen muß er doch wohl nicht verstanden haben! Er brachte mehrere Monate im Schuldgefängnisse zu und soll, um sich daraus zu befreien, seines Geistes schöne, seiner Hände schwere Arbeit für Jahre und Jahre voraus verkauft haben. Was war er nun noch, als der Sclave derer, denen sein einst so freudiger – jetzt vielleicht so freudloser Fleiß gehörte!

Vor Jahren hatte er sich beim Ausmeißeln einer Büste an der rechten Hand eine Wunde geschlagen, diese aber vernachlässigt. Diese Wunde ist ihm schließlich tödtlich geworden.

Im Familienkreise eines Freundes, des Ingenieurs der Staatseisenbahn-Gesellschaft Herrn Hugo Frick, ist Hans Gasser im besten Mannesalters Freitag den 1. Mai 1868 in Pest gestorben.

Im Namen Aller, die ihn als Mensch, als Künstler hoch hielten und lieb hatten, rufe ich ihm ein Lebewohl nach in sein frühes Grab.

Mariam Tenger.




Die Romantik auf der Pleiße.

Man stelle sich einmal das Gesicht eines süddeutschen Gebirgs- oder eines norddeutschen Küstenmenschen vor, wenn beide aus dem Munde eines Leipziger Stadtkindes die Versicherung vernehmen: „Nichts Romantischeres als eine Wasserfahrt bei Leipzig! Wer aber Wasser- und Feuerherrlichkeit im vollkommensten Maße genießen will, muß sich den Leipziger Künstlern anschließen, wenn sie in ihrem geistesfrischen Verein sich an dem Zauber der Romantik auf der Pleiße erfreuen.

Und doch müssen wir den Worten Glauben schenken und uns zur Mitfahrt entschließen, denn wenn zur Romantik „der schöne Wald“ berechtigt, so ist sie für Leipzig gerettet. Wahrhaft rührend sogar ist aber die Leidenschaft, welche alle Leipziger Herzen für ihre Gewässer, Flüßchen und deren Flußarme und Flußärmchen, Canäle und Canälchen, Mühl- und Floßgraben etc. erfüllt. Jedes Wässerchen erhielt sein Gondelchen, und wohin kein Gondelchen mehr vordringt, da bricht der pfeilartige Grönländer sich noch Bahn und rettet die Ehre der Schiffbarkeit seines Gewässers. Höhere Ansprüche befriedigen Elster und Pleiße, auf welchen auf einer Strecke von kaum anderthalb Stunden Länge nahe an hundert Boote und Gondeln sich ihrer schifffahrtstolzen Besitzer rühmen, ja es schlug bekanntlich vor einigen Jahren sogar die Stunde, seit welcher Dampfschiffe zwischen Leipzig und dem etwa eine Viertelmeile[WS 3] davon entfernten Dorfe Plagwitz ihren regelmäßigen Lauf haben, anderthalbhundert Wasserfahrtgenossen in einem Boote jubeln können und die stolze Elster Lastboote mit dreitausend Centner Ladung auf dem sicheren Rücken trägt.

Sollte aber Jemand daran zweifeln, daß es in der großen Handelsstadt Leipzig auch Künstler giebt? Die Kunst ist in Leipzig [444] längst daheim und die bildenden Künstler sind es auch. Den besten Beweis für das Unbezweifelbare ihrer Existenz hält der geneigte Leser soeben selbst in seiner Hand: ein Blatt unserer „illustrirten Literatur“. Es ist selbstverständlich, daß der Hauptcharakterzug einer Stadt sich auch für die Ausübung der Kunst geltend macht. Wie im alten Nürnberg die Kunst sich dem Gewerbe innig anschloß, weil in der freien Reichsstadt das Gewerbe mit seinem goldenen Boden in den höchsten Ehren stand, ebenso schließt sie in Leipzig sich dem Buchhandel, dem Buchdruck und der Tagespresse an, die dort ihre Ehre und ihren goldenen Boden gesunden haben. Daß einzelne Künstler durch besonderen Ruf und begünstigte Stellung ihre selbstständige Bahn verfolgen, wie der Maler Werner, Zuechi etc., der Bildhauer Knaur, oder wie Franz Schneider, der Holzbildner mit seinem gewerbsmäßigen Vertrieb, stößt die Regel nicht um, nach welcher viele vortreffliche Talente, so u. A. der bekannte Thiermaler Leutemann, sich der illustrirten Literatur dienstbar machen; manche vielleicht gegen ihre heißesten Wünsche, die nach der ruhmreicheren Ausführung ihrer Compositionen zu werthvollen Oel- und Frescobildern vergeblich ringen; viele zu ihrer Zufriedenheit in einem anregenden und behaglichen Schaffen, alle aber mit der Anerkennung belohnt, daß sie ihre Kunst einer für Bildung und Veredelung des Geschmackes im Volke nutz- und segensreichen Thätigkeit weihen.

Welch’ trefflicher Geist in dem Leipziger Künstlerverein sein anmuthiges Wesen treibt, dafür hat die Gartenlaube selbst in einigen Darstellungen aus den öffentlichen Festen dieser Künstler Zeugniß abgelegt; von ihrer Art Privatvergnüglichkeit überzeugen wir uns am besten durch unsere Theilnahme an ihrer Wasserfahrt.

