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Die Gartenlaube (1866)/Heft 31

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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31 u. 32.   1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



An unsere Leser!

Um die durch die Sistirung unserer Zeitschrift entstandene Störung in dem regelmäßigen Erscheinen derselben auszugleichen, sehen wir uns veranlaßt, für diesmal eine Doppelnummer (Nr. 31 und 32) zu geben. Die Verlagshandlung. 




Blaubart.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)


Am andern Morgen saß Lilli neben Tante Bärbchen in der Frühstückslaube. Das junge Mädchen hatte den Schooß voll Myrthenzweige, die sich allmählich unter ihren Händen zu einer Brautkrone ineinanderschlangen. Nachmittags sollte die Trauung einer ihrer Freundinnen stattfinden und Lilli hatte als Brautjungfer die Sorge für den bräutlichen Kopfschmuck übernommen. Wie bleich und müde neigte sich ihr Gesicht über den vielverheißenden Kranz, auf dessen zarten Blättern die meisten Mädchenaugen endlose Weissagungen künftigen Glückes zu lesen pflegen!

Der ganze gestrige Tag und die schlaflose Nacht waren Lilli wie ein Traum vergangen, aber es war einer jener Träume, die uns unablässig durch einen Kreislauf marternder Gedanken und Gebilde jagen und die wir frohlockend abschütteln, wenn uns das süße Morgenlicht in die beruhigende Wirklichkeit zurückführt. Hier gab es jedoch kein Erwachen; das Leben und Geräusch des Tages scholl herein in den stillen Garten, und durch das Gezweig der Laube sinkend irrte ein heller Sonnenstrahl über die Stirn des jungen Mädchens… Welch’ ein Chaos widerstreitender Empfindungen hatte das Begegniß mit dem Blaubart in ihr hervorgerufen! Wie sie auch rang und sich und ihre eigene Schwäche und Charakterlosigkeit verspottete, das Gefühl eines unsäglichen Mitleidens ließ sich nicht unterdrücken. Sie fand es vollkommen unwürdig, dem Bild eines Mannes, dessen Haus ein so zweideutiges Geheimniß umschloß, auch nur für einen Augenblick Raum zu geben, und doch fühlte sie fort und fort seinen düster traurigen Blick auf sich ruhen, und ihr Gedächtniß wiederholte mit peinlicher Genauigkeit Alles, was er gesagt hatte; das aber war edel und außergewöhnlich gewesen und konnte aus keiner lasterhaften Seele kommen… Sie schämte sich vor der Tante, und – seltsam – gleichwohl stieg ein nieempfundenes Gefühl von Bitterkeit gegen die mütterliche Freundin in ihr auf; es kamen Momente, in denen sie die alte Dame des blinden Hasses anklagte, der auch sie verleitet habe zu so rauhen, zurückweisenden Antworten. Diese Antworten brannten ihr auf der Seele, ja, sie meinte bisweilen, ein böser Dämon habe sie ihr eingeflüstert. Gedachte sie aber plötzlich jenes Abends, an welchem sie den Blaubart mit der Unbekannten zusammen gesehen hatte, dann überkam sie selbst wieder ein Gefühl von Grausamkeit, dann rief sie sich prüfend und mit unbeschreiblicher Genugthuung jedes herbe Wort zurück, ob es auch ihren Mädchenstolz, ihre Unnahbarkeit gehörig an den Tag gelegt habe. Wer vermöchte alle die Regungen eines jungen Mädchenherzens zu verfolgen, das neben dem urplötzlich aufleuchtenden Strahl einer wunderbaren Seligkeit den unerbittlichen Schatten völliger Hoffnungslosigkeit erblickt?

Die Hofräthin hatte längst die Brille zusammengeklappt und auf das vor ihr ruhende, aufgeschlagene Buch gelegt; ihr Blick haftete eine Weile forschend und befremdet auf dem Gesicht des in trübes Sinnen völlig verlorenen jungen Mädchens.

„Na, Kind,“ unterbrach sie endlich die lautlose Stille in der Laube, „wer’s nicht wüßte, daß Du da einen Brautkranz bindest, der müßte d’rauf schwören, es sei ein Andenken für den Gottesacker! … Wie siehst Du denn aus? Ein schönes Hochzeitsgesicht das!“

Lilli war bei den ersten Worten jäh emporgefahren, und die von der Hofräthin auf Lippen und Wangen vermißte Farbe kehrte für einen Moment hochaufglühend zurück.

„Ich habe freilich auch so meine eigenen trüben Gedanken gerade bei dem Kranz da,“ fuhr Tante Bärbchen fort, als die Angeredete schwieg; „ist er doch erzwungen und ertrotzt worden von den Eltern, die nun einmal die Wahl ihrer Tochter für eine unglückliche halten. Das hat böse, böse Auftritte gegeben in dem Hause! … Ich weiß nicht, zu meiner Zeit war das ganz anders; da hatte man mehr Respect vor der Einsicht der Eltern und, ich meine auch, man liebte sie mit mehr Aufopferung.“

Ihre großen, grellen Augen verschleierten sich und schweiften achtlos über den Garten hinweg weit, weit hinaus in die Ferne, aber nicht in das sonnige Blau, dessen äußerster Saum in einem zart rosigen Duft zerschmolz, in die längst versunkene Jugend irrten sie zurück, und es mußte ein wehmüthiger Moment sein, auf welchem sie ruhten, denn um die Lippen schwebte ein trauriges Lächeln.

„Ich hatte meinen Vater über die Maßen lieb,“ hob sie von Neuem an, „ich hätte ihn nicht betrüben mögen, um Alles in der Welt nicht! … Es giebt mir jetzt noch jedesmal einen Stich [482] durch’s Herz, wenn ich daran denke, daß ich einmal als ganz kleines Kind gefragt habe: ‚Vater, warum haben denn alle Kinder zwei Aermchen und ich nur eines?‘ Und wenn ich hundert Jahre alt werde, ich vergesse es nicht, wie da sein liebes, ernsthaftes Gesicht kreideweiß wurde und sich so schrecklich veränderte, daß ich laut aufschrie und zu weinen anfing. Ich habe nie wieder gefragt, aber von der Zeit an, wenn mich Andere mitleidig ansahen, zitterte ich jedesmal aus Angst, er könnte es bemerken und sich darüber grämen. Später ließ er mir einen künstlichen Arm machen, er sah täuschend aus, kostete schweres Geld und gab mir die strenge Lehre, daß alles Falsche sich rächt… Siehst Du, mein Kind, das sind jetzt weit über dreißig Jahre her, und ich weiß noch auf’s Jota, wie mir damals zu Muthe war. Ich war ein häßlich Ding, hatte ein grob zugehauenes Gesicht, eine plumpe Taille und konnte mich niemals so recht in das finden, was man zierliche Manieren nennt. Ich wußte das Alles so genau, wie es mein ärgster Feind nicht besser hätte wissen können, und das machte mich vollends eckig, und weil ich die Wahrheit liebte, so war ich auch noch grob dazu… Es tanzte Keiner gern mit mir, und wenn es mir auch nicht gerade passirte, daß ich Kohl feil halten mußte auf den Bällen, so geschah das nur, weil mein Vater ein reicher und angesehener Mann war… Drum war mir’s auch gar verwunderlich, daß sich einmal Einer fand, von dem ich merkte, daß er sich gern mit mir unterhielt; er war fremd und kam von Zeit zu Zeit in Geschäften hierher und auch in meines Vaters Haus. Er kam gern und blieb auch immer länger da, als just nöthig war; das hatte ich schnell weg und auch, daß es um meinetwillen geschah, und dafür war ich ihm dankbar über die Maßen… Aber da kam er einmal auch, er war lange fortgewesen; ich begegnete ihm in der Hausflur und es war mir gar eigen zu Muthe, wie er mich so herzlich froh ansah; dabei griff er schnell und unversehens nach meiner Hand – es war die linke, falsche… Es ist immer ängstlich, wenn man Andere zum Tode erschrecken sieht, aber in dem Augenblicke war es doch gerade, als sollte mein Herz still stehen vor Bestürzung, denn er stand vor mir mit einem Gesicht, so weiß, wie der Kalk an der Wand; ich glaube gar, er bekam eine Art von Schwindel oder Ohnmacht vor Schreck und Abscheu. Er stierte mich entsetzlich an und schleuderte das unselige Machwerk von Pappe weit von sich, als sei es eine Natter… Damals sah es schrecklich aus in mir, aber ich hab’ die Zähne zusammengebissen und mein ganzes Wesen wohl behütet, und so ist mein Vater gestorben und hat nie erfahren, was ich für ein großes Herzeleid durchgemacht habe. Den Arm aber habe ich auf der Stelle weggelegt; ich hatte meine Strafe für den Betrug!“

„Und jener Mann, Tante?“ fragte Lilli bewegt.

„Nun, der ist damals gleich in der Hausflur umgekehrt, zur Thür hinausgegangen und eine lange Zeit nicht wiedergekommen. … Er hat später eine meiner Freundinnen geheirathet,“ erwiderte die Hofräthin beinahe barsch; sie wollte offenbar einen leichten Ton anschlagen, und das gelang der unbiegsamen, kräftigen Stimme nicht.

Tante Bärbchens Mittheilung und mehrfache, daheim gehörte Andeutungen ließen dem jungen Mädchen keinen Zweifel, daß jener Mann ihr eigener Vater gewesen sei. Und wie hatte ihm die unglückliche Verkürzte jene schmerzensreiche Erfahrung vergolten? Sie war ihm eine treue Freundin geblieben unter allen Verhältnissen, und als er einst durch mißglückte Speculation – er war Bankier – am Rand eines Abgrundes gestanden, da hatte sie ihm ihr ganzes Vermögen zur Verfügung gestellt und ihn gerettet. Sie war daher auch stets ein Gegenstand großer Verehrung für Lilli’s Eltern gewesen; die Mutter hatte Lilli, als Tante Bärbchens Liebling, noch auf dem Sterbebett ermahnt, die alte Freundin nie wissentlich zu betrüben und ihr nach Kräften das Leben froh und heiter zu machen.

„Ja, ja, es weiß Keiner besser als ich, was der feste Wille über ein rebellisches Herz vermag,“ setzte die Hofräthin nach einer Pause hinzu. „Aber es ist ein ganz ander Geschlecht heut’ zu Tage; mit der körperlichen Gesundheit hapert’s immer mehr, und da sieht’s dann auch in den meisten Fällen um die rechte Kraft der Seele mißlich aus. Das liebe Ich steht obenan, und die stillschweigend gebrachten Opfer im weiblichen Gemüth werden immer seltener.“

Lilli hatte den Kranz vollendet und legte ihn mit einer hastigen Geberde auf den Tisch. Auf ihren Wangen brannte eine tiefe Gluth und um die festgeschlossenen Lippen legte sich ein Zug von trotziger Entschlossenheit. Bei Tante Bärbchens letztem Ausspruch war plötzlich die Frage in ihr aufgetaucht, wie sie wohl selbst aus einem schweren Herzensconflict hervorgehen würde. Ungerufen, aber nichtsdestoweniger beharrlich, standen sofort jene düsterflammenden Augen vor ihr, und seltsam durchschauert von einem Gemisch schamhafter Scheu und einem ihr völlig neuen, unbekannten Glücksgefühl dachte sie zum ersten Mal, wie es werden könnte, wenn der da drüben frei, vollkommen frei, ihr seine Hand böte, und da lagen auch sofort Zerwürfnisse vor ihr, in die sie schaudernd blickte wie in einen bodenlosen Abgrund… Das Wort „Kampf“ war für sie bis dahin eigentlich vollkommen bedeutungslos geblieben. Rein und ungetrübt wie ein klarer, geschützter Wasserspiegel, zu dem die Stürme nicht eindringen konnten, hatte ihre junge Seele der Welt zugelächelt; nur einmal waren dunkle Wolken darüber hingezogen, das war, als ihre Mutter starb; ein Schicksalsschlag, der Schmerzen, aber keinen Kampf mit sich brachte. Vergöttert von ihrem Vater hatte sie stets mühelos das erlangt, was ihr wünschenswerth war, und traf sie ja einmal auf Widerstand, so bedurfte es eines Schmeichelwortes, einer kleinen Schelmerei ihrerseits, um den väterlichen Beschluß umzuwandeln. Sie hatte deshalb auch noch gar keinen Maßstab für die Tragkraft ihrer Seele gegenüber einem fast übermenschlichen Opfer… In der einen Wagschale lag ja auch in diesem Augenblick nur ein Phantom, der süße Traum von Glückseligkeit, in der anderen dagegen die Wirklichkeit, Tante Bärbchens Ansprüche auf ihre Dankbarkeit und Hingebung. Und darum siegte schnell die Ueberzeugung, daß die Tante in einem solchen Kampf niemals die Unterliegende sein dürfe. Sie war ja die Retterin der Familienehre, ihr allein war es zu danken, daß Lilli und die Ihren jetzt in sorgenfreien, ja glänzenden Verhältnissen lebten; sie hatte mit nie ermüdender Geduld und Ausdauer am Lager ihres kranken Lieblings gewacht, wo die mütterliche Pflege erlahmte – das Phantom versank in diesem Moment rettungslos.

„Tante Bärbchen, Du lachst immer über meine zerbrechliche Gestalt,“ sagte Lilli trotzig, „und magst wohl denken, mit der Seelenstärke sähe es auch nicht viel besser aus … glaube das ja nicht; ich würde genau so handeln wie Du!“

„Oho, Kind, Du sprichst da wie der Blinde von der Farbe!“ lachte die Hofräthin. „Närrchen, was weißt denn Du von Herzenskämpfen! Hast ja noch einen Puppenspielwinkel in Deiner Stube! Uebrigens, Gott mag Dich behüten, daß Dir niemals dergleichen Conflicte nahe treten,“ fügte sie weich hinzu und strich liebkosend über das reiche Haar des jungen Mädchens, „es sähe dann doch wohl übel aus um meine kleine Mondscheinprinzessin!“

Das Gespräch wurde durch einen Besuch unterbrochen. Ein junger Kaufmann aus der Stadt, der Sohn einer mit Tante Bärbchen befreundeten Familie, war von einer Reise nach Paris zurückgekehrt und wollte seine Aufwartung machen. Mit der Tournüre eines Weltmannes trat er in die Laube, die sich sofort mit dem Duft eines starken Parfüms füllte. Von der Frisur bis herab zur Chaussure repräsentirte der an sich ganz hübsche junge Mann die allerneueste Modelaune des modernen Babels, und ein Phrasenstrom, stark untermischt mit französischen Brocken, floß wie Honigseim über seine Lippen. Nach Tante Bärbchens schlichter, ergreifender Erzählung machte dies geschraubte, oberflächliche Wesen einen doppelt widerlichen Eindruck auf Lilli. Sie beantwortete seine an sie gerichteten Trivialitäten höchst einsilbig und war sehr froh, als die Hofräthin sie nach einer Weile mit dem Auftrag hinausschickte, ein Bouquet für die Mutter des jungen Herrn abzuschneiden. Allein zu ihrem Verdruß verabschiedete er sich gleich darauf von Tante Bärbchen, schritt neben ihr her und lispelte bei jeder Blume, die sie abschnitt, eine fade Schmeichelei. Zornig riß sie endlich eine halb abgeblühte, häßliche Pechnelke ab, steckte sie in das Bouquet und reichte ihm dasselbe mit abgewendetem Gesicht hin. Ohne Zweifel viel zu eitel, um Lilli’s Geberde zu verstehen, haschte er nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen.

In demselben Augenblick scholl es wie ein zerschmetternder Schlag durch die Lüfte, dem das Klirren niederstürzender, auf Steinpflaster zerschellender Glasscherben folgte. Lilli wandte sich jäh und bestürzt um nach dem Thurm des Nachbarhauses, denn von dort her kam der Lärm. In zahllosen Splittern taumelten eben die letzten glitzernden Reste des nördlichen Thurmfensters herab – verschwunden, in Atome zerstäubt waren die poesievollen [483] Gestalten der unglücklichen Liebenden – statt ihrer umschloß der Fensterrahmen die gebietende Erscheinung des Blaubartes. Wie unberührt von dem Geräusch des zertrümmerten Kunstwerkes stand er einen Moment, die Rechte ausgestreckt, unbeweglich da, dann verschränkte er die Arme und blickte in dieser herausfordernden, beinahe hohnvollen Stellung unverwandt auf das Paar herab; der hinter ihm niederfallende dunkelblaue Vorhang ließ eine auffallende Blässe seines Gesichts doppelt hervortreten.

„Nun, der Nabob da drüben macht sich wohl einen Privatspaß und zerschlägt seine kostbaren Fenster, um sich neue anschaffen zu können!“ sagte spöttisch der junge Mann an Lilli’s Seite; „Wie er unverschämt herunterstarrt! … Ich hätte gute Lust, ihn für seine Frechheit zu züchtigen!“

Diese Drohung wurde jedoch in sehr zahmem Ton geflüstert und war offenbar nicht darauf berechnet, den Weg bis hinauf zum Thurmfenster zu machen. Lilli hörte sie kaum. Mit dem Verständniß eines erwachten Herzens begriff sie blitzschnell, was in dem Innern des Mannes da droben vorgehe; er litt unverkennbar. Sie fühlte den fast unbezwinglichen, leidenschaftlichen Wunsch, ihn beruhigen zu dürfen, aber beinahe ebenso schnell gewann sie die Herrschaft über ihre heftige Gefühlsaufwallung. Bei alledem blieb ihr der Gedanke unerträglich, daß der Anschein einer näheren Beziehung zu dem jungen Gecken auf ihr laste; deshalb erwiderte sie dessen zierliche Verbeugung mit einem kaum merklichen, stolzen Kopfnicken, und ohne noch einen einzigen Blick nach dem Thurmfenster zurückzuwerfen, schritt sie langsam nach der Laube.

Die Hofräthin war im Begriff in das Haus zu gehen. Sie hatte sicher den Lärm hören und auch seine Veranlassung sehen müssen; aber sie berührte den Vorfall mit keinem Wort und ermahnte Lilli, den Brautkranz fortzutragen, auf jeden Fall aber bei Uebergabe desselben die Leichenbittermiene wegzulassen, die sie nun schon den ganzen Morgen habe ansehen müssen. … Tante Bärbchen mußte tief, tief in dem Wahn stecken, daß der Puppenspielwinkel in Lilli’s Stübchen ein unfehlbares Präservativ gegen Herzenanfechtungen sei; wie hätte sie sonst die unverkennbare, tiefe Gemüthsbewegung in den Zügen des jungen Mädchens, die noch dazu fortwährend ein jäher Farbenwechsel überfluthete, für Niedergeschlagenheit oder gar üble Laune halten können! … Sie war eine geschworene Feindin der Kopfhängerei bei der Jugend und ereiferte sich deshalb Nachmittags auf’s Neue, als Lilli, hochzeitlich geschmückt, in das Wohnzimmer trat, und, wenn auch gezwungen lächelnd, doch noch immer so zerstreut und wie in sich verloren dreinschaute. Mit einer Art von komischem Zorn zeigte sie auf das Bild der Großmutter.

„Es sind häßliche Dinger, die schwarzen Pflästerchen da auf dem Gesicht,“ sagte sie „und ich hab’ nie begreifen können, wie ein Mensch sein ehrliches Gesicht so verderben mag; aber heute möchte ich sie am allerliebsten sammt und sonders auf Deine Stirn kleben, weil mich die Falte da grimmig ärgert… Dein Anzug sieht übrigens gut aus, aber es fehlt etwas, und zwar just das, was ich immer so gut hab’ leiden mögen, für ein junges Mädchen, ein paar frische Blumen an der Brust. Geh’ hinaus in den Garten und schneide Dir ein Sträußchen weißer Rosen ab; hast noch vollauf Zeit dazu.“

Zeit hatte sie allerdings; denn die Hofräthin hatte sie gezwungen, sich eine ganze Stunde früher anzukleiden, damit die Feier nicht durch eine säumige Brautjungfer verzögert werde.

Mechanisch schritt Lilli die Thürstufen und den Hauptweg des Gartens hinab. Ihr Kleid von starrer Seide rauschte über den Kies fast erschien dieser weiße, mattglänzende Stoff zu schwer für die elfenleichte Gestalt es jungen Mädchens, aber der Eindruck des Schwerfälligen wurde gemildert durch duftige Tüllbauschen und Spitzen, die Schultern und Oberarme umschlossen. Eine einzige, weiße Seerose, den mattgelb schimmernden Kelch voll blitzender Krystalltropfen, lag über ihrer Stirn; lange Schilfblätter mischten sich zwanglos mit den wundervollen Haarsträhnen und fielen auf den Nacken; hier und da leuchtete es wie ein blutigrother Tropfen aus dem tiefdunklen Haar, oder auf einer Blattfläche, der Schilfkranz war mit Korallennadeln befestigt.

Zu beiden Seiten des Weges dufteten weiße Rosen, aber Lilli berührte keine derselben; sie hatte schon wieder vergessen, weshalb sie den Garten betreten. Träumerisch schritt sie weiter. Sie wußte nicht, daß sie bereits das Bohnengehege passirte, welches einen Theil des nach dem Pavillon führenden Weges einschloß; erst, als die hohen, grünen Wände seitwärts aufhörten, und der Sonnenschein wieder voll und breit auf dem Kies lag, hob sie den Kopf … vor ihr lag der Pavillon, in demselben Augenblicke wurde die Thür von innen rasch aufgestoßen, und der Blaubart trat heraus.

Lilli stieß einen leisen Schrei aus und wollte in den Hauptweg zurückfliehen.

„Bleiben Sie, oder ich folge Ihnen in das Haus!“ rief er so laut und drohend, daß sie scheu und angstvoll nach dem Haus hinüberblickte, diese Stimme mußte ja bis in seine entferntesten Winkel dringen. Sie blieb wie festgewurzelt stehen, während er mit raschen Schritten auf sie zukam. Er fing ihren ängstlichen Blick auf, ein bitteres Lächeln zuckte über sein Gesicht.

