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Die Gartenlaube (1866)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[665] No. 43.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Doppelcur.
Von Levin Schücking.


Mein Freund Northof ist seit drei Jahren verheirathet. Er hat mir nie gesagt, daß er glücklich mit seiner Frau sei; ich schließe daraus, daß er sehr glücklich mit ihr ist! Und in der That, Beide sind so verschiedene Naturen, daß sie wie für einander geschaffen scheinen. Sie ist reizend, die kleine Frau; weich, hingebend, gläubig, vertrauend und an Allem das Schöne und Gute sehend; sie umkleidet Alles mit der Poesie, die in ihrem Herzen ist.

Northof ist ein scharfblickender, kalt und nüchtern urtheilender Geist; wer ihn nicht näher kennt, findet ihn zu kalt und es giebt Leute, die ihn gemüthlos nennen. Aber das ist er durchaus nicht. Man muß ihn nur näher und länger kennen, um zu erfahren, daß er ein treues, warmes Gemüth hat und daß man fest auf ihn bauen kann. In seinem Wesen ist nur ein gewisser spöttischer Zug und etwas Ablehnendes, etwas Aristokratisches … Leute, welche ihr Herz auf der Hand tragen und es lieben, mit der ganzen Welt auf Du und Du zu stehen, finden das freilich unbehaglich und nennen es abstoßend. Seine Frau, seine blonde, schwärmerisch aus ihren blauen Augen blickende Alwine, weiß aber sicherlich, was sie an diesem festen, ruhig schlagenden Mannesherzen hat. Wenn ich etwas an ihm tadeln soll, so ist es seine zähe Hartnäckigkeit. Wenn er etwas unternommen hat, so will er es durchsetzen; geht es nicht mit den gewöhnlichen Mitteln, ich glaube, er wäre im Stande, zu sehr verzweifelten zu greifen; bei einem Vorhaben zu scheitern, würde ihm ganz unerträglich sein.

Und Eines, hat Alwine mir gesagt, verdrießt sie an ihrem Ernst, das ist, daß er Advocat ist, daß er so schrecklich viel zu thun hat und seinen Acten so viel Zeit zuwendet. Sie begreift nicht, wie man so der Sclave der Arbeit sein kann. Er ist wohlhabend und sie ist es. Kinder sind nicht da. Wozu nur dies ganze Leben der Prosa einer innerlich und geistig so gar nicht fördernden, um die untergeordneten Fragen des Mein und Dein sich drehenden Arbeit opfern, die ihn doch so in Anspruch nimmt, daß er zeitweise für nichts Anderes Gedanken hat und man glauben sollte, es hinge die Welt davon ab, ob ein Obergerichtserkenntniß einem proceßsüchtigen Bauern oder seinem Nachbar, dem Müller, die Beweislast auferlegt?

Er könnte ihr freilich ein wenig mehr Zeit opfern, er könnte ein wenig mehr ihre Interessen theilen, es würde das sie glücklich machen; ich sehe es ja, wie es sie freudig erregt, wenn er ihrem Spiele und ihrem Gesange zuhört – sie hat eine kleine, aber gut geschulte und recht seelenvolle Stimme – und wie sein auf ihr ruhendes Auge dabei ihr Schwung giebt! Aber wenn wir unsere dramatischen Leseabende mit vertheilten Rollen bei ihr haben, läuft er immer davon und vergräbt sich in seine Acten, und nie hat sie ihn dazu bringen können, eine Novelle oder einen Roman, in den sie sich eben mit ihrem ganzen Denken und Fühlen verloren hatte, mit ihr zu lesen. Er bringt’s nun einmal nicht über sich, mehr als drei Seiten davon zu überlaufen, obwohl er sehr lebhaft betheuert, daß er eigentlich sehr gern so etwas lese, daß er als Student mit Eifer die sämmtlichen Erzählungen von Zschokke gelesen, daß sie ihm außerordentlich gefallen haben und daß er sich auch nächstens daran machen wolle, von all’ den neueren Sachen einmal gründlicher Kenntniß zu nehmen … für den Augenblick aber leiden’s die Acten nicht. Und so bleibt sein Bildungsstandpunkt, was das Gebiet der neueren Literatur angeht, der gute alte Vater Zschokke, der alte Aufklärungsdichter, wie Alwine ihn achselzuckend nennt. Dies Alles führte schließlich zu einer kleinen Katastrophe, die auf Beider Leben nicht ohne Einfluß blieb.

Ernst kam neulich sehr verstimmt nach Hause. Es war um die Mittagsstunde. Er fand Alwine an ihrem Schreibtische sitzen, in sehr nachdenklicher Stellung, das Haupt mit den blonden Locken auf den linken Arm stützend, während die Rechte auf ein Blatt Papier, welches mit wenigen Zeilen beschrieben war, Buchstaben malte und Schnörkel zog; als er eintrat, schlug sie wie überrascht die Schreibmappe zu und verschloß diese in den Schreibtisch.

„An wen schreibst Du, mein Kind?“ fragte Ernst mit der Hand über die Stirn fahrend, wie um die Falten derselben zu glätten.

„An Niemand,“ versetzte sie, ein wenig erröthend, „ich notirte mir nur etwas.“

„Einen Gedanken in’s Tagebuch?“

„Nun, vielleicht,“ sagte sie ausweichend und zur Klingelschnur gehend, um das Essen auftragen zu lassen. „Du siehst so ernst aus, lieber Mann, hast Du Verdruß gehabt?“

„Wenn Du willst, ja.“

„Ein Urtheil ist wider Dich ausgefallen?“

„Das nicht … es ist nichts, was mich persönlich angeht; ich war nur in der Lage, für einen Bekannten, der meine Vermittlung erbeten, einem harten, störrischen, tückischen alten Manne, der mich zur Verzweiflung brachte, derb die Wahrheit sagen zu müssen, und dabei bin ich leider mehr in Aerger gerathen, als der alte Bösewicht selbst.“

„Ach, wie kamst Du dazu … was ist das für eine Geschichte?“ fragte Alwine neugierig.

„Die Geschichte,“ versetzte Northof, „ist wunderlich und merkwürdig genug, ein Stück Romantik des wirklichen Lebens … [666] aber klingele doch noch einmal, die Köchin scheint es überhört zu haben.“

„Und wie ist die Geschichte?“ sagte Alwine, noch einmal die Klingelschnur ziehend.

„Ich bedaure wirklich, daß ich sie Dir nicht erzählen kann.“

„Ist sie nicht für ein Frauenohr?“

„O doch … aber sie ist mir als Anwalt anvertraut, sie ist nicht mein Geheimniß.“

Alwine verzog schmollend den Mund.

„Es ist sehr garstig von Dir, daß Du mir nicht einmal so viel vertraust.“

„Herz,“ sagte Ernst, seine kleine Frau umschlingend und sie auf die Stirn küssend, „und ich sage Dir, es ist sehr ungerecht von Dir, daß Du so redest. Sieh’, kann die Geschichte nicht Menschen betreffen, die Du kennst, mit denen Du zusammentriffst und denen an Deiner Achtung gelegen ist, und könnten sie nicht ganz besonders wünschen, daß auch Du ihre Geschichte nicht erfährst, weil sie dadurch in Deiner Achtung zu verlieren fürchten?“

Alwine war durch diese Andeutung nur noch gespannter auf die Geschichte geworden, und deshalb machte das Plaidoyer ihres Ernst nicht den erwünschten Eindruck auf sie.

„Ich weiß aber wirklich nicht, wo die Suppe bleibt,“ sagte dieser.

„Ich will einmal selber in die Küche gehen,“ antwortete Alwine, sich ihm entziehend.

Ernst schritt unterdeß düster zur Erde blickend und die Hände auf den Rücken legend im Zimmer auf und ab.

„Dieser böse Alte!“ flüsterte er nach einer Weile. „Ich weiß wirklich nicht, was der arme Mensch, der sich so in seiner eigenen Schlinge gefangen hat, nun beginnen soll!“ Er ging so eine Viertelstunde hin und her, bis seine Gattin zurückkam, die Köchin mit der dampfenden Suppenschüssel hinter sich.

„Sie kommt, sie kommt, des Mittags stolze Flotte,“[WS 1] rief mit erhitztem Gesicht und ein wenig verlegenem Lächeln Alwine eintretend aus.

„Freilich, spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!“[WS 2] erwiderte Ernst, „es ist jetzt halb drei, mein liebes Kind, weißt Du das?“

„In der That?“ sagte Alwine nach ihrer Uhr sehend. „Wirklich … wie mir die Zeit verflogen ist!“

„Ueber Deinen Tagebuchgedanken?“

„Nun ja, wenn Du willst,“ entgegnete die junge Frau ihrem Gatten verlegen … „ich war wirklich so absorbirt …“

„Absorbirt? Das ist ja merkwürdig! Da bitte ich Dich, daß Du mir Deine Gedanken, die Dich so in Anspruch genommen haben, daß Du darüber Deinen armen, hungrig heimkehrenden Mann vergaßest, vorliesest.“

Alwine schüttelte lächelnd den Kopf.

„Geheimniß gegen Geheimniß!“ sagte sie schelmisch und eifrig, „Du bekommst nun auch meine Geschichte nicht.“

„Deine Geschichte?“ fragte er erstaunt.

Sie erröthete. „Ich sehe, ich habe mich verrathen,“ sagte sie … „ja, so wisse es denn, ich habe mich abgequält, eine Geschichte zu erfinden, ich möchte gar zu gern einmal selbst etwas schreiben, und meine Freundin Therese Gerten, die für die ‚Iris‘ arbeitet, quält mich so …“

Ernst warf einen Blick voll einer nicht sehr angenehmen Ueberraschung auf seine Frau.

„So, die Gerten quält Dich … und Dein eigener Ehrgeiz, als Dichterin zu debutiren, wohl auch?“

„Das sagst Du so sarkastisch … wäre es Dir denn nicht recht? Ich habe so viele freie Zeit, wenn Du bei Deinen Acten oder in Deinem Weinclub bist …“

„O gewiß, liebes Kind, wenn es Dir Vergnügen macht, ist es mir ganz recht. Findest Du nicht, daß der Braten wieder einmal zu spät aufgesetzt und zu rasch fertig gemacht ist?“

Alwine schwieg verstimmt über diese so wenig zum Gegenstand des Gesprächs passende Bemerkung. Es war so gleichgültig, ob der Braten ein wenig rascher oder langsamer fertig gemacht war, und Alwine hätte so gern dieses Gespräch zu einem befriedigenden Ende geführt. Aber Ernst ging nicht weiter darauf ein. Er verzehrte einsilbig sein Mahl.


Nach Tische, als Ernst seine Cigarre angezündet hatte, sah er eine Weile sehr nachdenklich den blauen Rauchwirbeln nach, und als ihm Alwine den Kaffee brachte, sagte er wie zerstreut:

„Du sprachst mir vorhin von einer Geschichte, welche Du erfinden wolltest, um Dich in der Schriftstellerei zu versuchen. Hast Du es sehr schwer gefunden, liebes Herz?“

„Ach ja, das ist’s ja eben,“ versetzte sie lebhaft und erfreut, ihn zu einem Thema zurückkehren zu sehen, daß sie in diesem Augenblick so sehr in Anspruch nahm … „ich finde es fürchterlich schwer, einen Stoff zu erfinden.“

„Und Du bist nicht damit zu Stande gekommen?“

„Mit gar nichts. Zehnerlei Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen, aber es kam mir Alles als höchst gewöhnlich und als schon dagewesen vor …“

„Ich denke mir,“ fuhr Ernst fort, „man müßte es nicht erzwingen wollen, sondern sich ganz dem freien Spiele der Phantasie hingeben und sehen, was sie ausspänne. Auch würde ich nicht gerade etwas ganz Absonderliches, Abenteuerliches zu ersinnen streben. Ich verstehe nicht viel davon, aber ich meine, an einem einfachen Stoffe bewährt sich am besten das Talent; nur die Ohnmacht, der Mangel an eigentlichem Talent sucht durch Effecte und unglaubliche Abenteuer, durch nie dagewesene und nie mögliche Dinge zu fesseln und zu spannen.“

„Darin bin ich ganz Deiner Ansicht; einfache Geschichten, wenn sie nur geistreich und hübsch vorgetragen sind, zieht Jedermann, der nur einigen Geschmack hat, vor …“

„Nun, so erfinde Dir eben eine ganz einfache Geschichte und trage sie hübsch und geistreich vor, das kann Dir doch nicht schwer werden.“

„Doch, doch, wenn Du es einmal versuchtest,“ antwortete Alwine, ohne den etwas spöttischen Ton, womit dies gesagt wurde, zu beachten, „so würdest Du sehen, wie schwer es ist, auch die einfachste Geschichte zu erfinden.“

„Ich will Dir helfen.“

„Du?“ sagte lächelnd Alwine.

„Traust Du mir es nicht zu?“

„Dir – wahrhaftig nicht! Höchstens eine verwickelte Proceßgeschichte würdest Du ausspintisiren …“

„Nun, wir wollen sehen … mir ist, als wär’ ich eben in der Stimmung. Setz’ Dich zu mir, und dann beginnen wir. Aber freilich, beginnen mußt Du, damit die Sache erst einmal in’s Rollen kommt.“

„Nun, siehst Du!“ sagte triumphirend Alwine, sich neben ihn auf das Sopha setzend.

„Ich sehe,“ sagte Ernst, sich die Stirn reibend. „Aber so beginn’ doch nur … Du sagtest ja, Du hättest zehnerlei Gedanken gehabt … nenne mir einen dieser Gedanken … ich hoffe, haben wir nur erst einen Nagel, ihn in die Wand zu schlagen, so findet sich auch etwas, es daran zu hängen!“

„Einen meiner Gedanken will ich Dir mittheilen. Ich stellte mir einen recht bösen, zornigen, tyrannischen, das Geld über Alles liebenden Vater vor …“

„Und eine Tochter!“ fiel Ernst ein.

„Und eine Tochter, sehr liebenswürdig, sehr anziehend, von tiefer Empfindung …“

„Natürlich,“ nickte Ernst. „Und einen jungen Mann …“

„Der junge Mann,“ fuhr Alwine fort, „ist von großer, schlanker Figur; er hat Deine Figur, Ernst; auch dunkelkastanienbraunes Haar, an den Spitzen ein wenig gelockt; Du weißt, ich liebe das so,“ setzte Alwine hinzu, indem sie zärtlich und erregt mit den weißen Fingern das Haar ihres Gatten zurückstrich, „er ist dabei ein Ausbund von Bravheit; er hat eine Mutter, welche ganz von ihm abhängt und die er mit zärtlichen Sorgen umgiebt; er ist nicht geistreich, nicht beredt, nicht glänzend, es wird ihm sogar schwer, sich auszusprechen und den Ausdruck für das, was er fühlt, zu finden; aber er empfindet unendlich tief, leidenschaftlich tief, und dabei ist er eine eben so aufopferungsfähige wie verschlossene Natur; er ist der größten, heldenmüthigsten Hingabe fähig …“

„Prächtig, mein Kind, ganz prächtig; ich sehe, Du hast Dir den Charakter Deines Jünglings mit der ganzen Vorliebe einer Frau für ihren ‚Helden‘ schon ausgearbeitet; Du hast gewiß auch schon bedacht, wie Du ihn kleiden willst, doch immer schwarz, denk’ ich, und im Salon, worin eine glänzende Gesellschaft versammelt [667] ist, stellst Du ihn an den Kamin, mit dem Arm sich darauf stützend und mit den dunklen Blicken, die eben so viel Stolz wie Schwärmerei ausstrahlen …“

„Ach, ich glaube, Du spottest schon!“ fiel Alwine schmollend ein.

„Nicht im Mindesten … treff’ ich Dein ‚Ideal‘ nicht?“

Sie gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter.

„Was weißt Du davon, was eine Frau sich für ein Ideal macht!“ sagte sie.

„Fahren wir fort,“ entgegnete Ernst lächelnd. „Sollen wir Dein ‚Ideal‘ noch weiter ausmalen, oder sollen wir es jetzt im gewöhnlichen Alltagsleben in irgend einer Stellung unterbringen? Da es arm ist und eine Mutter zu ernähren hat, muß es doch arbeiten, oder schickt sich das für ein Ideal nicht?“

„Wenn Du nicht aufhörst, in dem Tone zu reden, werde ich Dir ernstlich böse, Ernst.“

„Mir böse? Und Du siehst doch, welch’ Vergnügen es mir macht, in Deine Gedanken einzugehen. Also fahre fort.“

„Ich mag gar nicht.“

„So will ich es für Dich thun. Ich denke, der Held ist Buchhalter in dem Geschäft des harten, reichen Papas, der seine Tochter durchaus an einen häßlichen, alten Landjunker verheirathen will, weil er sie ihm fest zugesagt hat …“

Alwine rieb sich die Stirn, der häßliche, alte Landjunker war gut; es ließ sich bei der Schilderung desselben recht viel Humor aufwenden. Aber Buchhalter? sie hätte den Helden lieber in ein idealeres Gewand gekleidet, z. B. in eine hübsche Cavalerieofficiers-Uniform, oder ihn in eine poetischere Lebenssphäre gestellt, etwa als Gesandtschaftsattaché … oder Seemann … oder Forstbeamten …

„Buchhalter ist nicht hübsch,“ sagte sie zögernd.

„O, ich denke doch, es scheint mir zu seinem Charakter zu passen, der anspruchslos sein soll, und da wir es mit einer einfachen Geschichte zu thun haben, so könnten wir dabei bleiben; doch könnte man auch einen Künstler, einen Maler aus ihm machen …“

„Nein, nein, nicht das; die eine Hälfte aller Novellen hat Maler, die andere Studenten zu Helden. Bleiben wir immerhin beim Buchhalter, und nun will ich Dir sagen, wie ich’s mir weiter dachte. Ich dachte mir, der Held unserer Geschichte, der nicht gewagt hat, sein Gefühl für die Geliebte zu gestehen, trete an ihrem Geburtstage zu ihr in’s Zimmer, um ihr einen herrlichen Strauß zu bringen, er finde sie in Thränen, sie gestehe ihm, daß ihr Vater sie mit einem Bewerber …“

„Dem Landjunker …“

„Dem Landjunker verlobt habe, daß über sechs Wochen die Trauung sein solle, daß sie sich vorher in’s Wasser stürzen würde, und diese niederschmetternde Mittheilung entreiße dem Helden das Geständniß seiner leidenschaftlichen Liebe.“

Alwine sah ein wenig unsicher und fragend ihren Gatten an. Dieser blickte den blauen Rauchwölkchen seiner Cigarre nach und sagte lakonisch: „Weiter!“

„Ja, weiter bin ich nicht gekommen.“

„Das ist allerdings nicht sehr weit, und wenn die Geschichte das Lob der Einfachheit nicht in einem etwas bedenklichen Maße verdienen soll, müssen wir freilich noch etwas hinzuthun. Also, laß sehen! Da der Vater ein Erztyrann ist, so sehe ich nicht wohl, was die Tochter gegen seinen herrischen Befehl machen kann. Sie könnte sich höchstens seiner Machtsphäre entziehen …“

„Sie könnte fliehen,“ fiel Alwine ein.