Das Brandvorwerk heißt die äußerste Häusergruppe Leipzigs nach Süden; Häuser und Gärten ziehen sich zum Theil an der Pleiße hin, über welche hier die „Brandbrücke“ führt. Unweit derselben liegt eine Flottille von einem Dutzend Gondeln im Hafen, den das Ufer mit seinen Haltepflöcken ohne weiteren Aufwand bildet. Die Hälfte der Gondeln ist rasch bemannt, und wir sehen manchen Kunstjünger mit gutem Namen hier freudig in den Dienst des Ruders oder des Steuers treten. Da sind die Brüder August und Adolf Neumann, der eine als Zeichner, der andere als Holzschneider unseren Lesern wohlbekannt, jetzt hier der eine behend am Ruder, während der andere schwerbepackt als feuergefährliche Person erscheint, denn er trägt die Feuerwerkskörper, welche uns auf der Heimfahrt überraschen sollen. Dort setzt Muttenthaler, der Vorstand der Kunstanstalt der Illustrirten Zeitung, sich an’s Ruder, während Sundblad am Steuer des Starnberger Sees und der schnöden Wellen gedenkt, die ihn einst verschlingen wollten. Krause, der bekannte Kupferstecher mit dem Barte des Kyffhäuserkaisers, sitzt neben Robert Kretzschmer, dem Thiermaler, der auf dem rothen Meere und dem Nil mit dem Herzog von Coburg die ägyptische Wasserfahrt mitgemacht und der Kunstmeister zu Brehm’s „Thierleben“ ist. In einer anderen Gondel scheinen sich Landschafter zusammenzurotten; wir erkennen wenigstens Richard Püttner und die Brüder Heyne unter ihnen. Wo man am lautesten singt, sitzt zwischen der fröhlichen Jugend sicherlich O. Mothes, der Architekt und Schriftsteller in seinem Fach, dem sehr nahe der Vergleich zwischen dem Gondelleben von Leipzig und von Venedig liegt, dessen Baugeschichte er ein Hauptwerk gewidmet hat. Noch über ein Dutzend Namen müßten nun folgen, älterer und jüngerer Kunstgenossen, wenn wir nicht wüßten, daß sie selbst gern uns von dieser Registerarbeit freisprächen, um endlich mit den Anderen vorwärts zu kommen.

Freilich ist’s links und rechts nur ebenes Land, zwischen dem wir dahinfahren, aber es ist belebt von der modernsten Romantik des Dampfs. Während zur Rechten die Fahrstraße am Wasser hinläuft, das die Rosse, Wagen und Fußwanderer widerspiegelt, und dahinter der grüne Plan der großen Wettrennen sich ausdehnt, erhebt sich zur Linken eine hohe Fabrikesse, über deren Zinne der Rauch wie ein graues Bouquet in Halbmondform sich ausbreitet, nur leise im blauen Aether verschwimmend, und weit dahinter pfeift und donnert der Wagenzug des Feuerrosses, der die wandelsüchtigen Menschen von den Nordmeeren nach Mailand und nach Belieben weiter trägt. Wir aber fühlen den Stolz, hier recht mitten in der Welt zu sein.

Straßen und Fabriken verlassen uns, wir schweben und schaukeln zwischen den Freuden der Landwirthschaft, wogenden Kornäckern und duftenden Heuschobern der Wiese dahin. Aber je weiter vorwärts in der Gondel, desto weiter bringt das Uferbild uns rückwärts im Culturgang der Geschichte. Der Wald ragt vor uns auf, doch der sorglich gepflegte des jagdfrohen Forstmannes. Prächtige Eichen strecken die knorrigen Riesenarme schützend über das buschige Unterholz aus, lauschige Waldwiesen öffnen sich, malerische Waldecken im reichsten Wechsel des Grün treten hervor und im Hintergrund stehen, wie auf einer Volksversammlung, die Gleichgestimmten in weitem Halbkreise um die Rednerbühne, besagtes Waldeck, gesellschaftlich beisammen und nicken mit den leichtbewegten Häuptern. – Hier werden die Künstler uns zu Wohlthätern: sie erhöhen uns den Genuß der Natur, den Werth der Naturschönheiten durch ihre Künstlerfingerzeige, die unserem blöderen Auge zu Hülfe kommen mit ihrem in Schönheiterspähen, geübten Blick. Da ruft und winkt es von Gondel zu Gondel, da eine Erinnerung an früher Gesehenes, dort ein Vergleich mit Verwandtem in der Ferne; die Dichtkunst drängt sich mit Citaten declamirend und singend herein, – oft wird zeitweise ein Lied Herr über die Landschaft, aber das Schlaglicht einer Waldblöße oder die Beleuchtung einer Baumgruppe hat’s auch schon zuwege gebracht, daß dem tiefen Ah! allgemeine Stille folgt, daß ein Vogel die Gelegenheit erhascht, die Lauscher für sich zu gewinnen, und daß das Lauschen halbträumend übergeht in das stille Beschaun, zu dem das Doppelrauschen der Blätter und der Wellen so schlau verlockt.

„Das ist ein prächtiges Plätzchen!“ Wir fahren noch zwischen hohen, aber einzeln stehenden Waldriesen, zwischen deren Stämmen der Blick in den Säulentempel des Waldes frei ist, und frei blickt der Tag noch auf uns hernieder; aber vor uns öffnet der Urwald sich und die Cultur nimmt Abschied in einer kleinen schön gepflegten Ruhestätte. Schützende Lauben und Bänke laden zum Landen ein an dem Plätzchen, das die Pleiße mittels eines Nebenarmes ganz besonders zärtlich zu umspannen scheint. Sie nannten’s Rüdersruhe.

Von da an halten wir uns berechtigt, unsere Phantasie im Urwald hausen zu lassen. Dichtes Gebüsch hängt seinen Blätterreichthum, oben von mächtigen Aesten der alten Stämme überragt, tief in die dunkle Fluth, die Ufer treten näher und näher zusammen, phantastische Weiden, vom Land losgerissen, trotzen in ihrer Inselwürde dem nassen Tod, dann winkt wieder zur Linken eine Landestelle, eine Art Waldnische unter dichter Laubdecke, wie für einen Hinterwäldler geschaffen, aber uns zieht es weiter; so oft eine Krümmung hinter uns liegt, sehen wir vor uns einen abgeschlossenen, kleinen, urheimlichen See, bis eine neue Krümmung den Zauber bricht, oder die liebe Menschheit uns aus dem Traume hilft. Und oft recht liebe Menschheit rudert an uns vorüber, mit denselben Stimmen jetzt schweigend oder kichernd, die vorher, in der Ferne, gar schön gesungen hatten; fröhliche, selige Pärchen, die das verschwiegene Wasser mit Recht so lieben.