„Beruhigen Sie sich,“ sagte er mit herbem Spott, als er vor ihr stand, „mein Anblick wird die Tante nicht erschrecken, aus dem einfachen Grunde, weil sie mich hier nicht sehen kann. Es geschieht ihr überhaupt kein Leid’s, so wenig wie ihrem Garten. … Haben Sie je eine niedergetretene Blume, oder umgeknickte Grashalme in der Nähe des Hauses, oder um jene Laube bemerkt? … Und doch habe ich in finsterer Nacht unzählige Male dort gestanden; gehe ich auch auf verbotenen Wegen, so weiß ich doch fremdes Eigenthum zu schonen… Jenem unwiderstehlichen Trieb, nächtlicher Weile hier auf feindlichem Terrain herumzustreichen, verdanke ich einen ganzen Schatz von Wissen; so z. B. weiß ich, daß Sie eben im Begriff sind, zur Hochzeit zu gehen; diese träumerische Seerose wird Opposition bei Ihren Freundinnen hervorrufen, die Ihnen durchaus brennendrothe Verbenen octroyiren wollten.“

Lilli hob die zornig blitzenden Augen zu ihm auf; heftige Worte drängten sich auf ihre Lippen, aber sein Anblick machte sie so bestürzt, daß sie nicht einen Laut hervorbrachte. Er hatte offenbar die Herrschaft über sich selbst verloren. Seine Gesichtsfarbe war noch fahler, als am Morgen, und die Lippen, die er zu einem spöttischen Lächeln zwingen wollte, sträubten sich gegen den Zwang und zuckten fieberisch. Er hatte bis zum letzten Wort den Ton beißender Ironie festgehalten; allein völlig gegen seine sonstige Art und Weise, nach der er zwar rasch und feurig, aber doch klar abwägend und markirend zu sprechen pflegte, stieß er Alles so hastig und gepreßt hervor, als ob ihm der Athem fehle.

Was sollte sie beginnen? Der Aufruhr in ihrem Innern war unbeschreiblich. Bei jedem höheren Aufbrausen seiner Stimme zuckte sie zusammen; die Furcht, daß die Hofräthin plötzlich hervortreten und ihn beleidigen könne, war abermals die vorherrschende Empfindung in ihr. Mit unsäglicher Anstrengung überwand sie den inneren Sturm und sagte ziemlich ruhig, wenn auch mit etwas vibrirender Stimme:

„Nun, da Sie wissen, was ich vorhabe, werden Sie auch wohl einsehen, daß ich mich nicht länger hier aufhalten kann –“

„O, Sie haben Zeit!“ unterbrach er sie. „Der Wagen wird erst um vier Uhr kommen, Sie abzuholen… Sie sehen, ich habe mich auf meinem Lauscherposten neben der Laube genau instruirt. Ja, wenn man einmal der Sünde verfällt, so geschieht es meist mit Haut und Haar! Meine Seele war ehemals rein vom Laster des Spionirens, rein, wie die Sonne am Himmel, und jetzt – sehen Sie die blauen Vorhänge da droben hinter den Thurmfenstern? Dort stehe ich lauernd und leide bisweilen auch die Strafe des Horchers, nämlich, das mit ansehen zu müssen, was ich verwünsche… Ja, ja, ich hatte heute Morgen einen unbezahlbaren Anblick! Er riß mich dergestalt hin, daß ich die Entfernung und jegliches Hinderniß übersah und meinte, mit einem Faustschlag das widerliche Insect fortschleudern zu können, das meine Blume berührte – und darüber gingen Romeo und Julie zu Grunde… Ah, diesem Romeo geschah ganz recht! Ich haßte ihn zuletzt bitter, war er doch so empörend glücklich! … Jener blondgelockte Adonis von heute Morgen, der ohne Zweifel Ihr Ritter bei der Hochzeit sein wird, er durfte Blumen aus Ihren Händen nehmen, so viel ihm beliebte; wenn ich nun in diesem Augenblick an Ihr Gerechtigkeitsgefühl appellirte und Sie bäte, nur diesen einen armseligen Zweig für mich zu brechen, Sie würden es nicht thun, ganz sicher nicht?“

„Ich habe kein Recht an diese Blumen, sie gehören meiner Tante.“

„Ah, vortrefflich geantwortet! … Was würden Sie erst sagen, wenn ich spräche: ‚Gehen Sie nicht zu der Festlichkeit, [484] eine Menschenseele leidet unaussprechliche Qualen in dem Gedanken, Sie dort zu wissen‘?“

In dem Innern des jungen Mädchens wogten alle gewaltsam niedergekämpften Empfindungen wieder durcheinander bei diesen Worten. Unwillkürlich sah sie zu ihm auf. In dem Augenblick faßte er ihre beiden Hände; wie weggewischt waren plötzlich jene grimme Ironie, jenes wilde Weh von seiner Stimme, es war, als ob ihn die Waffen des ungestümen Trotzes für einen Moment treulos verließen und nun einem Gemisch von leidenschaftlicher Angst und Befürchtung freien Spielraum gewährten.

„Gehen Sie nicht, ich bitte Sie darum!“ flüsterte er.

Was waren das für Töne und wie schmolz sein kaum noch so höhnisch funkelnder Blick dabei in unaussprechlicher Zärtlichkeit und Weichheit! Aber bei aller inneren Erschütterung, bei allen aufgestürmten Regungen, die sie unwiderstehlich hinüberzogen zu ihm, war sich Lilli doch klar bewußt, daß sie sein Verlangen zurückweisen müsse. Sie entzog ihm hastig die Hände, und lediglich infolge des inneren Ringens ward ihre Stimme so schneidend und herb, als sie entgegnete: „Das ist eine seltsame Bitte, es steht nicht in meiner Macht, sie zu erfüllen!“

Eine hohe Röthe flog über das Gesicht des Blaubartes und mit ihr kehrte seine frühere Haltung zurück.

„Ich hätte diese Antwort vorher wissen können!“ rief er. „Aber wie, wenn ich nun um jeden Preis auf meiner Forderung bestehen müßte? … Meinen Sie nicht, daß es ein Leichtes für mich sein würde, die Widerspenstige auf diesen meinen Armen im Fluge hinüberzutragen in mein Haus und dort zurückzuhalten, bis das Fest vorüber? Es wäre nicht das erste Mal, daß es einem kühnen Sterblichen gelungen, eine Nixe zu rauben.“

„Und nicht das erste Mal, daß da drüben in dem Hause eine Gefangene weinte!“ stieß Lilli mit bebenden Lippen hervor.

„Eine Gefangene, in meinem Hause?“ rief er im Ton höchster Ueberraschung und trat einen Schritt zurück, aber als ob ihn plötzlich die Lösung eines Räthsels überrasche, schlug er sich in demselben Moment mit der Hand vor die Stirn.

„O, ich Thor!“ rief er, seine Stimme klang völlig verwandelt. „Wie konnte ich vergessen, daß ich im Weichbild einer kleinen Stadt lebe, umlauert von neugierigen Augen und müßigen Zungen, für die ein scheinbares Geheimniß willkommen ist, wie die unglückliche Fliege im Netz der Spinne! … Also Muhmen und Basen erzählen sich da drinnen,“ er streckte den Arm aus nach der Stadt, „von einem weinenden, gefangenen Weib in meinem Hause? Und ich spiele ohne Zweifel in diesem Drama nothgedrungen die Rolle eines Währwolfs oder Blaubartes?“

Trotz der peinlichen Lage, in der das junge Mädchen sich befand und die ihr sogar in diesem Augenblick das brennende Roth der Beschämung über ihre unwillkürlich herausgestoßene Aeußerung in die Wangen trieb, trotz all’ diesem kam ihr fast ein Lächeln darüber, daß er selbst die ihr so geläufig gewordene Bezeichnung seiner Persönlichkeit brauchte.

„Und Sie hatten natürlicherweise nichts Eiligeres zu thun, als an dieses Geheimniß zu glauben und mich zu verabscheuen?“ fuhr er mit bitterem Vorwurf fort. „Würde ich gewagt haben, in Ihre reinen Augen zu sehen Angesichts des Schauplatzes jener muthmaßlichen Gräuel? … Es ficht mich übrigens nicht im Mindesten an, was die da drinnen von mir denken und sagen, ich würde nicht einmal die Lippen öffnen, um das Gewäsch zu widerlegen. In Ihrer Seele aber darf dieser häßliche Wahn auch nicht um einen Athemzug länger Raum finden… Ja, es lebt ein armes, unglückliches, weibliches Wesen in meinem Hause, allein nicht gezwungen oder gar gefangen, sondern geschützt und behütet von mir. Beatrice ist meine Schwester, aber wir sind nicht von einer Mutter, die meine ist gestorben, ohne je um die Existenz dieses armen Geschöpfes zu wissen, und mir hat mein Vater erst auf dem Sterbebett das Geheimniß und die Sorge um die Tochter anvertraut. Er hat sie stets zärtlicher geliebt als mich, den legitimen Sohn, und ich begreife das vollkommen, denn sie ist ein wunderbar befähigtes Wesen. Aber ihr Dasein ist auch für ihn eine Quelle unaussprechlicher Sorgen geworden… Sie, in deren Antlitz die Menschen lächelnd und erquickt schauen, Sie können nicht ahnen, was jenes unglückselige Wesen leidet! Von ihrer Geburt an kränklich, hat sie plötzlich, und zwar kurz vor dem Tode des Vaters, eine entsetzliche, verheerende Krankheit heimgesucht. Ihre Gesichtszüge, die früher von bezaubernder Schönheit gewesen sein sollen, sind völlig zerstört; sie verbirgt diesen Anblick hinter einem Schleier, ich kenne sie nicht anders. Ihr Leiden ist unheilbar und, wie sie selbst stets behauptet, ansteckend, und aus dem Grunde hat sie nie gestattet, daß ich auch nur ihre Hand berühre. Sie flieht die Nähe der Menschen; es beugt sie schwer darnieder, ein Gegenstand des Schreckens zu sein, deshalb habe ich stets Sorge getragen, daß Niemand, außer ihrer Wärterin und meinem schwarzen Diener, der uns unerschütterlich anhänglich ist, um das Geheimniß hinter dem Schleier wisse. Das war auch der Grund, um dessen willen ich das Pavillonfenster aus meinem Garten entfernt haben wollte.“

Lilli hatte ihm wie betäubt zugehört – er stand entsühnt vor ihr. Statt des vermeintlichen Verbrechens, das seiner kühnen, herausfordernden Erscheinung etwas Dämonisches verliehen hatte, las sie jetzt auf seiner Stirn nur die edelsten Gedanken… Es war von Kindheit an ein fest ausgesprochener Zug ihres Charakters gewesen, das Bewußtsein eines ungesühnten Unrechts gegen Andere nicht in ihrer Seele zu dulden. Bei all’ ihrem Trotz und Eigenwillen hatte man sie nie zu einer Abbitte zwingen müssen; war sie von ihrem Fehler gegen Andere überzeugt, dann that sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit und Beredsamkeit Alles, um ihn gut zu machen. Aber noch nie war ihr das Gefühl eines unsäglichen Bedauerns und das Verlangen, die Kränkung vergessen machen zu dürfen, so unwiderstehlich zum Bewußtsein gekommen, wie in diesem Augenblick.

Vielleicht las sein durchdringender Blick diese Vorgänge in der Seele des jungen Mädchens. Er nahm abermals ihre Hand, diesmal indeß in sehr sanfter und doch so eindringlich beschwörender Weise; sein Gesicht überzog bis in die Lippen jene tiefe Blässe, die sehr häufig eine mächtige innere Erschütterung zu begleiten pflegt.

„Lilli,“ sagte er – ihr Name fiel zum ersten Male von seinen Lippen und wie unendlich süß klang er! – „ich habe bisher unwissentlich gegen ein Phantom ankämpfen müssen; nun es gefallen ist, meine ich, soll es auch heller um mich werden… Heben Sie nur ein einziges Mal fest und prüfend die Augen zu mir auf und Sie müssen finden, daß nur der Aberwitz ein solch’ abscheuliches Licht auf mich werfen konnte… Ich will mich durchaus nicht besser hinstellen, als ich bin, vor Ihnen am allerwenigsten. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß Sie, und sei es auch nur ein einziges Mal und selbst im verschwiegensten Winkel Ihrer Seele, dächten, ich hätte Sie getäuscht… Ich bin eine leidenschaftliche, heftige Natur; als einzigem Sohn eines angesehenen, reichen Hauses standen mir Thür und Thore der großen Welt weit offen und ich habe mich in den Strudel des Lebens gestürzt, wie tausend Andere in meinen Verhältnissen auch… Verurtheilen Sie mich nicht, Lilli, ich bin trotzdem nicht gesunken, ich habe nach der Erkenntniß nur um so energischer mein besseres Selbst zu retten gesucht… Ich darf getrost ein reines weibliches Wesen an meine Seite ziehen und sein Leben mit dem meinen verknüpfen. Diesem Gedanken gab ich übrigens in den letzten Jahren wenig Raum, ich hatte keine hohe Meinung von den Frauen… Da geschah es eines Morgens, daß ein zartes Geschöpfchen vor mir stand, an Gestalt ein elfenartiges Kind, sah es mich doch mit Augen an, aus denen der ganze herbe Trotz der Jungfrau, die Funken eines rasch denkenden, beweglichen Geistes sprühten.“

Ein Wagen rollte die Chaussee herauf und hielt draußen vor der Gartenthür. Lilli zuckte erschreckt auf und suchte ihre Hände dem Sprechenden zu entziehen, allein er zog sie nur um so fester an sich heran und fuhr mit gesteigerter Stimme und fliegendem Athem fort:

„Und da wurde es mir klar, wie sich urplötzlich eine dunkle, in meiner Seele ruhende Weissagung erfülle: daß nämlich die reine, wahre Liebe auf dieser Welt kein bloßes Ideal und daß sie mir beschieden sei… Lilli, ich schwur, ich müsse Sie um jeden Preis erringen, ich –“

Das junge Mädchen entriß ihm gewaltsam ihre Hände. Der Kies des Hauptweges knirschte unter näherkommenden, schweren Tritten, und in dem Augenblick rief die Tante laut nach ihr.

„Nie, nie!“ stammelte sie todtenbleich mit zuckenden Lippen, „Geben Sie alle Hoffnung auf und kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“

Sie lief nach dem Hauptweg und verschwand hinter dem Bohnengehege. Dort stand die Hofräthin, die Mantille des jungen Mädchens in der Hand, und ließ ihre suchenden Blicke über den [485] Garten schweifen. Sie schalt über die fehlenden Rosen an Lilli’s Brust, schnitt rasch selbst einige ab und übersah dabei gänzlich, daß die Gescholtene auf schwankenden Füßen mit aschbleichem Gesicht vor ihr stand. Wortlos stieg Lilli in den Wagen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, als sei plötzlich ein unübersehbares Unglück in ihr Leben hereingebrochen und als habe sie eine Schuld, schwärzer als die Nacht, auf ihre Seele genommen. –

Die sogenannte grüne Stube, ein sehr großes Eckzimmer mit sechs Fenstern im Hause der Hofräthin, steckte Jahr aus Jahr ein hinter festgeschlossenen Jalousien und zugeriegelten Thüren. Zu des alten Erich Zeiten hatte dieser Raum sehr oft großen Glanz gesehen. Die deckenhohen Wandspiegel hatten majestätische Frauengestalten mit thurmhoher Frisur und brocatener Schleppe und jene pomphaften, aus Atlas, Tressen und Spitzen zusammengesetzten Männertoiletten zurückgeworfen, und der sauber eingelegte Fußboden wußte von mancher Menuett zu erzählen, die auf hohen Stöckelschuhen von den Honoratioren der Stadt in aller Feierlichkeit und Grandezza hier getanzt worden war. Nur zweimal im Jahr wurden jetzt die Fensterladen auf wenige Tage zurückgeschlagen, und wer Tante Bärbchens Gewohnheiten kannte, der wußte dann, daß sie eine jener großen Gesellschaften beabsichtige, zu denen ihre sämmtlichen Freunde eingeladen wurden. Zu Sauer’s und Dortens Erstaunen wurde in diesem Sommer der Befehl zum Auslüften der grünen Stube bei weitem früher gegeben, als seit vielen Jahren herkömmlich war. Diese Abschweifung von der Regel hatte aber lediglich ihren Grund in Lilli’s „fortgesetzter Kopfhängerei“, wie sich die Hofräthin ausdrückte. Es war für Tante Bärbchen etwas ganz Neues, Ungewohntes, dem jungen Mädchen gegenüber auch einmal „im Finsteren zu tappen“. Nach zahllosen Muthmaßungen, aber stets mit Umgehung der allein richtigen, war sie schließlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß Lilli Heimweh habe, und hatte ihr sofort mit großer Selbstverleugnung die Abreise nach Berlin freigestellt. Aber mit ausbrechender Heftigkeit, die fast ausgesehen wie ein tödtliches Erschrecken, hatte das junge Mädchen den Vorschlag entschieden zurückgewiesen. Von diesem Augenblick an bemühte sie sich mit unsäglicher Anstrengung, heiterer auszusehen, und Tante Bärbchen sann Tag und Nacht darauf, die angeblichen Hirngespinnste im Kopf ihrer Pflegebefohlenen zu zerstreuen.

Die Speisung des zwanzigsten Landwehr-Bataillons auf dem Magdeburger Bahnhofe in Leipzig.


Es waren viele Gäste, alte und junge, zu dem bevorstehenden Souper eingeladen und die Hofräthin hatte bereits einigemal prüfend den Raum überblickt, ob sich neben den Spieltischen der alten Herren und Damen auch noch ein Tanzplatz für die Jugend einrichten lasse.

Durch die strenge Abgeschiedenheit von Luft und Licht hatte sich der Salon so ziemlich seine ursprüngliche Frische zu erhalten gewußt. Die Vergoldung der zierlich geschnitzten Holzleisten an den Wänden blinkte lebhaft unter den neugierig hereinhuschenden Sonnenstrahlen, und das mythologische Plafondgemälde zeigte noch dieselben feurigen Fleischtöne an den Gestalten, wie sie längst gebrochene Augen ehemals entzückt hatten. Nur einige weibliche Pastellportraits, die eine unkundige tactlose Hand an den Wänden des harmonisch im Renaissancestil gehaltenen Raumes aufgehangen, hatten erblaßte Lippen und Wangen und die einst carmoisinschimmernde Umhüllung der häßlichen, ungebührlich kurzen Taillen war schmutzig-fahl geworden.

In dem Kamin brannte trotz der Sommerhitze ein helles Feuer; es sollte die letzten Ueberreste der dumpfen Luft verzehren. Noch standen inmitten des Zimmers die provisorisch hereingeschobenen Möbel aus dem Pavillon, und die geflüchteten Oelgemälde lehnten an den Wänden; sie sollten nach Tante Bärbchens Beschluß endlich hier ihren Platz finden, weil der Großvater Erich für dieses Zimmer stets eine große Vorliebe, gezeigt hatte. Die Hofräthin und Lilli säuberten und wuschen vorsichtig die Bilder, und Sauer, der eben von einem Geschäftsgang nach der Stadt zurückkehrte, sollte sie aufhängen.

[486] Er trat mit einer gewissen Feierlichkeit in’s Zimmer. Lilli kannte die Eigenthümlichkeiten des alten Menschen genau und erkannte augenblicklich an dem Ausdruck seines breiten Gesichts, daß er eine wichtige Neuigkeit mit heimgebracht habe. Er rückte einen der hochbeinigen, ungepolsterten Eichenstühle an die Wand und indem er scheinbar prüfend die Stelle besah, wo das größte Bild hängen sollte, sagte er, ohne den Blick wegzuwenden:

„Die Frau Hofräthin können froh sein, Sie kriegen nun wieder Ruhe… Der da drüben,“ – er wagte nie, den Namen des Nachbars vor den Ohren seiner Herrin laut werden zu lassen – „ja, der da drüben geht morgen fort, in die weite Welt und gar über’s Meer; seine Siebensachen stehen schon fix und fertig gepackt. … Der Kutscher erzählte es beim Bäcker, wo ich die Torten bestellte.“

Lilli lehnte das Bild des Orestes, das sie eben in den Händen hielt, stillschweigend an die Wand, über ihre fest aufeinander gepreßten Lippen kam kein Laut. Sie schritt nach der Thür, fast mit den Geberden und Bewegungen des Nachtwandlers, den eine dämonische Macht vorwärts treibt. Die hohe Eichenthür fiel hinter ihr schwer in’s Schloß, aber weder die Hofräthin, noch der alte Sauer bemerkten es. Die Erstere nahm die Neuigkeit mit einem scheinbar gleichgültigen „So“ entgegen und wandte das Gesicht auf einen Moment nach den Fenstern, während der alte Sauer mit zitternden Knieen auf den Stuhl stieg. Die Pastellgemälde wurden von der Wand genommen und Sauer hing das Orestesbild versuchsweise an einen der alten, gelockerten Nägel, allein die Last war zu schwer. Kaum hatte er die Hände entfernt, als das Bild herabstürzte; durch einen ungeschickten Rettungsversuch Sauer’s fiel es sehr unglücklich, es wurde gegen den Kaminsims geschleudert und blieb dort an einer spitz hervorragenden Verzierung hängen, doch nicht der Rahmen, man hörte das feine, scharfe Geräusch der mürben, zerreißenden Leinwand.

„Na, aber das nehm’ Er mir nicht übel, Sauer, Er ist doch zu ungeschickt!“ rief die Hofräthin erzürnt.

Sauer verließ erschrocken den Stuhl und nahm das Bild herab; über das Gesicht des Orestes liefen zolllange Risse nach mehreren Seiten hin.

„Da seh’ Er her, was Er angerichtet hat!“ schalt die Hofräthin weiter und hob die klaffende Leinwand auf, aber entsetzt, als habe sie auf glühendes Eisen gegriffen, fuhr die Hand zurück und die fahle Blässe einer schreckensvollen Ueberraschung flog über das Gesicht der alten Dame: ein Paar großer, brauner, fremder Augen hatte feurig und doch in rührender Sanftmuth aus der Spalte zu ihr aufgeblickt.

„Geh’ Er hinaus, Sauer!“ stammelte sie und legte rasch ihre Hand bedeckend auf die Risse. „Die Bilder können später aufgehangen werden… Hinaus, hinaus!“ wiederholte sie in ausbrechender Heftigkeit und zeigte nach der Thür, hinter welcher der zerknirschte Sauer verschwand.

Ein tiefes Seufzen, das fast wie Stöhnen klang, rang sich aus ihrer Brust. Sie ergriff eine Scheere, mit bebender Hand, aber energisch und rücksichtslos durchschnitt sie das ehedem so ehrfurchtsvoll respectirte Gemälde, die Fetzen flogen zurück und von einem grünlich grauen Hintergrund erhob sich eine bezaubernd schöne Mädchengestalt und stand, vom wärmsten Lebensodem durchhaucht, vor den vergehenden Blicken der Hofräthin. Die lange Zeit der Haft war wirkungslos an der rosigen Frische dieser Züge vorübergestrichen; der Sonnenstrahl, der die mit bewundernswürdiger Meisterschaft gemalten Haarwellen goldig streifte, hatte willig und unbeschadet seines Glanzes die Gefangenschaft getheilt, und der braune Sammet des Gewandes, weich, ungezwungen und bis zur Berührung täuschend in seinem Faltenwurf, quoll unbestäubt aus dem goldenen Rahmen; unten in einer Ecke des Bildes stand der Name A. van Dyck.