„Das ist recht gut,“ fuhr Ernst fort. „Eine Flucht, unter schwierigen Umständen, aus strenger Bewachung, ist etwas höchst Spannendes. Also sie flieht, flieht zu einer Verwandten des Helden in irgend einer großen Stadt; nehmen wir Wien, Paris, London. Der Buchhalter ist natürlich im Geheimniß, er schützt nach einiger Zeit eine nothwendige Geschäftsreise vor und besucht die Geliebte in – sagen wir London. Die Tante in London hält Rath mit den beiden unglücklichen jungen Leuten: ‚Mein Gott,‘ sagt sie ihnen endlich, ‚man heirathet sich ja so leicht in London, man braucht nur sechs Wochen in einer Pfarrei gelebt zu haben und nachzuweisen, daß man mündig ist; oder man geht einfach auf’s License-Office und holt sich für ein paar Pfund einen Dispens von allen Förmlichkeiten, dann hat man weiter nichts nöthig, als daß man den Fiaker herbeiwinkt, um zur Kirche zu fahren.‘“

„Aber Helene, – findest Du den Namen gut gewählt? – kann sich wider den ausgesprochenen Willen ihres Vaters, der, wenn auch ein alter Tyrann, doch immer ihr Vater ist, nicht dazu entschließen. Meinst Du nicht auch so?“

„Gut denn … machen wir es so; Helene lehnt den Vorschlag ab, sie bleibt fest, bleibt unerbittlich in diesem Punkt; Hugo – Dein Held heißt doch Hugo? das klingt hübsch – fühlt sich gereizt über dies Widerstreben, nach einer kleinen Scene eilt er von Helenen fort, um zornig in irgend einem stillen entlegenen Winkel eines Parks über die Thatsache nachzudenken, daß von allen unnützen Einrichtungen dieser argen Welt unnütze alte Väter doch die verdrießlichsten sind. Im Parke, auf einer Bank sitzend, findet er eine halb kummervoll, halb gelangweilt aussehende junge Dame, welche durch ihre äußere Erscheinung die Voraussetzung, daß sie der Demi-Monde angehöre, nicht als eine nie erlebte und unerhörte Beleidigung aufnehmen kann. Hugo wagt es darauf hin, sie anzureden, sie antwortet in einer Weise, die ihm in Beziehung auf die Feststellung ihres Standes nichts zu wünschen übrig läßt, sie ist eine Näherin oder Putzarbeiterin ohne Arbeit, und mit der Entschlossenheit eines Mannes, der nur noch in desperaten Schritten Rettung sieht, spricht Hugo zu der besagten Dame:

‚Wo wohnen Sie, Miß?‘

Die Miß giebt ihre Wohnung an, sie wohnt in – sagen wir: Bakerstreet.

‚Im Kirchspiel Marylebone, sehr gut,‘ versetzt Hugo, ‚es vereinfacht die Sache, ich wohne – etwa ‚Cavendishsquare, das liegt im selben Kirchspiel. Würden Sie mir den Gefallen erzeigen und mir gegen eine anständige Belohnung einen kleinen Dienst leisten?‘

‚Worin würde er bestehen?‘ antwortet sie.

‚Sich mit mir trauen zu lassen.‘

‚Mit Ihnen … trauen zu lassen?‘

‚Ich sagte so, Miß.‘

‚Aber ich kenne Sie ja gar nicht!‘

‚Ein nicht ungewöhnlicher Fall bei Leuten, die sich heirathen; das Kennenlernen kommt oft nachher,‘ versetzt er, ‚bei uns würde das Außergewöhnliche nur darin bestehen, daß wir uns auch nachher nicht kennen lernen würden; denn nach der Vollziehung der Ceremonie würde ich die Fortsetzung der Bekanntschaft Ihnen in keiner Weise zumuthen …‘“

„Aber,“ rief hier Alwine aus, „Du sprichst da ja ganz verrückte Dinge aus! Hugo soll die Näherin, oder was sie ist, heirathen und Helenen vielleicht im Zorn, daß sie ihre Kindespflicht nicht verletzen will, sitzen lassen, ihr das Herz brechen?“

„Höre nur weiter, wie ich mir die Sache denke; von Herzbrechen soll gar nicht die Rede sein. Hugo nämlich fährt fort: ‚Um darüber sicher zu sein, daß keine weitere Bekanntschaft einträte, müßte ich mir ausbedingen, daß Sie für die Ceremonie sich gefallen ließen, einen andern Namen zu führen, nur auf eine halbe Stunde … einen deutschen Namen, etwa Helene Starrherz,‘ würdest Du etwas gegen den Namen Starrherz haben?“

„Ach,“ rief die junge Frau aus, „jetzt begreife ich, worauf Du hinaus willst … Der Einfall ist vortrefflich … fahre fort.“

Ernst sah lächelnd in ihre erregten, rosigen Züge. „Ich beginne Dir zu imponiren mit meiner Phantasie.“

„Wahrhaftig, das thust Du, ich hätte so viel gar nicht hinter Dir gesucht … das ist ja ganz einzig … aber weiter, weiter.“

„Weiter sag’ ich Dir nichts, weiß auch nichts mehr. Es ist Dein Werk und Dein muß es bleiben. Ich habe durchaus nicht den Ehrgeiz, Dir den Ruhm der Erfindung streitig zu machen.“

„In der That,“ rief Alwine aufgeregt aus, „das Andere folgt wie von selbst. Hugo verschafft sich Helenens Geburtsschein.“

„Richtig, und ein Zeugniß eines Beamten oder irgend einer competenten Persönlichkeit, daß sowohl er wie Helene sechs Wochen lang im Kirchspiel Marylebone gewohnt haben … mit diesen Documenten versehen geht er mit seiner Näherin zur Kirche, wo der Pfarrer sie traut und der Küster und der Kirchspielschreiber als Zeugen dienen. Der Pfarrer macht dann die Eintragung in’s Kirchenbuch, Hugo läßt sich sofort davon einen Auszug durch den Kirchspielschreiber besorgen und im Besitze dieser wichtigen Urkunde nimmt er Abschied auf Nimmerwiedersehen von seiner Näherin, der er ihre Bereitwilligkeit, ihm diesen Dienst zu leisten, reichlich belohnt.“

„Ganz recht, und dann eilt Hugo zum Vaterlande zurück; er tritt vor den Vater Helenens …“

[668] „Vor den Vater Helenens? Ich weiß nicht ganz, ob ich das zweckmäßig finde; ich denke, es ist anzunehmen, daß Hugo doch zögert, so den Stier bei den Hörnern zu ergreifen; sein Gewissen ist doch bei der Sache nicht ganz rein; der Vater könnte, bevor er eine Antwort gäbe, an Helenen schreiben, und es wäre möglich, daß Helene im Conflicte ihrer Liebe und des Gefühls ihrer Verpflichtungen gegen den Vater sich nicht von ersterer fortreißen ließe, sondern dem Vater die Wahrheit gestände … Hugo muß wenigstens solche Bedenken haben, und ich halte es für besser, ihn zuerst zu dem Landjunker gehen zu lassen. In diesem sieht er das Haupthinderniß seines Glückes, ihn sucht er zu beseitigen; indem er vor ihn tritt, ihm seinen Trauschein vorlegt und ihm sagt: ‚Du siehst, Helene ist im Geheimen mein Weib – erkläre jetzt ihrem Vater, daß Du Deinen Ansprüchen entsagst,‘ thut er, was zunächst in seinem Plane lag.“

„Darin sollst Du Recht haben, Ernst; aber dann muß er doch mit dem Vater reden?“

„In der That. Der Landjunker läßt sich blenden und eilt zum Vater; dieser verlangt den Trauschein zu sehen – er nimmt ihn an sich, als Hugo ihn vorweist, und erklärt mit größerer Ruhe und Gelassenheit als Hugo gehofft, er wollte ihn von einem Juristen prüfen lassen, wenn er echt und authentisch, so sehe er ein, daß er sich in die Dinge, wie sie nun einmal seien, fügen müsse.“

„Vortrefflich,“ rief Alwine aus, „unser Stoff ist wirklich ganz hübsch … Hugo schreibt nun seiner Helene den Stand der Dinge, diese kommt zurück, der Vater giebt ihnen seinen Segen, und als Hugo ihm nun ein wenig beklommen sagt: aber einer kleinen nachträglichen Trauung, lieber Schwiegerpapa, wird es noch bedürfen, da …“

„Da macht der böse, harte, tückische Schwiegerpapa wie ein rechter Komödienpapa noch einmal gute Miene zum bösen Spiele? Ich denke, das ist nicht gut. Der Schluß gefällt mir nicht,“ warf Ernst nachdenklich ein. „Du mußt einen andern ersinnen.“

„Welchen meinst Du, zum Beispiel?“

„Nehmen wir lieber an, Helene, die ein Muster von einer guten Tochter ist, sei erzürnt über die Intrigue Hugo’s, über die Täuschung, die er sich gegen ihren Vater erlaubt, über das Unwahre, Trughafte in dem Auskunftsmittel ihres Geliebten. Sie mache, von London zurückgekehrt, Hugo bittere Vorwürfe; dieser erwidere ihre Vorwürfe mit dem Vorwurf, daß sie nicht Muth und Hingebung genug für ihn gehabt, um sich selbst in London mit ihm trauen zu lassen; daß ihre Zaghaftigkeit ihn gezwungen zu dem, was er gethan. Nehmen wir an, daß dieser Streit sich erhitzt, daß eine Erkaltung zwischen den Liebenden eintritt, daß endlich Helene ihrem Vater, den sie lebhaft beflissen findet, eine Wohnung für das junge Paar in seinem Hause einzurichten, der sie schon drängt, diese zu beziehen, endlich in der Verlegenheit die Art, wie er hintergangen ist, gesteht; daß der Vater nun durchaus nicht den Komödienpapa, sondern den rechten Trauerspiel-Tyrannen macht; daß Hugo im höchsten Zorn über Helene dieser zuletzt einen Absagebrief schreibt und daß der vollständigste Bruch eintritt.“

„Für immer?“ fragte Alwine betroffen.

„Ich denke für immer, Kind … Denn nach einem paar Jahren lernt Hugo auf einer Geschäftsreise – er ist Compagnon in einem anderen Handelshause geworden – eine junge Dame kennen, der sein über Helenens Verlust durch die Zeit getröstetes Herz sich zuwendet. Auch ihr gefällt er; er bewirbt sich um ihre Hand, er erhält ihre Zusage, er erhält die Einwilligung ihrer Eltern, seine Verlobung wird bekannt gemacht, er wird in der Kirche seiner Vaterstadt proclamirt … Da, als er eben zur Trauung abreisen will, empfängt er einen Brief von seinem ehemaligen Pseudo-Schwiegervater, des grausamen und höchst unerwarteten Inhalts: ‚Mein lieber Herr Hugo, Sie scheinen vergessen zu haben, daß ein gewisses, in London vom Kirchspielschreiber der Pfarrei von Marylebon ausgestelltes Document noch in meinen Händen ist. Sobald mir die Nachricht von Ihrer Verheirathung zugekommen sein wird, werde ich nicht ermangeln, besagte Urkunde der Staats-Anwaltschaft zu übergeben, mit dem Antrage, die Untersuchung wegen Bigamie gegen Sie einzuleiten!‘“

„O,“ rief Alwine fast erschrocken aus, „das wäre ja schrecklich für den armen Hugo, der ja durch den Verlust Helenens für seinen freilich etwas leichtsinnigen Streich gestraft wäre.“

„Ich denke, diese Wendung ist aber doch überraschend und – recht hübsch?“

„Gewiß, gewiß,“ fiel Alwine voll Eifer ein … „aber weißt Du, daß ich Dich bewundere? Das fließt Dir ja nur so von den Lippen, Du hast ja eine merkwürdige Erfindungsgabe, das hätte ich Dir wirklich nicht zugetraut, Ernst!“

„Nicht? Hättest Du nicht? Ich glaube, Du traust mir überhaupt nicht genug zu, Herz!“

„Dies wirklich nicht!“ sagte sie lächelnd und zärtlich ihre Wange an seine Schulter legend. „Aber was beginnt Hugo nun?“

„Was er beginnt? In der That, das ist schwer zu sagen. Was soll er beginnen? Seine Trauung in London war eine völlig nichtige, ohne Intention vorgenommene, auf eine Täuschung hinauslaufende, durch den Betrug ungültige; aber wie kann er dies beweisen? Die einzige Zeugin, jene Grisette, kann er nicht herbeibringen, denn wie sollte er sie wieder auffinden in der ungeheuren Stadt; vielleicht hat sie auch London längst verlassen.“

„Aber Helene … sie wird doch für ihn zeugen?“

„Helene? das ist’s eben, sie gilt vor Gericht nicht als unverdächtige Zeugin; ihr Zeugniß kann eine öffentliche Urkunde mit Stempel und Siegel nicht umwerfen, und die einzige Zeugin, die Hugo noch haben würde, seine Tante in London, ist todt … das heißt, wir müssen sie todt machen, ohne Gnade und Barmherzigkeit, und nun ist die Lage der Dinge so, daß Hugo es auf die Bigamie-Untersuchung nicht ankommen lassen darf, wirklich nicht!“

Alwine erhob sich und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. „Laß mich nur nachdenken,“ sagte sie, „ich denke, ich mache den Schluß so, daß Hugo seiner Braut entsagt, das wäre die poetische Gerechtigkeit …“

„Oder daß Du zum Schluß sagtest: ‚Lieber Leser, Hugo befindet sich heute in dieser fürchterlichen Lage, er weiß kein Auskunftsmittel, er ist der Verzweiflung nahe, daß so der Fluch der bösen That sein Lebensglück zerstört; du bist klug und einsichtig, lieber Leser, sinne du nach, gewiß hast du guten Freunden schon oft mit dem sinnreichsten Rath geholfen, hilf auch Hugo; überlege dir, was er thun muß, und schreibe es mir in frankirten Briefen, ich werde es ihm sicher zukommen lassen.‘ Ich meine, ein solcher Schluß wäre neu!“

Alwine schüttelte den Kopf.

„Ich will darüber nachdenken. Da wir so viel haben, wird sich der Schluß schon wohl finden. Denk’ auch Du nach. Der Stoff aber ist prächtig. Ich werde mich mit rasendem Eifer daran machen und ihn auszuführen versuchen. Wenn es mir gelänge! Würde es Dich nicht auch freuen, Ernst?“

„Freuen? Nun, wir Männer denken nicht alle gleich über das Thema der schriftstellernden Frauen. Ich, was mich angeht, möchte mich nicht in Widerspruch zu Deinen Neigungen setzen; ich habe Dir in Allem Deine völlige Freiheit gelassen, und wenn es Dir nun einmal eine Genugthuung ist, solch’ eine Geschichte zu schreiben, so fürchte ich, würde mein Protest auch die Lust zu diesem neuen Zeitvertreib nur schärfen; Evatöchter seid Ihr doch Alle! Lasse mir darüber nur nicht wieder den Braten anbrennen!“

„Wie kühl Du davon sprichst, nachdem Du mir doch selbst geholfen, den schönen Stoff zu erfinden!“

Ernst stand lächelnd auf, seine Cigarre war zu Ende und er schickte sich an, in sein Bureau zu gehen, um zu sehen, ob Posteinläufe da seien; in der Thür wandte er sich zurück und sagte: „Weißt Du wohl, daß auch eine Gefahr bei der Sache ist?“

„Eine Gefahr? Und welche? … wenn Du nicht anders wieder auf den langweiligen Braten zurückkommen willst.“

„Das nicht! Aber man hat oft gesagt, daß die kühnste Phantasie nichts ersinnen könne, was nicht schon oft dagewesen sei; daß man keine romanhaften Situationen erdichten könne, welche das Leben nicht noch viel merkwürdiger aufweise.“

„Das mag sein! Aber was thut das?“

„Was es thut? Es würde mich ängstlich machen. Ich würde beim Schreiben immer denken: Gott im Himmel, wenn ich nun da etwas schilderte, was sich wirklich ereignet hat, was die Personen, denen es geschehen, lesen werden, was mir ihre tödtliche Feindschaft zuzöge!“

Alwine lachte laut auf.

„Welch’ ein komisches Bedenken!“ rief sie aus. „Das nenne ich ängstlich sein! Ich glaube, Du willst mich abschrecken, und … der unglückliche Braten steckt doch dahinter!“

„Wirklich nicht!“ sagte Ernst mit schlauem Gesicht. „Es mag [669] freilich zu ängstlich von mir gedacht sein. Aber es ist ein verhängnißvoller Schritt, der in die Oeffentlichkeit. Nicht allein Blut, auch Druckerschwärze ist ein ganz besonderer Saft …

Wirfst Du den Stein – bedenke wohl,
Wie weit ihn Deine Hand wird treiben …
Oft trifft ein Wurf des Nachbars Scheiben.“[WS 3]

Um Ernst’s Lippen zuckte bei diesen Worten ein besonders spöttisches Lächeln, das Alwine jedoch nicht wahrnahm, weil er sich wandte und ging. An die Warnung, die er ausgesprochen, dachte sie weiter nicht.