Und plötzlich ist’s aus mit dem Urwaldtraum; von weißen, neuen Quadern erheben sich die leichten, schön geschwungenen Bogen einer Brücke, und hinter ihr verräth eine ganze Reihe ähnlicher Fahrzeuge, wie die unsrigen, daß wir in dieser Gegend nicht allein sind. Gefällige Männer begrüßen uns in der Leipziger Mundart und halten die Hafenwacht, derweil die Künstlerschaar nun einen Theil der Freuden ihrer Wasserfahrt in der sicheren Schenke auf festem Lande genießt. Wir sind in Connewitz, dem ersten südlichen Vorstadt-Dorfe von Leipzig, zu dessen Gedeihen es mit seinen nahe an viertausend Bewohnern kräftig beiträgt. Unsere Entfernung von den heimischen Laren ist nicht so gefährlich, wie unsere Wasserfahrt sie erscheinen ließ; zu Lande fährt man im Omnibus die ganze Strecke um fünfzehn Pfennige.

Wie Künstler scherzen, trinken und singen, wäre wohl lieblich zu schildern, aber Ziel und Zweck gestatten es uns hier nicht. Unser näher liegender Beruf ist, so viel Dunkelheit abzuwarten, als zu einem Feuerwerk gehört. Das ist erreicht, und gestärkt von manchem schönen Wort und Trunk, ziehen die Mannen wieder ihren Fahrzeugen zu. Die Gondel des Feuerwerkers – A. Neumann – wird jetzt zum Admiralschiff erhoben. Ausgestattet mit mehreren bunten Papierlampen schwebt es im Bewußtsein seiner Würde unter dem mittelsten Brückenbogen dahin und wirft den Widerschein seines Nachtschmucks in das leise zitternde dunkle Gewässer. Im selben Schmuck der Lampen folgt Gondel um Gondel in einer die Freiheit der Ruder und der Aussicht nicht störenden Entfernung von einander.

[445]

Nächtliche Künstlerfahrt. Nach der Natur gezeichnet von G. Sundblad.

Wenige kräftige Ruderschläge brachten uns aus dem Stimmenbereich der Connewitzer Brückenwandler, und dem gemüthlichen Urwald wiedergegeben, ließen wir schweigend die heiligen Schauer der Nacht über uns ergehen; „die Vöglein schliefen im Walde“, die Stille that so wohl und oben am Himmel bildeten die hohen Zweige der Uferbäume an den langen, über die Pleiße ausgestreckten Aesten ein Spalier, zwischen welchem die Sterne zu uns herniederschauten. Es war recht zum Sentimenalwerden, und da in diesem Augenblick ein wohlklingender Tenor das Lob des „Sterns der Liebe“ anhub und ein feierlich summender Chorus [446] die schöne Stimme des Sängers trug und hob, so weiß man nicht, was mit den gefühlvollen Künstlerseelen geschehen wäre, wenn nicht bald genug der geniale Kunstfeuerwerker energisch sein „Ah!“ gefordert hätte. Und es ward ihm, als er plötzlich an passendster Stelle die prächtig gruppirten Laubwände des Ufers bis hinauf zu den schwankenden Giebelzweigen mit bengalischem Glanz übergoß. Es war wirklich ein entzückender Anblick – unser Holzschnitt sucht ihn wiederzugeben – man war diesen Augenblick lang mit dem Geist in einem fremden romantischen Land, und Jeder hätte es für eine Kränkung seiner schönen Empfindung gehalten, wenn man ihm gesagt hätte, daß die Bauern auf der Connewitzer Chaussee ganz gut am Scheine des rothen Lichtes sehen könnten, in welchem keine Viertelstunde entfernten Winkel der Pleiße die verehrte Künstlergesellschaft sich soeben befinde.

Nach dem gelungenen Anfang folgte nun Schlag auf Schlag ein Stück des Feuerwerks nach dem andern, bald flogen Schwärmer in das Gezweig der Uferbüsche, bald Frösche über das Wasser hin, Feuerräder schlugen mit dem Schweif ihren feurigen Reif, Raketen versuchten sich im Steigen und Leuchtkugeln sprühten ihre Funken in das widerspiegelnde Wasser, Alles begrüßt und begleitet von allerlei Passendem, welches Poesie und Musik dazu in Wort und Ton gesetzt haben.

Ferne Böllerschüsse verkündeten uns noch im Urwalde die Nähe lustverwandter Menschen. Das Verlangen nach ihnen fuhr in die Arme der Rudernden, und bald leuchtete zur Rechten ein Feuerchen, von Gestalten umlagert, am Ufer. Es war die von uns schon bei der Herfahrt begrüßte Waldnische, aber Hinterwäldler zechten hier nicht, sondern biedere Turner saßen um ein Fäßchen und boten zum Gruß uns den vollen Becher. Ihr voller Rundgesang hallte uns noch lange nach. Da begegnete uns eine neue und sehr liebliche Ueberraschung, deren Urheber wir derzeit nicht ergründen konnten: auf dem Wasser, sich ziemlich in des Flusses Mitte haltend, schwamm eine lange Reihe von Wachslichtchen, jedes auf seinem eignen kleinen Korkfloß, im Schaukeln und Widerschein gar prächtig dahin. Alle Gondeln fuhren mit schonender Vorsicht an ihnen vorüber und gewährten dabei selbst ein neues Bild, denn während ihre dem Lichterzug zugewandte Seite selbst in hellem Glanze stand, deckte den Raum der Insassen um so tieferes Dunkel.

Alle Blicke waren noch der allerliebsten Wasserzierde zugewandt, als zur Linken ein neuer bunter Lichtschimmer auftauchte. Das „prächtige Plätzchen“ der Herfahrt strahlte in einem Festschmuck. Bunte Lampen zu Guirlanden vereint schlangen ihre Bogen von Baum zu Baum, darunter saßen eines Sängervereins Männlein und Fräulein, und Gläser klirrten und Töne schwirrten, aber reizender, als beides, war das, was sie dem Auge gewährten: das schöne Nachtbild. „Das wenn i auf’m Papier hätt’! Aber wer kann’s fest halten?“ rief ein Künstler baierischer Zunge. So viel aber davon festzuhalten war, nahm Jeder im frohen Gedächtniß mit.