„Er hat es doch gethan!“ murmelte die Hofräthin mit tonloser Stimme. „Und die Hubert’schen waren in ihrem Rechte, wenn sie ihn ‚Dieb‘ schalten … Schrecklich, schrecklich! … Und er hat weiter gelebt nach dieser elenden That und hat es geduldet und ruhig geschehen lassen, daß seine Angehörigen die Bestohlenen schmähten! … Darum also war sein letztes Wort ‚der Pavillon!‘ und dies letzte Wort ist wie ein heiliges Vermächtniß geehrt und behütet worden! … Alle Erichs sind in dem Bewußtsein heimgegangen, daß ihr Haß ein gerechter war; nur mir, der letzten, alleinstehenden wird die fürchterliche Erkenntniß, und ich, ich muß es dem da drüben eingestehen, daß die ehrenhaften Erichs durch achtzig lange Jahre hindurch – Hehler gewesen sind!“

Sie blickte starr auf das stille Gesicht, das so lieblich und harmlos in die Welt hinein lächelte, und dachte mit Schauder an jenen Moment, wo ihr Großvater, wahnwitzig vor Leidenschaft, Nachts in das offenstehende Haus der arglos vertrauenden Familie eingedrungen sein mußte, an jene einsamen Stunden, wo er, scheu hinter Schloß und Riegel sein unseliges Geheimniß bergend, jenen Oresteskopf malte, der beinahe ein Jahrhundert hindurch das Mädchenantlitz voll Unschuld und Grazie neidisch bedeckte und dafür der Welt die Qualen eines bösen Gewissens in seinen verzerrten Linien zeigte.

Die Hofräthin schwankte nicht einen Augenblick in der Ueberzeugung, daß das Bild dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden müsse, und zwar ohne Zögern, denn er wollte ja morgen eine Reise antreten … Welch’ entsetzliche Aufgabe für sie! Sie mußte ihren bisherigen Widersacher bitten, daß er schonend mit der Ehre ihres Großvaters verfahre, dazu wollte sie sich überwinden; denn ihr strenges, unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl sagte ihr, daß das vieljährige Unrecht gesühnt werden müsse … allein wenn sie daran dachte, daß der junge Mann ihr übermüthig und rücksichtslos entgegentreten könnte, da schoß ihr das Blut siedend nach dem Kopfe, sie fürchtete sich vor ihrem eigenen rasch aufbrausenden Temperament, das leicht Alles verderben konnte. Nach heftigen, inneren Kämpfen trat sie aus der grünen Stube, schloß die Thür hinter sich ab und rief in der Hausflur mit fast versagender Stimme nach Lilli aber sie erhielt keine Antwort.

Das junge Mädchen war, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, hinaus in den Garten gegangen. Es war, als ob sich ihr ganzes Denken in dem Satze „Er geht fort ohne Lebewohl“ concentrire; ihr frevelhaftes Wort „kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“ sollte in der That das letzte sein, das zwischen ihm und ihr gefallen … Unmöglich! … Sie schritt weiter; aber nicht auf dem langen Umwege der Kiespfade, querfeldein ging es durch Gemüsebeete und Buschwerk. Sie fühlte nicht, daß die glühende Nachmittagssonne auf ihrem Scheitel brannte; vergeblich rissen die Dornen der Hecken an ihren Kleidern und schrieen und schmetterten aufgescheuchte Vögel in dem Dickichte, als wollten sie die Dahinschreitende zurückhalten von einem Gange, der gegen Mädchenstolz und Sitte stritt. … Sie trat in den Pavillon. Da lagen noch die Trümmer der zerstörten Wand, und über sie und die einst durch Dortens fleißige Hände fleckenlos sauber gehaltenen Dielen hinweg lief ein vielbetretener Weg hinaus nach Tante Bärbchens Garten. Die Wandöffnung hatte sich bedeutend vergrößert; der Rest des Fachwerkes war zu einer niedrigen Stufe zusammengeschmolzen, die den Fußboden des Pavillons von einer schonungslos zusammengetretenen Blumenrabatte drüben schied.

Zum ersten Male lagen Haus und Garten im funkelnden Sonnenlicht vor ihr, diese kleine Wunderwelt, hervorgerufen durch einen künstlerisch fein und harmonisch empfindenden Geist, dies geliebte nordische Fleckchen Heimatherde, das er in allem Zauber, der Schönheit sehen wollte, wie der zärtliche Bräutigam die Braut! … Ueber die nickenden Blumenhäupter streifte ein feiner Luftzug, sie schüttelten sich leise, leise, wie im traurigen Verneinen, und das Geflüster der plätschernden Fontainen klang dem jungen Mädchen wie ein eintöniges Klagen, daß sie nun, ungesehen von Menschenaugen, einsam ihren Strahl gen Himmel tragen sollten, inmitten eines verödeten Eden. … Dort durch den stillen, kühlen Laubgang wandelte es langsam und schweigend; aber es war nicht jene todestraurige Frau mit dem schleppenden, weißen Gewande, die sich wie ein dräuender Schemen zwischen Lilli und ihre Liebe gestellt, er war es selbst. Er schritt, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gesenktem Kopf näher und näher. … Wie hatte sie je hinter dieser lichtvollen Stirn Gedanken voll Unrecht und strafbarer, gewaltthätiger Leidenschaft vermuthen können? Wie war es möglich geworden, daß sie seinen innigen, die tiefste Liebe athmenden Worten gegenüber die Erinnerung an alte, verblaßte Familientraditionen, an ihre eigenen frevelhaften Vorsätze hatte festhalten können? Wie hatte sie je dem Gedanken Raum geben mögen, daß ihr Herz allmählich wieder in das Geleise seines ehemaligen Friedens zurückkehren werde nach dem tödtlichen Riß, den sie in unverantwortlicher Selbstüberschätzung zwei für einander bestimmten Seelen zugefügt hatte?

Er kam näher und näher, und sie wich nicht. Ihre feine, [487] in hellen Muslin gehüllte Gestalt stand unbeweglich, wie ein geduldig wartendes Kind, in der Wandöffnung; mit der Rechten stützte sie sich auf einen Balken, und ihr Gesicht leuchtete fast in geisterhafter Blässe auf dem dunklen Hintergründe der Pavillonwände. … Ein Zweig streifte die Stirn des einsam Wandelnden; er sah auf und in demselben Moment in Lilli’s Augen. Er blieb wie angewurzelt stehen.

„Lilli!“ rief er mit unsagbarem Ausdrucke; in diesem Tone stritten Wonne und Schmerzen, zitternde Furcht und Jauchzen. … Mit wenig Schritten stand er neben ihr. Er nahm ihre Hand, sie ließ es ruhig geschehen; in athemloser Spannung bog er sich nieder, um in ihren Zügen zu lesen; sie lächelte und ihr Blick wich nicht zurück vor seinen in fieberhafter Hast forschenden Augen.

„Lilli,“ begann er endlich mit vibrirender, aber vor Aufregung fast klangloser Stimme, „Ihr Erscheinen hier wäre eine entsetzliche Grausamkeit, wenn nicht …“ er brach ab und ließ ihre Hand sinken.

„Ich wollte Sie nicht wiedersehen,“ hob er abermals an. „Eben, weil Ihr Anblick mir zum Leben nothwendig geworden war, wie das Athemholen, eben darum mußte ich nach Ihrer Erklärung meinen aufrührerischen Gefühlen den Damm des mir selbst gegebenen Wortes entgegenstellen, wenn ich nicht in den Fall kommen wollte, mich selbst verachten zu müssen. … Ich gehöre zu den Naturen, für welche das, was sie einmal lieben, in Erz gegraben ist; ich werde Sie nie vergessen, Lilli, nie! Aber ich bin auch weit davon entfernt, mir selbst in der Hingebung an einen nagenden Seelenschmerz zu gefallen. … Ich gehe, Lilli! Es wird ein weiter Raum zwischen uns liegen, und vielleicht, vielleicht übt einst auch die Zeit ein wenig Heilkraft an mir. … Ich kann in diesem Augenblicke noch nicht sagen: ‚Werden Sie glücklich!‘ Das hieße sich selbst an’s Kreuz schlagen, und zu einem Märtyrer fehlt mir die Duldsamkeit; der Gedanke, daß Sie je einem Anderen gehören könnten, macht mir das Blut sieden, und jener Wunsch könnte leicht zu einer Verwünschung werden…“

Er hielt plötzlich inne, und sein durchdringender Blick richtete sich über Lilli hinweg fest auf einen Punkt. Das junge Mädchen wandte sich um. Dort in der Thür stand die Hofräthin; noch lag jenes fahle Grau auf ihren Zügen, das die unselige Entdeckung hervorgerufen; das Gesicht sah in diesem Augenblicke merkwürdig verfallen aus, aber ihre großen, hellen Augen ruhten mit einem seltsamen Glanz und unerklärlichen Ausdruck auf dem Paare.

Lilli näherte sich ihr nicht. Sie trat vielmehr dicht an die Seite des neben ihr Stehenden, als sei dies einzig ihr Platz und kein anderer auf der Welt.

„Tante, Du kommst zu spät!“ sagte sie fest und auf ihrem erst so bleichen Gesichte lag ein tiefes Roth. „Wenn er mich nicht verstößt, weil ich ihn in thörichter Ueberschätzung meiner Kraft tief verwundet habe, so bin ich sein! … Du bist die Wohlthäterin meiner Familie, Tante Bärbchen, Du hast mich, so lange ich denken kann, geliebt und gehegt wie Dein eigenes Kind; bis noch vor kurzer Zeit standest Du neben meinen Eltern in meinem Herzen, und über Euch, meinte ich, sei kein Raum mehr. … Wie hat sich das geändert! … Aber ich wollte es erzwingen, daß mein Dankgefühl für Dich die Oberhand behielte. Gott allein weiß es, wie ich in den letzten Tagen gerungen und gelitten habe; aber verschließe Deine Augen vor dem Lichte, es ist ja doch da; wehre der Lebenslust, daß sie Dich nicht umschließe, es würde ebenso erfolglos sein, als der Kampf mit der ewigen Liebe! … Nenne mich undankbar, entziehe mir Deine Liebe, ich werde namenlos traurig sein, aber – ich gehe mit ihm!“

Sie ruhte längst an seinem Herzen. Schon nach ihren ersten Worten hatte er die Arme fest um sie geschlungen, und es sah in der That jetzt aus, als wolle der glückliche Sterbliche seine so schwer errungene Nixe sofort hinüber in sein Haus tragen. Die hohe Gestalt dort und ihre muthmaßlichen Einwürfe existirten für ihn nicht mehr. Wie trunken hingen seine Augen an den Lippen des jungen Mädchens, das mit wenigen energischen Worten ihm das Recht auf ihren Besitz einräumte.

Die Hofräthin war indessen näher getreten, und um ihren strenggeschnittenen Mund zuckte es wie ein krampfhaftes Weinen – für Lilli eine niegesehene Erscheinung.

„Kind, Du hast doch wohl keinen rechten Begriff davon gehabt, wie gut ich Dir bin, sonst hättest Du mir mehr Vertrauen gezeigt!“ sagte sie ungewöhnlich mild. „Nun, ich will nicht mit Dir streiten, denn den größten Theil der Schuld hab’ ich mir freilich selbst zuzuschreiben. Trotz meiner Vorurtheile würde ich doch die Sache mit ganz anderen Augen angesehen haben, als Du voraussetztest… Ich würde Dir nur Eines zu bedenken gegeben haben, und das thue ich auch in diesem Augenblick noch: Du willst diesem Mann Deine ganze Zukunft anvertrauen und kennst seine Vergangenheit nicht; das Wenige, das wir wissen –“

„O Tante, nicht ein Wort weiter!“ rief Lilli heftig und legte zugleich dem Geliebten, der sprechen wollte, die Hand auf den Mund. „Das Wenige, das wir wissen, oder das wir vielmehr in uns selbst beschämender Weise vermuthet haben, beruht gerade auf einer seiner edelsten Handlungen, Du wirst ihm abbitten müssen, so gut wie ich!“

„Und Dein Vater?“

„Er wird meine Wahl segnen, wenn er Dorn kennen lernt!“

„Nun, dann habe auch ich nichts mehr zusagen, als daß Dein Entschluß auch mich glücklich macht… Lilli, es ist in Deine Hand gegeben, ein großes Unrecht der Erichs an den Huberts gut zu machen!“

Kurze Zeit darauf standen die Drei in der grünen Stube, vor dem verhängnißvollen Bilde. Tante Bärbchen hatte mit bebenden Lippen den Moment der Entdeckung geschildert und bot schließlich ihrem bisherigen vermeintlichen Widersacher die Hand zur Versöhnung. Er reichte ihr herzlich die Rechte, mit der Linken jedoch ergriff er plötzlich das Bild und warf es in den Kamin.

„Es ist ein Raub an der Menschheit,“ sagte er gelassen, „aber besser, ein Kunstwerk weniger in der Welt, als daß es durch seinen Anblick schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwöre.“

„Nein, nein!“ rief die Hofräthin und riß es aus den hochauflodernden Flammen, die bereits an den Fetzen des Orestesbildes gierig leckten. „Es soll fortbestehen zur Freude Anderer und mir zur steten Mahnung, daß wir Menschen sind und leichtlich irren können!“

„Am andern Tag hantirten Arbeiter lustig in den beiden Gärten, die grüne Hecke fiel und mit ihr der Pavillon. Der Rechen zog seine feinen Furchen über den Streifen Erde, aus welchem einst „Reiser bis in den Himmel wachsen sollten“, und da, wo noch vor Kurzem das unheilvolle Orestesbild von der Wand herniedersah, schauen jetzt holde, unschuldige Blumenaugen in die Welt.

Die geheimnißvolle Unbekannte wandelt Abends mit immer matter werdenden Schritten durch beide Gärten, ihre Furcht und Scheu sind verschwunden. Sie weiß sich ja von zärtlicher Theilnahme und Liebe umgeben und behütet; besonders eifrig ist Dorte um sie bemüht; sie sucht das zu sühnen, was einst ihr verleumderischer Mund verbrochen hat. Sauer, den wir zuletzt sahen, wie er mit einknickenden Knieen aus der grünen Stube wankte, hat jetzt einen weit größeren Spielraum für die verbotenen Wolken seines schrecklichen Knasters. Seine langen Rockflügel streifen über den feinen, englischen Sammetrasen in Nachbars Garten. Er ist noch viel unduldsamer gegen Dortens haarsträubende Teufelsgeschichten geworden, seit er weiß, daß der Neger – nach ihrer ehemaligen Behauptung ein Sohn der Hölle – das treueste und ehrlichste Herz unter der Sonne hat.




Der Winterschlaf der Thiere.
Von Ferdinand Siegmund.


Zu Mariä Geburt, heißt es im Volksmunde, ziehen die Schwalben fort. Die lieben Vöglein wandern in ferne fremde Länder, weil der kalte, unheimliche Winter naht und sie daheim keine Nahrung finden. Kommt aber der Frühling wieder in’s Land, da kehren sie zurück zum heimathlichen Heerd, denn wo sie geboren sind, wo sie bauten, da ist ja ihr wahres Vaterland. Dieses Wandern ist also eine Nothwendigkeit, es ist ein Kampf um das Dasein. Die Vögel freilich können schnell wandern, sie haben Flügel, welche sie in raschem Schwung weit über Berg und Thal, weit über das Meer tragen; aber der Igel, der Hamster, die Blindschleiche, [488] die Schnecke, sie alle können nicht den weiten Weg nach dem Süden zurücklegen, sie würden schon während der langen Reise vom Winter überfallen werden und unfehlbar zu Grunde gehen. Wie also sorgt die Natur, daß diese Thiere, welche im Winter keine Nahrung finden, dennoch am Leben bleiben? Ganz einfach durch den Winterschlaf. Man nennt ihn den Winterschlaf, weil er in unserem Klima mit dem Winter zusammenfällt. In den Tropen beobachtet man dieselbe Erscheinung im Sommer, wenn nämlich die Temperatur ihre äußerste Grenze erreicht; denn große Kälte und übermäßige Hitze bieten dieselben Erscheinungen. Hier wie da erhärtet der Boden, die Pflanzen verlieren ihre Blätter und die Thiere sind genöthigt, auf verschiedene Weise sich dem Einflusse der ungünstigen Temperatur zu entziehen.

Wenn wir die Säugethiere betrachten, so finden wir, daß keines derselben in unmittelbarer Berührung mit der freien Luft den Winterschlaf hält; jedes sucht sich zu verbergen oder in Höhlen zu verstecken, welche es gewöhnlich verstopft, um eben gegen jeden Witterungswechsel geschützt zu sein. Alle treten den Winterschlaf wohlgemästet an und zehren während dieser Zeit, wo sie gar keine Nahrung zu sich nehmen, von ihrem Fette. So wissen wir vom Igel, daß er schon während des Herbstes Stroh, Heu, Laub und Moos in seine Höhle trägt, um sich ein weiches Lager zu bereiten. Sobald der erste starke Frost eintritt, verscharrt er sich tief in dasselbe, um hier die kalte Zeit bis zum Ankunft des Frühlings abzuwarten.

Die Erscheinung des Winterschlafes ist bei den Murmelthieren am genauesten beobachtet worden. Gegen den Herbst zu graben sie sich in ihre Winterwohnung, die jedoch selten tiefer als vier Fuß unter dem Rasen liegt. Sie ist nach Tschudi immer niedriger im Gebirge gelegen als die Sommerwohnung. Der Jäger erkennt die bewohnte Winterhöhle sowohl an Heu, das vor ihr zerstreut liegt, als auch an der gutverstopften faustgroßen Mündung der Höhleneingänge, während die Röhren der Sommerwohnung immer offen sind. Gräbt nun der Jäger eine solche Winterwohnung auf, so findet er daselbst eine Wärme von acht bis neun Grad Réaumur. Die Thiere liegen nahe beieinander, den Kopf am Schwanze in todesähnlicher Erstarrung. Ein Murmelthier, das fest schläft, ruht immer so, daß sein Körper einen Kreisbogen beschreibt, der Kopf nach hinten sieht und zugleich gegen die Brust und den Unterleib gewendet ist. Man findet gewöhnlich den Schwanz nach vorn eingeschlagen. Die erstarrten Thiere haben die Augenlider geschlossen. Ihre Pupille ist in der Regel merklich erweitert. Man sieht keine Athemzüge bei festem Winterschlafe. Das Thier scheint während der Dauer des Winterschlafes nichts zu genießen, obwohl der bekannte Naturforscher Schinz sagt, daß Murmelthiere von dem eingetragenen Heu fressen, wenn sonnige Frühlingstage ein allzu frühes Aufwachen veranlassen und sie draußen noch keine Nahrung finden. So viel steht nun fest, daß der Winterschlaf ein völliger Scheintod ist, indem man vor erstarrten Murmelthieren eine Pistole abfeuern kann, ohne daß sie erwachen. Die Igel werden leichter durch äußere Reize erweckt; das bloße Anfassen, ein Knall oder ein anhaltendes Geräusch kann hier hörbare Athemzüge zur Folge haben.

So lange die Murmelthiere keine Nahrung zu sich nehmen, ruht auch die Verdauung und Absonderung; der Blutumlauf und die Athmung gehen zwar fort, aber so schwach, daß man es kaum bemerkt. Die Thiere sind kalt, die Glieder derselben steif und gegen Verletzungen fast unempfindlich. Der Magen ist zusammengezogen. Alle Beobachtungen deuten darauf hin, daß sich eine wässerige Flüssigkeit im Anfange des Winterschlafes in ihm ausscheidet, in der ersten Zeit erhält und später schwindet. Der Darmcanal ist enger als im wachen Zustande und seine Wände liegen aneinander. Die Leber nimmt während des Winterschlafes so ab, daß ihr geringer Umfang schon beim ersten Anblick auffällt. Die Milz bietet keine erwähnenswerthen Eigenthümlichkeiten dar, auch die Nieren besitzen ihren gewöhnlichen Bau; ebenso findet man keine besondere Veränderung an Gehirn und Rückenmark. Das merkwürdigste Organ, welches wir im Murmelthiere und vielen anderen erstarrungsfähigen Säugethieren antreffen, ist die Winterschlafdrüse. Sie erstreckt sich mit mächtigen Lappen vom Halse nach den Schultern, setzt sich nach der Achselhöhle und Brusthöhle fort und begleitet die Körperpulsader mit langen lappigen Ausläufern, welche die entsprechenden Abschnitte des sympathischen Nerven bedecken. Auch sie büßt ebenso wie die Leber den größten Theil ihres Gewichtes im Laufe der Erstarrungszeit ein. – Die Menge der Blutkörperchen nimmt gleichfalls ab. Ein und dasselbe Thier liefert 5,744,000 Körperchen am Anfang der Erstarrung, 5,107,000 fünf Wochen später und nur 2,356,000 einen Monat darauf für je einen Cubikmillimeter seiner Blutmasse. Beobachtungen, die man an Murmelthieren und Fröschen anstellte, gaben deutliche Beweise, mit welcher Trägheit die Erscheinungen des gesammten Stoffwechsels während der Erstarrung vor sich gehen. Hatte man einem Murmelthier die Haut an verschiedenen Stellen des Kopfes und der Hinterbeine am Anfange des Winterschlafes kahl geschoren, so waren die Haare nach einer fünfmonatlichen Erstarrung nicht nachgewachsen, Tasthaare und ein Nagel hatten sich nicht ersetzt.