Im Grunde und nach längerem Erwägen war Alwine doch nicht so ganz entzückt von dem Stoffe; denn die betrügerische Handlung des Helden mißfiel ihr. Aber das Verdienst der Neuheit schien ihr der Stoff zu haben und was mehr war, es gelang ihr nicht, rasch einen besseren zu ersinnen, und so begab sie sich denn, nachdem sie einen passenden Abschluß gefunden, mit großem Eifer an die Ausarbeitung und fühlte bald die ganze Zärtlichkeit für ihr Werk, die uns eigene Hirngespinnste, Erfindungen und Ideen nur einflößen können. Sie schwelgte in den Gefühlen ihrer Gestalten und schwelgte in dem Vorgefühl des Erfolgs; sie kostete im Voraus einen kleinen Tropfen jenes süßen und schäumenden Getränks, nach dem eine junge Autorseele lechzt und das man Ruhm nennt, jenes Getränkes, an dem so entsetzlich viel Schaum und so wenig nahrhafter Stoff ist. Ernst sah still ihrer Emsigkeit zu; er machte ihr keine Bemerkungen über ihr geröthetes Gesicht; er störte sie nicht durch das prosaische Verlangen, ihm einen abgerissenen Hemdknopf anzusetzen, oder einen geplatzten Handschuh zu nähen; er wartete schweigend, wenn die Suppe ein wenig später erschien; er legte sich Abends ruhig nieder und ließ die emsige Gattin bei ihrer Lampe am Schreibtisch; er war ein wahres Muster von einem Manne einer berühmten Frau; er war wirklich rührend, denn als die Arbeit, nach vierzehn Tagen etwa, fertig war, sah er sie durch, half Alwine gründlich feilen, machte ihr die sämmtlichen Kommas und Semikolons, über deren Anwendung sie nie zu recht klaren Vorstellungen gekommen zu sein betheuerte, und ließ das Ganze in seiner Schreibstube abschreiben.

„Und hältst Du das Werk nun wirklich der Veröffentlichung werth?“ sagte sie.

„Gewiß thue ich das, liebes Kind; Du hast es doch dafür geschrieben?“

„Das wohl … aber …“

„Du zagst jetzt, mit Deinem Namen in die Welt zu treten?“

„Freilich … aber ich sehe ein, daß es kindisch ist; ich habe das Verstecken hinter falschen Namen immer so gehaßt … deshalb, wenn Du überhaupt meinst, daß ich nicht zu fürchten brauche, mich damit ein wenig lächerlich zu machen …“


Das Jagdopfer auf dem Friedhofe.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

[670] Alwine war im Stillen nicht beunruhigt über diesen Punkt; Anfänger sind es überhaupt nicht!

„O gewiß nicht. Ich würde es unbedingt drucken lassen!“

„Dann sei es auch mit meinem Namen!“

„Ich habe nichts dagegen!“

„Aber wo räthst Du mir? In unserem Provincialblatte hier, das möchte ich doch nicht … es ist mir nicht aristokratisch genug.“

„Du hast Recht … wenn Du willst, sende ich die Arbeit an die ‚Winterblüthen‘ in Leipzig; der Redacteur ist mein Universitätsfreund und deshalb wird die Sache dort keine Schwierigkeiten haben.“

„Ach, das hast Du mir ja nie gesagt; das ist vortrefflich; Du schreibst Deinem Freunde dann auch, er solle Dir ja recht offen und ausführlich seine Meinung über die Arbeit sagen und was er von meinem Talente halte, ob er mich ermuthige …“

„Daran zweifle ich nicht im Mindesten; diese Leute ermuthigen immer!“ fiel Ernst ein wenig sarkastisch ein.

Sie warf einen mißtrauischen Blick auf ihn. „Du meinst es doch ehrlich?“

„Wie sollt’ ich nicht?“

„Ach, Du kannst so spöttisch sein – eben kam mir der Gedanke, Du wollest meinen armen Erstlingsversuch nur an Deinen Freund senden, damit er ihn mit einem Protestbriefe gegen solche Talentlosigkeit zurückschicke und ich dann gedemüthigt nie wieder …“

„Welche Bosheiten Du mir zutraust!“ fiel Ernst lachend ein; „ich bitte Dich, liebes Kind!“

Und damit nahm Ernst das Manuscript, machte ein sauberes Paket daraus und sandte es nach Leipzig. –

Alwine sah in großer Spannung und Aufregung der Antwort des Redacteurs entgegen. Diese ließ lange auf sich harren … acht Tage vergingen, es vergingen vierzehn … war dies ein gutes oder ein böses Zeichen? … ein gutes, sagte Ernst, ein böses, ahnte Alwine, – aber sie täuschte sich zu ihrer angenehmsten Ueberraschung. Am Ende der vierzehn Tage lief eine starke Kreuzbandsendung von Leipzig ein, und diese enthielt drei Exemplare eines vollständigen Abdrucks der Novelle Alwinens. Zitternd nahm sie die Bogen zur Hand; mit Herzklopfen las sie unter dem Titel: „Die Scheinehe“ die Worte „Erzählung von Alwine Northof“ … es lag etwas ängstlich Berauschendes, worin sich fast etwas vom Reize des Verbotenen mischte, und doch wieder etwas von freudigem Stolze in diesem Gefühl … wie merkwürdig sah ihr Name so gedruckt aus – so ganz anders, als wenn er geschrieben wurde … Und wie gut machte sich so gedruckt der Anfang der Novelle; es war, als ob die Typen etwas Magisches hätten, um Alles so viel schöner, geistreicher, bedeutungsvoller zu machen, als es sich in der Handschrift ausnahm … es war doch ein ganz einziges Gefühl, es anzusehen, es lag etwas unendlich Angenehmes, Verlockendes darin!

Ernst beobachtete still seine kleine Frau, während sie das Journal in zitternder Hand hielt und die erste Spalte, deren Buchstaben ihr fast vor den Augen schwirrten, überflog. „Armes Kind,“ sagte er sich dabei, „hättest Du jetzt nicht Deinen Schutzgeist in der Nähe, so wärst Du von nun an und auf ewig dem Teufel der Blaustrümpfe verfallen!“ Er nahm zwei der übersandten Exemplare an sich und ging damit in sein Arbeitszimmer, um, wie er sagte, die Erzählung jetzt recht ungestört durchzulesen. In seinem Zimmer aber schob er jedes der beiden Exemplare in ein Couvert, versiegelte und adressirte es und sandte seinen Schreiber damit zur Stadtpost. Dann setzte er sich ruhig an seine Arbeit, um sich erst Abends davon zu erheben, sein Cigarren-Etui zu sich zu stecken und geradenwegs in seinen Club zu gehen.

Als er um neun Uhr heimkam und kaum die ersten Stufen der Treppe betreten hatte, hörte er oben heftig eine Thür öffnen und Alwinens Kleid über den Vorplatz rauschen und im nächsten Augenblick sah er sie oben an der Treppe stehen und hörte sie mit einem Tone wahrer Verzweiflung ihm entgegenrufen:

„O mein Gott … Ernst … Ernst … kommst Du endlich, endlich … wie kannst Du mich so verlassen!“

„Was ist geschehen, was ist Dir, liebes Kind?“ versetzte er, die letzten Stufen der Treppe hinaufspringend.

Sie eilte über den Vorplatz zurück in’s Wohnzimmer. Er folgte ihr.

„Sprich, was ist vorgefallen?“ fuhr er fort, nach ihr die Schwelle überschreitend und die Thür schließend, während sich Alwine wie in tiefem Jammer auf das Sopha warf, „Du weinst, Du bist außer Dir …“

„O mein Gott, dazu habe ich allen Grund,“ rief sie wehklagend aus, „weshalb hast Du mich so unbeschützt allein gelassen … ein Mensch war hier, ein zorniger, rasender Mensch, der mir alle möglichen Vorwürfe machte und der sich durchaus mit Dir schießen will …“

„Ein Mensch … der Dir Vorwürfe machte … und weshalb? Und mit mir schießen will?“

„Du fragst noch, weshalb? Weshalb anders, als wegen der entsetzlichen Erzählung; er sagt, daß das seine Geschichte sei, ich hätte ihn dadurch auf’s Abscheulichste bloßgestellt, ich hätte ihn der Welt als einen Betrüger dargestellt; er wolle wissen, wie es mir möglich gewesen, so tückisch an ihm zu handeln; er habe mir nie etwas Uebles gethan und nun mache ich ihn ewig unglücklich; er wolle wissen, wie ich seine Geschichte erfahren, er wolle Genugthuung, und da ich ihm keine geben könne, so wolle er sie von Dir; er wolle, daß Du Dich mit ihm schießen sollest, und ich könne mich darauf verlassen, daß er Dir eine Kugel durch den Kopf jagen werde!“

„Das ist ja eine wunderliche, räthselhafte Sache,“ fiel Ernst ein, „der Mensch muß verrückt sein.“

„O nein, nein, nein, er sprach durchaus nicht so, nur in großer Wuth war er gegen uns Beide.“

„Wirklich nicht verrückt? Aber was geht ihn denn unsere Geschichte an?“

„Unsere Geschichte? das ist es ja eben, er sagt, es sei seine Geschichte, und nicht allein ihn hätte ich compromittirt, sondern auch seine frühere Braut, und jetzt auf immer sein Glück vernichtet, indem seine jetzige Braut mit ihm brechen werde …“

„Und wie hieß der Mensch?“

„Das hat er mir gar nicht gesagt … glaubst Du denn, ich hätte danach noch fragen können? … mir begannen schon nach seinen ersten Worten die Sinne zu schwinden … o mein Gott, Ernst, was haben wir angerichtet, wozu hast Du mich verleitet!“

(Schluß folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Nr. 22. Das gesühnte Opfer.
Mit Abbildung.


Kaum daß die erste aufdämmernde Helle eines Herbstmorgens die Sterne über einem tiefblauen böhmischen Gebirgskamme erbleichen ließ, während die hoch am Firmamente stehenden noch hellstrahlend den dunklen Aether durchblitzten, so erkannte dennoch schon das geübte Auge des Jägers die schwarze Gestalt eines Hirsches, der eben über ein hochgelegenes einsames Gehau dahinzog. Und als das Frühlicht mehr und mehr zunahm, konnte der Beobachtende sehen, wie der Hochgeweihte in heißer Liebesbrunst, mit gesenktem Kopfe tief am Boden hinsuchend, der frischen Fährte des vorangezogenen Wildes folgte, dann und wann plötzlich das gekrönte Haupt emporwerfend, und mit aufgezogener Oberlippe und weitgeöffneter Nase gierig in die Luft hinaus witterte. Dabei entstieg der tief- und heißathmenden Brust des Erregten der dampfende Broden, besonders als er nun, erst in kurz abgebrochenen Tönen, darauf aber in langgezogenem Schrei seine Stimme erschallen ließ. Dann zog das königliche Thier weiter, dem nahen, bergenden Dickicht zu. Doch noch ehe es dasselbe erreichte, donnerte der scharfe Knall einer Büchse durch die Waldesstille und mit ihm flog, hoch emporschnellend, der Edle vorwärts, eine Leithe hinab, so daß er im nächsten Augenblicke dem verfolgenden Auge gänzlich entschwand.

Dafür sah man an der Stelle, wo der Schuß gefallen war und die jetzt ein leichtes Rauchwölkchen, das am schwarzen Holzrande dahinzog, näher bezeichnete, einen mit Gewehr bewaffneten, bäurisch gekleideten Mann schleichend aus dem Forste treten. [671] Vorsichtig überschritt er jetzt das spinnenbewebte, thauperlende Gehau bis zum Punkte, wo der Hirsch zuletzt noch ruhig gezogen war. Hier kniete der Wilderer, denn ein solcher war es offenbar, nieder und prüfte genau den Boden. Jedenfalls hatte er den Eingriff des Flüchtigen gefunden und suchte nun weiter nach Schnitthaaren. Das Resultate schien ihn zu befriedigen; der unberufene Waidmann schritt nach der Richtung, wohin der Angeschossene entflohen, langsam und aufmerksam vorwärts, wie man vermuthen mußte, um Schweiß zu finden, was einem Geübten selbst bei der noch herrschenden Dämmerung wohl gelingen konnte. So weitersuchend, näherte er sich einem seitwärts gelegenen, mit Unterwuchs vermengten, übergehaltenen Fichtenstreifen, der den Hang, wohin der Hirsch seinen Lauf genommen, theilweise begrenzte, als daraus dem Schleichenden ein gebieterisches „Halt!“ entgegenschallte. Schnell wie der Gedanke flog aber des Angerufenen Gewehr an den Kopf und eben so rasch durchdröhnten darauf fast gleichzeitig zwei Schüsse den stillen Forst – der eine aus des Wilderers Büchse, der andere aber aus dem Fichtenversteck kommend, woraus auch im selben Momente ein Jäger hervorstürzte, gerade auf seinen Gegner los. Ehe er jedoch nur zehn Schritt auf’s Freie gekommen, brach der Schwergetroffene plötzlich zusammen. Die Kugel des Wilderers hatte ihr Ziel nur allzu sicher gefunden und blos die Erregung mochte dem zum Tode Verwundeten noch so viel Kraft geben, hervorspringen zu können, um, wie es schien, den begonnenen Kampf Mann gegen Mann auszufechten.

Rasch vom Anblick des Gefallenen sich losreißend, wendet sich der unglückliche Sieger wieder dem Hange zu, natürlich ohne die Fährte des Hirsches weiter zu beachten, vielmehr nur darauf bedacht, selber baldmöglichst in Sicherheit zu kommen. So beleuchteten die ersten Strahlen der nun über die Berge gekommenen Sonne bereits ein düsteres Drama, das sich in stiller, friedlicher Einsamkeit so blutig abgewickelt hatte. –

Wieder ist’s in der Frühe. Noch liegt die ganze Morgenseite des duftigen Thales, das sich vor uns hinzieht, im tiefsten Schatten und nur an den gegenüberstehenden dunkelbewaldeten Gebirgsstöcken ist bereits der Strahl der noch durch Nebel halb verschleierten Morgensonne herniedergestiegen und hat dieselben mit mildem Glanz übergossen. Golden, in bezaubernder Pracht, leuchten hier aus den dunklen Tannen- und Fichtenbeständen die herbstlich geschmückten Laubkronen einzelner Buchen hervor, und wie mit Perlen und Edelgestein übersät, prangen die beleuchteten, kräuterduftenden Halden in ihrem glitzernden Thaugeschmeide, während die noch in Waldesdämmerung ruhenden Thalwiesen am Fuße der Berge das Auge durch ihren matten Silberschein entzücken, den der nächtige Reif darauf gezaubert hat. Heilige Stille herrscht überall, nur das Rauschen des wilden Gebirgsbaches, der mit seinen aufblitzenden Wellen das Thal durcheilt, und die heimlichen Locktöne ziehender Vögel unterbrechen die tiefe Ruhe. Doch horch! Eben durchschallt das klartönende Geläute eines nahen Kirchenglöckleins das friedliche Thal und mit diesen wehmüthig melodischen Klängen ist’s, als ob die einsame Natur eine neue, besondere Weihe empfinge. Die feierliche Stimmung wird noch erhöht durch einen langen Trauerzug, der jetzt den gewundenen Gebirgspfad langsam niederwallt. Vom hochgelegenen Jägerhause kommt er herab, wo man den von Wildererhand erschossenen Förster abgeholt hat, um ihn der geweihten Erde zu übergeben. Bald sind die Leidtragenden mit der theuren Bürde am bergumschlossenen, waldumrauschten Friedhof angelangt, den ein schmuckloses Kirchlein aus düstern Cypressen überragt und von wo herab noch immer die eherne Zunge klingt, bis sie vor dem erhebenden Gesang der Chorknaben, die mit dem heiligen Kreuze dem Sarge voranschreiten, verstummt. Unter fortgesetzten Liederklängen wird der geliebte Todte dem offenen Grabe übergeben und manche heiße Thräne folgt ihm nach. Und nicht nur die Angehörigen des frevelhaft Getödteten umstehen das Grab, nein, Jung und Alt der ganzen kleinen Gemeinde des Gebirgsdorfes umringen die frische Ruhestätte des allgemein Geliebten und Geachteten, schon mit in der Absicht, den Vorwurf zu entkräften, der insofern auf ihr lastet, als das lose Gerücht sich verbreitet, daß Einer aus dem Orte, ein dem Waidwerk leidenschaftlich ergebener Bauerssohn, den Tod des Försters auf dem Gewissen trage. Aber auch dieser Eine befindet sich unter den Anwesenden, wahrscheinlich gerade deshalb, um dadurch seine Unschuld beweisen zu wollen. Dennoch wenden sich unwillkürlich Aller Augen nach ihm hin, als der amtirende greise Priester, nachdem er das Grab gesegnet, sein Wehe über den unentdeckten Frevler ausruft.

Gesenkten Hauptes und blassen Antlitzes steht der Verdächtigte, eine kernige, jugendliche Männergestalt, da, ohne den Blick zu den vielen zu erheben, die auf ihm haften. Endlich ist die ernste Feier beendigt und die meisten Leidtragenden kehren heim, während einzelne erst noch die Gräber ihrer Lieben aufsuchen, um dort zu beten. Auch Jägerfritz, so nennt man den seit der unheimlichen Nachrede scheu Gemiedenen, schreitet einer einsamen Stelle des Kirchhofes zu, dort seiner Eltern Grab, die schon längst darinnen ruhen, zu besuchen. Es scheint, als sei dies ihm heute ein besonderes Bedürfniß; vielleicht hier durch ernstes Gebet zu sühnen, was sein offenbar kummervolles Herz bedrückt. Langsam, wie in tiefen Gedanken vor sich niederblickend, geht er dahin, bis er, hinter einem dichten Busch hervortretend, unvermuthet vor dem Hügel steht, der ihm das Theuerste deckt. Hier wird dem Trostsuchenden aber ein Anblick, für den Ort so seltsamer Art und so geeignet, gerade ihn auf’s Tiefste zu erschüttern, daß ihm ein Gottesgericht darin geoffenbart erscheint.