Feuerwerk und Gesang hatten unsererseits jeden Gruß von den Ufern erwidert; die letzten bengalischen Flammen schmückten die letzten Bäume des Waldes, die letzten Raketen grüßten die freien Ufer, und als wir am Brandhafen das Land betraten, brauchte Niemand mich darum zu fragen, sondern freudig mußte ich bekennen: Ja, wer so wie Ihr Künstler das Wasser und den Wald zu benutzen versteht, der schafft sich, was man so schwer geglaubt, selbst eine Romantik auf der Pleiße!

Friedrich Hofmann.




Geister vor Gericht.

Justiz und Polizei haben von jeher eine gewisse Abneigung gegen alle sogenannte Hineinragungen einer übernatürlichen Welt in das gewöhnliche Menschenleben an den Tag gelegt. „In Gegenwart der Polizei erscheint weder Dämon noch Engel.“ Dieser Erfahrungssatz war bekanntlich, nach Immermann’s Bericht, das einzige sichere Ergebniß der ernsten und umfassenden Studien, welche Herr von Münchhausen in Weinsberg über diesen Gegenstand gemacht hatte. Das preußische Landrecht stellte „Geisterbanner und Wahrsager“ mit Goldmachern und Schatzgräbern zusammen und drohte ihnen mit Zuchthaus und öffentlicher Ausstellung; noch vor einem Menschenalter sah man auf preußischen Marktplätzen bisweilen alte Weiber, die damals im Alleinbesitz solcher übernatürlicher Gaben zu sein pflegten, an irgend einem Baum, Brunnen oder Pfahl zur Schau gestellt, mit einer Tafel vor der Brust, aus der die Worte: „Wegen betrüglicher Gaukelei“ zu lesen waren. Dabei waren die Geister früher meist harmloser Natur und beschränkten ihre Thätigkeit auf einige dankenswerthe Mittheilungen aus dem „dunkeln Reich, aus deß Gebiet kein Wandrer wiederkehrt“, oder auf mehr oder weniger überraschende Enthüllungen aus der Zeit ihres Erdenwallens. Bei den praktischen Briten aber scheinen in neuester Zeit auch die Geister eine praktische Richtung bedenklichster Art genommen zu haben, und dadurch hat vor wenigen Wochen einer der höchsten Richter von England, der Vicekanzler Gissard in London, Gelegenheit erhalten, sich über die Stellung der englischen Justiz gegenüber der übersinnlichen Welt mit aller irgend wünschenswerthen Klarheit auszusprechen.

Zu London lebte eine Wittwe Lyon, deren Ehemann 1859 gestorben war und ihr ein Vermögen von etwa einhundertvierzigtausend Pfund Sterling hinterlassen hatte. Die Ehe war kinderlos gewesen, und Frau Lyon hatte selbst keine nahen Verwandten, mit denen ihres Gatten aber stand sie auf schlechtem Fuße. Derselbe hatte ihr kurz vor seinem Tode gesagt: „in sieben Jahren werde eine Veränderung mit ihr vorgehen.“ Sie deutete dies dahin, daß sie ihm im Herbst 1866 in’s Grab folgen solle, scheint aber hierzu ungeachtet ihrer fünfundsiebenzig Jahre und bei aller Liebe zu dem Dahingeschiedenen keineswegs geneigt gewesen zu sein, wenigstens war sie sehr erfreut, als ihr ein Photograph, Herr Sims, mittheilte, sie brauche durchaus nicht zu sterben, um sich mit ihrem Gatten wieder vereint zu sehen, sondern habe sich nur an den berühmten Spiritualisten, Herrn Daniel Home, zu wenden, der soeben ein spiritualistisches Athenäum eröffnet habe. Sie trat sofort mit demselben in Briefwechsel und besuchte ihn zuerst am 2. October 1866. Kaum hatten sie sich an einem Tische niedergelassen, als derselbe heftig zu klopfen begann. Herr Home erklärte ihr in gedrängter Kürze das Geisteralphabet; kaum hatte er vollendet, so klopfte der Tisch: „Einzig geliebte Jane, ich bin Charles, Dein einzig geliebter Gatte! Ich lebe und segne Dich, Du meine Theure! Ich bin immer bei Dir und liebe Dich wie immer!“

Diese einleitende Mittheilung bezahlte Frau Lyon mit dreißig Pfund Sterling, womit Charles durchaus einverstanden gewesen zu sein scheint, denn am 6. October, bei einer neuen Zusammenkunft, gerieth der Tisch in wahrhaft leidenschaftliche Bewegung und klopfte etwa Folgendes: „Daniel Home soll Dein Sohn sein! Er ist mein Sohn, folglich Deiner! Denkst Du daran, was ich Dir von einer nach sieben Jahren bevorstehenden Veränderung gesagt habe? Dieselbe ist jetzt eingetreten!“ Darauf hüpfte der brave Mahagony vor Freuden, und nur mit Mühe konnte man aus seinen entzückten Schlägen noch die Worte: „Ich bin glücklich, glücklich, glücklich!“ entnehmen. Frau Lyon zahlte ihren, neuerworbenen Sohne sofort fünfzig Pfund Sterling; damit war aber dem Willen seines spiritualistischen Vaters bei Weitem nicht Genüge geleistet, vielmehr gab derselbe schon in den nächsten Tagen seinen Wunsch zu erkennen, daß seinem Sohne ein Jahreseinkommen von siebenhundert Pfund Sterling gesichert wurde, und Frau Lyon ließ deshalb von den für sie in der Londoner Bank stehenden Capitalien vierundzwanzigtausend Pfund Sterling auf Home übertragen. Anfang November verfiel Herr Home in der Wohnung der Frau Lyon plötzlich in Verzückung. Diesen willenlosen Zustand benutzte der selige Herr Lyon, durch dessen Mund der aufmerksamen Wittwe seine eigentliche Willensmeinung zu eröffnen: sie solle Home adoptiren und ihm ihr ganzes Vermögen testamentarisch vermachen, unter der Bedingung, daß er den Namen Lyon annehme.