Erhält ein Mensch oder ein Thier unzureichende Nahrung, so nimmt sein Körpergewicht ab, weil die Ausgaben die Einnahmen überschreiten. Die Winterschläfer machen aber eine eigenthümliche Ausnahme. Man findet hier, daß das Körpergewicht der erstarrten Murmelthiere für einige Zeit steigt, um in der Folge zu sinken. Erwachen sie oder kommen sie in Verhältnisse, welche ihre Athmungsthätigkeit, wenn auch nur in geringem Maße, erhöhen, so verlieren sie mehr, als sie früher gewonnen haben. Ihr Körpergewicht sinkt daher im Laufe des Winterschlafes immer mehr. Die eigenthümlichen Verhältnisse der Winterschläfer machen eine lange Enthaltsamkeit unschädlich. Die Murmelthiere zum Beispiel schlafen beinahe sechs Monate. Wenn sie auch in der Zwischenzeit aufwachen, so pflegen sie nicht zu fressen, ja sie gehen sogar zu Grunde, wenn die Außenverhältnisse ein Wiedereinschlafen unmöglich machen. Ein Murmelthier, das in der Zwischenzeit aufwacht, verliert täglich eine weit größere Menge seiner Körpermasse, weil es dann soviel Kohlensäure, wie ein anderes waches Geschöpf, ausscheidet. Man findet häufig in der Erstarrung, daß nur zwei Herzschläge auf die Minute kommen, selbst wenn man eine Insectennadel in der Gegend, wo man den Herzstoß am deutlichsten fühlt, einsticht. Ein Athemzug greift dann immer erst nach einer oder mehreren Minuten ein. Es vergehen im Normalzustande Wochen und Monate, ehe die erstarrten Murmelthiere erwachen, um geringe Mengen von Koth und Harn zu entleeren. Stört man sie, indem man sie täglich auf die Wage bringt, so erwachen sie nach kürzeren Zwischenräumen. Der tägliche Verlust an Gewicht, den sie erleiden, beträgt etwa soviel, als der eines Frosches, den man ohne Nahrung im Wasser aufbewahrt. Der Verlust, den die einzelnen Organe erleiden, gestaltet sich in eigenthümlicher Weise. Er weicht von dem der hungernden Thiere wesentlich ab. Das Fett schwindet fast gänzlich, während die Muskeln verhältnißmäßig wenig abnehmen. Der Gewichtsverlust der Skeletgebilde rührt wahrscheinlich zum Theil vom verschwundenen Fette her. Da nun bei den Winterschläfern der Kreislauf und die Athmung sehr schwach sind, so sind sie eigentlich hungernde Geschöpfe, in welchen nur sehr geringe Mengen stickstoffhaltiger Gebilde aufgebraucht werden. Das wachende hungernde Thier genießt diesen Vortheil nicht. Seine stickstoffhaltigen Ausgaben wachsen mit der Lebhaftigkeit des Kreislaufes, der Athmung, der übrigen Körperthätigkeit, vornehmlich der Muskelbewegung. Die Gallenbildung dauert während der ganzen Erstarrungszeit fort. Grünschwarze Kothmassen, die aus Gallenresten, Schleim etc. bestehen, werden immer nach längeren Zwischenpausen entleert. Der Leberzucker erhält sich in merklichen Mengen in der ersten Hälfte des Winterschlafes. Die tägliche Harnabsonderung ist auf ein Minimum zurückgeführt. Es kann wohl somit keinem Zweifel unterliegen, daß der Winterschlaf sich von dem gewöhnlichen Schlafe wesentlich unterscheidet. Murmelthiere, die sich bei einem in der Nähe abgefeuerten Pistolenschusse kaum rührten, denen man den herumschweifenden Nerv durchschneiden konnte, regten sich lebhaft, sowie man eine geringe Zahl von Schlägen des Magnetelektromotors durch das Auge leitete. –

Unter den Säugethieren, an welchen der Winterschlaf beobachtet wurde, sehen wir drei Familien: Fledermäuse, Raubthiere und Nager. Bei den Fledermäusen ist der Winterschlaf bekannt von der langohrigen, der gemeinen und der Zwergfledermaus, der Hufeisennase und der frühfliegenden Fledermaus. Die Dauer des Winterschlafes ist jedoch sehr verschieden; am ersten soll die Hufeisennase und die Zwergfledermaus erwachen und selbst im Winter bei gelinder Witterung herumflattern; auch die gemeine Fledermaus und die langohrige sollen schon in warmen Tagen des Januar und Februar hervorkommen. Am regelmäßigsten ist der Schlaf bei der frühfliegenden Fledermaus, wo derselbe nahezu fünf Monate dauert.

[489] Den Igel haben wir bereits erwähnt. Gegen den Herbst zu wird er ungemein wohlbeleibt und dann gräbt er im Versteck unter Laub und Gebüsch eine Vertiefung, füttert dieselbe weich aus und legt sich mit eintretender Winterkälte in tiefen Schlaf. Der gemeine Bär hält auch in einer Höhle oder Grube eine Art Winterschlaf, die jedoch nicht wie bei dem Murmelthiere eine vollkommene Erstarrung ist. Namentlich schlafen die Weibchen nicht fest und anhaltend, ja, man weiß sogar, daß sie mitten im Winter ihre Jungen werfen. Selbst das Männchen bringt nur die kälteste Zeit lethargisch schlafend zu, erwacht aber oft schon im Januar in der Höhle, wenn milde Witterung eintritt, um später bei wieder eintretender Kälte seinen Winterschlaf fortzusetzen. Mit noch größeren Unterbrechungen schläft das Weibchen, da es gerade zu dieser Zeit für seine Jungen zu sorgen hat.

Vom Hamster wissen wir, daß er sich in seine Höhle begiebt, sobald der rauhe Herbst in’s Land zieht. Da er jedoch nur ein sogenannter halber Winterschläfer ist, so wacht er an milden Wintertagen auf und wagt einen Blick in’s Freie, kehrt aber wieder zurück und schläft, bis die Frühlingssonne den Boden erwärmt. Dann kommt er abgemagert aus seinem Versteck hervor, um sich eine Gattin aufzusuchen. – Auch unsern gemeinen Dachs befällt keine eigentliche Erstarrung. Sobald die erste Winterkälte eintritt, findet man ihn in seinem Baue zusammengerollt auf dem Bauche liegen, den Kopf zwischen die Hinterbeine gesteckt, wobei er nicht besonders fest und keineswegs ununterbrochen schläft. Denn bei nicht anhaltender Kälte und dem Eintritte gelinder Witterung wird er bald aus seinem Schlafe geweckt und geht sogar zuweilen des Nachts aus seiner Wohnung, um zu trinken, sowie er diese auch oft schon im Januar und Februar bei anhaltend warmer Witterung verläßt, um Wurzeln auszugraben und Bucheckern zu suchen.

Die Nager haben wieder eine bedeutende Anzahl Winterschläfer unter sich, nämlich den eigentlichen Siebenschläfer, welcher eben von seinem siebenmonatlichen Winterschlafe den Namen erhalten hat. Er verbringt denselben in einem Baumloche neben seinen Vorräthen an Eicheln, Bucheckern, Nüssen und verschiedenen anderen Kernen, welche er während des Sommers aufgehäuft hat. Dieselben Erscheinungen finden wir bei der Eichelmaus, der Haselmaus und bei dem Ziesel. Die Eichhörnchen versinken nur auf Tage in Winterschlaf, so daß man also hier blos von einem Schlafe des Eichhörnchens im Winter sprechen kann.

Die Amphibien, deren Zahl bei uns nur gering ist, sind sehr empfindlich gegen die Kälte. Sie vergraben sich, wie unsere Frösche und Kröten, in Erdlöcher, hohle Bäume und Schlamm. Von unserer gemeinen Eidechse wissen wir, daß sie sich im Winter den Eingang in die Wohnung mit Erde oder dürrem Laub verstopft und in völliger Erstarrung daliegt, so lange die Kälte dauert. Dasselbe thut unsere Blindschleiche, welche jedoch an warmen Wintertagen bisweilen erwacht, den Kopf hervorstreckt, um zu athmen, und sich dann wieder scheu zurückzieht.

Ueber die Fische selbst haben wir wenig Kenntniß, doch muß man annehmen, daß viele im Schlamme überwintern, wie wir dies von unserem Aal, dem Schlammbeißer und dem Karpfen genau wissen. Den merkwürdigsten Sommerschlaf hält der Schuppenmolch des Senegal, welcher sich nach Ende der Regenzeit, wo die Erde allmählich auszutrocknen anfängt, in den Schlamm eingräbt. Er streckt sich so, daß der Mund oben herausragt, und erweitert das Loch durch Umdrehung seines Körpers. Auch sondert er einen Schleim ab, wenn er sich einbettet. In dieser Lage athmet er Luft und genießt keine Nahrung, bis die Regenzeit wieder eintritt, wo er sich dann als Fisch gerirt.

Die ausgebildeten Insecten suchen sich, nicht ohne große Beunruhigung, im September oder October einen geeigneten Platz in Ritzen, unter Steinen in Steinmoos, Erdlöchern und Gebäuden, um daselbst den Winterschlaf abzuhalten. Nur sehr wenige bleiben den ganzen Winter hindurch munter. In der Tropenzone ruht wieder während der heißen Zeit das bunte Leben, welches sich in der Regenzeit so üppig entfaltet hatte. Unsere Käfer überwintern zum Theil im vollkommenen Zustande, zum Theil als Larven, meist unter Laub und Steinen; die Schmetterlinge findet man im Winter nur als Raupen und als Puppen. Alle Landschnecken, sowohl die nackten als die mit Schalen versehenen, verbergen sich in der Erde.

Fassen wir nun Alles zusammen, so finden wir, daß der Winterschlaf ein Schutzmittel gegen die ungünstige Temperatur ist, welcher die Thiere unfehlbar erliegen müßten, andererseits aber ein Mittel bietet, sie vor dem Verhungern zu bewahren. Mögen wir ihn in den Tropen oder in unserm Klima beobachten, überall finden wir dasselbe Bild, überall verhütet er das Zugrundegehen der Art, überall ist er, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, eine Bedingung des Daseins.




Auf dem Capellenberg von Trautenau.
Nach Mittheilungen eines österreichischen Gefangenen.


Auf dem tiefausgefahrenen Feldwege von Hohenbruck nach Pilnikau zog sich eine österreichische Heersäule die Höhe hinan. Der Tag graute eben, doch der dunkle Regenhimmel ließ noch kaum einen röthlichen Schimmer an seinem östlichen Saume hervortreten. Ein scharfer Wind strich über die aufgeweichten Felder. Mühsam schleppte sich Mann und Roß vorwärts. Der Nachtmarsch unter strömendem Regen und, wie seit Tagen schon, ohne jede geregelte Verpflegung schien die Truppen völlig erschöpft zu haben.

Die Stärke der Colonne mochte zwischen sechstausend und siebentausend Mann betragen, nach allen Anzeichen durfte dieselbe jedoch nur als Avantgarde eines größeren österreichischen Corps betrachtet werden. In der That ließen sich auch mit der allmählich gelichteten Aussicht von dem endlich erstiegenen sattelförmigen Höhenrücken hart über Hohenbruck in der Richtung nach Zernow schwere dunkle Massen bemerken, welche, scharf abgehoben von dem lichteren Hintergrund, nur als marschirende Truppen gedeutet werden konnten.

Alle Waffengattungen zeigten sich in der vorderen Marschsäule vertreten. Eine Escadron Dragoner formirte die Spitze derselben, danach folgten Jäger, dann eine Batterie und zwei Regimenter Infanterie. Den Beschluß bildeten abermals Dragoner mit noch einem Geschützzuge.

Seit einer Viertelstunde beinahe schon war aus weiter, weiter Ferne gelegentlich ein schwacher Schall wie von einem bald mehr, bald minder lebhaften Gewehrfeuer vernehmbar geworden, ohne daß indeß irgend wer darauf geachtet hätte. Plötzlich dröhnte der dumpfe Knall eines Kanonenschusses durch die dämmernde Morgenfrühe. Ein zweiter und dritter Schuß folgten rasch aufeinander. Schlag um Schlag erschütterte die Luft. Auch ganze Salven der Infanterie krachten dazwischen. Ein nach der Heftigkeit des Feuers jedenfalls nicht unbedeutendes Gefecht hatte augenscheinlich in der Richtung des Schalles, rechts oder vielmehr eigentlich schon im Rücken der marschirenden Colonne, seinen Anfang genommen.

„Halt!“ Ein Stutzen machte sich bei dem unerwarteten Kampfeslärm durch die ganze Marschsäule bemerkbar. Mehrere Oberofficiere sprengten von der Spitze derselben zu der Kuppe einer seitwärts gelegenen Anhöhe, um von dort einen freieren Blick über die Gegend zu gewinnen. Auch die meisten Bataillonsführer schlossen sich dieser Gruppe an, und schon nach einigen Minuten sah man aus derselben einen Adjutanten quer über Feld in gestrecktem Galopp in der bisher verfolgten Richtung davonstürmen. Bei anderen Bataillonen waren die Officiere hart über dem Rande des Weges unter sich oder um ihren Commandeur zusammengetreten und tauschten ihre Bemerkungen untereinander. Auch von den Mannschaften hatten hier und dort einzelne langgediente Corporale und Capitulanten diesem Beispiele Folge gegeben, bei dem Haupttheile derselben überwogen indeß die Müdigkeit und Ermattung jede andere Empfindung und die Leute ruhten auf dem nassen Rasen zu beiden Seiten der Straße ausgestreckt bei ihren Waffen.

„Da kommt der Major vom ersten Bataillon des Regiments Welden von der Versammlung um unseren General zurückgeritten,“ machte einer der Officiere die andern auf einen von der Gruppe oben auf dem Hügel zurückkehrenden Reiter aufmerksam.

„Major T…, was giebt’s? Wo findet das Gefecht statt?“ hatte der vordere Bataillonscommandeur denselben angerufen.

„Die Preußen scheinen halt unsere Arrieregarde oder irgend ein Seitendetachement angegriffen zu haben,“ erwiderte gleichmüthig der Gefragte. „Es mag wohl so bei Eipel oder sonst da herum [490] sein. Wissen’s aber, Herr Camerad, ich wünschte schon, daß dieser verflixte Nachtmarsch endlich mal ein Ende nähme. Was zu arg ist, ist zu arg. Sechs Meilen marschirt bei Nacht und Regen, ohne nur eine Rast und einen Bissen zu essen. Ich sage Ihnen, Major Heide, denken’s an mich, wenn das so fort geht mit dem vertrackten Hin- und Hermarschiren, geht die ganze Armee zu Grunde, bevor noch eine Schlacht geschlagen worden ist.“

Das Anlangen mehrerer höheren Officiere bei der Gruppe auf der Anhöhe überhob den mit Major Heide angeredeten zweiten Bataillonsführer der Verpflichtung, auf diese freimüthige Herzensergießung seines Cameraden zu antworten.

„Da ist der Feldmarschall-Lieutenant in Person!“ hatte einer der Officiere ausgerufen.

„In der That,“ äußerte Major Heide mit einem Blick hinauf zu der Höhenkuppe, „es ist unser Corpsbefehlshaber. Nun denn, Herr Camerad, da meine ich, daß die Erfüllung Ihres Wunsches wohl noch lange auf sich warten lassen dürfte. Und in der That, da jagen auch schon die Adjutanten nach allen Richtungen.“

„Achtung, es wird marschirt! Bataillon Marsch!“ schallte das Commando. Mit einem in den Bart gebrummten schweren Fluche war der Major von T… zu seinem Bataillon gesprengt.

Stunden waren seit dem Halt bei dem Sattelberge von Hohenbruck verflossen und es mochte etwa um neun Uhr Morgens sein, als die Truppen nach einem abermaligen Gewaltmarsche wieder bei dem südöstlich von Trautenau gelegenen Höhenzuge anlangten. Ein heftiges Feuer bei oder in dieser Stadt hatte sie von Pilnikau wieder nach dieser Richtung zurückgerufen. Auch jetzt dauerte das Schießen noch an, ohne daß jedoch wegen der vorgelegenen Höhen das Object, um welches, und die Oertlichkeit, wo gestritten wurde, zu erkennen gewesen wären. Dagegen fiel aus der Gegend, wo bei Tagesaubruch das erste Gefecht stattgefunden hatte, kein Schuß mehr. Das der Brigade angehörige Jäger-Bataillon und das Bataillon T… vom Infanterie-Regiment Baron Welden befanden sich, das erstere nach Trautenau selbst, das andere auf den als Endpunkt des vorerwähnten Höhenzuges unmittelbar neben und hinter dem südlichen Ausgang der genannten Stadt gelegenen Capellenberg vorgeschoben. Der Rest des Wehrzuges lagerte unter dem diesseitigen Abhang dieses Berges auf dem Wege nach Hohenbruck, welches von dem neuen Lagerplatz nur etwa drei Viertel Stunden entfernte Dorf indeß wegen eines andern rückwärtigen Höhenzuges ebenfalls nicht gesehen werden konnte. Eine zweite österreichische Brigade rastete neben der ersten, noch eine dritte schien weiter abwärts nach rechts, hart hinter dem Kamm des Trautenauer Höhenrückens einen Lagerplatz bezogen zu haben, doch blieben von derselben wegen des Gehölzes, das sich nach dieser Seite von dem Capellenberge etwa bis zur halben Höhe desselben hinabzog, nur einzelne Abtheilungen und eine mehr zurück aufgefahrene Batterie zu bemerken. Der frische Morgenwind hatte die nächtlichen Regenschleier verscheucht und die Morgensonne strahlte von dem wolkenlosen Himmel in goldenem Glanze. Eine zauberhaft schöne Beleuchtung lag über der ebenso anmuthigen wie fruchtbaren Landschaft gebreitet. Die Capelle namentlich mit ihrem kleinen spitzen Thurme und ihren weißen Mauern oben im kühlen Waldesschatten bildete einen Ruhepunkt, von welchem sich das Auge kaum loszureißen vermochte.

Mit dem Anlangen der Truppen auf der neuen Lagerstelle war zugleich der langerwartete Provianttranssport bei denselben eingetroffen, und Dank diesem Umstande wie der gebesserten Witterung blieb deren Stimmung mit der von einigen Stunden zuvor durchaus nicht zu vergleichen. Das Knattern des nahen Gewehrfeuers schien bei diesen leichtblütigen und lebensfrohen Söhnen Siebenbürgens und Mährens vollends jede Spur der früheren Ermattung verscheucht zu haben.

Der Major Heide war mit seinem Adjutanten, einem jungen Lieutenant, und einem schon älteren Officier, den Gradabzeichen an dem Kragen seiner Uniform nach einem Hauptmann desselben Regiments, zu der Capelle hinaufgeritten. Der Erstere erschien trotz des erfreulichen Wechsels auch jetzt noch düster und in sich gekehrt, wie er es zuvor gewesen war, der Lieutenant trällerte ein fröhliches Liedchen zwischen den Zähnen.

„Was hast Du heute nur?“ richtete der dritte Officier, sein Pferd auf einer hervorspringenden Bergkuppe etwas verhaltend, die halblaute Frage an den Major.

„Ich? O, Nichts,“ erwiderte derselbe wie aus einem Traume emporfahrend. „Und doch,“ fügte er nach einer langen Pause mit bis beinahe zu einem Geflüster gedämpfter Stimme hinzu: „Ich weiß nicht, was mir ist; Du kennst mich, wir haben vor sieben Jahren damals in Italien, bei Magenta und Solferino, Seite an Seite gestritten, und früher schon, noch als junger Mann, habe ich in Ungarn in so manchem Kampfe gestanden, aber, was mich heute bedrückt, habe ich noch an keinem Schlachttage empfunden. Es lastet wie die Ahnung eines furchtbaren Unheils auf meiner Seele.“

Der Andere hatte einen fast bestürzten Blick auf den Major geworfen. „Pah, Unsinn!“ äußerte er endlich mit gepreßter Stimme, „schlage Dir die Grillen aus dem Sinn. Wie an so manchem früheren blutigen Tage werden wir auch heute unversehrt aus dem Treffen hervorgehen, wenn es noch zu einem solchen kömmt. Betrachte nur diese Position; die Preußen müßten mehr als tollkühn sein, wenn sie uns in derselben angreifen wollten.“

Die von dem augenblicklichen Standpunkte der drei Officiere vollkommen sichtbare österreichische Stellung konnte in der That unmöglich günstiger gedacht werden. Hart über dem südlichen Ausgang der in der Tiefe gelegenen Stadt ragte als Schlüssel zu derselben der bei sechshundert Fuß hohe Capellenberg empor. Ein dichter, hochstämmiger Fichtenwald zog sich nach dieser Seite etwa von dessen halber Höhe bis zum Gipfel hinaus und ging fünfzig bis hundert Schritt weiter aufwärts in ein Eichen- und Akaziengehölz über, welches sich über die ganze Kuppe dieser und der nächsten Höhen fortpflanzte. Mit Getreide bestellte, noch höhere Berge schlossen sich nach rechts oder gegen Norden in der ganzen Ausdehnung der Stadt an und fielen bei dem jenseitigen Ausgang derselben steil gegen die Aupa ab, von welchem allerdings für gewöhnlich wenig wasserreichen Flusse Trautenau von Nordwest nach Südost durchströmt wird. Das Schuß- wie das Gesichtsfeld zeigte sich von diesem Höhenzuge nach allen Richtungen völlig unbehindert und ein gewaltsames Ersteigen desselben mußte bei dem Mangel jedes Deckungsgegenstandes nahezu unmöglich erscheinen. Die Stadt an sich bildete noch ein neues Annäherungshinderniß an diese furchtbare Stellung, und die jenseitigen weit niedrigeren Höhen lagen überdies vollkommen in dem Bereich der Kanonen und unter der Beherrschung derselben. Nur ein einzelner, weiter südlich an der von Trautenau nach Königinhof führenden Landstraße und gerade gegenüber der Capellenhöhe gelegener Berg vermochte dieser Position gefährlich zu werden; allein die Lage desselben erschien andererseits doch zu entfernt und der Zugang zu demselben durch die noch österreichischerseits in Besitz gehaltene Stadt zu gesichert, als daß man vorläufig wegen desselben irgend eine ernste Besorgniß hegen sollte.

Das Gefecht schien nach dem über den Dächern der Stadt gelagerten Pulverdampf noch innerhalb derselben bei der an deren jenseitigem Ausgang befindlichen Aupabrücke und etwa bis zu der hochgelegenen Kirche und dem Marktplatz stattzuhaben. Die beiderseitige Artillerie kanonirte sich über Trautenau fort von den diesseitigen und jenseitigen Höhen. Geschlossene feindliche Abtheilungen, ja selbst einzelne Schützenzüge waren noch nirgend zu bemerken. Ueberhaupt aber trug der gegenseitige Zusammenstoß noch durchaus das Gepräge eines gelegentlichen Versuchs, die Standhaftigkeit des Gegners zu erproben, und nichts deutete preußischerseits auf die Absicht, einen ernsten Kampf herbeizuführen.