Ueber seiner Eltern Grab zusammengebrochen, das darauf errichtete morsche Holzkreuz unter sich gedrückt, liegt – wunderbare Schickung! – mattschimmernden Auges ein verendeter Hirsch. Der Jägerkennerblick – wohl noch mehr das mahnende Gewissen – läßt den jungen Mann sofort in dem Gefallenen den von ihm vor ein paar Tagen Angeschossenen erkennen, dessen Erlegung so gar traurige, ja, für ihn die schrecklichsten Folgen herbeigeführt. Die Annahme des Schmerzerfüllten war eine richtige; denn wie später die Aussage des alten Gemeindehirten bestätigt hat, war kurz nach geschehener That ein mächtiger Hirsch, von Dorfhunden verfolgt, denen sich der des Hirten angeschlossen, über die Trift, wo der Alte gehütet hatte, geflüchtet und nach dem einsam gelegenen Kirchhof des Ortes zu gegangen. Jedenfalls war dort der zum Tode Verwundete und Gehetzte über die nicht allzu hohe Mauer gesetzt, um so seinen Peinigern zu entgehen, durch diese letzte Anstrengung aber zwischen den Gräbern zusammengebrochen und verendet. Der selten besuchte Kirchhof konnte sehr wohl den stummen Versprengten verbergen, sogar vor dem Todtengräber, der seine Gänge in dem ihm anvertrauten Heimgarten nicht gern weiter ausdehnte, als er eben mußte. So war es gekommen, daß, selbst als ein neues Grab gegraben werden mußte, der freiliegende seltsame Todte auf der stillen Stätte ungesehen blieb.

Bis in’s Innerste ergriffen von dem mahnenden Anblick und der so wunderbaren Fügung war der Zerknirschte in die Kniee gesunken und heiße, innige Gebete und Gelübde entrangen sich seiner gemarterten Brust. Lange liegt er so, alles Weitere vergessend, bedeckten Angesichts an dieser Stätte, so daß er in seinem Seelenschmerz es nicht bemerkt, wie der Todtengräber, der ihn von Weitem erspäht hat und ihm deshalb heimlich gefolgt ist, hinter der nächsten dunkeln Cypresse steht und die vor ihm sich abwickelnde Scene staunend betrachtet. Unbewußt entschlüpft dem Reuigen vor dem lauschenden Zeugen die laute Selbstanklage seiner verhängnißvollen That, indem er sich vor Gott zur Schuld am Tode des Försters bekennt und diesen zu sühnen verspricht. In etwas erleichtert durch dieses laute Selbstgeständniß, will er nun zuvörderst zum Pfarrer eilen, ihm seine That zu beichten, um durch diesen nach auferlegter Buße die Vergebung der Kirche zu erlangen. Mit diesem Vorsatz wendet er sich dem Heimweg zu, als er plötzlich den lauernden Alten vor sich stehen sieht. Erschrocken will er an ihm vorüber, doch als dieser ihn offen der blutigen That zeiht, entringt sich dem Verrathenen der gepreßte Aufschrei: „Ja, ich bin der Mörder!“ Dann aber stößt er seinen kalten Ankläger kräftigen Armes zurück und schwingt sich über die nahe Mauer, um hinter ihr im schützenden Walde zu verschwinden. –

Nicht lange darauf verscharrt der strenge, alte Todtengräber mit einer Art von Genugthuung den ihm damals entschlüpften und nun von eigener Hand gefallenen „Jägerfritz“ im äußersten Winkel desselben Kirchhofes, auf welchem des Unglücklichen Lieben und – sein Opfer ruhen.

Guido Hammer.     




[672]
Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege.
3. Selbstbekenntnisse eines Schwerverwundeten.

Wo wäre in den letzten Monaten die deutsche Zeitung gewesen, die nicht wieder und immer wieder zu berichten gehabt hätte von den furchtbaren Opfern, welche der jüngste gewaltige Krieg gefordert? Wo das Blatt, das nicht erzählt von den Schmerzen der armen zerschossenen, zerhauenen, zerstochenen Krieger auf der Wahlstatt, auf dem Transport, im Lazarethe, unter den sondirenden und operirenden Händen der Aerzte und ihrer Gehülfen? Alle diese langen Leidenscapitel sind von Gesunden, von Aerzten und anderen Zeugen des Jammers geschrieben worden, – von den Verwundeten selbst ist unsers Wissens, außer durch einzelne Privatbriefe, keine Schilderung ihrer Leiden in die Oeffentlichkeit gekommen. Und doch können diese allein sagen, wie es ihnen auf den Marterbetten um’s Herz gewesen ist, was sie da erduldet, gefürchtet und gehofft, wie sie gezweifelt haben und oft genug verzweifelt sind. Deshalb werden gewiß alle unsere Leser mit Interesse und Theilnahme den nachstehenden Seiten folgen, in denen zum ersten Mal ein Verwundeter, zugleich der erste Blessirte im mörderischen Kampfe zwischen Hannoveranern und Preußen, der in weiten Kreisen bekannte Redacteur der Allgemeinen Deutschen Turnzeitung, Georg Hirth, seine Erlebnisse und Schicksale, seine Erfahrungen und Empfindungen auf einem monatelangen schweren Krankenlager zu Nutz und Frommen seiner Leidensgefährten darstellt.


Mein Leiden begann, als ich jenes verhängnißvolle Briefchen mit der Aufschrift „Ordre“ bekam. Rasch hatte ich meine Angelegenheiten in dem mir lieb gewordenen L. geordnet. Eine Nachtfahrt per Dampf brachte mich in meinen Heimathsort Gotha. Um neun Uhr Morgens „stellte“ ich mich in der Caserne, ward von Neuem für körperlich tauglich befunden und mit der ganzen zum Morden und Todtschlagen erforderlichen Ausrüstung versehen.

Mehrere Tage lang „suchten“ wir die Hannoveraner. Endlich graute der Morgen des 27. Juni. Unser Regiment hatte die Nacht über auf einem Wiesengrunde bei dem Dorfe Westhausen campirt. Gegen acht Uhr Generalmarsch. Unsere Compagnie eröffnete den kriegerischen Reigen, der sich nun in scharfem Marschtempo, einhundertundzwanzig per Minute, gen Langensalza bewegte. Bis eine Stunde vor der Stadt ist die Chaussee von Längenthälern und sanft aufsteigenden Höhenzügen quer durchschnitten. Auf einem der letzteren liegt, dicht an der Straße, der Ort Henningsleben; hier hatte ein Theil der hannoverschen Armee noch kurz vor unserem Nahen gelagert.

Unsere Artillerie gab das Zeichen zum Angriff: in weiten Bogen schwirrten ihre Bomben über unsere Köpfe und die Henningsleber Höhe hinweg dem sich zurückziehenden Feinde nach. Wir marschirten jetzt, das „Gewehr zur Attaque rechts“, in langgestreckter Linie zu beiden Seiten der Chaussee auf die Höhe zu, fanden aber nur noch Lagerüberbleibsel, Fässer, Strohzelte, weggeworfene Tornister und Tschakos, ja sogar einige Cavaleriesäbel. Jetzt war die letzte Anhöhe zurückgelegt; Langensalza lag vor uns, aber vom Feinde war nichts zu sehen. Da – etwa noch fünf- bis sechshundert Schritt vor der Stadt, knatterte es auf einmal, eins, zwei, drei Kugeln hörten wir um unsere Köpfe durch die Luft pfeifen. Sie kamen zweifelsohne aus Büschen und Staketen, die sich links von der Chaussee hinzogen. Das Feuer wurde lebhafter, wir machten lange Hälse, um die unsichtbaren Schützen zu sehen. „Wirst Du auf Einen schießen,“ sprach ich zu mir, „wenn er Dich nicht selbst bedroht? Vielleicht hat er Frau und Kinder zu Haus, und dann – was hat er Dir gethan? die da unten, unsere hannoverschen Brüder, schießen gewiß absichtlich über unsere Köpfe weg und“ – krach, da schlug’s wie mit einem schweren Schmiedehammer auf meinen rechten Oberschenkel, ich brach taumelnd zusammen und schrie unwillkürlich laut auf. Aber in demselben Augenblicke war die Besinnung da: mein Bein war entzwei, das mußte wieder geheilt oder – abgenommen werden; dazu bedurfte es guter Pflege, und deren war ich sicher, ich brauchte mich ja nur zu der Familie meines liebsten Jugendfreundes in der Stadt schaffen lassen. Ich ließ mich von Cameraden in den Chausseegraben legen, wo ich immer noch den hannoverschen Kugeln ausgesetzt war, und, da das vorbeiziehende Kriegsvolk viel lästigen Staub aufwirbelte, mit meinem Mantel bedecken. „Da, schon Einer todt?“ rief ein Landwehrmann, und ich antwortete ihm lächelnd: „Noch nicht ganz.“ – „Nun, denn heile man jut“ und, „Gut Heil“ tönte es aus den dichten Reihen, die bald genug gelichtet werden sollten.

Ein preußischer Stabsarzt kam und legte mir einen Nothverband an. Die Blutung war nicht arg. Das Geschoß war eine kleine Spanne unterhalb der Leistendrüsen in den Schenkel eingedrungen und hatte sowohl in der Hose als in der Haut nur eine kleine Oeffnung gemacht. Auf mein Befragen sagte mir der Arzt, daß der Knochen etwas weiter oberhalb gebrochen, wo nicht zersplittert, daß eine Amputation nicht unbedingt nothwendig sei und daß das Geschoß im hintern Theile des Schenkels, dicht unter den Gesäßmuskeln zu sitzen scheine. In der That fühlte ich hier etwas wie ein Beutelchen. Menschenfreundliche Civilisten hatten unterdessen für einen Leiterwagen gesorgt. In ziemlich barbarischer Weise wurde ich hinauf und, als er vor dem Hause meiner Freunde hielt, heruntergehoben. Das Erstaunen der Familie, mich so wieder zu sehen, war nicht gering, größer aber alsbald das Bestreben, mir meine Lage so angenehm wie möglich zu machen.

Während ich nun, der beengenden Uniform entkleidet, auf dem Bette lag und meine Wunde fortwährend mit Kaltwasserumschlägen belegt wurde (Eis, das besser gewesen wäre, gab’s nicht), tobte draußen das Getöse der Schlacht. Die Wände erzitterten von dem Donner der Kanonen, deren Geschosse jeden Augenblick zu uns eindringen konnten. Um mich vor den gefährlichen Gästen möglichst zu schützen, wurde ich in einen Gang in der Mitte des Hauses geschafft. Um sechs Uhr Abends war Alles ruhig, die alte hannover’sche Einquartierung, wenige Gebliebene ausgenommen, kehrte bei uns ein; ich hatte nun Muße, über mein Pech nachzudenken. Da lag ich also mit einer Schußfractur des Oberschenkels. „Leichtverwundet“ las ich später neben meinem Namen in der Verlustliste unsers Regiments; die Folge zeigte mir leider, daß ich schwer genug verwundet war. Der Arzt, der mich so ohne Weiteres für leichtverwundet ausgab, hätte wissen müssen, daß z. B. im Krimkriege etwa sechszig bis siebenzig Procent meiner speciellen Leidensgefährten unterlegen waren und daß die so Verwundeten am meisten der Eitervergiftung (Pyämie) ausgesetzt sind. Je weiter nach dem Rumpfe zu aber die Fractur des Knochens stattgefunden, desto gefährlicher ist der Fall; bei mir war der Bruch nur zwei Zoll vom sogenannten Rollhügel (Trochanter) entfernt, das obere Fragment war nur ein kurzer Knochenstummel, der jeder Bewegung des Oberkörpers folgte.

Am andern Tage, der die Capitulation des Königs Georg brachte, Vormittags kam – seit dem Nothverbande im Felde – die erste ärztliche Hülfe. Ein hannoverscher Arzt schnitt mir das Bleigeschoß so geschickt und schnell aus, daß ich großes Zutrauen zu dem schönen, hohen Manne mit der riesigen Studentenquart auf dem linken Backen gewann. Was er mir lächelnd vorzeigte, war ein Stück Blei von der Form eines österreichischen Guldens, mit scharfen, zerrissenen Rändern, in welches ein Stückchen Hosentuch fest eingeklemmt war. Ich hätte das Ding nicht gleich vergnügt bei Seite legen sollen: eine Vergleichung mit einem hannoverschen Original-Spitzgeschoß hätte schon damals klarstellen müssen, daß noch ein gutes Stück Blei irgendwo in meinem Bein steckte. So einfache Betrachtungen sollten doch niemals versäumt werden, namentlich nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Verwundung, wo Operationen an dem verwundeten Körpertheile noch nicht durch Geschwulst, Wundfieber und erhöhte Reizbarkeit schwierig und gefährlich werden.

Am dritten Tage übernahmen meine Behandlung zwei Civilärzte, die von auswärts zu Hülfe gekommen waren, denn wir lagen unser weit über eintausend Verwundete in Langensalza. Mit vollen Segeln war ich bereits in die erste und traurigste Periode meiner Leiden hineingesteuert, die ich wohl kurzweg „sentimentale“ nennen kann. Fortwährend fieberhafte Aufregung, schlaflose Nächte mit peinigenden Phantasien, eine oft zu ärgerlichen Ausfällen gegen meine Umgebung ausartende Ungeduld und Gereiztheit und doch auch häufig eine christliche Ergebung in mein Geschick. Ich befand mich in einem Chaos von Stimmungen. Wenn die barmherzige Schwester, die mich anfangs pflegte, an meinem Lager stand und mich tröstete, oder wenn ich so still für mich hin eine Melodie pfiff, die mich an vergangene, in froher Jugendgemeinschaft [673] verlebte Stunden erinnerte, dann traten mir wohl Thränen in die Augen und ich konnte mich trüber Todesahnungen nicht erwehren. Und die Welt, von der ich nur ein kleines, frisch grünendes Stück durch die Fenster sehen konnte, ich träumte sie mir paradiesisch schön und rein. Alles war Sehnsucht, und ich wußte nicht, wonach.

Aber beim düstern Scheine des Nachtlichts quälten mich garstige Phantasien. Morphiumpulver halfen nur auf Stunden. „Zieht doch mein Bein aus dem Kanonenrohre heraus und schafft die ganze Batterie da weg, aber der Fuß muß ‘runter, sonst geht das Bein nicht aus dem Rohre,“ so bat und forderte ich, als mein Bein in einem schweren Gypsverbande lag, der mich mit seinen obern Kanten wund rieb. Versuche, das vermeintliche Kanonenrohr selbst zu entfernen, machten mir natürlich heftige Schmerzen und brachten mich zur Besinnung. Die schmale Diät, die mir auferlegt war, vermehrte selbstverständlich den Zustand physischer und psychischer Schwäche. Charakteristisch für diese Wassersuppenperiode war die Freude, die ich über jede Neuerung in der ärztlichen Behandlung meiner Wunde hatte. Wie ein Schiffbrüchiger, der sich an jeden schwimmenden Balken anklammert, so hoffte ich von jeder neuen Bandage Rettung. Und wirklich hatte ich das Vergnügen, so ziemlich die ganze Scala von Vorrichtungen kennen zu lernen, die der menschliche Scharfsinn zur Heilung gebrochener Oberschenkelknochen erfunden hat.

Am fünften Tage wurde das noch immer mächtig angeschwollene Bein gedehnt – eine schmerzhafte Procedur – und in eine horizontale Blechrinne gelegt. Drei Tage später wieder Dehnung mit obligatem Knirschen und Knacken des zersplitterten Knochens und Anlegung eines schweren Gypsverbandes, der von der Ferse bis unter die falschen Rippen reichte. An diesen Kalküberzug werde ich mein Leben lang denken! Die Geschwulst des Beines nahm darin freilich ab, dafür gewannen aber in der schlotterigen Hülle die beiden Knochenfragmente beliebigen Spielraum zu Reibungen und Stauungen, die mir viel Leids verursachten. Für die Schußwunde war ein Loch in den Gypsmantel geschnitten, die Eiterung wurde hier bald so stark, daß ich alle halbe Stunden verbunden werden mußte. Berge von Charpie sind hierbei verwüstet worden, als deren barmherzige Spenderinnen ich mir hundert holde Jungfrauen vorstellen durfte. Dagegen war die Schnittwunde am hintern Schenkel fest eingeklemmt und so am Eitern verhindert: auch das war sehr beschwerlich.

Kurz, der Gyps behagte mir gar nicht und ich war glücklich, als man mir eine „Bonnet’sche Drahthose“ ankündigte, so benannt nach ihrem französischen Erfinder Bonnet. Man denke sich einen mächtigen Ritterharnisch und subtrahire das Vordertheil, und das Bild des schwerfälligen Panzers ist fertig. Ich lag darin, wie ein Kind in den Windeln, nur daß bei mir jedes Bein für sich lag. Bei dem Einlegen natürlich wieder Dehnung und Schmerz. Eine Annehmlichkeit hatte dieser Verband: durch Flaschenzug konnte ich mich selbst in eine schwebende Lage bringen. Ein junger Arzt, der mich dann und wann besuchte, war ganz entzückt von dem ihm neuen Apparate. „Das ist das einzig Wahre,“ sagte er; ich glaubte es auch, aber wir irrten uns Beide.

Ich lag jetzt fast ganz horizontal. Die Eiterung nahm eher zu als ab; Fleisch und Kräfte schwanden immer mehr, und eines schönen Morgens machte ich die betrübende Bemerkung, daß mein linkes Bein nach langem Stillliegen in der Drahthose auffallende Aehnlichkeit mit einem Schwefelhölzchen hatte. Der Appetit, der sich nun – etwa in der vierten Woche – entfaltete, war ebenso berechtigt als willkommen; ich aß tüchtig Fleisch, genoß dazu ein Glas guten Weins und (Hauptsache!) eine feine Havanna. Meine sentimentale Stimmung schlug allmählich um, ich wurde heiter und fidel, pfiff und sang und freute mich auf meine, wie ich glaubte, nahe bevorstehende Genesung. Auch meine damaligen Aerzte hielten meinen Zustand für vortrefflich; die Schußwunde sah so schön aus, daß man in ärztlichen Kreisen meinen Fall als das Muster einer Oberschenkelbruch-Heilung besprach. Und doch war ich Todescandidat!

In der sechsten Woche nach der Schlacht fand in unserm Krankenstaate ein theilweiser Wechsel des ärztlichen Personals statt. Ich hatte das Glück, fortan von einem der berühmtesten Aerzte Deutschlands behandelt zu werden[WS 4], der seine reichen Erfahrungen als Director der Kliniken an vier Universitäten und als hochgestellter Militärarzt in drei Feldzügen gesammelt hat. Was ich mehr preisen soll, seine hohen ärztlichen Einsichten oder seine Güte und Liebenswürdigkeit, weiß ich nicht. Den ersteren verdanke ich mein Leben, den letzteren eine Reihe der interessantesten und lehrreichsten Unterhaltungen. Die Stunden, in denen der würdige Mann nach segenbringender Arbeit in den Lazarethen an meinem Bette seine Morgencigarre rauchte, werde ich nie vergessen; auch damit hat er viel zu meiner Heilung beigetragen. Allen Aerzten aber wünsche ich die erquickende Milde und Schonung, mit der er seine Patienten behandelt, die bewundernswerthe Geschicklichkeit und Accuratesse, mit der er Verbände anlegt, und vor Allem seinen Grundsatz, daß Schmerzen und Unbehaglichkeiten dem Kranken wenn nur möglich zu ersparen seien.