Beides geschah in untadelhafter gesetzlicher Form; bald darauf [447] ließ Frau Lyon weitere sechstausend Pfund auf ihren Adoptivsohn übertragen, als Geburtstagsgeschenk, wie sein freigebiger Vater verlangte, und cedirte ihm schließlich eine Hypothek von dreißigtausend Pfund. Sie behauptet, sie habe sich nach besten Kräften bemüht, Home mütterlich zu lieben, dies sei ihr aber eigentlich nicht recht gelungen; Thatsache ist, daß sie äußerst zärtliche und etwas unorthographische Briefe an ihren theuren Sohn schrieb, bis plötzlich im Frühling 1867 ein Umschwung eintrat und sie den Rath verschiedener Rechtsanwälte in Anspruch nahm. Diese scheinen übereinstimmend erhebliche Bedenken über den Ursprung jener Mittheilungen und Aufträge des Verewigten geäußert zu haben; Frau Lyon aber war eine vorsichtige Dame, sie wendete sich mehrerer Sicherheit halber an ein anderes Medium, Fräulein Berry, bei welcher, wieder durch Vermittelung eines Tisches, folgende Unterhaltung stattfand:

Frau Lyon fragte: „Sind Geister hier, die mich kennen?“

Antwort: „Ja!“

„Wer?“

„Der Geist Deines Mannes, Charles Lyon.“

„Weißt Du von dem Handel mit Home?“

„Ja.“

„Billigst Du ihn?“

„Nein. Es ist Betrug.“

„Was soll ich thun?“

„Klage schleunigst vor Gericht, sei entschlossen und fest!“

„War Dein Geist jemals mit Home?“

„Nein, nein!“

„Wessen Geist war das?“

„Sein eigener!“

Ein Regen von Blumen und Immergrün schloß die Sitzung.

Gehorsam, wie immer, begab sich Frau Lyon zunächst zu Home, warf ihm sehr unumwunden vor, daß er sie betrogen habe, und verlangte die Rückcession der Hypothek und der Bankcapitalien im Gesammtbetrage von sechszigtausend Pfund (etwas über viermalhunderttausend Thaler). Herr Home konnte zu seinem größten Schmerze hierauf nicht eingehen, da er durch den Vorwurf des Betrugs zu empfindlich an seiner Ehre gekränkt war; dagegen bot er ihr einen Vergleich an, wonach er im unbestrittenen Besitz von dreißigtausend Pfund verbleiben, sie das Uebrige zurückerhalten und einen Revers ausstellen sollte, durch welchen sie seine vollkommene Ehrenhaftigkeit anerkennte. Frau Lyon aber ging hierauf nicht ein, sondern erwirkte einen Haftbefehl gegen ihn und klagte vor dem Kanzlei-Gerichtshof[2] auf Rückgängigmachung aller jener Willenserklärungen, als „durch ungebührliche Beeinflussung erschlichen“. Die Verhandlungen dauerten vom 21. April bis zum 1. Mai dieses Jahres und nahmen die Aufmerksamkeit der Londoner mindestens eben so sehr in Anspruch, wie der gleichzeitig verhandelte Strafproceß wegen der fenischen Pulververschwörung von Clerkenwell.

Theils aus den eigenen Angaben Home’s vor Gericht, theils aus verlesenen Stellen eines von ihm herausgegebenen Buches erfahren wir, daß er von seiner frühesten Kindheit an – er ist 1833 geboren – mit Geistern in Verbindung gestanden, ja daß diese „seltene Begabung“ sich an ihm zuerst gezeigt hat, als er sechs Monate alt war; leider wird nicht gesagt, wie. Er sieht die Geister, er unterhält sich mit ihnen, sie sprechen in außerordentlich schönen, gewählten Ausdrücken, bewegen aber auch Tische und Stühle, ja haben ihn selbst öfters in einer den Gesetzen der Schwere widersprechenden Weise von der Stelle bewegt. Er erkennt die Bemerkung des Anwaltes der Klägerin, dies seien doch etwas handgreifliche Scherze, die sich die Geister erlaubten, als richtig an, doch hat die Sache auch ihre ernste, erhabene Seite, denn obschon sich die Geister im Allgemeinen nicht in irdische Angelegenheiten mischen, haben sie doch schon vielen Leuten über sittliche Fragen, über Reisen und Curen Rath und Auskunft ertheilt; daß sie bei Börsenspeculationen Rath gegeben hätten, ist ihm nicht bekannt. Es giebt verschiedene Arten von Geistern, und man thut wohl, ihrem Rathe nicht blindlings zu folgen; wenn ihm beispielsweise ein Geist riethe, seine rechte Hand abzuhauen, so würde er dies nicht thun, da es unvernünftig sein würde. Leider hat er keine Macht, die Geister zu rufen; sie kommen und verschwinden ganz nach Belieben. Von einer Täuschung seinerseits kann nicht die Rede sein; Tausende von ehrenwerthen und intelligenten Personen sind Zeugen jener Erscheinungen gewesen, ja die kaiserlichen und königlichen Majestäten von Frankreich, Rußland, Preußen, Baiern, Würtemberg, Holland haben ihn gastlich in ihren Palästen empfangen und in ihren Privatgemächern Erscheinungen gesehen, bei welchen jede Täuschung sofort hätte entlarvt werden müssen. Belohnungen hat er, so oft sie ihm auch geboten worden, nie genommen, und bei dem neu errichteten Athenäum nicht nur kein Geld verdient, sondern noch Verluste erlitten.

Auf die Klage hat Home eigentlich nicht viel zu erwidern. Die Erscheinungen, wie Frau Lyon sie beschreibt, haben wirklich stattgefunden; er erinnert sich unter Anderm, daß am 7. October der verstorbene Mr. Lyon die poetischen Worte hören ließ: „Sage nicht, theure Jane, ‚Ach, das Licht meiner Tage ist für immer erloschen!‘ Das Licht ist bei Dir, Charles lebt und liebt Dich!“ Was an jenem Tage, als er in Verzückung gefallen, vorgegangen ist, weiß er nicht, da er für das, was ihm während solcher Zustände widerfährt, keine Erinnerung hat. Jedenfalls sind alle Erscheinungen ohne seinen Willen und sein Zuthun erfolgt; Frau Lyon hat sich, ihre Liebe und ihre Gaben ihm fast gewaltsam aufgedrängt, und er hat unter ihrer Zärtlichkeit wie unter ihrer Herrschsucht viel zu leiden gehabt.