„Es ist nicht um meinetwillen, daß ich diese Beängstigung fühle,“ hatte der Major Heide mit einem kalten, gleichgültigen Blick auf die österreichische Stellung und das Gefechtsbild zu seinen Füßen auf die Bemerkung seines Freundes erwidert. „Mag mir dort oben auf dem Berge mein Ziel gesteckt sein, meinen Tod bin ich als Soldat und Officier meinem Kaiser und dem Vaterlande schuldig und für mein Weib und meine Kinder wird der Erstere Sorge tragen. Indeß der Gedanke, daß Oesterreich in diesem Streit unterliegen sollte, preßt mir das Herz zusammen, und eine düstere Ahnung, die ich seit dem Ausbruch des Krieges schon vergeblich zu bekämpfen versucht habe, verkündet mir: es wird unterliegen.“

„Na schaun’s, Herr Camerad, wie sie die Preußen da unten in dem Städtel in die Presse genommen haben,“ ließ sich, bevor noch der Hauptmann die schlimme Muthmaßung seines Freundes zu bekämpfen vermochte, die fröhliche Stimme des Major T… hinter den Dreien vernehmen. „Ich hab’s halt ja immer behauptet, unsere Jäger werden mit den preußischen Zündnadelgewehren schon fertig werden, und auch die Bürger von [491] Trautenau haben, wie mir der Rittmeister W… von der Dragonern eben mitgetheilt hat, an dem Kampfe Theil genommen. Denken’s an mich, Herr Camerad, binnen einer Viertelstunde ist Alles aus und zu …“

„Was sind das für Leute, welche dort von der Stadt aus durch das Korn die Höhe hinanschleichen?“ war ihm der Major Heide in’s Wort gefallen.

„Wo denn? I seh’ halt nix.“

„Dort! Sehen der Herr Camerad nicht die schwarzen Käppis über den Halmen emporragen?“

„Bei Gott, Heide, Du hast Recht!“ stimmte auch der Hauptmann E… seinem Freunde bei; „die Leute verfahren zu vorsichtig, als daß sie von den Unsern sein könnten.“

„Na, wenn sie Käppis tragen, so müssen sie doch zu uns gehören. Und ich sehe halt noch immer nichts,“ verharrte der Major T… bei seinem Zweifel.

„Es sind preußische Jäger,“ verfolgte der Major Heide seine Beobachtung, „das grüne Collet des Mannes, der sich dort halb über dem Getreidesaum aufrichtet, hebt jedes Bedenken. Schnell, Herr Camerad, lassen Sie die Schützenzüge Ihres Bataillons wider die feindlichen Plänkler ausschwärmen, bevor dieselben noch die Höhe gewonnen. Lieutenant F…, sprengen Sie zu dem Feldmarschall-Lieutenant, um ihm von dem, was hier vorgeht, Mittheilung zu machen. Vorwärts zu unserm Bataillon!“

Die ausschließlich der einen Richtung zugewandte Aufmerksamkeit der vier österreichischen Officiere hatte sie eine andere, weit nähere Gefahr ganz übersehen lassen. Bereits einen Moment, bevor Major Heide seine Begleiter auf die aus der Stadt heranschleichenden Preußen aufmerksam machte, waren unter Führung eines Capitäns einige preußische Jäger auch hinter dem einzeln vor dem südlichen Ausgang von Trautenau gelegenen Gasthofsgehöft eingetroffen. Gedeckt durch die Baulichkeit desselben, sammelten sich dort immer mehr, binnen einer Minute mochte die Zahl der daselbst zusammengestoßenen Mannschaften bereits eine Compagnie betragen. Der Führer derselben hatte sich in Begleitung noch eines zweiten Officiers und dreier Oberjäger den Zaun entlang bis unmittelbar zur Landstraße vorgeschlichen und befand sich hier von der am Saum des Fichtengehölzes vereinigten Gruppe keine fünfhundert Schritt mehr entfernt. Ein ganzes preußisches Bataillon stieg jetzt, durch eine Senkung des Geländes der Beobachtung der Obenstehenden entzogen, aus dem Bette der Aupa empor und nahm im Laufschritt die Richtung nach dem einzelnen, der Capellenhöhe gegenüber gelegenen Berge. Die Preußen hatten den niedrigen Wasserstand des Flusses benutzt, um vermittels desselben den Gegner zu umgehen und ihm die unbeschützte Flanke abzugewinnen. Die zu große Zuversicht der Oesterreicher auf die Unzugänglichkeit ihrer Stellung stand im Begriff, ihnen die schlimmsten Früchte zu tragen.

„Mit dem Waldsaum dort oben befindet sich die feindliche Stellung in unsern Händen,“ äußerte der preußische Hauptmann mit einem Blick hinauf zu dem Capellenberge zu dem in seiner Begleitung befindlichen zweiten Officier. „Vorwärts denn im Laufschritt hinauf, Sie, Lieutenant Sch…, halten sich mit Ihrem Zuge links, ich werde den meinigen nach rechts ausschwärmen lassen. Gleichzeitig mit unserem Hervorbrechen mögen von Ihnen, meine Herren Oberjäger, die feindlichen Officiere dort von ihren Gäulen herabgeblitzt werden.“

Das Hervorbrechen der Preußen und die Ausführung dieses letzten Befehls trafen in der gleichen Secunde zusammen. Major T… glitt von einer Kugel durch den Kopf getroffen aus dem Sattel zur Erde, bevor seine Ungewißheit über die Feindesnähe noch gehoben worden. Eine zweite Kugel hatte den Lieutenant F… niedergestreckt. Die kriegerische Laufbahn des muthvollen jungen Mannes war beendet, noch ehe sie eigentlich begonnen hatte. Nur der Major Heide und der Hauptmann E… waren unverletzt geblieben, doch eine Secunde später bäumte des Ersteren Pferd von einer oder einigen der plötzlich gleich Hagelschlag niederprasselnden Kugeln tödtlich verwundet hoch auf und überschlug mit seinem Reiter. Nur wie durch ein Wunder war dieser noch unter dem schweren Sturz auf seine Füße gesprungen.

„Zurück, E…!“ rief der tapfere Mann seinem allein noch berittenen Gefährten zu. „T… ist todt; ich werde an seiner Statt hier den Befehl übernehmen, übernimm Du die Führung meines Bataillons. Fort, fort!“

„Auf sie mit dem Bajonnet!“ An der Spitze der nächsten von der Capellenhöhe herbeigeeilten Mannschaften versuchte er durch einen Bajonnetsturm die bereits hinter den vordersten Bäumen eingenisteten preußischen Jäger wieder in das freie Feld zurückzuwerfen. Von dem furchtbaren preußischen Schnellfeuer empfangen, flüchtete der noch aufrecht verbliebene kleine Rest der Seinen die Anhöhe hinauf. Ein zweiter Versuch, mit einer von der Capelle herzugeeilten Compagnie dem Gegner den gewonnenen Boden wieder zu entreißen, trug keine bessere Frucht. Der Sturmlauf stockte schon nach den ersten Schritten, Mann an Mann brach unter den sicheren, auf kaum fünfzig Schritt Entfernung abgegebenen Schüssen zusammen. Nur das Leben des Majors erschien wie gefeit; die Zielscheibe so vieler Büchsen, war er doch bisher noch völlig unverletzt geblieben.

„So recht, meine Herren Jäger,“ vernahm man aus der jenseitigen Feuerlinie die Stimme des preußischen Führers, „ruhig gezielt und scharf geschossen. Gebt’s ihnen! Doch nun vorwärts, hinauf zu der Capelle. Die feindliche Stellung muß von uns genommen werden. Ausgeschwärmt! Feuer, Feuer!“ Ein ganzes österreichisches Bataillon war der einen preußischen Compagnie entgegengetreten. Der österreichische Major schien sich, die Feuerlinie der Seinen auf- und abfliegend, zu verdoppeln. Dem preußischen Führer war bei dem vorigen Vordringen die rechte Hand zerschmettert worden; er warf den Degen in die Linke. „Festgestanden!“ übertönte sein Zuruf das Knattern des Gewehrfeuers und den plötzlich über die ganze Ausdehnung des Höhenzuges losgebrochenen Donner des Geschützes. „Die preußischen Grünen werden sich von diesen Oesterreichern doch nicht werfen lassen wollen!“

„Hurrah, Hurrah!“ Ein preußisches Bataillon stürmte von dem Gasthofsgehöft die Anhöhe hinan. Die Oesterreicher, von einem furchtbaren Feuer überschüttet, wichen ruckweise immer weiter zurück. „Hurrah, Hurrah!“ jubelte es jetzt auch von dem der Capellenhöhe gegenübergelegenen Bergrücken. Der Gipfel der ersteren war erklommen, über die ganze Ausdehnung des von der Capelle anhebenden Höhenzuges knatterte das Gewehrfeuer, bereits hatten die auf den freien Bergkuppen weiter abwärts aufgefahrenen österreichischen Batterien, um nur von den plötzlich vor ihnen wie aus der Erde auftauchenden Preußen nicht genommen zu werden, ihre bisherige Stellung aufgeben müssen.

„Steht! Haltet aus!“ Von dem Major Heide war auf der Plattform um die Capelle ein letztes Häuflein der Seinen zusammengerafft worden. „Hoch der Kaiser!“

„Hoch der Kaiser!“ Neue österreichische Massen hatten auf dem jenseitigen Abhang des Berges die Capelle erstiegen. Von dem unerwarteten Andrang sahen sich die Preußen bis beinahe wieder zu dem Saume des Fichtengehölzes zurückgeworfen, doch auch ihnen kam Unterstützung. Hin und wieder, jetzt im scharfen Feuergefecht, jetzt im Zusammentreffen mit blanker Waffe, wogte das Gewühl. Plötzlich schmetterte mit hohlem Sausen von links her eine Granate durch die Wipfel der Bäume und Schlag um Schlag sendete das Geschütz seine eisernen Boten herüber. Die Preußen hatten auf der einzelnen Höhe gegenüber dem Capellenberge eine Batterie aufgefahren, und von deren Feuer in die Flanke gefaßt, konnten die Oesterreicher auf dem ersteren nicht länger halten. Mit einem letzten Sturm ward preußischerseits die Höhe erstiegen und der Feind von derselben herabgeworfen. –

Der Kampfeslärm war seit lange verhallt, die Schlacht in die Ferne gezogen. Nur das Stöhnen der Verwundeten und das Röcheln der Sterbenden unterbrachen das unheimliche Schweigen, das sich über die Capellenhöhe gelagert hatte. Zu vielen Hunderten, wo nicht Tausenden, lagen die Todten und Wunden im Gehölz und auf der Plattform vor dem kleinen Gotteshause ausgestreckt. Selbst in diesem aber hatte der Tod seine grause Ernte gehalten. Die Thür sperrte weit aus ihren Angeln; zwanzig Leichen deckten den Boden, hundert Kugelspuren zeigten sich über die Wände zerstreut. Sogar die Orgel und der Hochaltar mit dem heiligen Tabernakel waren von den Wirkungen des furchtbaren Kampfes und der allgemeinen Verwüstung nicht verschont geblieben.

„Hier gleich links von der Capelle muß es sein, wo unser Hauptmann gefallen ist,“ äußerte eine Stimme. Drei preußische Jäger waren, mühsam den Berg emporklimmend, aus dem dichten Unterholz auf die freie Plattform vor dem kleinen Gotteshause hinausgetreten.

(Schluß auf Seite 494.)
[492]
Opfer vom Felde der Ehre.


Wir Menschen geringeren Schlages besitzen nicht die Seelenstärke und den Heroismus Napoleon’s des Ersten, der, als seine Krieger nach der Schlacht verstümmelt an ihm vorübergetragen wurden, achselzuckend sagen konnte: „Das bringt der Krieg mit sich.“ – Ein allgemeines „Ach Gott!“ entströmte den Lippen der Harrenden, als der endlose Zug die ersten Verwundeten von Löbau brachte, wo ihnen der erste leichte Verband angelegt worden war – traurige Reste einer stolzen, noch vor Kurzem siegesfreudigen Armee!

Ankunft von Verwundeten in Dresden.
Nach der Natur aufgenommen von Herbert König.

Die todtmatten, abgezehrten Gestalten der Unglücklichen lehnten an der Brustwehr der Lowries, in denen, in Ermangelung von Waggons, die Blessirten transportirt wurden. Aus dem Stroh, mit dem die Wagen reichlich gefüllt waren, ragten hier und da Hände oder Füße von Schlafenden, Schwerverwundeten, vielleicht schon Gestorbenen. Selten wird man so viel und so großes Elend auf so kleinem Raume zusammengedrängt sehen, wie hier. – Jene unheimliche Gestalt, in regungsloser Haltung hochaufgerichtet und in eine Pferdedecke gehüllt, stiert glanzlosen Auges nach der Sonne – eine hart vorübersausende Kanonenkugel hat die Sehkraft für immer geblendet. Kaiserjäger, alter Gewohnheit gemäß immer noch den Hut mit wehendem Federbusch keck auf die Seite gedrückt, blicken theilnahmlos oder schmerzlich lächelnd auf die Menge herab, Arme, Schulter oder Kopf vielfach verbunden! Doch die Federn wehen nicht mehr stolz und lustig vom Hute; zerpeitscht und zerknickt von Wind, Wetter und Regen, wie die Adlerfedern auf der „Kutsma“ jener Husaren, flattern sie dürftig im Winde, getränkt vom Blute der Feinde, der Ihrigen und von dem eignen, und verleihen der ganzen Gruppe ein unendlich trauriges Gepräge. Wo ist da noch nur ein einziges Uniformstück in seinem Urzustande herauszufinden? Die Schnüren der „Attilas“ blutbefleckt oder herabgerissen im wüthendsten Handgemenge; die verbrämte „Conföderatka“ des Ulanen beschmutzt und versengt, Rock und Weste aufgerissen, darunter ein blutiges Hemd, oder die Brust voll entsetzlicher Hieb- oder Schußwunden. Diese haben ihre militärische Kopfbedeckung verloren und tragen breitkrämpige Bauern-, selbst Strohhüte, Jene das Haupt bis zur Unkenntlichkeit entstellt und die Hände flehend emporgehoben oder unter furchtbaren Schmerzen verzweiflungsvoll geballt. Statt der blanken Waffe führen die Meisten jetzt einen schlichten Stock, auf den sie sich stemmen, wenn nicht die Schulter des Cameraden mitleidsvoll eine Stütze bietet. Der Blick umflort sich bei diesen chaotischen Gruppen von Elend und Herzeleid – auch der wachestehende preußische Füsilier sieht schmerzbewegt auf den seitwärts liegenden Sterbenden hin und nimmt fromm zum letzten Gebete seine Pickelhaube ab – die kühnste Phantasie wird hier zunichte, Angesichts so grauenvoller Wirklichkeit. Deutsche, Ungarn, Italiener, Polen und Kroaten, nicht mehr feindlich einander gegenüber, sondern verbunden durch gemeinsamen Jammer, gleichen den armen Opferlämmern, die man für große und erhabene Zwecke in grauer Vorzeit den Göttern weihte. – Nervenschwache und delicate Naturen mögen diese Schilderung, die unter [493] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


den ersten fesselnden Eindrücken niedergeschrieben ward, weder für übertrieben halten, noch als unästhetisch vornehm bei Seite legen. Uns wenigstens scheint es in dieser ernsten Zeit nicht überflüssig, sich mit dem menschlichen Elend vertraut zu machen, wir halten es daher ebenso für geboten, auch noch einen Blick in eines der verschiedenen internationalen Lazarethe zu werfen. Wir wählen hierzu das ehemalige sächsische Cadettenhaus aus, wo Preußen, Oesterreicher und Sachsen, die sich vor wenigen Tagen noch die Waffen in der Hand auf dem Schlachtfelde gegenüber standen, jetzt vom gemeinsamen Unglück zusammengeführt, alle Kriegerfeindschaft vergessend, friedlich neben einander liegen und friedlich mit einander verkehren, da, wo in wahrer Brüderlichkeit der schon Stärkere und Gesündere dem Schwachen und Kranken gern jeden möglichen Liebesdienst leistet.

Betrachten wir uns denn den noch immer schmucken Schützen vom achtzehnten österreichischen Jägerbataillon, die Schleswig-Holstein-Medaille auf der Brust neben der Denkmünze von Solferino, gestützt auf den Arm des preußischen Unterofficiers, der mit seinem offenen intelligenten Gesicht, den Arm in der Binde, den am Fuße Verwundeten führt. Auch seine Brust schmückt neben der Dienstauszeichnung das schwarz-weiß-gelbe Band von Schleswig-Holstein; für dieselbe Sache haben sie gefochten und geblutet bei Oderselk und Oeversee, bei Düppel und Alsen, als Feinde kämpften sie wider einander auf den blutgedüngten Feldern Böhmens. Wie sie die Gänge der Anstalt durchwandeln im Geplauder mit den Umstehenden, hier aufgehalten von einer Gruppe von gebräunten Soldaten des ungarischen Regiments Graf Gyulai, die sie als Schiedsrichter anrufen bei einem unter ihnen ausgebrochenen unbedeutenden Wortwechsel über das Spiel, das sie in beschaulichem Müßiggang begonnen; wie sie dort begrüßt werden von preußischen Dragonern und Husaren, deren einer die rühmliche Narbe über der Stirn vom 3. Juli als Andenken trägt, scheint es kaum glaubhaft, daß diese Männer noch vor wenig Tagen Mann gegen Mann in der Hitze des Kampfes, im Donner der Kanonen, sich als Feinde auf Leben und Tod bekämpft haben.

Von den Mannschaften der preußischen und der sächsischen Armee sind fast alle Leute des Schreibens kundig, wie man überhaupt, besonders unter den ersteren bei der allgemeinen Wehrpflicht, liebenswürdige und gebildete Leute jedes Standes und Berufes trifft; auch unter den Oesterreichern finden sich viele, die Feder und Bleistift zu handhaben im Stande sind. Doch eine merklich größere Anzahl ist des Schreibens völlig unkundig.

Rührend ist die Liebe, welche die meisten der verwundeten Cavaleristen für ihre Pferde an den Tag legen. So bittet ein ungarischer Husar, man möge nach Hause schreiben, daß sein guter Schimmel todt sei, wobei dem braven Burschen die Thränen über sein braunes Gesicht fließen, und man solle nach einem Dorfe desselben Comitats sagen lassen, daß der Braune des Vanya Janosz, der mit ihm in derselben Schwadron dient, in das rechte Vorderbein geschossen sei.



[494] „Ja, ganz recht, dort liegt er, den Degen noch fest in die linke Faust gepreßt und die Brust dem Feinde zugewendet. Verdammt die tückische Kugel, die seinem Heldenleben ein Ende gemacht hat! Einen braveren Officier als unsern Hauptmann besitzt die ganze preußische Armee nicht mehr.“

„Der müßte lügen wie ein Schelm, wer es anders sagen wollte,“ stimmte einer der andern beiden Jäger ein. „Aber seht doch! Da, keine zehn Schritt entfernt, lehnt an der Mauer der Capelle auch der österreichische Hauptmann oder Major, welcher uns bei dem Sturm des Berges so viel zu schaffen gemacht hat.“

„Er ist ebenfalls schon kalt und steif,“ bemerkte der dritte Jäger, von einer Untersuchung des Leichnams emporblickend. „Aber was bedeutet denn das? Statt des Degens hält dieser Todte hier einen Bleistift in der Hand. Und seht doch hier an der Wand! Mit zitternder Hand hat der Sterbende seinen letzten Willen an dieselbe geschrieben.“

„Lies doch, lies: ‚Major Heide. Hier will ich ruhen.‘“

„Cameraden,“ hatte sich der erste Jäger an die andern beiden gewendet, „weiß Gott, auch dieser österreichische Officier war ein tapferer Mann. Sein letzter Wunsch soll ihm erfüllt werden. Wißt Ihr, die Beiden, unser Hauptmann und er, sollen gleich hier auf dieser Stelle unmittelbar an der Mauer der Capelle in Einem Grabe ruhen. Seid Ihr einverstanden? Nun, dann faßt an, die Gruft auszuwerfen. An Werkzeug dazu kann es uns hier ja nicht fehlen. – So! Jetzt legt die Todten hinein und schaufelt die Erde über sie. Noch ein Kreuz von Tannenzweigen zu ihren Häuptern und ein stummes Gebet. Mögen sie ruhen in Frieden! Und nun fort zu unserm Bataillon. Hört Ihr, das Gefecht entbrennt von Neuem? Wer weiß, ob nicht nach wenigen Stunden schon uns irgendwer den gleichen Dienst, wie wir diesen hier, leisten wird.“ – Noch heute sieht man die vom österreichischen Hauptmann gekritzelten Worte an der Capellenwand.
P.




Sclavenhandel am Weißen Nil.


Baker, der Entdecker der Nilquellen. – Khartum der Mittelpunkt und der weiße Nil als Vorrathskammer des Sclavenhandels. – Türkische Wirthschaft daselbst. – „Elfenbeinhandel“. – Die Sclavenschiffe und ihre Abenteurerbande. – Bündniß der Negerhäuptlinge mit den Sclavenjägern. – Ueberfall der Negerdörfer. – Hasenjagd auf die Schwarzen. – Das Sclavenjoch. – Sclavenauction. – Die fingirten Rechnungen des „Geschäfts“. – Sclaventransport. – Die arabischen Sclavenmäkler. – Sclaven als Beamtenbesoldung. – Musa Pascha. – Die Hölle von Gondokoro.


Die Emancipation der nordamerikanischen Schwarzen hat der Sclaverei der westlichen Halbkugel das Genick gebrochen. Dem mächtigen Impulse, den die Republik des Nordens gegeben hat, vermögen die beiden einzigen Staaten der neuen Welt, wo noch Sclaverei besteht, nicht lange mehr zu widerstehen. In der alten Welt hat aber die Sclaverei, der Sclavenhandel, ja selbst die Sclavenjagd einen neuen Aufschwung genommen, und der Sitz des schimpflichen Uebels ist eben das Gebiet der Nilquellen, auf das wir, der endlichen Lösung des interessantesten geographischen Räthsels harrend, seit Jahren mit Spannung blicken. Im Süden ist es eine christliche, im Norden eine mohammedanische Macht, die den Sclavenhandel in der Stille duldet und selbst ermuntert. Ueber die Mitschuld der Portugiesen an dem mörderischen Verkehr hat Livingstone sich ausgesprochen, über die Mitschuld der Aegypter äußert sich der Engländer Baker, der kühne Entdecker des Lute Nzige (Albert Nyanza) in der jüngst erschienenen Beschreibung seiner Reise zum Quellgebiet des Nils.

Die Hauptstadt des ägyptischen Sudans, Khartum, ist zugleich der Mittelpunkt des Sclavenhandels. Wenn sich irgendwo das arabische Sprüchwort bewahrheitet: „In den Fußstapfen des Türken wächst kein Gras“, so ist es hier. Der Zustand Khartum’s mit seinen elenden Hütten und seinen schmutzigen Straßen ist ein Wahrzeichen des Ruins, den die ägyptische Herrschaft über den Sudan gebracht hat. Die sechstausend Mann Truppen, die in der Stadt liegen, würden unter einer erträglich guten Regierung mehr als hinreichen, Ordnung und Sicherheit zu erhalten. Unter ägyptischer Fahne sind diese Türken, Arnauten und Schwarzen aus Kordofan, vom blauen und weißen Nil der Fluch des Landes. Schlecht bezahlt und schlecht geschult, erpressen und plündern sie nach Herzenslust, ohne daß ihnen jemals Einhalt geschieht.