Bisher hatte mein krankes Bein horizontal gelegen. Die namentlich bei splitterigen Knochenbrüchen so nothwendige beständige Extension (Ausdehnung) war nie, auch mit Gewichten nicht recht, geglückt; die Bruchenden des Knochens waren fortwährend auf einander gestoßen und hatten in der entzündlichen Muskelmasse eine ganz abnorme Eiterung hervorgebracht. Diese war eben um den vierzigsten Tag so stark, daß man nur sanft auf eine beliebige Stelle des Schenkels zu drücken brauchte, um den Eiter einem Börnlein gleich aus der Schußwunde herausfließen zu sehen. Das Nächste, was mein Retter that, war, daß er mich aus der Bonnet’schen Drahthose herausnahm und mein Bein auf einen höchst einfachen und anspruchslosen Apparat legte: eine sogenannte „doppelt geneigte Ebene“ aus zwei gleich langen Bretchen bestehend, die, mit Scharnieren verbunden, nach oben in beliebigen Winkel gebracht werden können. „Ja, sehen Sie, das ist das einzig Wahre!“ So sprach wiederum jener bereits erwähnte junge Arzt zu mir, als er mich in meiner neuen Lage sah. Ich gab ihm das vollständig zu, und diesmal hatten wir Beide Recht.

Die Extension ging jetzt trefflich von statten und die Knochenenden setzten sich gerade aufeinander. Zwischen ihnen aber fühlte man Körperchen, die dem leisesten Drucke mit dem Finger auswichen. „Da sitzt der Uebelthäter,“ sagte mein Arzt, und ich wußte nun, daß da etwas herauszuholen war.

Indessen war mein Zustand sehr bedenklich geworden. Die Eitergeschwulst drohte sich edlen Theilen mitzutheilen; hier lag die Gefahr der Eitervergiftung (Pyämie) vor, die ihre Opfer binnen wenigen Tagen dahinrafft. Dann war meine körperliche Schwäche und Abmagerung so groß, daß jeder operative Eingriff die völlige Auflösung bringen konnte. Erst später habe ich erfahren, daß mein Arzt und seine Assistenten mich damals aufgegeben hatten. „Ihr Pflegling lebt nur noch einige Tage,“ hatte man den Leuten im Hause gesagt, und mein Bruder mußte abreisen, um die Verwandten auf meinen Tod vorzubereiten.

Am zweiundfünfzigsten Tage Morgens trat mein Arzt mit vier Collegen in’s Zimmer; daß der letzte einen großen Kasten mit chirurgischen Instrumenten schnell versteckte, entging mir glücklich. Ich sollte mit List gefangen werden. Die Herren besahen harmlos mein Bein – da drückte mir plötzlich Einer von ihnen, der hinter mir stand, eine Maske auf’s Gesicht, und alsbald dufteten mir die betäubenden Dünste des Chloroforms in die Nase. „Sie chloroformiren mich ja,“ lallte ich und wollte weiter darum bitten, mir das Bein nicht abzuschneiden, als ich ermahnt wurde, den Mund zu schließen und tief durch die Nase zu athmen; ich schwieg und ergab mich, das Beste hoffend.

Es war das zweite Mal, daß ich chloroformirt wurde; früher, am fünfundzwanzigsten Tage, war mir ein Knochensplitter aus dem Schußcanal geholt worden. Das Gefühl, welches ich bei beiden Malen hatte, war, als wenn meine ganze Gedankenwelt in kreisender Bewegung wäre, ähnlich einem Feuerrade; dabei summte mir ein Ton im Kopfe, wie das Singen eines Trinkglases, dessen Rand anhaltend mit einem nassen Finger bestrichen wird; die zuerst an Schnelligkeit zu-, später abnehmenden Pulsschläge schlugen gleichsam den Tact. Je näher ich der völligen Betäubung kam, desto mehr schien sich das ganze Gefühls- und Nervenleben auf den Kopf zu beschränken: ich konnte noch klar denken, war mir aber der unwillkürlichen Bewegungen meiner Arme nicht bewußt; nur die reizbare Gegend um die Wunde schien noch mit dem Gehirn zu correspondiren, wenigstens fühlte ich noch ganz zuletzt, daß etwas darauf gelegt wurde, und zwar, wie ich später erfuhr, meine eigene rechte Hand. Während der [674] Narkose selbst hatte ich weder eine Ahnung von dem, was mit mir vorging, noch irgend welche Träume.

Als ich diesmal erwachte, fühlte ich an der äußeren Seite des Schenkels, in der Gegend der Fractur, einen brennenden Schmerz und überzeugte mich, daß hier eine drei Zoll lange Oeffnung geschnitten war. Mein Arzt hielt mir aber einen Teller mit einem breitgedrückten Stück Blei und zahlreichen Knochensplittern vor, die zum Theil lose in der Wunde gesessen hatten, zum Theil von den spitzen Knochenenden abgekniffen worden waren. Der oder vielmehr die „Uebelthäter“ waren nun allerdings beseitigt. Um die Blutung zu stillen (denn durch den Eingriff mit Fingern, Sonden und Zangen waren viele Gefäße verletzt), mußte sowohl die Schuß- als die neue Schnittwunde vierundzwanzig Stunden lang verstopft bleiben; überstand ich diese Zeit, so war ich gerettet. Nun, meine zähe Natur hat mir geholfen, ich überstand’s. Die mächtigen Eiterhöhlen entleerten sich dann ziemlich rasch; zum Ueberflusse öffnete sich auch noch die erste Schnittwunde vom zweiten Tage wieder, die mittlerweile zugeheilt war, so daß jetzt der Eiter aus drei Oeffnungen Abfluß hatte.

Der herrlichste Appetit von der Welt und Alles, was zu seiner Befriedigung gehört; gute Verdauung, gesunder Schlaf; ein schönes, lustiges Krankenzimmer im Garten; eine in jeder Beziehung treffliche Verpflegung (seit der dritten Woche durch einen wackeren hannoverschen Sanitätssoldaten); der ermuthigende Zuspruch meines Arztes; eine Reihe froher Begebnisse, so namentlich die glückliche Rückkehr meines alten Schulfreundes, in dessen Hause ich lag, aus dem böhmisch-mährischen Feldzuge; Theilnahme von allen Seiten und endlich neue Aussichten für die Zukunft – das Alles beschleunigte meine Genesung. Jetzt, zu Anfang October, liege ich schon seit einer Woche frei im Bette, das Bein nur mit Lederschienen versehen; die Wunden haben sich fast ganz geschlossen, und allmählich soll ich das Bein an Bewegungen gewöhnen. Aber erst in vier Wochen darf ich fest damit auftreten, und dann auch nur mit Hülfe zweier Krücken. So lange muß also noch im Bette ausgehalten werden.

Resumire ich nun, so habe ich, die kommenden vier Wochen mit eingerechnet, vom Tage der Schlacht bis zum ersten Gehversuche einhundert fünfunddreißig Tage oder dreitausend zweihundert vierzig Stunden auf dem Rücken gelegen. Das kranke Bein hat sechs verschiedene Verbandarten erfahren: vier Tage lang einfache Umschläge, drei Tage Blechrinne, dreizehn Tage Gypsverband, zweiundzwanzig Tage Drahthose, fünfundfünfzig Tage doppelt geneigte Ebene, achtunddreißig Tage Lederschienen bei freier Lage. Während der ganzen Zeit haben mich nach- und nebeneinander fünfzehn Aerzte behandelt, darunter vier Civil- und elf Militärärzte, und unter letzteren wiederum ein Preuße, zwei Gothaer und acht Hannoveraner. An Charpie habe ich ungefähr dreißig Pfund verbraucht.

In Anbetracht seiner außergewöhnlichen Schwierigkeit ist mein Fall als ein überaus günstig verlaufener zu bezeichnen. Von einer großen Anzahl meiner hiesigen speciellen Leidensgefährten, d. h. im Oberschenkelknochen Verwundeter, sind mehr als die Hälfte gestorben; alle Anderen sind amputirt, nur fünf sind ganz geheilt, und von diesen fünf bin ich wieder so glücklich daran, mit der geringen Verkürzung von anderthalb Zoll davon gekommen zu sein. – Heftige Schmerzen habe ich eigentlich nur selten gehabt, desto mehr kleine, aber anhaltende Unbehaglichkeiten, die der Arzt häufig nicht beachtet und anerkennt, die aber das Befinden des Patienten wesentlich beeinflussen. Dahin gehört namentlich das sogenannte Aufliegen der hinteren Becken-, der Gesäß- und Rückenknochen; vor förmlichem Wundwerden haben mich indessen ein Luftkissen und ein Rehfell vortrefflich geschützt. Mit solchen Requisiten sollte man in den Lazarethen doch nicht so sparsam umgehen, wie es meist geschieht.

Zum Schluß noch das offene Geständniß, daß ich, nachdem die Gefahr glücklich vorüber, gar nicht so unglücklich über mein Unglück bin. Ich habe doch Vieles erfahren, woran ich früher nicht dachte; die gründliche Einsicht, daß Keiner für sich sagen kann: „Ich bin mir genug, ich brauche keine Hülfe,“ diese Einsicht allein ist gewiß eine treffliche Errungenschaft. Trotzdem möchte ich mich nicht zum zweiten Male in’s Bein schießen lassen; brauch’s auch nicht, denn ich bin invalid geworden. Dem rauhen hannoverschen Kriegsmann aber, der mich nicht einmal auf die geringe Entfernung von dreihundert Schritt in’s Herz treffen konnte, vergebe ich sein brudermörderisches Attentat. Und nun, Ihr Cameraden und Leidensgefährten, bekennt auch Ihr, wie’s Euch ergangen und was Ihr gelitten! Auf eine frohe Zukunft!
G. Hth.




Gegen die Wintersünden der Brustkranken.


Die rauhe Jahreszeit kommt sicherlich, aber in dieser kommen Einsicht und Interesse für vernünftige Rathschläge bei Brustkranken, denen der Winter doch so leicht lebensgefährlich werden kann, nur selten. Trotzdem soll dieser magern blassen Hustegesellschaft zum so und so vielsten Male ihr Sündenregister vorgehalten und eine tüchtige Winterstrafpredigt gehalten werden. Denn Lungenfrevler können nicht oft genug gegartenlaubt werden.

Vorerst merke sich der (tuberculöse) Brustkranke einmal recht ordentlich Folgendes: Dasjenige Stück seiner Lungenspitzen, das früher durch Einlagerung von Schwindsuchts- (Tuberkel-)Masse erkrankt ist, das wird niemals wieder gesund, das ist verloren. Dies schadet aber auch gar nicht viel, denn wir besitzen eine solche Masse Lunge, daß man recht gut ein ziemlich großes Stück davon, und sogar zum bequemen Leben noch bis in’s hohe Alter hinein, entbehren kann. Sodann zieht ja auch das kranke Lungenspitzenstück nicht etwa die weiter unten liegende gesunde Lungenportion allmählich mit in das Verderben hinein, denn der Naturheilungsproceß hat das Kranke vom Gesunden durch Bildung einer fast unzerstörbaren Scheidewand abgeschlossen. Der Besitzer von tuberculösen Lungenspitzen hat deshalb von seiner Lungenschwindsucht entweder gar keine Beschwerden und weiß oft gar nicht oder vergißt es ganz und gar, daß er brustkrank ist, – oder seine Lungenentartung ruft, zumal wenn sie in etwas größerer Ausdehnung vorhanden ist, mehr oder weniger Kurzathmigkeit, Husten mit und ohne (auch blutigen) Auswurf hervor. Und diese meist gar nicht sehr beschwerlichen Krankheitserscheinungen, die doch von jener unverbesserlichen Lungenentartung abhängig und deshalb auch mit Gewalt nicht wegzuschaffen sind, sind es, welche nicht blos den Kranken, sondern auch den Arzt recht häufig zu ganz unvernünftigem Handeln antreiben. Huste doch ruhig weiter, lieber schwindsüchtiger Leser, und maltraitire Deinen Körper und Dein Gemüth nicht mit Hundefett, Leberthran und dergleichen Antischwindsuchtsmitteln, Du kannst, ohne alles dieses Zeug, trotz Deiner Schwindsucht, mit Hülfe des Naturheilungsprocesses, natürlich aber nur wenn Du die nachfolgenden diätetischen Regeln streng befolgst, so dick, kräftig und alt werden, daß die Leute (die diesen und meine früheren Aufsätze nicht gelesen haben) Dich auslachen, wenn Du von Deiner Schwindsucht sprichst, und daß der Heilkünstler, der Dich behandelte, meint, er habe ein großes Heilkunststück an Dir gemacht.

Also um das, was man von Schwindsucht (Tuberkeln) in seinen Lungenspitzen mit sich herumträgt, um das kümmere man sich nicht weiter. Dagegen muß sich’s jeder tuberculöse Schwachbrüstige, zumal wenn er das dreißigste Jahr noch nicht hinter sich hat, seine hauptsächlichste Sorge sein lassen, daß er die noch gesunde Lunge unterhalb der tuberculösen Lungenspitzen kräftigt und vor einer neuen Einlagerung von Tuberkelmasse (vor einem Tuberkel-Nachschube) behütet. Das ist aber gar nicht so schwer; man braucht nur jeden unnatürlichen Blutandrang (weil dieser die Tuberkelablagerung begünstigt) von der Lunge abzuhalten und dieselbe sammt dem Brustkasten durch zweckmäßiges Athmen gehörig auszudehnen suchen. Unter allen Schädlichkeiten, die leicht einen Tuberkelnachschub nach sich ziehen können, steht die eingeathmete kalte, rauhe und unreine (mit Staub, Rauch, reizenden Gasen verunreinigte) Luft oben an; sie wirkt mit ihrer Kälte um so schädlicher, je wärmer die Luft war, die man kurz vorher einathmete. [675] Sodann kann aber auch Alles, was das Herzklopfen und das Athmen beschleunigt, was Hitze und Unruhe erregt, dadurch aber mehr Blut als recht nach der Lunge schafft (wie Liebe und Wein, starke Gemüths- und Körperbewegungen, erregende Leidenschaften und Genüsse, Spirituosa, starker Kaffee und Thee), einen neuen Ausbruch der Schwindsucht veranlassen. Auch sind es Erkältungen, besonders nach vorhergegangener Erhitzung, und zwar vorzugsweise der Füße, des Rückens und der Achselhöhlen, welche Congestionen nach der Lunge und Tuberkelablagerungen erzeugen können.

Was für Pflichten hat demnach ein Schwindsuchts-Candidat, in dessen Lungenspitzen Tuberkeln sitzen, zu erfüllen, wenn er nicht ein subtiler Selbstmörder werden will? Er muß stets, bei Nacht wie bei Tage, eine warme reine Luft einzuathmen suchen; er muß Erkältungen und Alles, was das Herzklopfen und Athmen beschleunigt, ängstlich vermeiden; er muß seinen Brustkasten gehörig zu erweitern streben. Um ruhiges und tiefes Einathmen, sowie langsames und kräftiges Ausathmen ordentlich zu erlernen, muß er aber Zeit und Mühe nicht sparen. – Die allergrößte Vorsicht, die äußerste Ruhe (im Bette) und das Athmen in der reinsten gleichmäßig warmen Luft muß nun aber von Seiten derjenigen hustenden Brustkranken, und zwar so schnell als möglich nach Eintritt ihres Unwohlseins, stattfinden, die beim Gefühle großer Mattigkeit von Frostschauern mit nachfolgender Hitze überfallen werden und deren Puls fieberhaft schlägt. Solche Kranke sündigten irgendwie gegen die oben angegebenen Pflichten und stehen am Anfange eines Tuberkelnachschubes, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Betrachten wir nun einmal Brustkranke in der Wintersaison und lassen wir dabei, um artig zu sein, dem schönen, schlanken (dürren), interessant blassen Geschlechte den Vortritt. Das weibliche Geschlecht athmet vorzugsweise mit dem obern Theile seines Brustkastens, in dem die Lungenspitzen geborgen liegen. Sind diese Spitzen nun aber durch Tuberculose zum Athmen untauglich, so müssen die untern Theile der Lungen deren Function mit vertreten. Bei der jetzigen Bekleidung der meisten unserer Damen, bei welcher das Schnürleibchen eine Wespen- oder mit Hülfe der Crinoline eine Sanduhrtaille erzwingen muß, ist nun aber dem eingeschnürten Brustkasten nicht Freiheit genug gegeben, um sich in seinem untern Theile gehörig auszudehnen und die nöthige Menge Luft schöpfen zu können. Und daher kommt es, daß solche dünntaillige brustschwache Schönen in Kaffees und Thees, im Theater und Concert, und noch weit mehr auf Bällen, sich einem frühzeitigen Erstickungstode weihen. Ebenso leichtsinnig wie in Bezug auf die Kleidung sind brustschwache Damen auch bezüglich der Luft, die sie im Winter einathmen. Aus Gesellschaften kommend, wo in starkgeheizten Zimmern gesungen, geplaudert. getanzt oder gespielt wurde, ziehen sie im Freien geradezu mit Behagen und unter Lachen und Scherzen, sogar bei rauhem Nord- und Ostwinde, die kalte, tödtende Luft in ihre warme, kranke Lunge ein. – Von Vermeidung des Staubes auf der Straße bei rauhem, windigem Wetter läßt sich bei den meist sorglosen Schwachbrüstigen auch nichts wahrnehmen, ja sie wirbeln mit ihren Schleppkleidern für sich und Andere noch mehr dieses Lungenschädigers auf. Nebenbei sei übrigens zu Gunsten des Staubes gesagt, daß derselbe Lungenschwindsucht in einer gesunden Lunge zu erzeugen nicht im Stande ist, daß er aber sehr gern bei schon tuberculösen Lungenspitzen einen gefährlichen Tuberkelnachschub veranlaßt. Von tabakrauchenden Herren, und wären es selbst die Bräutigams und Gemähler, müssen sich brustleidende Frauen und Jungfrauen fernhalten, natürlich nur so lange als jene rauchen. – Daß diese Brustleidenden, um Erkältungen zu entgehen, wollene Strümpfe und Unterziehjäckchen tragen müssen, getraue ich mir kaum zu sagen, denn „lieber sterben, als sich einer solchen wollenen Jucktortur unterwerfen“, diese Redensart nebst verächtlichem Blicke werde ich mir durch diesen Rath zuziehen.