Wir übergehen die Einzelnheiten, die ein mehrtägiges Kreuzverhör der Frau Lyon noch zu Tage förderte; dasselbe ergab, daß sie schon früher wunderbare Visionen gehabt und allerlei mystische Bücher gelesen, so daß sie zu dem intimen Verkehr mit Geistern, in den Home sie einführte, würdig vorbereitet war. An letzteren glaubte sie, weil die Geister ihn bei ihr accreditirt hatten, und zärtliche Briefe schrieb sie an ihn, obschon sie ihn im Innersten ihres Herzens eigentlich nicht liebte, theils weil sie ihr die Geister dictirten, theils unter seinem auch während seiner Abwesenheit fortdauernden magnetischen Einflusse. Ebenso lassen wir die verschiedenen Zeugenaussagen hier bei Seite, da sie zu dem Gesammtbilde des Betrugs und der Leichtgläubigkeit nur wenig neue Züge beitragen. Charakteristisch ist nur, was eine der Zeuginnen von Home’s eigener Schätzung seiner Begabung erzählt. Sie unterhielt sich in Gegenwart des letzteren mit Frau Lyon über die dieser widerfahrenen Wunderdinge. Home unterbrach das Gespräch mit den Worten: „Manche Leute sagen, ich sei Gott manche, ich sei der Teufel; ich bin keins von Beiden, sondern zwischen Beiden.“

Die Reden der beiderseitigen Anwälte drehen sich natürlich um die Frage, ob Home einen ungebührlichen Einfluß auf Frau Lyon ausgeübt habe oder nicht. Ein ergötzliches Intermezzo bildet es, als Home’s Anwalt die Aeußerung fallen läßt, Frau Lyon scheine nicht abgeneigt gewesen zu sein, Home zu heirathen; sie kreischt von ihrem Platze entrüstet auf: „Ich bin Fünfundsiebenzig!“ Schallendes Gelächter der Zuhörer. Der Anwalt entgegnet kaltblütig: „Man hat schon seltsame Dinge in der Welt erlebt!“

Erst am 22. Mai verkündete der Vice-Kanzler das Urtel. Unter Berufung auf eine Anzahl von Präcedenzfällen, die für Home nicht sehr schmeichelhaft waren, da in denselben sehr offen von Fälschung und Betrug die Rede war, erklärte er die sämmtlichen Acte der Vermögensübertragung für null und nichtig und schloß mit folgenden Worten:

„Ich weiß von dem Dinge, das man Spiritualismus nennt, nur so viel, wie ich im Laufe des Processes erfahren habe, und es wäre nicht recht, wollte ich näher darauf eingehen, als insoweit es in demselben geschildert worden ist. Es ist nicht meine Sache, Vermuthungen darüber aufzustellen, welches die Wirkungen besondern nervöser Organisationen sein, inwieweit sie auf Andere ausgedehnt werden oder inwiefern gewisse Dinge Einzelnen als übernatürliche Wirklichkeiten erscheinen mögen, welche für gewöhnlichen Sinn und Verstand nicht wirklich sind. In Betreff der Offenbarungen und Erscheinungen aber, die in diesem Processe zur Sprache gekommen sind, ist erstens zu erwägen, daß sie durch diese oder jene Mittel in oder nach Anwesenheit des Verklagten und in Folge derselben hervorgebracht sind, wie, ist gleichgültig; ferner, daß sie den Zweck hatten, dem Verklagten sowohl Einfluß auf die Klägerin, als Geldvortheile zu verschaffen; ferner, daß das System, wie die Beweisaufnahme es dargestellt hat, ein gefährlicher [448] Unsinn ist, wohl berechnet, einerseits Eitle, Schwache, Thörichte und Abergläubische zu täuschen, andererseits die Pläne geldgieriger Abenteurer zu fördern; schließlich, daß ohne allen Zweifel Recht und gesunder Menschenverstand gebieten, zu verhindern, daß Jemand im Besitze von Erwerbungen bleibe, die so wie diese durch ein Medium mit oder ohne besondere Begabung gemacht sind. Und daß dem so ist, entspricht dem öffentlichen Interesse und ist von allgemeinem Nutzen.“

Ein so trauriges Ende nahm der Versuch, die Geisterwelt ihre Herrschaft auf das Gebiet irdischer Vermögensverhältnisse ausdehnen zu lassen. Danken wir dem Vice-Kanzler Giffard dafür, im Namen des Rechts und des gesunden Menschenverstandes!




Blätter und Blüthen.

Sonderbare Gewerbe in Paris. In Paris erwachen jeden Morgen Tausende und aber Tausende, ohne zu wissen, woher sie die Mittel zu einem magern Frühstück oder zu einem dürftigen Mittagsessen hernehmen werden. Und doch müssen die Mittel herbeigeschafft werden, denn der Magen ist ein Despot; er will, daß man seinen ungestümen Anforderungen genüge, und läßt sich nicht lange mit leeren Hoffnungen abspeisen. Der arme Teufel also, der zu ehrlich ist, um zu stehlen, und zu stolz, um zu betteln, muß allen möglichen Erwerbsquellen emsig nachspüren, oder neue erfinden, wenn er sich durchbringen will. Man findet daher in der Hauptstadt unzählige kleine Gewerbe, von denen man, außer in London, in anderen Städten keine Ahnung hat. Diese Gewerbe sorgen dafür, daß in Paris nichts unbenutzt verloren geht. Keine Citronenschale, kein Cigarrenstumpf, kein abgenagter Knochen, keine Austerschale wird auf die Straße geworfen, ohne von emsigen Händen aufgerafft und verwendet zu werden. So giebt es Individuen, deren Specialität es ist, aus dem Kehricht die Staniolplättchen aufzulesen, die als Umhüllung von Lyoner Würsten, Bretagner Kuchen und Chocoladetafeln oder als Kappen zu Champagnerflaschen gedient. Sobald eine beträchtliche Masse dieser Plättchen aufgetrieben ist, wird sie an einen Fabrikanten verkauft, der sie umschmelzen und walzen läßt und wieder zu den eben genannten Zwecken an den Mann bringt.