Die Verwaltung ist die orientalische in ihrer schlimmsten Form. In weiter Ferne von aller Civilisation und durch die nubische Wüste von dem ägyptischen Hauptlande getrennt, bietet der Sudan der Entwicklung des türkischen Beamtencharakters den günstigsten Boden. Jeder Beamte drückt die Bewohner und der Generalstatthalter am meisten. Er füllt seine Taschen, indem er dem Fortschritt jedes erdenkbare Hinderniß in den Weg legt und jede Handelsbewegung erschwert, damit man ihn durch Geld gewinne. Vom ersten bis zum letzten Beamten sind Unehrlichkeit und Täuschung die Regel und jeder raubt im Verhältniß zu dem Range, den er einnimmt. Die Last aller Erpressungen fällt natürlich auf die Eingeborenen, denen man übermäßige Steuern aufbürdet, welche man noch dazu von Soldaten eintreiben läßt. Vor diesen brutalen Steuereinnehmern fliehen die Landleute aus ihren Dörfern, ihre Heerden vor sich hertreibend, und überlassen die Ernte im Felde den Soldaten. Nirgends im Sudan sieht man etwas Anderes als Armuth und Elend.

Auch der anständige Handel des großen Gebiets hat wenig zu bedeuten. Der wichtigste Artikel ist Gummi arabicum, das man von verschiedenen Mimosen-Arten gewinnt. Außerdem werden Sennesblätter, Felle und Elfenbein ausgeführt. Der Transport kann nur mittelst Kamelen bewirkt werden, da die Nilkatarakten zwischen Assuan und Khartum die Schifffahrt so gut wie unmöglich machen, und eine Waarenbeförderung durch Kamele ist eine kostspielige. Der Handel ist denn auch unbedeutend. Den Gesammtwerth des Elfenbeins, das der Sudan jährlich nach Aegypten schickt, schlägt Baker auf vierzigtausend Pfund Sterling an. Unter allen diesen Umständen ist der Sudan eigentlich ein werthloser Besitz, der weder politisch wichtig ist, noch Einnahmen gewährt. Trotz aller Steuererhöhungen und Erpressungen sind die Ausgaben der ägyptischen Regierung sogar größer als ihre Einkünfte, und man müßte sich daher wundern, weshalb man in Kairo auf eine solche Provinz Gewicht legte, wenn es nicht einen Grund gäbe, der zur Eroberung des Sudans getrieben hat und die Behauptung desselben erklärt. Der Sudan liefert Sclaven.

Der Sclavenhandel wird auf dem weißen Nil betrieben und nimmt die Rolle eines Elfenbeingeschäfts an. Ohne diesen Handel würde Khartum, eine Höhle alles Schmutzes, aller Laster und aller Verbrechen, kaum existiren können. An diesem ehrlosen Handel auf dem weißen Nil betheiligen sich Syrer, Kopten, Türken, Tscherkessen und einige wenige Europäer. In Folge der Armuth des Landes und des äußerst geringen Verkehrs ist der Menschenhandel das einzige Geschäft, das den üblichen Zinsfuß zu ertragen im Stande ist. Denn der Capitalist fordert je nach der Sicherheit, die ihm gewährt wird, sechsunddreißig bis achtzig Procent, wodurch anständige Unternehmungen unmöglich gemacht werden. Eine glückliche Fahrt auf dem weißen Nil deckt aber alle Kosten und gewährt noch einen Ueberschuß.

Zwei Classen, Capitalisten und arme Abenteurer, gehen bei dem Sclavenhandel Hand in Hand. Der Abenteurer borgt von dem Capitalisten Geld zu hundert Procent und verpflichtet sich zur Wiederbezahlung in Elfenbein, das ihm nur zum halben Werth angerechnet wird. Ist er im Besitz des erforderlichen Geldes, so miethet er einige Schiffe und wirbt eine Bande von einhundert bis dreihundert Mann, Araber und flüchtige Verbrecher aus den fernsten Ländern, die im Dunkel von Khartum Schutz gegen alle Verfolgungen der Justiz gefunden haben. Jeder dieser Kerle erhält seinen Lohn für fünf Monate vorausbezahlt. Dieser Blutlohn beträgt fünfundvierzig Piaster oder drei Thaler monatlich und steigt für jeden Monat über die bedungene Zeit hinaus auf achtzig Piaster. Die Zahlung erfolgt theils in baarem Gelde, theils in baumwollenen Kleidungsstoffen, die zu übermäßigen Preisen abgerechnet werden. Jeder Angeworbene erhält einen Streifen Papier, aus dem der Schreiber der Expedition vermerkt, was der Mann an Geld und Waaren empfangen hat, und dieses Papier dient bei der schließlichen Abrechnung als Grundlage.

Im December segelt die Bande ab, fährt den weißen Nil bis zu dem gewählten Landungspunkte hinauf und marschirt landeinwärts, [495] bis sie das Dorf eines schwarzen Häuptlings erreicht, mit dem sie ein Einverständniß anknüpfen zu können hofft. Der Neger kennt die Ueberlegenheit europäischer Waffen und versäumt die Gelegenheit nicht, mit den Sclavenjägern ein Bündniß zu schließen, das ihm die Macht verleiht, sich an einem feindlichen Nachbar zu rächen. Von ihrem Wirth geführt, marschiren sie die ganze Nacht durch und machen in der Nähe des arglosen Dorfes Halt, das dem Verderben geweiht ist. Wie die nordamerikanischen Indianer bei ihren Ueberfällen, warten die Sclavenjäger bis kurz vor Tagesanbruch. Diese Zeit, in welcher der Mensch nach überstandener Nacht sich sicher glaubt, kommt, und geräuschlos wird das Dorf umzingelt, dessen Bewohner noch schlafen. Plötzlich werden die Grashütten ringsum angezündet und in vollen Lagen schmettern die Flintenkugeln in das brennende Heu hinein. Von Entsetzen erfaßt, stürzen die Einwohner aus ihren in Flammen stehenden Hütten. Die Männer werden wie Hasen bei einem Treibjagen niedergeschossen, die Frauen und Kinder aber, die vor Schreck und Angst sinnlos geworden sind, gefangen und gebunden. Der Viehheerden bemächtigt man sich in ihren Hürden ohne Mühe und treibt sie als Siegespreis frohlockend fort. Zur Fortführung der Frauen bedient man sich des Sclavenjochs, das auf der Westküste im Gebrauch ist. Es ist eine Stange mit einer Gabel, in die der Hals der Gefangenen paßt und die man mit einem Stück Holz hinter dem Nacken schließt. Die Hände werden vor dem Leibe gefesselt und mit einem Strick an die Stange befestigt. Den Kindern legt man einen Strick um den Nacken und knüpft das andere Ende an eine Frau. So bilden alle Gefangene eine lebendige Kette und werden mit dem erbeuteten Vieh fortgetrieben.

Man ist mit dem unglücklichen Dorfe noch nicht fertig. Eine allgemeine Plünderung findet statt, der auch die Leichen nicht entgehen. Man haut ihnen die Hände ab, um sich der kupfernen oder eisernen Ringe, welche die Schwarzen an den Handgelenken tragen, leichter bemächtigen zu können. Die Schwelle jeder Hütte wird aufgewühlt, denn dies ist die Stelle, wo die Neger ihre Elephantenzähne, die ihr größter Schatz sind, zu verstecken pflegen. Von dem Getreide wird muthwillig vernichtet, was man nicht selbst braucht. Mit dieser Beute kehren die „Elfenbeinhändler“ zu ihrem schwarzen Verbündeten zurück. Sie haben seine Feinde vernichtet, das entzückt ihn; sie schenken ihm dreißig oder vierzig Stück Schlachtvieh, das macht ihn vor Freude berauscht, und ein hübsches, kleines Angebinde, ein Negermädchen von vierzehn Jahren, vollendet sein Glück.

Dies ist blos der Anfang des Geschäfts. Den Häuptling verlangt nach Vieh und der Sclavenjäger hat vielleicht zweitausend Stück gefangen. Sie sind für Elfenbein zu haben, und bald kommen Elephantenzähne zum Vorschein. Täglich wird Elfenbein in’s Lager gebracht und gegen Vieh getauscht. Ein Zahn gilt, je nach der Größe, eine oder zwei Kühe, und das Geschäft ist ein vortreffliches, da die Kühe nichts gekostet haben. Der Handel geht schwunghaft, doch sind einige kleine Gebräuche zu beobachten, gewisse Förmlichkeiten, auf die sich der Handel des weißen Nils wohl versteht. Die Sclaven und zwei Drittel des geraubten Viehs gehören dem Anführer, auf das letzte Drittel machen seine Leute Anspruch. Sind diese Thiere getheilt, so werden die Sclaven unter der Mannschaft versteigert. Jeder kauft so viele, als er braucht, und der Betrag des Kaufgeldes wird auf seinem Papierstreifen eingetragen, um ihm vom Lohn abgezogen zu werden. Um für den Fall, daß das Papier einem der europäischen Consuln in die Hände fiele, Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wird das Geld nicht für den Kauf eines Sclaven gebucht, sondern auf fingirte Geschäfte vertheilt und eingetragen. Baker theilt eine Rechnung mit, in welcher der Kaufpreis für einen Sclaven, der tausend Piaster betrug, auf folgende Weise maskirt wurde:

Seife 50 Piaster,
Ein Tarbosch (Kappe) 100
Arak 500
Schuhe 200
Baumwollenzeug 150
  1000 Piaster.

Die Sclaven, welche die Mannschaft erstanden hat, werden unter dieser fortwährend umgetauscht und wieder verkauft. Wenn die Verwandten der geraubten Weiber und Kinder sie auslösen wollen, so müssen die Leute dem Anführer die gekauften Sclaven gegen Tilgung ihrer Rechnung zurückgeben[WS 1], und er handelt nun mit den Verwandten, von denen er Elephantenzähne für die Menschen fordert. Sollte eine der Sclavinnen zu fliehen versuchen, so wird sie entweder auf die brutalste Weise ausgepeitscht, oder zur Warnung für die andern gehängt oder erschossen. Vollständig wird eine solche Razzia erst dann, wenn es dem Sclavenjäger gelungen ist, mit dem Häuptling, der ihm geholfen hat, Streit anzufangen. Dann wird auch dieser Verbündete ausgeplündert und ermordet, und die Weiber und Kinder seines Dorfes wandern in die Sclaverei.

Ein „glücklicher Zug“ trägt einer Bande von einhundert und fünfzig Mann etwa zweihundert Cantaren Elfenbein ein, die in Khartum für vierzigtausend deutsche Gulden verkauft werden. Da die Mannschaft in Sclaven bezahlt wird, so kommen die Löhne nicht in Betracht und der Anführer besitzt außerdem als seinen eigenen Antheil vier- bis fünfhundert Sclaven, die im Durchschnitt jeder fünfzig bis sechszig Gulden werth sind.

Die Sclaven werden in die Schiffe gebracht und ein Theil der Mannschaft begleitet sie nach Khartum. Die übrigen schlagen in der Gegend, welche sie sich ausgewählt haben, ein Lager auf und fahren fleißig fort zu plündern, zu morden und Menschen zu rauben. Kommt ihr Herr mit den Schiffen von Khartum zurück, so erwartet er eine neue Ladung von Elfenbein und Sclaven zur Einschiffung bereit zu finden. Wegen der europäischen Consuln kann er seine geraubten Schwarzen nicht direct nach Khartum schaffen. Das erschwert ihm übrigens sein Geschäft nicht, denn an so und so vielen Punkten in der Nähe von Khartum findet er Agenten, die ihm für seine Sclaven baares Geld geben. Diese Leute sind in der Regel Araber, die ihre Menschenwaare durch das Land nach verschiedenen Punkten schaffen. Die Sclaven, die nach dem Sennaar bestimmt sind, gehen noch durch mehrere Hände, bis sie schließlich an Aegypter oder Türken gelangen. Andere fährt man zu den Häfen des rothen Meeres, namentlich nach Suakim und Massaua, von wo sie nach Persien und Arabien verkauft werden. Viele kommen nach Kairo, und in der That werden diese Unglücklichen durch den ganzen sclavenhaltenden Orient verkauft, denn der weiße Nil ist die große Vorrathskammer, aus dem der Sclavenhandel schöpft.

Der brave „Elfenbeinhändler“ kehrt nach Khartum zurück, übergiebt seinem Gläubiger so viel Elfenbein, daß seine Schuld von zehntausend Gulden getilgt ist, und ist nun ein Capitalist, der das Geschäft auf eigene Rechnung betreiben kann. In Khartum ist Jedermann, mit Ausnahme einiger weniger Europäer, zu Gunsten des Sclavenhandels. Die ägyptischen Beamten stellen sich, als wirkten sie ihm entgegen, aber jedes Haus in Khartum ist voll von Sclaven und unter jenen Beamten befinden sich nicht wenige, die einen Theil ihrer Besoldung in Sclaven empfangen, gerade so, wie die Sclavenjäger mit Menschen statt mit Geld bezahlt werden. Die ägyptischen Behörden betrachten jede Erforschung des weißen Nils durch einen Europäer als einen Einbruch in ihren Sclavenbehälter und sehen in jedem Fremden, den wissenschaftliche Zwecke nach Khartum führen, einen Spion.

Baker erhielt Beweise, daß die höchsten Regierungsbehörden nicht anders denken. Generalstatthalter des Sudans war 1862 Musa Pascha, ein Türke der rohesten Art. Baker hatte sich mit einem Firman des Vicekönigs Said versehen, der die Beamten anwies, dem Reisenden jede Unterstützung zu gewähren. Diesen Befehl seines Herrn ließ Musa Pascha nicht gelten, denn, sagte er, der Firman gilt nur für die Besitzungen des Vicekönigs und für den Nil, der Engländer will aber nicht den Nil, sondern den Weißen Fluß bereisen. Er weigerte sich, Boote zu stellen und irgend eine andere Hülfe zu leisten. Baker wendete sich nun an den englischen Consul in Alexandrien, um durch dessen Vermittelung Schiffe und eine Anzahl von Soldaten zu erhalten. Monate vergingen, ehe eine Antwort der ägyptischen Regierung eintraf, und diese späte Antwort war eine verneinende. Offenbar wünschte man auch in Kairo nicht, daß eine Expedition den weißen Nil hinaufgehe und über den dortigen Sclavenhandel der Welt Aufschluß gebe. Als Baker trotz aller dieser Hindernisse sich Fahrzeuge und Leute verschafft hatte und eben absegeln wollte, fuhr ein großes Regierungsschiff „zufällig“ mitten zwischen seine Boote hinein und zerbrach ihnen die Ruder.

Der teuflische Sclavenhandel ist mit allen seinen Schrecken so lange die Pest des oberen Nils gewesen und hat die dortigen [496] Stämme so erbittert, daß die Neger gegen alle Fremden feindlich gesinnt sind. Eine Reise zu den Nilquellen gleicht daher einem Marsch durch ein Feindesland. In Gondokoro sah Baker Dinge, welche den Haß der Neger nur zu sehr rechtfertigen. Diese ehemalige Station der Glaubensboten ist jetzt ein Sammelpunkt der Sclavenjäger. Die umwohnenden Bari-Neger haben durch diese Nachbarschaft unendlich zu leiden gehabt und rächen sich mit vergifteten Pfeilen an ihren grausamen Feinden. Es wäre ein Leichtes, sie noch heute durch Humanität zu gewinnen, denn sie treiben gern Handel, aber man zieht es vor, sie durch Schrecken zu unterwerfen. So oft die Sclavenhändler einen Bari fangen, binden sie ihm Hände und Füße und tragen ihn auf eine Klippe oberhalb der Ruinen des alten Missionshauses, die etwa dreißig Fuß über das Wasser hervorragt. Unten wirbelt der weiße Nil in einer tiefen Bucht und dahinein stürzt man die armen Schwarzen, damit sie den Krokodilen zum Fraß dienen. Strick und Kugel sind ihnen nicht so schrecklich, wie diese Todesart, und eben darum wendet man sie an.

„Gondokoro ist eine vollständige Hölle,“ sagt Baker. „Die ägyptischen Behörden ignoriren das gänzlich, obgleich Jedermann weiß, daß hier eine Colonie von Kehlabschneidern ist. Wie leicht könnte man von Khartum einige Officiere mit einem paar hundert Mann schicken und dem ganzen Sclavenhandel ein Ende machen. Die Händler aber bestechen die Behörden, und so bleibt Gondokoro ein Asyl für die größten Niederträchtigkeiten. Die Lager wimmeln von Sclaven und die Baris sagten mir später, daß im Innern große Depots von Sclaven seien. Mein Erscheinen in Gondokoro wurde als ein unverschämtes Eindringen in das Heiligthum des Menschenraubes betrachtet. Ich fand etwa sechshundert Leute von Sclavenhändlern, die sich die Zeit mit Trinken, Zank und Mißhandlungen der Schwarzen vertrieben. Die Meisten waren fortwährend betrunken und kannten in diesem Zustande kein größeres Vergnügen, als ihre Flinten in allen möglichen Richtungen abzufeuern. Vom Morgen bis zur Nacht krachten immerfort Schüsse und pfiffen Kugeln, die mir oft dicht beim Kopfe vorbeigingen oder den Staub zu meinen Füßen aufwirbelten. Ich hatte immer zu befürchten, daß mich eine Kugel zufällig träfe und den Sclavenhändlern die Wohlthat erweise, sie von einem ‚Spion‘ zu befreien. Eines Tages saß ein Knabe auf dem Decke eines Schiffes, als ihn plötzlich eine Kugel in den Kopf traf und augenblicklich tödtete. Niemand hatte es gethan.“

Baker wurde in dieser Hölle fast zwei Monate aufgehalten. Alle seine sorgfältigen Vorbereitungen schienen unnütz werden zu sollen. Die Sclavenhändler verführten seine Leute zur Meuterei. Nach wenigen Tagen schon zeigten sich unzweideutige Zeichen einer allgemeinen Unzufriedenheit. Eines Abends traten die Rädelsführer vor Baker, klagten, daß sie zu wenig Fleisch erhielten, und forderten von ihm die Erlaubniß, einen Raubzug gegen einen der nächsten Stämme ausführen zu dürfen. Das war der Anfang einer Reihe von Auftritten, bei denen sein Leben mehrmals in die größte Gefahr kam. Selbst vor einem Morde schreckten die Sclavenhändler nicht zurück, wenn sie ihr Ziel, eine Forschungsreise in ihre Gebiete der Menschenjagd zu verhindern, nicht anders erreichen konnten. Einmal rettete ihn seine muthige Frau, die alle Mühen und Gefahren der Reise mit ihm getheilt hat, mehrere andere Complote vereitelte er selbst mit kalter Besonnenheit. Seine Begeisterung für sein großes Ziel hielt ihn unter wahrhaft verzweifelten Umständen aufrecht. Er entkam endlich aus der Hölle von Gondokoro und entdeckte das zweite der großen Wasserbecken, von denen der Nil gespeist wird. So machte auch er die Erfahrung, daß der Sclavenhandel die schlimmste der Schranken aufrichtet, die der Nilreisende zu durchbrechen hat.




Eine sympathetische Cur.
Von einem preußischen Beamten.


Am letzten Tage des vorigen Jahres erhielt ich gleichzeitig zwei Haftbefehle. Der eine war für den Todtengräber des Orts, der andere für ein Fräulein v. K. ausgestellt. Beide standen miteinander in Verbindung. Ich konnte darüber keinen Augenblick in Zweifel sein, denn dem erstgedachten Befehle war die Weisung beigefügt, den Todtengräber H. so zu placiren, daß ihm jede Communication mit Fräulein v. K. unmöglich gemacht werde. Wie aber mochte diese Gemeinschaft entstanden sein?

Der Todtengräber H. war ein Mensch, der im Orte von Jedermann gemieden wurde, nicht allein weil er Todtengräber, sondern auch weil er ein Trunkenbold war und durch Faulheit und liederliches Wesen heruntergekommen und verarmt sein sollte. Fräulein v. K. dagegen genoß allseitig die höchste Achtung. Man hielt sie für eine freundliche, liebenswürdige, mildthätige und auch für eine fromme Dame. Ich hatte vielfach gehört, daß sie die Wohnungen der Armen, Schwachen und Kranken aufsuchen und hier durch Wort und That Trost und Hülfe bringen sollte. Man sagte ihr auch nach, daß sie keine Predigt versäume, daß sie Mitglied des Missions- und anderer frommen Vereine sei, und daß sie sogar in ihrem Hause mit gleichgesinnten Freunden und Freundinnen regelmäßige Betstunden halte. Hinzufügen muß ich noch, daß Fräulein v. K. nicht mehr jung ist, daß sie einige vierzig Jahre alt sein mag und einen eigenen Hausstand hielt, da sie weder im Orte noch sonst wo Verwandte haben sollte.

Die Verschiedenheit in der Lebensstellung dieser beiden Personen war zu groß, um die Ursachen, welche die Genossenschaft erzeugt haben mußten, mit Leichtigkeit aufzufinden. Die Persönlichkeiten der beiden Gefangenen waren mir zwar bekannt, ich war jedoch noch mit keiner in nähere Berührung gekommen. Mein Amt fesselte mich an das Haus. Und wenn ich ja eine freie Stunde erübrigen konnte, so benutzte ich diese, um mich im Kreise meiner Familie und mit dieser in einem Spaziergange durch Feld und Wald zu erholen. Namentlich war ich den Kreisen fern geblieben, in welchen sich Fräulein von K. bewegte. Ich hatte niemals ein Bedürfniß gefühlt, die Kirche außerhalb des Gefangenen-Hauses zu besuchen, oder an anderen religiösen Erbauungsstunden Theil zu nehmen; mir genügte der Gottesdienst in der Gemeinschaft der Gefangenen. Nach dem Verkehr mit sogenannten frommen Leuten hatte ich noch keine Sehnsucht gehabt, vielleicht deshalb nicht, weil ich in einer Reihe von Jahren schon mehrfach Gelegenheit gehabt hatte, den inneren Werth derselben kennen zu lernen. Die Erfahrungen, die in meiner Stellung gesammelt werden können und die ich gesammelt habe, führen zum Mißtrauen und zur Vorsicht. Im Gefängnisse hat der Schein und die Heuchelei ein Ende, wenigstens bietet das Frommthun dort keinen Deckmantel mehr für eigennützige Bestrebungen. Ich war genöthigt gewesen, Leute einzuschließen, die keine Predigt versäumt, die Augen stets nach oben gerichtet, und nur mit dem Gebetbüchlein in der Tasche Besuche gemacht, sich aber trotzdem nicht gescheut hatten, Unrecht zu thun, nicht nur die Gebote Gottes, sondern auch die Gesetze der Menschen zu übertreten und, des eigenen Vortheils wegen oder um eine vermeintliche Kränkung zu rächen, ihren Nächsten zu benachtheiligen und ihm wehe zu thun. Der allgemeine Ruf konnte mich daher niemals bestechen, ich suchte mich jederzeit selbst zu überzeugen, ob mein Gefangener zu der Classe der Heuchler und Scheinheiligen gehörte, oder nicht. In diesem Falle aber konnte ich eine gewisse Neugierde nicht unterdrücken. Zwischen beiden Gefangenen bestand eine Kluft, die nur ganz besondere und ganz außerordentliche Beweggründe ausgefüllt haben konnten.