Und nun zu Ihnen, meine lungensüchtigen Herren, die Sie, wenn auch noch so knickebeinig und kurzatmig, doch beim Tanzen, Schlittschuhlaufen, Bergesteigen, Jagen u. s. w. Ihren kranken Lungen solche Zumuthungen machen, daß es kein Wunder ist, wenn diese plötzlich mit Bluthusten auf den Tuberkelnachschub gebracht werden. Und diesen Schub zum Stehen zu bringen, das steht nicht in der Macht eines Arztes, das kann, wenn Patient Glück und Verstand hat und die angegebenen diätetischen Regeln auf’s Strengste befolgt, nur von der Natur geleistet werden; oft ist hier aber alle, auch die Natur-Hülfe vergebens. – Daß kalte, rauhe Luft der kranken männlichen Lunge, zumal wenn diese kurz vorher warme Luft einathmete, weniger schaden könne, als der weiblichen, damit schmeichele sich das hustende, abgezehrte starke Geschlecht ja nicht. Und deshalb muß auch jeder vom Husten häufig Heimgesuchte, sei’s Mann, sei’s Weib, wenn er durch die Verhältnisse im Kalten zu athmen gezwungen ist, einen Respirator tragen. Auf warmmachende Vergnügungen im Kalten, wie Jagen, Schlittschuhlaufen, Reiten u. dergl., zumal bei rauhem Ost- und Nordwinde, mögen Brustschwache, wenn sie sich der Gefahr eines Nachschubes nicht aussetzen wollen, lieber ganz verzichten. – Staub zu vermeiden ist für manche Arbeiter (wie für Müller, Bäcker, Kürschner, Spinner, Steinmetzger, Schleifer, Maurer, Fuhrleute, Tischler, Cigarrenarbeiter u. s. w.) ganz unmöglich, aber denselben in ihre Lungen hineinziehen und dadurch in ihren von Tuberkeln belagerten Lungen Tuberkelaufruhr zu veranlassen, das brauchten sie nicht. Eine vor der Staubeinathmung schützende dünnseidene Binde vor Mund und Nase kann ihren Weibern und Kindern den Ernährer noch lange erhalten. – Im Tabaksqualme bei kaltem Biere stundenlang zu athmen und dazu eifrig in Politik zu machen, ist die Mission einer tuberculösen Lunge ebenfalls nicht und führt recht leicht zur Emission neuer Tuberkeln, der sehr bald die Demission aus dem Diesseits folgen kann. – Kurz, es lebt gerade im Winter die Mehrzahl der Lungeninvaliden so leichtfertig, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn im Frühjahre ihre Reihen tüchtig gelichtet werden.

Schließlich will ich diejenigen Lungenkranken, die nicht nur am Leben hängen, sondern ihr Leben auch bis in’s Alter genießen wollen, nochmals darauf aufmerksam machen, daß warme reine Luft das Haupterforderniß zur Ausheilung einer kranken Lunge ist, natürlich stets neben Beachtung auch der übrigen diätetischen Regeln. Darum eben schicken die Aerzte Lungenschwindsüchtige, schrecklicherweise sogar nicht selten während eines fieberhaften Tuberkelnachschubes, in die warme (nicht immer reine) Luft südlicher Klimate, wo aber auch nur Diejenigen gedeihen, welche die oben angegebenen Schädlichkeiten ängstlich vermeiden und mit Gemüthsruhe, ohne Heimweh und Sorgen, ihre Kräftigung abwarten können. Und das können nur wenige. Darum nützt aber auch das Reisen nach Süden nur Wenigen, und ich kann deshalb mit gutem Gewissen zwei Surrogate für ein südliches Klima anempfehlen. Das eine ist der bekannte und nur von kindisch einfältigen Brustkranken noch nicht getragene Jeffrey’sche Respirator, der echt (denn es giebt auch schlechte Nachahmungen) beim Mechanikus Reichel in Leipzig zu haben ist. Das andere ist die Heilanstalt Mildenstein bei Leisnig in Sachsen. Hier finden nämlich solche Lungentuberculöse ein nahes und ausgezeichnetes Asyl, denen die Verhältnisse eine Reise nach dem weiten Süden verbieten oder welche zu einer Zeit (mitten im Winter oder auch im Frühjahr) und in einem Zustande (der Schwäche), wo eine weitere Reise gefährlich, ja unmöglich ist, doch noch Hülfe außer ihrem Hause suchen wollen. Diese Heilanstalt ist deshalb für Lungenleidende so ausgezeichnet, weil in allen Räumen des geräumigen Hauses, bei Nacht und bei Tage, eine gleichwarme, reine, gehörig feuchte Luft hergestellt wird und weil der Aufenthalt am Tage in einem hellen, großen, mit exotischen, Lebensluft aushauchenden Gewächsen reizend decorirten Glassalon der müden Lunge und dem traurigen Gemüthe ausgezeichnet wohlthut. Ja ich könnte noch eine Menge von Vorzügen und Vortheilen, welche diese Anstalt Brustkranken im Winter bietet, aufzählen, allein meine Arroganz ist so groß, daß ich meinen Aufsatz mit der Ueberzeugung schließe, es werde der Leser auch meiner einfachen Empfehlung Vertrauen schenken.
Bock.



[676]
In der Dresdener Pioniercaserne.


„Zu spät!“
Originalzeichnung von Herbert König.

Es war eine lange Reise gewesen, welche die alte Dame gemacht hatte, tief aus Ungarn heraus bis nach Dresden, und eine Reise doppelt und dreimal so lang durch das Leid und die Sorge, die sie erfüllten, denn ihr einziger Sohn, ein junger Fähndrich, lag, in Böhmen verwundet, mit vielen seiner Cameraden in der ehemaligen Pioniercaserne, die jetzt zum Lazarethe umgeschaffen war. Aber – mit matter Hand hatte er es selbst der bangenden Mutter hingekritzelt: „jetzt geht’s schon besser, lieb’ Mütterchen, und bald kann ich aus dem Bett und dann, sowie mich der Doctor läßt, bin ich bei Dir.“

„Und so steigt sie, das Herz zum Springen voll von Angst, aber auch von Hoffnung, vor dem Schmerzenshause aus. Vor der Thür und auf der Flur sitzen plaudernd und rauchend Gruppen von Soldaten umher, die schon das Schwerste überstanden haben [677] und bald als genesen entlassen werden sollen; ob da wohl ihr Sohn darunter ist? Sie sieht und späht, und das Mutterauge ist scharf wie kein anderes – ihr Joseph ist nicht dabei!

„Draußen in der Zeltstation, gnädige Frau,“ antwortet zögernd der Arzt, den sie im Bureau nach dem Blessirten fragt. Er ist verlegen und seine Worte kommen ihm nur stockend über die Lippen, denn in der Zeltstation liegen nur die, welche am Schwersten verwundet sind. Sie beachtet’s nicht, ein einziger Gedanke beschäftigt ihre Seele. Sie wankt, doch nur einen Augenblick. Dann geht sie eilenden Schrittes neben dem Diener her, der ihr den Weg nach dem Lufthause weist. Sie tritt ein. Eben breitet eine barmherzige Schwester eine Decke über eines der nächststehenden Betten.

„Wo? … wo … liegt Fähndrich … ?“ fragt die Dame hastig. „Bitte, Liebe, führen Sie mich an sein Bett … ich bin seine Mutter.“

Schweigend sieht die Nonne die ungestüm Drängende an. „Zu spät, Mutter!“ spricht sie dann tonlos. Mit abgewandtem Gesichte weist sie nach dem Lager hin, auf dem sie soeben den ewigen Schläfer in das Todtentuch gehüllt hat.

Ein herzzerreißender Schrei, wie er nur einer Mutterbrust entströmen kann, durchzittert den stillen Raum – und schmerzgebrochen liegt die Mutter neben der Leiche ihres Sohnes. –

Wir erzählen keine erfundene Geschichte, wenn wir auch den Namen der Dame und ihres Sohnes nicht nennen und nur angeben wollen, daß dieser als Fähndrich dem österreichischen Regiment Prinz von Holstein angehört hatte. In den stillen Häusern, in welchen die todeswunden Kämpfer ächzen und fern von ihrer Heimath und von ihren Lieben in namenloser Qual den letzten Seufzer aushauchen, – dort haben sich Scenen abgespielt, wie sie erschütternder die Phantasie keines Dichters ersinnen kann, Scenen, vor deren Tragik das Herz wie vernichtet still steht.

„Ich habe Entsetzliches erlebt,“ erzählte uns später jene barmherzige Schwester, „in den Monaten, welche ich nun hier im Lazarethe bin, Schmerzlicheres aber als dies Zu spät! der unglücklichen Mutter ist kaum an mich herangetreten. Noch Stunden lang kniete sie neben den theuren Resten des geliebten Sohnes, bis ich sie endlich sanft am Arme nahm. Ruhig ließ sie sich hinausführen, das Auge voller Andacht gen Himmel gerichtet. ‚Dort‘, lispelte sie kaum hörbar, ‚dort oben, mein Joseph, komm’ ich nicht zu spät.‘ Stumm drückte sie mir dann die Hand und stumm ging sie aus dem Zelte, wo sie ihr ganzes Glück zurückließ.“




Eine Nacht auf der Ortler-Spitze.


In der Nähe der Grenze von drei Gebieten, der Schweiz, der Lombardei und Tirols, erhebt sich eine dreizackige Schneepyramide. Mächtige Gletscher, die nicht viel niedriger liegen, umgeben sie von allen Seiten und machen ihre Ersteigung zu einer besonders schwierigen. Der Botaniker Gebhard hat diese Bergkrone im Jahre 1805 zum ersten Male bestiegen, doch gilt es noch immer für eine ruhmreiche That, zu der Ortler-Spitze empor zu klimmen, und die Mitglieder der heutigen Alpenclubs versuchen deshalb gern ihre Kräfte an ihr. Der gewöhnlichste Ausgangspunkt ist das Dorf Travoi, wo man Führer, Seile und die sonstigen Requisiten einer Bergbesteigung findet.

Von Travoi – erzählt ein Tourist, der mit einem Gefährten im verflossenen Sommer das Wagstück unternahm – führt der Weg zuerst durch Wiesen und tritt dann in einen düstern Fichtenwald ein, der im Winter von Bären besucht wird. Wir waren um ein Uhr Nachts aufgebrochen und erreichten kurz nach drei Uhr eine kleine Capelle, in der drei Strahlen eisig-kalten Wassers aus der Brust von steinernen Heiligenbildern hervorsprudeln. Bei dem Licht unserer Laterne sah der kleine Raum, in dem wir unsern Durst löschten, wahrhaft gespenstisch aus. Bald darauf wurde es Tag und um fünf Uhr verließen wir die Wälder und stiegen eine lange, mit losen Steinen bedeckte Höhe hinan, welche uns an den Fuß der ersten Schneefelder brachte. Hier legten wir unsere Eissporen an, die uns auf den Felsen lästig genug wurden, aber auf Eis und hart gewordenem Schnee die besten Dienste leisteten.

Drei Stunden später erreichten wir eine Felsenhöhe, die uns eine großartige Aussicht auf die umliegenden Schneefelder, Gletscher und Höhen gewährte, und machten einen halbstündigen Halt, während unsere Führer vorausgingen und in eine Gletscherwand, die wir zu ersteigen hatten, Stufen hieben. Zum Unglück für uns war sie von frischem oder weichem Schnee ganz entblößt, so daß wir uns so nahe als möglich an den Felsen hielten, die zu unserer Rechten lagen. Hier war die größte Vorsicht nöthig, denn wir durften die ungeheuren Massen von Steingeröll, die hier lagen, kaum berühren, so donnerten sie mit furchtbarer Geschwindigkeit die fast senkrechte Wand hinab. Zweimal hatten wir uns um vortretende Klippen zu schwingen und es darauf ankommen zu lassen, ob der Kalkstein, an den wir uns anklammerten, fest oder eben so verwittert sei, wie die heruntergefallenen Stücke. Natürlich waren wir Alle mit Seilen an einander befestigt und thaten jeden Schritt mit der größten Vorsicht, da ein einziger Fehltritt für uns sammt und sonders verhängnißvoll werden konnte. Die allerschlimmste Stelle war die, wo zwischen dem Felsen und einem schrecklichen Abgrund blos eine Leiste von zwei Fuß Breite blieb, die mit losen Steinen bedeckt war.

Nach zwei Stunden des schwierigsten Steigens erreichten wir eine kleine Ebene, und nachdem wir über eine Klippe weggeklettert waren, lagen mehrere mächtige Dome von gefrorenem Schnee und Eis vor uns, die eine endlose Ausdehnung und Höhe zu haben schienen und von mehreren Spalten durchzogen wurden. Der Tag war außerordentlich heiß und wir hatten uns so angestrengt, daß wir wenig zu essen und zu trinken vermochten. Die Führer hatten uns versprochen, uns bis Mittag auf den Gipfel zu bringen, aber es war fast drei Uhr geworden, ehe wir den ersehnten Punkt erreichten. Endlich standen wir auf dem Riesen Tirols, dreizehntausend Fuß über dem Meere, und vor uns entfaltete sich ein Panorama der Schweizer und Tiroler Gebirge in ihrer ganzen Glorie, welches Alles übertraf, was ich zuvor gesehen hatte. Der Tag war prachtvoll und die Gletscher und Eisfelder ringsum blitzten wie Edelsteine im hellen Sonnenschein.

So schwer es uns wurde, uns von der prachtvollen Aussicht zu trennen, mußten wir doch bald an den Rückweg denken. Wir hatten die unter der höchsten Spitze liegenden Dome von gefrorenem Schnee und Eis und ihre Spalten fast überwunden, als mein Freund Robert ausglitt und mich mit sich fortriß. Die starken Arme unserer Führer hielten uns sofort auf, aber im ersten Moment war das Gefühl des Ausgleitens an einer solchen Stelle ein wahrhaft fürchterliches. Das Wetter begann sich zu ändern; im Norden stieg eine schwarze Wolke auf und die Schweizer Gebirge zeigten sich in der wunderbaren Klarheit, die einen Sturm ankündigt. Wir kamen nun zu der Gletscherwand, die uns so viel zu schaffen gemacht hatte und die abwärts zu steigen noch schwieriger war. Ich ging voran, vom Führer Schäff am Seile gehalten, Robert folgte, mit dem Führer Oertel auf dieselbe Art verbunden.

Es ging gegen Sonnenuntergang und die Berge boten einen wunderbaren Anblick dar. Ueber den obern Theil des Himmels zog sich ein mächtiger, schwarzer Wolkenvorhang, unter dem Myriaden von Gipfeln buchstäblich gleich düstern Feuerflammen leuchteten, die aus einem Meere von Gold aufstiegen. Das Schauspiel war im höchsten Grade ehrfurchtgebietend, es glich mehr einer Vision aus einer andern Welt, als irgend einer Erscheinung, die man auf unserer Erde zu sehen erwartet. Fast wurde es sieben Uhr, ehe wir die erste Hälfte der Gletscherwand hinabgestiegen waren, und wir athmeten freier, als wir die Felsen erreichten, die uns beim Steigen einen Ruhepunkt gewährt hatten. Das Gewitter kam langsam, aber sicher näher, und wir beeilten uns, die untere Hälfte der Gletscherwand zurückzulegen. Unsere Führer wählten hier einen andern Weg, und das sollte uns in unvorhergesehene Schwierigkeiten verwickeln.

Die Schrecken der oberen Gletscherwand erneuerten sich, und da das heranziehende Gewitter die Luft immer mehr verdunkelte, so wurde es äußerst schwierig, die Füße sicher zu setzen. Bald traten wir vom Felsen auf das Eis herunter, bald kletterten wir vom Eise auf den Felsen hinauf, bis wir dachten, daß der Weg nicht schlechter werden könne. Noch immer sahen wir kein Ende und es wurde bald gewiß, daß wir die Nacht auf der Ortler-Spitze zubringen mußten. Das war eine schreckliche Aussicht, da [678] wir auf solch’ einen Fall nicht vorbereitet waren, und das kühnste Herz konnte bei dem Gedanken an die Schrecken einer Nacht, wie sie uns bevorstand, erbeben.

Wir waren zu der schlimmsten Stelle gekommen, wo wir uns über eine Fläche, glatt wie Glas und ohne Halt für die Hände, hinunterlassen mußten, um dann zu einer kleinen Vertiefung an der Seite des Berges emporzuklettern. Nur einen Blick warf ich in den Abgrund zu unsern Füßen und begann darauf das Hinuntersteigen, alle meine geistige Kraft zusammennehmend. Damit war es indessen bald vorüber und ich kroch zu einer Felsenleiste, über die ein Fels hinwegragte. Kaum befanden wir uns dort, als der Donner ringsum krachte und ein schwerer Regen niederrauschte. Schäff wies auf einen zweiten schwarzen Schlund, in den wir uns hinablassen müßten, und erklärte, Travoi in dieser Nacht zu erreichen, sei keine Möglichkeit. Obgleich wir ihm Recht geben mußten, daß unser Untergang sicher sei, wenn wir weitergehen wollten, wurden wir doch von der schrecklichen Aussicht, die Nacht an einer solchen Stelle zubringen zu müssen, fast überwältigt. Der Felsenrand, oder vielmehr die schräge Leiste loser Steine, auf der wir uns befanden, war in zwei kleine Vertiefungen getheilt und über ihm erhob sich ein überhängender Fels, von dem unglücklicherweise beständig Wasser heruntertropfte, so daß es kein trockenes Plätzchen gab. Wir konnten nicht vortreten, weil wir sonst in den Abgrund stürzten; wir konnten nicht schlafen, denn zum Niederlegen war kein Raum; wir durften uns nicht gegen den Felsen lehnen, da ein Einnicken die Gefahr des Hinuntertaumelns in sich schloß; wir konnten auch nicht hin und her gehen, um uns warm zu halten, da die Leiste sehr abschüssig war und die losen Steine unter unsern Füßen bei jedem Schritt in die Tiefe hinunter rollten. Wir hatten keine Nahrung, kein Getränk, kein Licht und unsere Kleider wurden durch das Wasser, das von den Felsen abtropfte, mit Nässe durch und durch gesättigt.