Der Flaschenstöpselfang bildet ebenfalls einen nicht unbeträchtlichen Erwerbszweig. Die Flaschenstöpselfänger gehen nach dem eine Stunde unterhalb der Seine gelegenen Asnières, wo die große Cloake der Weltstadt mündet. Ein Netz vor der Mündung dieser Cloake fängt die Stöpsel auf, die vierzehn Sous das Hundert, oder sieben Franken das Tausend verkauft werden. Da diese Pfropfen mehr oder minder abgenutzt sind, oder in Folge der Schwimmpartie, die sie gemacht, just nicht durch Reinheit glänzen, werden sie wieder frisch zugestutzt und häufigen Waschungen ausgesetzt.

Wie die Stöpsel, so erleben auch die Wasch-Schwämme in Paris ihre Metamorphosen. Wer einen Gang durch Paris macht, wird in allen Stadttheilen junge Mädchen sehen, die unter den Hofthüren in geflochtenen Körben Schwämme feil bieten und zwar zu einem spottwohlfeilen Preise. Woher kommt es nun, daß diese jungen Krämerinnen so wohlfeil die Waare verkaufen können, die sehr hübsch aussieht und so stark nach Chlor riecht, als wäre sie eben aus dem Meeresgrunde geholt worden? Es kommt ganz einfach davon her, daß diese Schwämme zuweilen schier dreißig Jahre alt sind und manchen Sturm erlebt haben, daß sie, nachdem sie im Dienste der Reinlichkeit sich abgenutzt, zerschnitten, sorgfältig gesäubert und geputzt worden und durch einen im Kern verborgenen feinen Bindfaden wieder die Becherform erhalten haben. Der unerfahrene Käufer wird durch den billigen Preis angelockt; kaum hat er sich aber einige Male des Schwammes bedient, so reißt der Faden und der Schwamm fällt auseinander.

Wir haben eben gesagt, daß in Paris keine Citronenschale verloren geht. Eine Frau ist es, die zuerst die auf die Gassen geworfenen Citronen- und Orangenschalen zu verwerthen wußte und dadurch ein bedeutendes Vermögen erwarb. Ihr Gatte war Destillateur und arbeitete für Conditoren und Parfümisten. Seine junge Gattin sah ihn oft an der Retorte, und da sie viel Intelligenz besitzt, eignete sie sich schnell manche Kunstgriffe an und lernte auch auf die praktischste Weise die Elemente der Chemie, so daß sie zuweilen ihren Gatten am Destillirkolben ersetzen konnte. Da starb ihr Mann plötzlich und ließ die kaum zwanzigjährige Wittwe in bedrängter Lage zurück. Indem nun die junge Frau darüber nachdachte, auf welche Art sie ein Stück Brod redlich verdienen könnte, fiel ihr ein, daß ihr Gatte einst, als er sie an einem Sonntag in einer Restauration mit Austern regalirte und dieselben mit dem Safte der Citrone würzte, gesagt hatte: „Ein intelligenter Mensch könnte mit den Citronenschalen, die täglich auf den Mist geworfen werden, sich ein Vermögen erwerben.“ Ihr Entschluß war schnell gefaßt. Sie nahm einen Korb und ging nach der Rue Montorgueil, einer Straße, wo die meisten Austern verspeist und folglich die meisten Citronen consumirt werden. Die Kellner der Restaurationen und Kaffeehäuser, welche jeden Morgen die junge hübsche Frau im Kehricht wühlen sahen, versprachen ihr, als sie die Ursache ihrer Morgenbesuche erfuhren, den Vorrath der Schalen sorgfältig aufzubewahren. Das gleiche Versprechen gaben ihr die Theaterkehrer in Bezug auf die Orangenschalen, und nach kurzer Zeit war die tägliche Ernte so reich, daß die Wittwe mehrere Sammler und Sammlerinnen von Citronen- und Orangenschalen in Dienst nehmen mußte. Kurz, ehe drei Jahre vergingen, hatte sie ein großes Atelier, wo über zwanzig Mädchen mit dem Zubereiten, Trocknen, Verpacken und Versenden der Schalen beschäftigt waren. Die Wittwe hat sich längst schon von den Geschäften zurückgezogen und lebt von ihren Renten.

Ein viel sonderbareres Gewerbe ist das Errathen der Rebusse und das Lösen der Räthsel. Die Pariser Philister, die bei ihrer Tasse Kaffee oder bei ihrem Gläschen Cognac im Estaminet sitzen, verspüren im Allgemeinen keine große Lust, die Räthsel und Rebusse in den illustrirten Blättern zu errathen. Allein es kam doch oft vor, daß sie sich vergebens den Kopf zerbrachen und im Eifer sich fast bei den Köpfen kriegten. Jeder von ihnen bewies seinem Nachbar, daß er die Auflösung gefunden, während sein Nachbar ihm das Gegentheil bewies. Da kam ein armer Teufel, der eine große Uebung im Auflösen von Räthseln besaß und diesen Streitigkeiten seit Jahren beigewohnt hatte, auf den Gedanken, aus seinem Talent einen Erwerbszweig zu machen. An den Tagen, an welchen Blätter mit Rebussen, Räthseln und Charaden erscheinen, begiebt er sich sehr früh in die Estaminets gewisser Stadtviertel, händigt dem Wirthe die betreffenden Auflösungen ein und erhält fünf Sous für jede Auflösung. Wenn sich nun die Philistergemüther bei der Auflösung erhitzen und nicht einig werden können, beruft man sich am Ende auf den Wirth, der die officielle Lösung vorzeigt. Dem Oedipus bringt jedes Rebus mehr als dreißig Franken ein, und da deren mehrere wöchentlich erscheinen, so ist sein Gewinnst sehr beträchtlich.