Der Todtengräber H. erschien zuerst, und zwar in einem Zustande, der ihn mehr als halb besinnungslos machte. Seine Verhaftung war in einem öffentlichen Locale, in welchem er den größten Theil des Tages zu verkehren pflegte, erfolgt. Er zeigte sich auffallend gesprächig, aber confus und unverständlich. Das Raisonnement beschäftigte sich abwechselnd mit Einzelnheiten aus seinen früheren glücklichen Verhältnissen und dann wieder mit Vorwürfen, die er seiner verstorbenen Frau und einem „vornehmen Manne“ machte. Den Namen dieses Mannes nannte er nicht. Das Ganze waren indeß nur Bruchstücke, abgerissene Sätze ohne Verbindung und ohne Zusammenhang. Ich hörte lange Zeit mit großer Geduld zu, weil ich hoffte, irgendwelche Aufschlüsse zu erhalten, ich vermochte jedoch zu keinem Verständnisse zu kommen. Der Mann war jedenfalls geistig krank, vielleicht ohne eigene Verschuldung. [497] Es kam mir so vor, als habe er sich nur deshalb dem Trunke ergeben, um, wenn auch nur zeitweise, Vorwürfe zu betäuben, die er sich, oder auch, die er Anderen zu machen hatte. Für den Augenblick war mit ihm nicht zu verhandeln, ich mußte ihn einschließen und im Gefängnisse bis zur Ankunft des Untersuchungsrichters seinen Rausch ausschlafen lassen.

Fräulein von K. war nicht durch die Polizei, sondern durch einen Gerichtsbeamten verhaftet worden. Ich hatte ihrer Ankunft mit einer für mich ganz ungewöhnlichen Spannung entgegengesehen und mich auf Außerordentliches gefaßt gemacht. Meine Erwartungen blieben in diesem Falle nicht bei den täglichen Erfahrungen stehen, sie gingen über Wehklagen und Thränen hinaus und verirrten sich sogar bis zu Ohnmachten. Der Gefängnißbeamte darf sich von solchen Zufälligkeiten nicht überraschen lassen und nach den zur Beseitigung derselben nothwendigen Mitteln nicht lange zu suchen haben. Ich hatte mich indeß vollständig getäuscht. Fräulein v. K. hatte sich eines Wagens bedient, um den Weg von ihrer Wohnung bis nach dem Gefangenen-Hause zurückzulegen. Sie wollte vielleicht das Aufsehen des Fußtransports vermeiden, oder sie wollte die peinlichen Erwartungen bis zu ihrer Einschließung abkürzen. Bei ihrem Eintreten in mein Zimmer war sie vollständig ruhig. Aber das Gehen war langsam und schwer und das Aussehen verrieth eine große Ermattung, eine ungewöhnliche Schwäche. Das Aussteigen aus dem Wagen und das Gehen bis zu meinem Zimmer schien ihre Kräfte vollständig erschöpft zu haben; ich mußte sie sofort niedersetzen und ihr zur Erholung einige Zeit lassen. Der Gerichtsbeamte war bereits fortgegangen, ich befand mich mit der Gefangenen allein. Um diese nicht zu beunruhigen, nahm ich an meinem Arbeitstische Platz und wollte mich eben mit Schreiben beschäftigen, als ich meine Gefangene sagen hörte:

„Ach, Herr Inspector, haben Sie nur noch ein ganz klein Wenig Nachsicht. Ich bin schwer krank gewesen, ich war dem Tode nahe. Vor wenigen Tagen noch würde es mir nicht möglich geworden sein, meinen alten Körper hierher zu schleppen. Es geht aber jetzt besser, und ich hoffe, in Ihrem Hause bald vollständig gesund zu werden.“

„Soll ich den Arzt rufen lassen?“ fragte ich überrascht, aber theilnehmend.

„Nein, nein,“ fiel Fräulein v. K. mir rasch in’s Wort, „ich bedarf keines Arztes.“

„Aber Sie klagen über Unwohlsein.“

„Das hat jetzt nichts mehr zu bedeuten,“ versetzte die Gefangene lächelnd, „die Krankheit ist, Gott sei Dank, gehoben, ich habe an mir eine Parforce-Cur ausgeführt und jetzt nur noch ein wenig Schwäche zu überwinden. Von meinen Leiden während meiner Krankheit machen Sie sich keine Vorstellung, sie sind nicht zu beschreiben. Wissen Sie, Herr Inspector, was Todesangst ist?“

Diese Frage überraschte mich, ich konnte sie auch aus eigener Erfahrung nicht beantworten, denn ich war noch nie in eine Lage gekommen, in welcher mein Leben ernstlich gefährdet gewesen wäre. Dagegen hatte ich in meinem Amte schon mehrmals Verbrecher auf ihrem letzten Gange begleiten müssen. Ich hatte da gesehen, wie das trotzige Wesen schnell ein Ende nahm, wie die kälteste Härte weich und die freche Kraft gebrochen wurde, wie die Glieder zuckten und zitterten, der Körper den Halt verlor, daß er sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte, und wie zuletzt auch die geistige Kraft erlahmte. Allein ich hatte das nicht für Todesangst, sondern nur für Furcht gehalten, und zwar nicht für Furcht vor dem Tode, sondern vor dem, was nach dem Tode erwartet wurde. Sollte ich mich hierin geirrt haben? Sollte das wirklich der Ausdruck solcher Angst gewesen sein, von der Fräulein v. K. gesprochen hatte? Ich dachte hierüber nach und vergaß, eine Antwort zu geben. Mein Schweigen brachte die Gefangene auch nicht in Verlegenheit. Sie schien dies sogar nicht ungern zu sehen, denn sie fuhr nach einer kleinen Pause eifriger fort:

„Danken Sie dem lieben Gott, daß Sie nichts davon wissen; es ist ein entsetzlicher, ein grauenhafter Zustand. Wenn Sie ein wenig Zeit haben und mir Gehör schenken wollen, so will ich versuchen, Ihnen ein ungefähres Bild zu entwerfen. Sie müssen mir aber gestatten, etwas weit auszuholen und Sie zuerst ein wenig mit mir bekannt zu machen. Lassen Sie sich sagen, Herr Inspector, daß ich mir die Aufgabe gestellt habe, mich an Entbehrungen zu gewöhnen und meine Bedürfnisse auf ein geringes Maß einzuschränken, und daß ich dies deshalb thue, um mit den so gemachten Ersparnissen die Sorgen Anderer zu mindern. Ich kann ja in anderer Weise meinen Nebenmenschen mich nicht nützlich machen. In diesem Streben bin ich alt geworden und lange Zeit glücklich gewesen, denn ich sagte mir an jedem Abend, daß ich den Tag nicht umsonst verlebt habe.“

Man kann sich kaum eine Vorstellung von der liebenswürdigen Einfachheit machen, mit welcher Fräulein v. K. dies sagte. Es war ein Bekenntniß frei von jeder Heuchelei, es war der Ausdruck überzeugender Wahrhaftigkeit.

„Nicht wahr, lieber Inspector,“ begann die Gefangene nach einer kleinen Pause vertraulich weiter plaudernd, „bei solchen Grundsätzen und bei einer solchen Lebensstellung konnte und durfte ich erwarten, daß alle Menschen mit mir wenigstens freundlich sein würden? Ich habe ja mein Lebtage nichts gethan, wodurch Neid und Bosheit geweckt und genährt zu werden pflegen; ich habe auch wissentlich keinem Menschen wehe gethan oder eine Kränkung zugefügt. Die Menschen sind aber wunderliche Geschöpfe. Es ist Thorheit, durch Wohlthaten sich Freunde erwerben zu wollen. Der Eine empfängt nicht zur rechten Zeit, der Andere nicht in dem gewünschten Umfange, es werden immer Wünsche unerfüllt bleiben, und dies soll stets derjenige vertreten, von dem die Erfüllung des Wunsches begehrt worden ist. So ist es mir ergangen, ich habe diese Erfahrung gemacht. Ich überschüttete ein Frauenzimmer mit Wohlthaten, ich gab derselben weit mehr, als ich in meinen Verhältnissen geben durfte. Das Alles war aber nicht genug. Das Weib begehrte immer mehr, und als ich dies nicht gewähren konnte, da nahm es widerrechtlich was ich verweigert hatte. Als ich die Frau auf böser That ertappte, als ich sie durch das Gericht in die Strafanstalt bringen, als ich sie durch die Strafe für alle Zeit ehrlos machen, sie vor der Welt brandmarken konnte: da ließ ich mich durch Bitten, durch Thränen und Wehklagen bewegen, ihr zu verzeihen; ich nahm sogar nichts zurück, ich ließ ihr Alles, was sie mir gestohlen hatte. Und wissen Sie, wie diese Frau mir dankte? Sie beschloß, mich zu ermorden.“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

„Was?“ schrie Fräulein v. K. erregt, „Sie glauben mir nicht? Sie halten heut’ zu Tage eine solche Schändlichkeit nicht für möglich? Der liebe Gott möge es gnädig verhüten, daß Sie jemals den Glauben so in die Hände bekommen, wie dies bei mir der Fall gewesen ist. Ja, gewiß und wahrhaftig, die Frau hatte mir den Tod geschworen. Der Plan war teuflisch. Sie gebrauchte keine Gewalt, sie verwendete auch kein Gift; Gift und Gewalt hinterlassen Spuren, die zum Verräther werden. Das wußte die Frau. Darum griff sie auch zu einem andern Mittel, das eben so sicher, wenn auch langsam wirkt, dessen Gebrauch aber kein Mensch zu erweisen im Stande ist, dessen Vorhandensein vielleicht nur Wenige kennen. Sie gebrauchte – Sympathie!“

Ich lachte laut auf. Mord durch Sympathie! Das war für mich etwas Neues, zugleich aber auch etwas so unsinnig Komisches, daß ich nicht ernst bleiben konnte. War meine Gefangene schwachsinnig? Darüber sollte ich bald Gewißheit erhalten.

„Ich sage es ja,“ sagte Fräulein v. K., indem sie aufstand und sich dicht vor mich stellte, „Sie glauben mir nicht, vielleicht halten Sie mich sogar für verrückt oder von einer fixen Idee befangen, was am Ende dasselbe ist. Aber ich versichere hoch und theuer, daß ich bei vollem Verstande bin, daß kein Wahn mich befangen hält und daß ich Ihnen nur Erlebtes, thatsächlich Empfundenes mittheile. Hören Sie mir ruhig zu. Wollen Sie noch lachen, wenn ich fertig bin, so will ich Ihnen das in keiner Weise übel nehmen, ich hoffe aber, daß Sie von selbst davon zurückkommen werden.“

Meine Gefangene war vollständig ruhig, das Auge klar und rein, die Stimme fest; nichts wies auf eine Störung der Geisteskräfte hin. Und dennoch mußte das der Fall sein. Das kümmerte mich aber nicht; ich war es gewohnt, den Gefangenen als geistig krank anzusehen, ich machte darin keinen Unterschied und gab mir nur Mühe, den Sitz der Krankheit aufzufinden, um eine Heilung wenigstens versuchen zu können. Das Interesse war geweckt, die Neugier rege gemacht. Ich wollte bei meiner Gefangenen die schwache Seite auffinden, die angegriffen und verkümmert sein mußte, bekämpfte deshalb auch die Lachlust, und indem ich versuchte, die ernsthafteste Miene anzunehmen, veranlaßte ich Fräulein v. K., wieder Platz zu nehmen und in ihren Mittheilungen fortzufahren.

[498] „Die Frau,“ erzählte die Gefangene ruhig weiter, „die mich so abscheulich bestohlen hat, deren Namen ich nicht nennen mag, war etwa sechs Wochen von mir fort, da fühlte ich mich eines Tages plötzlich unwohl. Eine Veranlassung zu diesem Befinden war nicht vorhanden, denn ich lebe den einen Tag wie den andern, einfach und regelmäßig. Der Kopf, die Hände und die Füße waren mir mit einem Male eine Last geworden, namentlich die Füße, die ich kaum noch fortbringen konnte. Der Arzt, den ich rufen ließ, sagte mir, daß ich mich erkältet haben müsse. Mir wollte das nicht in den Kopf. Die verordneten Mittel hatten auch keine Wirkung, die Schwere oder die Ermattung nahm von Tag zu Tag zu. Ich fühlte ganz deutlich, wie jede Stunde einen Theil meiner Kräfte hinwegnahm, wie ich über sie in immer beschränkterem Maße verfügen konnte. Es war kein jähes Absterben, aber ein ruhiges, sich stets gleichbleibendes, unaufhaltsames Aufhören der Lebenskräfte. Der Geist blieb dabei gesund wie zuvor. Ich vermochte mit derselben Schärfe zu denken und zu urtheilen, ich erinnerte mich mit derselben Treue dessen, was ich vor Jahren erlebt und gelernt hatte, und lernte genau mit demselben Interesse und mit derselben Leichtigkeit das, was ich behalten wollte. Anfangs beruhigten mich die Versicherungen meines Arztes über die Ungefährlichkeit meines Zustandes. Als aber kein Mittel zur Besserung führte und ich nach einigen Wochen so weit gekommen war, daß ich nur noch gestützt mich aufrecht erhalten und kaum noch fortbewegen konnte, da lernte ich mich fürchten, nicht eigentlich vor dem Tode, sondern vor einem langen und qualvollen Krankenlager. Eine Freundin gab mir endlich ein Mittel an die Hand, das mich zur Erkenntniß meines Zustandes führen, die Ursache desselben mir bekannt machen sollte. Sie ertheilte mir den Rath, eine sogenannte kluge Frau um Rath zu fragen.

„Ach, bitte, bitte, unterbrechen Sie mich nicht,“ warf Fräulein v. K. ein, als ich Miene machte, hierauf etwas zu erwidern. „Ich berichte Ihnen nur Thatsachen und bin damit bald zu Ende. Nach einigem Widerstreben ließ ich mir die Frau zuführen. Ich übergehe den Hokuspokus, den die Frau mit mir vorzunehmen für gut fand, weil Sie dies doch nur lächerlich finden würden, und gebe daher nur das Resultat wieder.

‚Sie haben eine Feindin,‘ sagte die Frau, nachdem sie mit Aufmerksamkeit die vor mir ausgebreiteten Karten geprüft hatte. ‚Die Person steht tief unter Ihnen, aber sie sucht Ihnen Schaden zuzufügen. Herr Gott‘, schrie das Weib mit einer schrecklichen Stimme, ‚die Person will Ihren Tod! Das ist schändlich, das ist himmelschreiend! Ihre Krankheit, gnädiges Fräulein, ist durch diese Person erzeugt. Warten Sie, ich muß dahinter kommen. Ja, so ist es,‘ fuhr sie fort, nachdem sie einige Zeit mit verdoppelter Aufmerksamkeit die Karten übersehen hatte, ‚die Leiche hier sagt es mir deutlich. Sie müssen sterben, gnädiges Fräulein, wenn es Ihnen nicht gelingt, sich von dieser Leiche loszumachen. Da kann kein Doctor helfen, Sie selbst müssen sich Hülfe schaffen.‘ ‚Aber wie soll ich das thun?‘ fragte ich unwillkürlich. ‚Still, still,‘ erwiderte mir die Frau, ‚ich suche schon. Hier der Diebes-Junge und daneben der Galgen. Wie reimt sich das? Nun sehe ich klar,‘ begann die Frau nach einer kleinen Pause, in welcher sie mehrere Vergleichungen angestellt hatte. ‚Sie sind bestohlen worden. Der Dieb ist Ihre Feindin. Er will sich rächen, er will Ihr Leben, und um dies zu erreichen, hat er die gestohlenen Sachen zur Bekleidung der Leiche verwendet und dieser mit in das Grab gegeben. Das ist niederträchtig. Denn in demselben Verhältnisse, in welchem die Verwesung der so bekleideten Leiche unaufhaltsam vorwärts schreitet, vermindert sich auch Ihre Lebensfähigkeit, reifen Sie selbst für das Grab. Das ist Mord!‘ schrie das Weib mit einer so eigenthümlichen Gewalt, daß ich zusammenschreckte. Einige Minuten herrschte in dem Zimmer eine Grabesstille. Ich war unfähig, irgend etwas zu thun, während die Wahrsagerin regungslos vor dem Tische stand und die darauf ausgebreiteten Karten anstarrte.

Endlich sagte sie leise: ‚Sie müssen sich losreißen von der Todten, diese Bindung darf nicht länger fortdauern, sie muß sobald als möglich gelöst werden. Verschaffen Sie sich Ihr Eigenthum wieder, die Leiche darf davon nicht das Geringste behalten. In dem Augenblicke, in welchem auf diese Weise die sympathetische Gemeinschaft aufgehoben wird, werden Sie Ihre Gesundheit wieder erhalten, kein Haar wird Ihnen mehr wehe thun, Sie werden munter sein wie ein Fisch. Noch einen Fingerzeig will ich Ihnen geben. Es ist dies nöthig, damit Sie nicht vergeblich suchen und nicht fehlgreifen. Die Karten sagen, mir, daß die Leiche eine Blutsverwandte Ihrer Feindin ist.‘ Bei den letzten Worten raffte die Frau die Karten eiligst zusammen und schritt, ohne zu grüßen und ohne sich nach mir umzusehen, zur Thür hinaus.

Ich war allein, und zwar allein gelassen mit den wunderlichsten Gedanken, die es nur geben kann. Auf der einen Seite widersprach es meinen Grundsätzen, an derlei widernatürliche Dinge zu glauben, auf der andern Seite aber schien auf dem mir angedeuteten Wege das einzige Mittel zu meiner Rettung zu liegen; ich empfand Unwillen und sogar Abscheu vor dem Gebrauch dieses Mittels, und doch vermochte ich die Stimme nicht zum Schweigen zu bringen, die tief in meinem Innern mir unausgesetzt von Hoffnung redete. Es war ein Kampf, der mehrere Tage dauerte und meinen Zustand verschlimmerte. Die Hoffnung oder vielmehr die Liebe zum Leben trug endlich den Sieg davon. Ich hatte mir eingeredet, daß das Mittel untrüglich sei, und hielt mich daran fest, wie der Ertrinkende an den Strohhalm. Dem Entschlusse folgte die Ausführung auf dem Fuße. Der Todtengräber, den ich zu mir kommen ließ, bestätigte mir zunächst, daß genau zu derselben Zeit, in welche die Entstehung meines Krankseins fiel, eine Verwandte meiner Feindin beerdigt worden war; er bestätigte aber auch, daß mein Leben gefährdet sei, wenn die Leiche Sachen, die ich getragen, mit in das Grab erhalten habe. Meine Bitten um Oeffnung des Grabes lehnte er lange Zeit mit Entschiedenheit ab, und erst, als ich eine ansehnliche Summe Geld als Entschädigung bot, sagte er zu.

Damals dachte ich nicht entfernt daran, daß ich etwas Unerlaubtes und Strafbares forderte, daß ein Dritter die mir gehörigen Sachen nicht aufzufinden im Stande war und daß ich daher selbst mich bei der Handlung betheiligen müsse, weil das Verbleiben auch nur eines Gegenstandes die geheimnißvolle Verbindung ja nicht auflösen sollte. Allein ich schreckte vor meinem Vorhaben auch nicht zurück, als ich bei einer späteren Unterredung mit dem Todtengräber von der Nothwendigkeit meiner Gegenwart und möglicherweise auch meines Thätigseins bei der Ausführung des Unternehmens überzeugt und als ich gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht wurde, daß das Oeffnen des Grabes und die Wegnahme der Sachen heimlich, das heißt zur Nachtzeit, bewirkt werden müsse, weil kein Mensch davon Kenntniß erhalten dürfe. Ich suchte nur Hülfe, nur Rettung, denn mein Zustand hatte sich inzwischen so verschlechtert, daß ich nicht mehr gehen, nicht einmal mehr stehen und auch die Hände nicht mehr gebrauchen konnte. In diesen Tagen lernte ich die Todesangst kennen.

An dem verabredeten Abend ließ ich mich erst in die Wohnung des Todtengräbers und von da nach dem Friedhofe tragen. Es war eine wundervolle Nacht, kalt zwar, aber ruhig und fast tageshell, der Himmel wolkenleer und mit Millionen Sternen besät. Die tiefe Stille auf dem Friedhofe hatte für mich nichts Schauerliches, das bereits geöffnete Grab nichts Abschreckendes, meine volle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Sarg, der noch geschlossen war und dessen Oeffnung ich mit einer Spannung entgegensah, welche meine gesammten geistigen Kräfte in Anspruch nahm. Ich war keines Wortes, keines Gedankens mächtig, regungslos saß ich am Rande des Grabes und starrte auf den Sarg hernieder.

Nach vielfachen vergeblichen Anstrengungen des Todtengräbers fiel endlich der festgenagelte Deckel polternd zur Seite herab, die Leiche lag bloß vor meinen Augen. Ein jäher Schreck durchzuckte jedes meiner Glieder. Dies Gefühl war aber so schnell vorübergehend, daß es kaum eine Secunde ausfüllte. Und doch übte dasselbe auf mich eine außerordentliche, eine wunderbare Wirkung. Vergessen Sie nicht, Herr Inspector, daß ich bis zu diesem Augenblicke weder Hände noch Füße gebrauchen konnte. Der Anblick der Leiche riß mich mit gewaltiger Kraft von meinem Sitze in die Höhe; ich trat näher an den Rand des Grabes heran, ich beugte mich sogar in dasselbe hinab, um genauer sehen zu können, bezeichnete dem Todtengräber jeden einzelnen Gegenstand, der früher mir gehört hatte und den dieser der Leiche wegnehmen mußte, und nahm diese Sachen, so wie sie mir gereicht wurden, fest in meine Hände und in meine Arme. Ich war im Stande, mich in dieser unbequemen Stellung zu erhalten, mich ohne Hülfe aufzurichten, aufrecht zu stehen und fortzubewegen; ich war im Stande, die Hände zu gebrauchen, nicht nur damit festzuhalten, sondern [499] auch eine Last zu tragen; ich fühlte mich nicht mehr schwach, meine alten Knochen waren nur noch ungelenk und steif, sonst aber wieder kräftig geworden; ich drückte die alten, schmutzigen und werthlosen Kleidungsstücke fest an meine Brust, und ein Gefühl unaussprechlichen Wohlthuns und Behagens durchschauerte mich, als ich ohne Stütze aus dem Friedhofe hinausschritt und in meine Wohnung zurückzukommen suchte.