Jetzt kam das Gewitter zum vollständigen Ausbruch. Der Donner krachte gleich zehntausend Geschützen und die Echos der Gebirge warfen den Schall so oft zurück, daß er gar kein Ende nehmen wollte. Die blendenden Blitze stammten aus dunkeln Wolken hervor, einmal in weißen Zickzacks und dann in rothen Flammenströmen, welche die Schneefelder und Klippen erleuchteten, als ob sie im Feuer ständen, während der große Gletscher in unserer Nähe so glühte, daß er in eine einzige Lavamasse verwandelt zu sein schien. Der Anblick war zu schrecklich, als daß ich ihn zu ertragen vermochte, und ich versuchte meine Augen zu schließen. Es gelang mir jedoch nicht, denn jeder Blitz zwang mich, sie wieder zu öffnen und auf das glänzende Schauspiel ringsum zu blicken. Nach zwei Stunden hörte das Gewitter auf und friedlicher Mondschein legte sieh auf die Gebirge, den schlagendsten Gegensatz zu der frühern Scene bildend. Jetzt schauderte uns in unsern nassen Kleidern vor Kälte, aber zum Glück war kein Wind, denn sonst weiß ich nicht, was aus uns geworden wäre. Es wurde elf Uhr, es wurde zwölf Uhr. Wie langsam verging diese schreckliche Nacht! Viele Stunden schienen mir vorübergegangen zu sein, und wenn ich dann bei Mondschein nach meiner Uhr sah, so war der Zeiger häufig noch keine halbe Stunde weiter gerückt.

Ein Uhr, zwei Uhr ging vorüber und unsere Lage wurde wahrhaft qualvoll. Ich konnte meine Augen nicht offen erhalten und wurde doch in jedem Augenblick durch das schreckliche Gefühl aufgeweckt, daß ich vorn überstürzte. Es fror jetzt, unsere Zähne klapperten vor Kälte und wir zitterten vom Kopf bis zu den Füßen. Nicht ein Ton ließ sich hören, ausgenommen das Springen von Steinen und Blöcken über die Felswände und gelegentlich der Donner einer Lawine. Zuweilen hörten wir die Steine über unseren Köpfen, aber die überhängende Klippe beschützte uns. Um drei Uhr begann der Mondschein schwächer zu werden und Alles wurde grau. Schäff war zu dem an einer Felsenecke lehnenden andern Führer gegangen und Robert und ich standen nebeneinander und warteten sehnsüchtig darauf, daß der erste Schimmer des Tages die fernen Bergspitzen erhelle. Fortwährend hafteten meine Augen auf den Höhen, von denen ich wußte, daß sie uns die Dämmerung anzeigen mußten. Um vier Uhr zeigte sich das willkommene Licht und um fünf Uhr weckte ich die Führer. Wie groß aber war meine Bestürzung, als Schäff die Befürchtung aussprach, daß wir auch an diesem Tage Travoi nicht erreichen würden! Er sei krank, sagte er, und sein Aussehen bewies wirklich, daß die Nacht ihn mehr geschwächt hatte, als Einen von uns. Der am vorigen Abend gefallene Regen war auf der Gletscherwand zu Schnee gefroren und hatte sie in eine einzige Glasfläche verwandelt, so daß Schritt für Schritt Stufen gehauen werden mußten. Als der Tag vorrückte, erholte sich Schäff, während Oertel die Stufen aushieb, und um halb acht Uhr hörten wir die willkommenen Worte: „jetzt kann es vorwärts gehen.“ Wohl stand uns noch eine schwere Arbeit bevor, aber wir freuten uns doch, die Felsenleiste nach zwölf so schrecklichen Stunden verlassen zu können.

Glücklich kamen wir die Stufen hinunter und rasteten, während die Führer neue in das Eis hieben. Natürlich kamen wir nur langsam vorwärts und Schäff und Oertel mußten sich furchtbar anstrengen. Während dieser ganzen Zeit sprangen Steine und Felsstücke an uns vorbei, die großen mit lautem Krachen, die kleinen mit einem Ton gleich dem Pfeifen einer Flintenkugel. Unsere Führer fürchteten sich vor ihnen und beeilten sich, so viel sie konnten, aber uns versetzten die vorbeiwirbelnden Steine in eine Aufregung, wie sie der Soldat in der Schlacht empfindet, wenn er die Kugeln um sich herumfliegen hört. Schäff bekam von einem Steine einen schweren Schlag an’s Bein und mich traf ein kleinerer in den Rücken. Da Oertel von der Arbeit erschöpft wurde, so beschlossen wir den letzten Theil der Gletscherwand ohne Stufen hinunter zu gehen, kaum hatten wir indeß den Versuch gemacht, als Robert, der einen seiner Eissporen verloren hatte, ausglitt und abwärts schoß. Ich ging unmittelbar hinter ihm und konnte ihn mit meinem Alpenstocke aufhalten. Nach dreistündigen schweren Anstrengungen erreichten wir einige Felsen, wo wir ausruhten. Die unterste Strecke des Gletschers war mit weichem Schnee bedeckt, auf dem wir schneller gehen konnten. Am Fuße dieser Höhe sagten wir der Region des Eises und Schnees Lebewohl. Unser Weg führte jetzt über einen steilen steinigen Gang, wo wir einem Manne begegneten, den uns unsere freundliche Wirthin mit Erfrischungen entgegengeschickt hatte. Die Hitze war jetzt sehr groß geworden und ich konnte weder Fleisch noch Wein zu mir nehmen. In Folge der langen Enthaltsamkeit und wohl auch der Anstrengungen waren mein Mund und meine Kehle buchstäblich so trocken geworden, als ob sie aus Pergament beständen.

Gegen Mittag erreichten wir die Wälder, wo es leider kein Wasser gab, und die Qualen, die mir der Durst verursachte, wurden so groß, daß ich mich kaum noch fortzuschleppen vermochte. Um zwei Uhr endlich kamen wir zu der kleinen Capelle, wo die drei Quellen aus Heiligen hervorsprudeln. Ich stürzte hinein und trank begierig von dem köstlichen Wasser. Es war das Erste, was ich seit sechsunddreißig Stunden mit Genuß zu mir nahm. Mit Einem Schlage war ich wieder hergestellt, das Gefühl der Ermüdung verschwand und rasch gingen wir nach Travoi, wo wir nach einer Abwesenheit von anderthalb Tagen wieder eintrafen. Zwölf Stunden hatten wir zum Steigen gebraucht, fünf vom Gipfel bis zu unserm nächtlichen Ruheplatze, zwölf waren auf der schrecklichen Felsenleiste vergangen und sieben beim weitern Hinuntersteigen. Die Einwohner des Dorfes hatten uns fast alle für verloren gegeben und einige abgereiste Fremde bereits weiter verbreitet, daß zwei Touristen auf dem Ortler verunglückt seien. Blos ein Bekannter, ein Mitglied des Alpenclubs, hatte zuversichtlich behauptet, daß wir wohl und munter zurückkehren würden. Er und seine Frau hatten uns beobachtet, als wir die Gletscherwand niederstiegen, wie Fliegen an einer Mauer herunter kriechen, und bei unserer Ankunft begrüßte er uns mit der größten Herzlichkeit.

Die Stelle, wo wir übernachteten, liegt nach einer ungefähren Berechnung elftausend Fuß über dem Meere. Wenn etwas Wind gewesen wäre, so würden wir die Nacht kaum überlebt haben, da wir mit gar keinen Schutzmitteln gegen die Kälte versehen waren. In einem Entschlusse aber stimmten wir Beide überein, nämlich nie wieder bei einem ähnlichen Unternehmen unser Leben auf’s Spiel zu setzen. Am nächsten Morgen sagten wir dem ruhigen kleinen Travoi Lebewohl und gingen das Thal des Prad hinunter. Die Nachricht unseres Abenteuers hatte sich in der Nachbarschaft rasch verbreitet und überall erregten die „Ortler-Herren“ die Neugier der Einwohner. Bei unserer Ankunft in Prad wünschte uns der Pfarrer und mehrere Honoratioren zu unserer Rettung Glück und katechisirten uns freundschaftlich über alle unsere Erlebnisse. Sie erzählten uns, daß man uns, während wir auf dem Berge gewesen seien, von verschiedenen Punkten, und zwar bis Heiden im obern Etschthal, mit Fernröhren beobachtet habe.



[679]
Blätter und Blüthen.


Bei den „Importirten“. Acht Tage schon trieb ich mich in der Havanna herum, schon acht Tage lang berauschte ich mich an den echtesten von den echten – Importirten, wie sie bei uns heißen – und noch hatte ich nicht mit eigenen Augen geschaut, wo und wie diese unsere modernen Musen und Egerien das Licht der Welt erblicken. Es war mir daher eine sehr willkommene Botschaft, die mir mein alter Don Domingo, das langjährige Factotum meines Havanneser Bankiers, brachte, als er mich eines Nachmittags einlud, mit seinem Herrn in dessen zierlicher Volante hinauszufahren nach La Honradez, einer der ersten der großen Tabaksfabriken der Havanna, in der man hauptsächlich der Production der eleganten kleinen Cigarretten obliegt, wie sie in gleicher Güte außerhalb Cuba’s und Spaniens uns nur ein exceptionelles Glück einmal erhaschen läßt.

Schon auf eine Viertelstunde Entfernung macht sich das weitläufige Etablissement, das ehedem ein Kloster gewesen zu sein scheint, durch die Atmosphäre bemerklich, welche es einhüllt. Die ganze Umgebung duftet nach Tabak, als stände man mitten in einer ungeheuern Schnupftabaksdose. Rundum ist die Luft erfüllt mit feinem Tabaksstaub, der uns in Mund, Ohren und Nase und in die Poren unserer Haut dringt, und der erste Gruß, mit welchem ich der Fabrik und ihren Erzeugnissen meinen Respect erweisen konnte, war ein endloses, heftiges Niesen.

Wie bereits erwähnt, befaßt sich La Honradez beinahe ausschließlich mit der Fabrikation von Cigarretten, Cigarritos oder Papelitos oder wie man sonst die mit klargeschnittenem Tabak gefüllten graciösen kleinen Rollen von chinesischem Papier oder Reisstroh nennen will. Es ist dies im Ganzen eine sehr einfache Fabrikation; das Hauptinteresse, welches sich an die Anstalt knüpft, liegt darin, daß diese nicht nur, was die Quantität, sondern auch was die Qualität ihrer Erzeugnisse betrifft, die erste ihrer Art auf der Erde, ein Etablissement von Weltruf ist, für dessen Producte der bloße Name der Firma schon Reclame genug ist. Wie Krupp der Stahl- und Kanonenkönig, Barclay und Perkins die Bierkaiser, Faber der Bleistiftsultan ist, so die Honradez die Königin der Cigarretten; wer sie gesehen, hat etwas gesehen, das nirgends seines Gleichen hat. Was die Fabrik bedeutet, erhellt schon daraus, daß von ihren nahezu achthundert Arbeitern und Arbeiterinnen etwa fünfhundert speciell mit der Verfertigung der Cigarretten beschäftigt sind und im Durchschnitt je tausend Stück den Tag fix und fertig herstellen, die Woche also ungefähr drei Millionen liefern!

Zuerst schritten wir durch eine lange Reihe scheunenartiger Räume, wohl zehn bis zwölf; hier sahen wir zusammen Hunderte von Männern, Weibern und Kindern, sämmtlich Wollköpfe, auf dem Boden kauern und den Tabak sortiren, die Blätter von den Stengeln trennen und in große Körbe verpacken, in denen sie nach den Tabaksschneidemaschinen geschafft werden. Im Allgemeinen stehen die Cigarretten nicht im besten Renommée; man pflegt sich einzubilden, daß jede Sorte von Tabak, jeder Ausschuß sonst unverwendbarer Blätter für sie eben gut genug ist, etwa so wie jegliche Gattung von Fleisch, das von Katzen und Hunden nicht ausgeschlossen, gewissen großstädtischen Wurstfabriken willkommenes Material liefert. Zu meiner Beruhigung und Freude mußte ich mich hier in der Honradez überzeugen, wie ungegründet jener Vorwurf und wie die Cigarrette mit so manchen Dingen dieser Erde das Schicksal theilt, besser zu sein, als ihr Ruf. Man liest vielmehr die meist virginischen Tabake, die hier verarbeitet werden, mit der allerscrupulösesten Sorgfalt aus und füllt nur die feinsten und zartesten Blätter in die kleinen Papierrollen. Die Cigarretten von La Honradez sind wirklich die Creme der Creme, gewissermaßen der Champagnerschaum der Cigarren, werth also des Vorzugs, von schönen spanischen und französischen Lippen geraucht zu werden. Die Fabrik ist sich auch ihrer Leistungen bewußt, sie verschmäht darum jeden Posaunenstoß der Reclame. Auf den buntgedruckten Papierenveloppen, welche jedes Paketchen von fünfundzwanzig Stück umhüllen, steht nichts als das stolze „Mis hechos mi justificaran“ (Meine Thaten werden von mir zeugen), während die Devisen anderer Etablissements sich in echt spanischen Floskeln von Selbstlob ergehen. „Alle Welt preist mich,“ liest man auf den Umschlägen des einen; „Ich bin weltberühmt,“ ruft ein anderes aus, obschon ich eine Hand voll Goldfüchse wetten möchte, meine Leser und Leserinnen haben von diesen gefeierten Weltberühmtheiten noch niemals ein Sterbenswörtchen vernommen.

Die Havannapapiercigarren haben keine vollkommen cylindrische Form, auch kein Mundstück von Pappe, wie die bekannten Papyros, welche man in Moskau und St. Petersburg aus türkischen, syrischen und bessarabischen Tabaken fabricirt. Die spanische Cigarrette besteht einfach aus einer gewissen Quantität ganz feingeschnittenen Tabaks, der in die Mitte eines viereckigen Stückes von chinesischem Papier gelegt wird, welches man dann zu anderthalb Zoll langen und ein Achtel Zoll dicken „Stäbchen“ (bâtons) zusammenwickelt und an beiden Enden mittels eines besondern Kunstgriffes zusammendreht. So simpel wie diese Manipulation erscheint, so erfordert sie doch eine außerordentliche Uebung und ist eigentlich das Hauptgeheimniß der Fabrikation. Die Schwierigkeit derselben besteht darin, daß an beiden Enden genau so viel Papier frei bleibt, wie man braucht, das Ganze fest zusammenzudrehen, aber keine Linie mehr noch weniger, und daß der Tabak durch die ganze Länge der Cigarrette vollkommen gleich dicht verbreitet ist. Sobald diese zu fest oder der Tabak nicht gleichmäßig vertheilt, stellenweise zu locker ist, an andern Stellen sich stopft, ist das Fabrikat werthlos. Es muß daher mit der allergrößten Sorgfalt und kann nur von den geschicktesten Arbeitern gemacht werden, da es sonst keine Käufer findet, denn der Spanier, der einzig nennenswerthe Abnehmer der Waare, ist selbst gewissermaßen geborner Cigarrenwickler und in dieser Beziehung unerbittlich kritisch. Zwar ist’s jetzt von Paris aus fashionabel geworden, Mode der jeunesse dorée, sich mittels eines besonders präparirten Papiers und eines Beutelchens voll zerschnittenen Tabaks seine Cigarretten selbst zu bereiten, allein weder Franzosen noch Deutsche noch sonst wer erlangen in dieser subtilen Kunst jemals nur die Fertigkeit, wie sie jeder halbschürige spanische Bauerjunge besitzt, der sich im schütterndsten Eisenbahnwaggon, ohne nur einen Blick darauf zu werfen, mit sicherer Hand seine Papelitos zu wickeln versteht. Die unvernünftige spanische Politik hat überdies der eigentlichen Havannacigarre durch hohe Zölle den Eingang im Mutterlande versperrt, und so greift in Spanien alle Welt zur Cigarrette.

In einem andern Departement der Fabrik kamen wir wieder durch weite Säle. Auch hier waren Hunderte von Menschen bei der Arbeit, vorwiegend Mädchen und Frauen. Sie handhabten die Maschinen, welche das dünne Cigarrettenpapier zu den erforderlichen Quadraten zerschneiden, packten die Cigarretten in die Pakete zusammen und klebten die bunten Enveloppen darum. Die Anfertigung dieser Enveloppen nimmt ihrerseits in La Honradez einen vollständigen Industriezweig in Anspruch, ja setzt die Kunst selbst in Bewegung. Wir wurden in ein großes, helles Atelier geführt, wo wir ein Dutzend Creolen emsig über den Zeichentisch und die Holzplatten gebückt sahen, um die phantastischen Mottos und niedlichen kleinen Vignetten zu erfinden und in Holz zu schneiden, mit denen geschmückt die Papelitos der Honradez ihre Weltfahrten antreten. Gleich daneben besichtigten wir die Druckerei, welche diese Hüllen druckt, eine Officin, die selbst Leipzig Ehre machen dürfte, von zwei Dampfmaschinen in Gang gebracht und mit verschiedenen Schnellpressen versehen, die in der That einen sehr anerkennenswerthen Buntdruck herstellen. Das Merkwürdigste dieser Officin sind aber nicht die Maschinen und nicht ihre Maler und Xylographen, es sind die Drucker selber, ein ganz absonderliches Völkchen, keine Neger und keine Mulatten, noch weniger Creolen oder eingewanderte Spanier, auch nicht eigentlich Sclaven, und doch nicht vollkommen freie Menschen. Es sind hagere, safrangelbe Gesellen, mit vorstehenden Backenknochen, kleinen schiefstehenden Augen und langen, herabfallenden schwarzen Haaren, mit einem Worte Kinder des himmlischen Reichs, von denen auf Cuba die beträchtliche Anzahl von zweimalhunderttausend als sogenannte chinesische Kulis auf den verschiedensten Gebieten menschlicher Thätigkeit sich nützlich machen, als Gärtner, als Köche, als Lakaien, als Handwerker und Tagelöhner. Diese Kulis sollen die Sclaven ersetzen, die wenigstens gesetzlich nicht mehr eingeführt werden dürfen, obschon man allerhand Hinterthüren hat, durch die man ungestraft Neger zu importiren weiß. Man „kauft“ sich in der Regel den Kuli um drei- oder vierhundert Dollars auf einen Zeitraum von acht Jahren und hat ihn während der Dauer dieses „Contractes“ zu ernähren, zu kleiden und ihm einen Monatslohn von vier spanischen Thalern zu bezahlen. Der chinesische Arbeiter der Havanna ist somit nichts Anderes, als ein Sclave auf Zeit, den gut zu behandeln im Interesse seines Brodherrn liegt. Denn seltsam, während daheim in seinem Himmelsreiche der Sohn der Mitte ziemlich reichliche Gelegenheit hat, mit dem Bambusrohre Bekanntschaft zu machen, will er sich von Nichtchinesen nicht die mindeste körperliche Züchtigung gefallen lassen. Wird er geschlagen, so giebt er sich unfehlbar selbst den Tod.