Sprachliche Mißverständnisse. Eine äußerst merkwürdige Erscheinung in der Sprache ist die, daß sich so oft Wörter fortpflanzen, verbreiten und Boden gewinnen, welche, an und für sich der „reine Unsinn“, daraus hervorgegangen sind, daß irgend ein Ignorant das ursprüngliche Mutterwort nicht verstand und nun lustig verdrehte. Aus den vielen Beispielen wählen wir nur zwei. Es giebt im Plattdeutschen ein ziemlich bekanntes Sprüchwort, welches heißt: „De Kiärl höllt viel d’t Mul oapen,“ und vorzugsweise von solchen Leuten, die es lieben, mit offenem Munde müßig zu gaffen, wenn Andere arbeiten, gebraucht wird. Gott weiß, welcher Berliner oder Tiroler dies Sprüchwort hörte und nicht verstand, genug, es hörte es Einer und übersetzte dasselbe: „De Kiärl = der Kerl, höllt = hält, viel = feil, Mul = Maul, oapen = Affen,“ also: „Der Kerl hält Maulaffen feil!“ Seit der Zeit ist unsere Zoologie mit einer Species bereichert, von der sogar Brehm in seinem „Thierleben“ nichts weiß. Ein anderes Beispiel, auch aus dem Plattdeutschen, ist folgendes. Ein allgemein bekannter, in Deutschland häufiger Vogel heißt in diesem Dialekt: „Hiägenmöhner“, Heckentödter, weil er gefangene Insecten, bevor er sie verspeist, an den Dornen der Hecken aufzuspießen, zu tödten pflegt. Der Vater des hochdeutschen Namens unseres Vogels hörte dieses Wort und übersetzte es, „Hiägen“ mit dem in dem breiten, mundfaulen Dialekt gleichklingenden „Niägen“ (Neun) verwechselnd: Neuntödter. Der Vogel muß sich von jetzt an Neuntödter nennen und die Sage gefallen lassen, er spieße mit tödtlicher Sicherheit jedesmal neun Insecten auf. Ebenso mißverstanden, wie der Name des Dorndrehers, ist gewöhnlich auch der des Eisvogels (Alcedo). Eis heißt Gleiß, und das Thier mithin Glanzvogel.




Der erste Erfinder der Nähmaschine. Nicht von einem Amerikaner, sondern von einem Deutschen ist die Nähmaschine erfunden worden, und zwar schon im Jahre 1815.

„Ein Schneidermeister in Wien, Namens Madesperger,“ so lautet der Bericht von Wien aus jener Zeit, „hat eine Maschine erfunden, durch deren Hülfe alle Arten von Näharbeit mit einer Schnelligkeit, Genauigkeit und Festigkeit zu Stande gebracht werden, die durch Menschenhände nicht leicht zu erreichen sind. Eine solche Maschine hat übrigens alle Eigenschaften einer wohlunterrichteten und geübten Menschenhand; die Nadel bleibt still stehen, sobald der Faden zu Ende oder die Naht fertig und verheftet ist; schreitet dann auch gleich selbst zur weitern Arbeit fort, die weder durch die erforderliche Verschiedenheit der Nähte, noch durch die Verschiedenheit der Formen gehemmt wird. Sie ist zur Verfertigung von Stickereien, Strohhüten, Hemden und tuchenen Kleidungsstücken gleich anwendbar. Nachdem der Erfinder diese Maschine den Behörden zur Prüfung vorgelegt, und diese sie durchaus bewährt gefunden haben, so ist dem Erfinder auf diese Maschine für sämmtliche österreichisch-deutsche Erbstaaten ein ausschließliches Privilegium ertheilt worden.“

Die kriegerischen Ereignisse des Jahres 1815 mögen ebensowohl die Verbreitung dieser Maschine verhindert haben, als damals der Mangel öffentlicher weit und insbesondere im Gewerbfache verbreiteter Zeitungen eine jede Reclame, fast selbst nur eine geeignete Verbreitung der Nachricht unmöglich machte. Vielleicht war nicht einmal, wie dies sehr häufig der Fall ist, der Erfinder der geeignete Mann seiner Maschine Eingang zu verschaffen. Aber der erste Erfinder der Nähmaschine bleibt doch der Deutsch-Oesterreicher Madesperger in Wien.
Georg Holzhey.




„Urahne, Großmutter. Mutter und Kind“. Ein sehr eigenthümliches Zusammentreffen ist es, daß wenige Tage vor der Veröffentlichung des interessanten Artikels „Wie ein schönes Gedicht entstand“ (in Nr. 26 unseres Blattes) das Haus in Tuttlingen den Flammen zum Opfer fiel, in welchem vor Jahren „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind“, deren gemeinsames Schicksal Schwab in seinem trefflichen Gedicht so ergreifend schildert, vom Blitze erschlagen wurden – ein eigenthümliches Zusammentreffen, sagen wir, denn, wie alle anderen Beiträge, war der betreffende Aufsatz schon mehr als drei Wochen vorher – welche Zeit die Herstellung jeder einzelnen Nummer unseres Blattes erfordert – in Satz gegeben worden!
D. Red.




Inhalt: Prinz oder Schlossergeselle. Historische Novellette von Louise Mühlbach. (Fortsetzung.) – Ohne Arme! Von J. C. Lobe. Mit Portrait. – Aus meiner Vogelstube. 2. Von Karl Ruß. – Meister Hans. Blätter aus einem zugeklappten Buche. Von Mariam Tenger. – Die Romantik auf der Pleiße. Von Friedrich Hofmann. Mit Abbildung. – Geister vor Gericht. – Blätter und Blüthen: Sonderbare Gewerbe in Paris. – Sprachliche Mißverständnisse. – Der erste Erfinder der Nähmaschine. – „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind“.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Gasser war ein Kärnthner; er trug wirklich lange Jahre den unverwüstlichen Filzhut seiner Großmutter, ein Erbstück!
  2. Der Kanzleigerichtshof ist ein sogenannter Court of equity, Billigkeitsgerichtshof, im Gegensatz zu den „Gerichten des Gemeinen Rechts“, und verhandelt ohne Geschworene, die sonst in England bekanntlich auch bei Civilprocessen mitwirken.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sebst
  2. Vorlage: mehre
  3. Vorlage: Vietelmeile