Nach spanischer Etikette durften wir La Honradez nicht verlassen, ohne daß man uns ein Gast- und Ehrengeschenk darbot. Dies geschah in der zartesten und passendsten Weise. Nachdem wir unsere Namen und Adressen in das Fremdenbuch des Etablissements hatten einzeichnen müssen und eben uns beim Oberwerkmeister, der uns in Person durch alle Räumlichkeiten der Fabrik geführt hatte, dankend verabschiedeten, trat ein Kuli zu uns heran und überreichte mit einer tiefen Verbeugung und einem ganz unnachahmlichen Lächeln Jedem von uns ein Paket Cigarretten, auf deren Enveloppen in Buntdruck unsere Vor- und Zunahmen in ihrer vollen Ausdehnung zu lesen standen. Die ganze Operation hatte nicht sechs Minuten in Anspruch genommen und die Gabe war jedenfalls ein sinniges Andenken an die Heimath der „Importirten“.     




Eine Landesoccupation von Ehedem. Bei Gelegenheit der Besitzergreifung Hannovers, Kurhessens, Nassaus u. s. f. durch Preußen wird man an das eigenthümliche Ceremoniell erinnert, welches bei dergleichen Besitzergreifungen vor hundert Jahren und früher in Gebrauch war. Uns liegen zufällig actliche Nachweise über die Besitzergreifung eines zur frühern Abtei Fulda gehörigen Gebietes, des Amts Fischberg im jetzigen sogenannten Eisenacher Oberlande, durch das Herzogthum Weimar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vor, an welches das Gebiet nach Aussterben der besondern Eisenacher Linie 1741 gefallen war. Die Fürstbischöfe von Fulda glaubten ihrerseits auch noch Anspruch auf das Amt Fischberg, das ihnen früher einmal gehört hatte und später von ihnen an die Grafen von Henneberg verpfändet worden war, erheben zu dürfen, und es begann nun der zum Theil höchst ergötzliche Besitzstreit in folgender Weise.

Um zunächst die Gerichtsbarkeit über Hals und Hand, eines der Haupthoheitsrechte, sich zu wahren, läßt der Amtsverweser Gaudentius Brügger in Dermbach rasch ein Hochgericht auf dem Neuberge bei Wiesenthal aufrichten, in der Absicht, kurz danach – den 11. August – drei Missethäter dort hängen zu lassen. Das weimarische Amt in Kaltennordheim erfährt davon, entsendet rasch ein Commando am frühen Morgen dieses Tages über die hohe Asch und läßt das Hochgericht sammt Galgenleiter wieder umhauen. Hierauf wird ein neuer Schneppgalgen aufgerichtet, aus den Gefängnissen in Eisenach in aller Eile ein Delinquent herbeigeholt und, zur Constatirung des Besitzes jener blutigen Gerichtsbarkeit, daran aufgehängt. Dem Acte wohnte ein weimarischer Commissar, der Assessor Göckel, bei und dieser erklärte Angesichts des baumelnden armen Sünders, daß die Execution als Besitzact zur Behauptung der erbhennebergischen Territorialhoheit und höchsten Gerichtsbarkeit über das Amt Fischberg gelte. Hierauf verfügt sich derselbe Commissar auf eine Wiese bei Fischberg, läßt dort ein Stück Rasen ausstechen, dann weiter auf einem Pfarracker eine Erdscholle ausheben und Aehren abrupfen, in einer Waldung einen Erdklumpen ausstechen, Pistolen abschießen und Reiser abhauen. In der Sternmühle zu Fischberg und in der Unterschenke in Diedorf wird ein Spahn [680] aus der Hausthür geschnitten, Feuer auf dem Küchenheerde an- und ausgemacht, die Stubenthür auf- und zugeschlagen. In drei verschiedenen Ortschaften schlägt der Commissar dreimal mit einer Peitsche an das dort vorüberfließende Feldaflüßchen, aus einer weidenden Heerde läßt er einen Hammel greifen und zupft ihm eine Flocke Wolle heraus. Im Pfarr- und Schulhause schürt er Feuer an und löscht es wieder aus, macht Stubenthür und Fenster auf und zu, rückt Tische und Stühle, setzt sich nieder und steht wieder auf. Dann schließt er die Kirche auf, nimmt mit seinem Gefolge Platz, läßt das Buch auf dem Altar aufschlagen und die Orgel anstimmen. Bei all’ diesen symbolischen Besitzhandlungen erklärt er stets feierlich vor dem mitgebrachten Notar und den ihn begleitenden Zeugen, daß er damit Besitz ergreife von den erbhennebergischen Ländereien, Mühlen, Schenken, Flüssen, Schäfereien, Kirchen, Pfarreien und Schulen.

Das Stift Fulda, als es von dieser Besitznahme Kenntniß erhält, erhebt dagegen feierlichen Protest und verbietet den seitherigen Unterthanen bei tausend Thalern Strafe, an die Weimaraner Steuern zu zahlen oder ihnen gehorsam zu sein. Diesem Erlasse giebt es durch Einlegung von Militär Nachdruck. Weimar antwortet mit einer gleichen militärischen Execution und es beginnt ein kleiner internationaler Krieg. Der obere, nach den angeführten Besitzhandlungen bereits von Weimar occupirte Theil des Amtes wird von Weimar behauptet. Es gilt nun aber den Hauptort des Amtes, Dermbach, noch in Besitz zu nehmen. Der Commissar Göckel verfügt sich deshalb am 8. Septbr. an der Spitze von einigen hundert Mann Fußvolk und Husaren unter dem Commando des Oberstlieutenants von Stange von Kaltennordheim dahin. Während er zunächst am Platze vor dem Wirthshaus hält, um von diesem Besitz zu ergreifen, erscheint plötzlich ein Fuldaischer Notar, Namens Langabel, und erhebt Namens des Stifts Protest. Er wird indeß in seiner Rede sehr bald unterbrochen und muß sich über Hals und Kopf zurückziehen. Der weimarische Commissar begiebt sich hierauf nach dem Pfarrhofe, dringt durch das Thor und will auch hier Besitz erfassen. Da erscheint mitten durch die Soldaten hindurch der Notar Langabel und protestirt auch hier wieder. „Hinaus mit ihm, hinaus mit dem Hundsfott!“ ruft der Weimaraner. Im Nu wird der arme Notar gepackt, durch den Hof und das vorbeifließende Wasser nach dem Kloster in Sicherheit geschleppt. Das weimarische Occupationscorps begiebt sich indeß nach der evangelischen Kirche, bewältigt die Wache vor dem Kirchhofe und erbricht gewaltsam die Thür. Als sie nun in das Innere der Kirche dringen, siehe da steht vor dem Altar mit zwei zitternden Zeugen der unerschrockene Notar von Fulda und ruft mit lauter, vernehmbarer Stimme sein „protesto, protesto!“ Der eindringende Kriegscommandant erklärt, kein Lateinisch zu verstehen, und ersucht den Redner, sich nicht weiter zu bemühen. Dieser ruft indeß nur immer lauter seine feierliche Protestformel in das Schiff der Kirche hinab, obwohl die bangenden Zeugen sich heimlich bereits aus dem Staube gemacht haben. Endlich muß aber auch er den andringenden Grenadieren weichen.

Die Sache wurde später an’s Reichskammergericht gespielt und durch einen Vergleich geschlichtet. Fr. Hbg.     




Kaiserin Eugenie und der „Meermann“. Bei dem kürzlich in Saint-Cloud gefeierten Feste, dem Namenstage des Schutzpatrons dieses Ortes, einem Volksfeste nach Art unserer Kirchweihfeste, wo es nicht blos Buden mit Spielsachen, Leckereien und Putzgegenständen, sondern auch Schaubuden mit allen erdenklichen Merkwürdigkeiten giebt, machte es sich die Kaiserin Eugenie zum Vergnügen, in einfachster Toilette und verschleiert mit ihrem Sohn, dem kaiserlichen Prinzen, verschiedene dieser Schaubuden zu besuchen. Vor einer derselben stand ein Ausrufer, welcher mit Hinweisung auf ein groteskes Gemälde über der Thür die Menge einlud, sich ein seltsames, noch nie dagewesenes Phänomen anzuschauen, einen Meermann oder Fischmenschen, der halb Mann, halb Fisch oder Seehund sei und, obwohl früher außerordentlich wild gewesen, doch jetzt so weit gezähmt worden, daß er sogar gelernt habe, „Papa“ und „Mama“ zu sagen.

„Immer heran, meine Herrschaften, es ist die Pflicht jedes gebildeten Menschen, sich dieses Ungethüm zu betrachten, dessen Gleichen noch kein Mensch je erblickt hat, denn Seejungfern und Meerweiber sind schon eine alte, längst bekannte Geschichte, aber einen Meermann hat noch Niemand producirt!“

Das erschien dem kleinen Prinzen doch gar zu lockend und er bat seine Mutter, ihm diese Merkwürdigkeit zu zeigen. Lächelnd gewährte die Kaiserin den Wunsch, winkte dem sie begleitenden Kammerherrn und trat in die Bude ein. Hier ergötzte sich die Menge daran, das „Ungethüm“ zu betrachten, von dem man indessen blos die Arme und den Kopf mit langem, wirrem Haar und einem ganz mit Bart verdeckten Gesicht bemerkte, während der übrige Körper unter dem Wasser in einem tiefen Bassin verschwand, so daß man sich nicht davon überzeugen konnte, ob er einem Fisch oder einem Menschen gehöre. Der Meermann gab grunzende, unarticulirte Töne von sich, verschlang auf Commando lebendige Tauben und Frösche, sagte auch „Papa“ und „Mama“, wurde jedoch so ungehalten über die muthwilligen Neckereien eines kecken, jungen Burschen, daß dieser sich erschreckt zurückzog.

Der kleine Prinz drängte seine Mutter weiter heran, um das Ungeheuer besser sehen zu können, aber kaum hatte dieses einen Blick auf die Kaiserin geworfen, als es einen durchdringenden Schrei ausstieß, die Hände vor das Gesicht hielt und hinter den Coulissen der Bude verschwand.

Die Neugierde der Kaiserin war durch dies seltsame Benehmen rege geworden, sie ließ durch den Kammerherrn genaue Erkundigungen einziehen und erfuhr so nach und nach, daß der „Meermann“ der tief gesunkene Sohn einer vornehmen Familie war, der früher zu den bekanntesten Mitgliedern der Pariser jeunesse dorée gehörte, aber nach dem Beispiel des Herzogs von Grammont-Caderousse sein Vermögen leichtsinnig vergeudete und sich endlich in unabsehbare Schulden stürzte. Lange Zeit saß er im Schuldgefängniß, und als er dann aus Clichy entlassen wurde, suchte er sein Glück in der militärischen Laufbahn, aber auch hier gab er den sträflichen Leichtsinn nicht auf, unterschlug Gelder, die der Regimentscasse gehörten, wurde aus seinem Regiment ausgestoßen und stieg immer tiefer und tiefer in Schmach und Elend hinab.

Gott weiß, was der Unselige Alles betrieben, um sein Dasein zu fristen, bis er schließlich bei einer vagabondirenden Gauklerfamilie Brod und eine Zuflucht vor den Nachforschungen der Polizei gesucht hatte. Hier mußte er natürlich mit „arbeiten“ und hatte sich zum „Meermann“ hergegeben, da er zur Erlernung anderer Künste nicht mehr jung und geschmeidig genug war.

Der Anblick der Kaiserin, deren Kreisen er früher so nahe gestanden, erweckte die bitterste Scham und Trostlosigkeit in ihm, wenn er auch sicher sein konnte, daß sie ihn unmöglich erkennen werde. Die hohe Dame fühlte ihr Herz von tiefem Mitleid bewegt und beschloß, noch einen Versuch zu machen, den Ausgestoßenen in der menschlichen Gesellschaft zu rehabilitiren. Sie verschaffte ihm eine kleine Anstellung, wo er wenig mit Anderen in Berührung zu kommen hatte, und der arme Mensch ist so glücklich darüber, daß man hoffen darf, er werde sich dieser Güte würdig erweisen.




Noch einmal die Raubthiere des Schlachtfeldes. Oesterreichische Blätter sowohl als Briefe aus dem Kaiserstaat haben die Gartenlaube wegen des in ihrer Nr. 39 enthaltenen Artikels „Die Raubthiere des Schlachtfeldes“ vielfach angefeindet und das darin Erzählte als gehässige Erfindung erklärt. Zu unserer Rechtfertigung lassen wir einfach den nachstehenden Abdruck aus der Wiener „Presse“ folgen: „Ein Brief aus Böhmen schildert in düsteren Farben die folgenden entsetzlichen Scenen nach den blutigen Kämpfen der letzten Tage. Es heißt darin unter Anderm: ‚Weit her, auch aus fremden Ländern, strömten die menschlichen Hyänen auf die Schlachtfelder, die sie raubend und plündernd durchzogen. Im Schutze der Nacht strichen sie durch die blutgedüngten Felder, und wo in den Wäldern ein Wimmern auf die Spur von Verwundeten lenkte, da schlichen sie hin. Die todten Körper wurden nackt entkleidet und liegen gelassen, die Tornister entleert. So zogen ganze Banden in gemeinsamem Wirken über die blutige Wahlstätte. Besonders waren es Officiere, die das Augenmerk dieser Hyänen auf sich zogen. Verwundete, die sich nicht wehren konnten, wurden beim Ausziehen der noch brauchbaren Uniformstücke auf das Unbarmherzigste herumgezerrt und liegen gelassen, nachdem die Armen geglaubt, daß sie sich um den Preis alles Werthvollen, das sie diesem Raubgesindel hingaben, wenigstens einen Trunk Wasser erkauft. In einem Getreidefelde vor Gitschin fand man am Tage nach der Schlacht einen todten kaiserlichen Officier und neben ihm, mit einem Säbelhieb auf die Schläfe hingestreckt, ein Weib aus einem benachbarten Orte. An einem ihrer Finger hing umwickelt ein Stück der goldenen Uhrkette dieses Officiers, während dessen linke Hand die Uhr krampfhaft umschlossen hielt. Wahrscheinlich wollte dieses Scheusal den noch Lebenden berauben, der noch so viel Kraft besaß, die Hyäne mit einem Hiebe niederzustrecken. In der Tasche ihrer Schürze fanden sich noch mehrere Uhren, Ketten und verschiedene Ringe. Das ist einer jener wenigen Fälle, in denen die Vergeltung dem Frevel auf dem Fuße folgte. Die krampfhaft geschlossenen Finger wurden mit Gewalt aufgerissen und die letzten Andenken an Weib und geliebte Wesen geraubt, fromme Andenken und Medaillons, deren Portraits man barmherzig genug den Sterbenden noch in den Händen ließ, waren vom Halse abgerissen. Viele gaben bereitwilligst ihr Alles her gegen das Versprechen, ihnen einen Trunk Wasser bringen zu wollen. Man umklammerte die Kniee dieser Scheusale in Menschengestalt und beschwor sie bei Allem, was dem Menschen heilig ist, ihrer nicht vergessen zu wollen. Viele hörten nicht eher zu flehen auf, bis ihnen dieses Gesindel einen Schwur geleistet, sie von dem Schlachtfelde auf den Verbandplatz tragen zu wollen, wenn sie mit ihrem Rauben und Plündern zu Ende gekommen. Sie schwuren, aber sie kamen nicht wieder. Verwundete in den Spitälern, die oft erst nach Tagen halbtodt von den Schlachtfeldern ohne jede Bekleidung aufgelesen wurden, erzählten mir von Gräueln, die niederzuschreiben die Feder zu schwach ist.‘“




Arnold Schloenbach.[1]
(gestorben am 17. September).

Der hohen Schwung’s die Freiheit stets gesungen,
Gefesselt lag er selbst in schweren Banden:
Noth hat und Sorge lauernd ihn umstanden,
Aus kranker Brust ist ihm das Lied erklungen;

5
Ein stiller Held hat er sich durchgerungen,

Treu blieb das Herz, ward auch die Kraft zu Schanden,
Er ist am Ziel, die düstern Schatten schwanden,
Und um die Dornen wird der Kranz geschlungen.

Ein deutsches Kämpfen und ein deutsches Dichten –

10
Der Tod erst muß solch’ herbes Loos versöhnen,

Wer hat den Muth, die Schuldigen zu richten?
Wollt Ihr des späten Dankes Euch entwöhnen,
Dem Leben schon erfüllen Eure Pflichten:
Ein freies Volk nur kann die Freien krönen!
 Albert Traeger.


  1. Unsern Lesern ist Arnold Schloenbach durch manchen interessanten Beitrag, den er als langjähriger Mitarbeiter der Gartenlaube geliefert hat, lieb geworden, wie ihnen sein freiheitliches Streben und Dichten bekannt sein wird. Sie werden daher mit Antheil die Verse lesen, in denen ein geistesverwandter Poet Sinnen, Wesen und Schicksale des Heimgegangenen so wahr und warm charakterisirt hat.

Zur Nachricht. Mangel an Raum macht auch diesmal leider unmöglich, eine weitere Quittung der neuerdings eingegangenen Beiträge für die Verwundeten und Hinterbliebenen der Gefallenen zum Abdruck zu bringen. In nächster Nummer wird sie indeß bestimmt erfolgen. Die Redaction. 


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. zitiert nach: Friedrich Schiller, Gedichte (1776-1805). Die unüberwindliche Flotte.
  2. zitiert nach: Friedrich Schiller, Wallenstein-Trilogie (1799). Die Piccolomini, I, 1 / Illo
  3. zitiert nach: Annette von Droste-Hülshoff, Gedichte. An die Weltverbesserer.
  4. Louis Stromeyer, vergl. Kleiner Briefkasten, Heft 46