Die Verbindung zwischen mir und der Leiche ist gelöst, die sympathische Gemeinschaft aufgehoben, ich bin von da ab wieder gesund. Aber ich bin eine Verbrecherin geworden. Indem ich mich aus Liebe zum Leben von der Leiche losriß, verwirkte ich das Zuchthaus, denn ich verleitete den in Eid und Pflicht stehenden Todtengräber durch eine Summe Geldes zu einer Handlung, die eine Verletzung seiner amtlichen Pflicht enthält und mit Zuchthaus gestraft wird. Ich weiß jetzt, daß ich Theilnehmerin an dieser Handlung bin und daß mich als solche dieselbe Strafe trifft, die der Hauptthäter zu gewärtigen hat. Glauben Sie nicht, Herr Inspector, daß die Zukunft des von mir verführten Mannes mir gleichgültig ist und daß ich mich über meine eigene Zukunft einer Täuschung hingebe; ich fühle schwer, daß ich eine große Schuld auf mich genommen habe. Allein ich bin in meinem Gewissen ruhig, ich habe nichts Böses gewollt, nichts Ehrloses verübt. Der liebe Gott und die Menschen werden mein Unrecht milder beurtheilen und ich werde mir Mühe geben, dasselbe gut zu machen. Aber mein lieber Inspector,“ unterbrach Fräulein v. K. ihre Mittheilung, „Sie lachen ja nicht. Nicht wahr, Erlebnisse solcher Art sind doch zu ernst, um lächerlich gefunden zu werden?“

Das waren sie auch in der That, nur in anderer Weise, als die Gefangene meinte. Ich hielt diese wie alle meine Gefangenen für geistig krank, sogar für schwer krank. Der Aberglaube wurzelt tief, wo er überhaupt Wurzeln schlägt, und diese bis auf die letzte Faser herauszureißen macht nicht nur ungewöhnliche Kräfte, sondern auch beharrliche und unermüdliche Ausdauer in der Verwendung dieser Kräfte nothwendig. Daß der Aberglaube zu den beklagenswerthesten und zu den traurigsten Verirrungen führt, war mir natürlich bekannt, innerhalb des Gefangenenhauses aber hatte ich mit dieser Art geistiger Befangenheit noch nicht zu thun gehabt, und ich würde dieselbe im Jahre 1865 auch gar nicht für möglich gehalten haben, wenn mir Fräulein v. K. nicht gegenüber gestanden und wenn ich das Bekenntniß nicht aus ihrem Munde vernommen hätte. Die Heilung dieser Krankheit schien äußerst schwierig zu sein; ich wollte sie aber dennoch versuchen, ich wollte die Thatsachen nicht in Zweifel ziehen, mir nur Mühe geben, den natürlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nachzuweisen. Erst aber sollte die Patientin einige Tage hinter Schloß und Riegel verweilen; ich hoffte dann leichtere Arbeit zu finden.

Der Todtengräber hatte am Nachmittag seinen Rausch ausgeschlafen. Er war vollständig nüchtern, ich konnte mit ihm über seine Angelegenheiten sprechen. Der Ruf dieses Mannes war, wie ich bereits erwähnte, schlecht. Man hielt ihn allgemein für einen sittlich verwahrlosten Menschen, man sagte auch, daß er durch eigene Verschuldung in seine bedauerlichen Verhältnisse gekommen sei. Ich suchte ihn auf, um ihm eine Strafpredigt zu halten, und hatte mir vorgenommen, ihn tüchtig abzukanzeln. Dazu kam es jedoch nicht. Der Mann erwies sich besser als sein Ruf.

„Ach, Herr Inspector,“ redete er mich bei meinem Eintreten an, „es ist gut, daß Sie kommen, die Zeit ist mir schon erschrecklich lang geworden. Was wollen Sie denn mit mir altem Kerl eigentlich anfangen? Lassen Sie mich wieder laufen. Es ist ja nicht so sehr schlimm, was ich gethan habe, ich habe es ja auch nicht in böser Absicht gethan, obgleich ich dazu allen Grund gehabt hätte. Sehen Sie, Herr Inspector, der Vater des alten Fräuleins hat mir mein Weib verführt und mich dadurch elend gemacht. Ich hätte also Ursache gehabt, mich zu rächen, ich hätte die Schuld des Vaters an das Kind zurückzahlen können. Weiß Gott, ich wollte das auch thun. Als ich aber sah, wie elend das Kind bereits war, da wurde es in meiner Brust lebendig; das Mitleid kehrte ein, ich entsagte der Rache und versprach zu helfen.“

„Hat nicht das Geld Sie dazu bestimmt?“ fragte ich, als der Gefangene eine Pause machte.

„Das Geld?“ versetzte er, „nein, das hat es nicht gethan. Halten Sie mich für einen Lump, der ich auch bin, aber halten Sie mich nicht für schlecht. Ich habe das Geld allerdings angenommen, ich dachte dabei an meine arme kranke Schwester und an ihre hungernden Kinder, ich dachte, daß denselben mit dem Gelde ein Theil ihrer Noth und Sorge abgenommen werden könnte und daß das alte Fräulein den Verlust nicht besonders empfinden würde. Das Alles bestimmte mich, das Geld nicht zurückzuweisen.“

„Versprachen Sie sich denn einen Erfolg?“ fragte ich, um auch in dieser Richtung auszuforschen.

„Weiß Gott, nein; ich hielt das Ganze für Unsinn, aber ich dachte, daß vielleicht Angst und Schreck dem Fräulein wieder auf die Beine helfen könnten.“

„Und das Geld, wo ist das geblieben?“

„Das hat von Heller zu Pfennig meine Schwester erhalten. Ach, wie glücklich war sie!“

Der alte Mann sagte das mit nassen Augen. Konnte ich ihm Vorwürfe machen? – Ich ging still aus der Zelle hinaus und schloß still hinter mir zu.

Die Strafe war für beide Gefangene eine milde. Bei dem offenen Geständnisse derselben wurde ohne Zuziehung der Geschworenen verhandelt und von der Staatsanwaltschaft und dem Gerichtshofe das Vorhandensein mildernder Umstände angenommen. Ich behielt die Gefangenen vom Tage ihrer Verurtheilung noch sechs Monate in Gewahrsam, arbeitete rüstig und unausgesetzt an ihrer Bekehrung und wurde darin auch von dem Anstalts-Geistlichen unterstützt. Ob aber die Cur gelungen ist, darüber habe ich keine Gewißheit erhalten können.




Noch einmal vom Langensalzaer Schlachtfelde.


Der Frieden ist vor der Thür, der Krieg von „sieben Tagen“, der dennoch gewaltiger und blutiger war, als jener andere von sieben Jahren, beendet, auch der Bruderkampf im Süden und Südwesten scheint ausgekämpft, die Brust athmet wieder leichter, daß Zündnadel und Kanone, Schwert und Säbel, Bajonnet und Lanze nun ihre Mordarbeit einstellen, die über so viele deutsche Häuser und Herzen eine unsägliche Fluth des Jammers ergossen hat. „Werden nun,“ fragt jetzt jeder deutsche Mann, „die Resultate des Krieges, des leidigen deutschen Bruderkrieges werth sein der furchtbaren Opfer, die er gefordert hat; werden die politischen Ergebnisse dieses entsetzlichen Kampfes, der so viele bewunderungswürdige Thaten des Heldenmuthes aufzuweisen hat, Deutschland und seiner nationalen Entwickelung und Erstarkung wahrhaft und ausgiebig zu Gute kommen? Werden die „Diplomatiker“, wie der alte Marschall Vorwärts sagte, nicht verderben, was die Schwerter errungen haben? Wir wollen dies nicht fürchten, ob auch dieser und jener Zweifel das Gemüth beschleichen will, wir wollen nur dem sehnlichen, dem wohlbegründeten Wunsche Ausdruck leihen, daß die blutige Saat die Früchte trage, welche das deutsche Volk in seiner Opferfreudigkeit und nach solchen Beschwerden und Leiden zu erwarten berechtigt ist; daß die lang erstrebte Neugestaltung Deutschlands, d. h. die von allen Patrioten ersehnte Einheit, erreicht werde und die Phrase, die bei allen Friedensschlüssen stereotyp zu sein pflegt, „auf ewige Zeiten“ einmal in Wahrheit sich erfüllen möge.

Die nächsten Wochen werden hoffentlich unsern zagenden Herzen darüber Beruhigung bringen; inzwischen aber wird die Gartenlaube fortfahren, von den zahlreichen Beweisen deutscher Tapferkeit und den denkwürdigen Episoden und Einzelzügen, welche den gegenwärtigen Krieg charakterisiren, einerlei ob unter schwarz-gelber oder unter schwarz-weißer Fahne, zur Kenntniß auch späterer Geschlechter zu verzeichnen, was ihr Zuverlässiges darüber gemeldet wird. Dies wird sie rechtfertigen, wenn sie im Nachstehenden noch einmal auf die Schlacht von Langensalza zurückkommt.

[500]

Von und auf dem Langensalzaer Schlachtfelde.
Nach Mittheilungen von Augenzeugen und nach der Natur aufgenommen von A. Sundblad.
Einzug des Königs. Rückansicht von Merzleben. Quartier d. Königs.
Tod des Rittmeister Einem. Kampf a. d. Unstrut. Audienz Zimer.
Kallenberger Mühle. Sturm aufs Carré der 20er Landwehr. Leichenbegängniss.
X. A. v. W. Aarland.

[501] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [502] Ja, es war ein entsetzliches Blutbad jene kleine, aber mörderische Schlacht bei Langensalza, in welcher die hannoversche Armee mit staunenswerther Opferwilligkeit und todesmuthiger Erbitterung, wenn auch erfolglos, gegen die Bravour der Preußen kämpfte.

Einzelne Vorspiele leiteten das blutige Drama ein, und wir erzählen diese zum Theil selbst scherzhaften Einzelheiten, wie wir sie theils selbst erlebt, theils aus dem Munde wahrheitsgetreuer Augenzeugen vernommen haben. – Mehrere gothaische Dörfer wurden hier von den Hannoveranern, dort von den Preußen verbarricadirt. In Remstädt hatte man die Kirche zu einem Castell gemacht. Die Häuser waren mit Schießscharten durchbrochen, die Straßen mit Kanonen gespickt. In Warza, dem nachmaligen Nachtquartier des Generals von Flies, hatte vorher eine Escadron preußischer Dragoner gelegen, welche der Rittmeister v. Wydenbruck führte. Damals waren die Uebergänge über die thüringische Eisenbahn nur schwach besetzt und es wäre den Hannoveranern ein Leichtes gewesen, zwischen Gotha und Eisenach nach dem Thüringer Walde und Baiern durchzubrechen. Um nun die Hannoveraner über die Stärke der preußischen Truppenmacht zu täuschen, nahm Herr von Wydenbruck zu einer originellen Kriegslist seine Zuflucht. Er schickte einzelne Patrouillen in die umliegenden Ortschaften und ließ überall starke preußische Einquartierung ansagen. Auf diese Weise hatte er sechsunddreißigtausend Mann untergebracht, obschon nicht so viele Hunderte in der Nähe waren. Die Schultheißen wurden sogar angewiesen, die Anzahl der zu erwartenden Mannschaften an die Thür zu schreiben. Da nun dieselben Dörfer auch von hannoverschen Patrouillen durchschwärmt wurden, so hörten und sahen diese mit Erstaunen, welche Macht ihnen gegenüberstehe. Schleunigst rapportirten sie diese Kunde in’s Hauptquartier. Und – die Hannoveraner zogen sich vor den Zahlen des Herrn von Wydenbruck nach Langensalza zurück.

Einer dieser Wydenbruck’schen Landwehrdragoner war auf eine feindliche Vedette gestoßen. Als er davon Meldung machte, ward er gefragt, ob er mit derselben handgemein geworden. Er verneinte es. „Und warum nicht?“ „Weil mir,“ entgegnete er treuherzig, „der Hannoveraner zurief: ‚Bruder, schieß nicht! Komm’, wir wollen einmal trinken!‘“ Darauf hätten sie sich die Hände gereicht und mit einander getrunken. Die Soldaten lachten. Der Rittmeister aber rief erzürnt: „Freiwillige vor!“ Sofort meldeten sich ein Wachtmeister, ein Unterofficier und vier Gemeine, die mit den besten Pferden versehen waren und dem Wäldchen zugeschickt wurden, an dem jener Vorposten gestanden. Nach anderthalb Stunden kehrte der Wachtmeister allein zurück. „Und die Andern?“ „Alle gefangen und Einer gestürzt.“ „Warum sind Sie zu weit vorgegangen?“ „Weil ich die Leute nicht halten konnte. Sie wollten die Scharte ihres trinklustigen Cameraden auswetzen.“ – Dieser aber sagte mit unerschütterlicher Seelenruhe: „Na, das hat man davon, wenn man zu hitzig ist.“ –

In Neukirchen, einem Dorfe bei Eisenach, hatten sich hannoversche Husaren, von den ungeheuern Strapazen der letzten Tage und Nächte übermannt, in einen Bauernhof zurückgezogen, um ein Stündchen zu rasten. Sie waren in einen tiefen Schlaf verfallen. Währenddessen näherte sich eine preußische Patrouille. Als sie vor dem Dorfe erfuhr, daß alle Häuser von Hannoveranern besetzt seien, schlich sich der Anführer, seine Cameraden zurücklassend, in jenen Bauernhof, zunächst der Straße, zog zwei hannoversche Pferde, gesattelt und gezäumt, aus dem Stalle und sprengte mit ihnen davon. Kurz darauf ward Alarm geblasen. Die Hannoveraner erwachten. Wie sie sich aber auch die Augen rieben, ihre Pferde waren fort. Dagegen mußte ein preußischer Corporal, der, um auch eine Heldenthat zu verrichten, oder um die Prämie zu verdienen, womit das Einbringen eines feindlichen Pferdes gelohnt wird, drei kostbare Thiere, die er einem hannoverschen Officier, welcher in Tonna am Fieber darniederlag, trotz aller Proteste entführte, auf Befehl des preußischen Commandos zurückbringen und besah statt der Prämie einen Wischer, den ihm Alle gönnten. –

In der Hitze des Gefechts kämpften, sogar Freunde gegen Freunde, von der Aehnlichkeit der beiderseitigen Uniformen getäuscht. In einem Einzelgefecht zwischen preußischen Landwehr-Husaren und hannover’schen Dragonern sprengten zwei Reiter schnurstracks dem preußischen Zugführer zu. Der vordere, ein Preuße von der Ersatz-Husaren-Escadron, schien von dem hinteren, den man für einen rothuniformirten Hannoveraner hielt, verfolgt zu werden. Flugs zückte der Zugführer seinen Säbel und spaltete dem vermeintlichen Feinde die Stirn. Mit dem gellenden Rufe: „Herr Rittmeister, das hab’ ich nicht verdient!“ stürzte der Unglückliche von seinem Schimmel, der, wie sein Reiter, von Blut überströmt war. „Mein Gott, Richter, bist Du es?“ riefen die nahen Cameraden dem Gefallenen zu, der von den Feinden hart zerfetzt und zurückgedrängt worden war. Die blutenden Wunden hatten seine blaue Uniform geröthet und sein Gesicht unkenntlich gemacht. Er konnte nicht mehr antworten und hörte es nicht, als der Rittmeister, tief erschüttert, ihm zurief: „Für Dein Weib und Deine Kinder will ich sorgen.“ Das Gefecht drängte vorwärts. Richter ward in die Todtenliste eingetragen. Nach mehreren Tagen aber fand man ihn in einem Lazareth zu Langensalza, wohin die Hannoveraner den Schwerblessirten gerettet hatten. Wider alles Erwarten lebte er noch und ist jetzt auf dem Wege der Genesung, obgleich er die blutigen Denkzettel an die Langensalzaer Schlacht lebenslang mit sich tragen wird. –

„Ach, wenn alle Kugeln und alle Hiebe getroffen hätten,“ erklärte ein rückkehrender Preuße, „so wäre kein Einziger davongekommen; hüben und drüben,“ und dabei zeigte er sein durchstochenes Lederzeug und seine zerfetzte Montur, acht Kugeln hatten ihn gestreift und keine einzige verletzt. –

Der Trompeter Henne von der Ersatz-Husaren-Escadron stößt auf einen Wagen, der mit zwölf hannover’schen Infanteristen, alle gesund und bewaffnet, wenn auch von der Hitze des Tages erschöpft, besetzt ist. Daneben reitet ein hannover’scher Dragoner. Tollkühn herrscht mit drohendem Carabiner der Preuße den Hannoveranern zu: „Ergebt Euch!“ und geberdet sich, als ob er seine Schwadron, die aber nirgends zu hören und zu sehen ist, zu Hülfe rufe. Die Feinde stutzen. Bevor sie aber zur Besinnung kommen, hat der Trompeter den Dragoner entwaffnet und fordert die friedlichen Bürger, die gaffend in der Nähe stehen, gebieterisch auf, die Hannoveraner zu packen. Der Wagen wird angehalten. Ehe sie sich’s versehen, sind ihnen die Gewehre abgenommen und im Triumph führt der Trompeter seine dreizehn Gefangenen dem Oberst von Fabeck zu, der soeben mit den gothaischen Truppen vorüberzieht. Für diese muthige That ist ihm ein Theil der Summe zuerkannt worden, die ein sächsischer Patriot zur Anerkennung ausgezeichneter Dienste den Preußen zur Verfügung gestellt hat. –

Die Schlacht hat ausgetobt. Der Abend dämmert. Da reitet Georg, „der Streitbare“, mit dem Kronprinzen über die blutige Wahlstatt, die seine tapfern Truppen behauptet. Er sieht sie nicht, die Gräuel der Verwüstung; sein Roß wird sorgsam um die Leichen herumgeführt, die mit stieren Augen und klaffenden Wunden die Felder bedecken. Aber er hört das Aechzen und Stöhnen der Verwundeten, der Sterbenden; er hört die haarsträubenden Berichte seines Sohnes und seiner Umgebung, und seine lichtlosen Augen füllen sich mit Thränen. „Ja, Majestät,“ sagte ein bärtiger Sergeant, der beigerufen wurde, diese Berichte zu ergänzen, „die Hannoveraner haben ihre Schuldigkeit gethan, aber die Unstrut ist von unserm Blut geröthet und viele, viele brave Cameraden stehen nicht wieder auf.“ Da wendete sich der König schweigend ab und befahl, in die wiederbesetzte Stadt zu reiten.

Hier schallten ihm die Siegesfanfaren seiner Regimentmusik entgegen, die mit klingendem Spiel durch die Straßen zog, allein bei jeder weißen Fahne pausirte, um den Kranken, die hinter dieser Fahne ächzten, nicht wehe zu thun. Nun mochte sein Welfenstolz wieder erwachen, denn er gedachte, am andern Tage den Kampf zu erneuern. Der Kronprinz soll vor ihm niedergefallen sein und ihn beschworen haben, von diesem verzweifelten Vorhaben abzustehen. Auch mehrere der Stabsofficiere sollen ihre Bitten und Vorstellungen mit denen des Kronprinzen vereinigt haben; leider aber war der König nicht zu überzeugen.

Draußen aber, auf dem Schlachtfeld, wo der Tod in den Reihen der Feinde und der Freunde eine so grausige Ernte gehalten, – nein, wir wollen diese Jammerscenen mit einem dichten Schleier bedecken. O, der Krieg, auch der siegreichste, ist eine schreiende Satire auf unsere vielgerühmte Civilisation, ist ein entsetzliches Ungeheuer, das, wenn einmal entfesselt, mit vampyrartiger Gier das Mark der Volkswohlfahrt aussaugt!

Schon wühlen geschäftige Hände flache Gruben aus, in welche Freunde und Feinde, kaum erkaltet und vielleicht noch athmend, truppweise nebeneinander gebettet werden. Dort ragt noch ein [503] Arm, hier noch ein Fuß heraus, aber Niemand kennt die Namen derer, die hier modern. Hätte nicht der Himmel nach dem heißen Schlachttag anhaltende Regengüsse und rauhe Stürme gesendet, die ganze Umgegend würde von den ausströmenden Miasmen verpestet worden sein.

Tage lang irren Väter und Mütter, irren Wittwen und Waisen auf dem zerstampften Todtenfelde umher und suchen das Grab ihrer Söhne, ihrer Gatten, ihrer Väter. Doch fast alle Fragen werden mit einem stummen Kopfschütteln beantwortet. Einem liebenden Herzen aber mag es gelungen sein, die Ruhestätte zu finden, die das theure Leben birgt. Denn auf einem niedrigen Hügel außerhalb der Kirchhofsmauer zu Merxleben liegt ein welker Kranz mit einem Zettel, darauf mit zitternder Hand geschrieben: „Es ist bestimmt in Gottes Rath, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden.“ Ist es nicht eine beredtere, rührendere Grabschrift, als der prunkendste Leichenstein? Das umfänglichste Grab, welches die hannover’schen Pioniere aufwarfen, ist auf dem Friedhofe zu Merxleben. Wir wissen es nicht, wie Viele darin ruhen. Unvergeßlich aber wird uns der Abend bleiben, an welchem die Gefallenen hier gebettet wurden.

Der Mond schien so hell und die Militärmusik blies einen so feierlichen Choral und der Geistliche hielt eine so ergreifende Rede, aber in der nahen Kirche, die zu einem Lazareth umgewandelt, jammerten die Verwundeten und rings umher schluchzte das Volk, und auf dem Schlachtfeld, das so friedlich zu Füßen lag, schlich das Raubgesindel umher, das, wie Bienenschwärme, aus allen benachbarten Orten herbeigeströmt war und die Leichen, ja die Verwundeten auf dem Schlachtfelde plünderte. Die hochgewachsenen Raps- und Getreidefelder begünstigten ihre finsteren Thaten, erschwerten aber auch das Auffinden der Leichen und die Rettung der Blessirten. Noch am sechsten Tage nach der Schlacht ward ein Verwundeter in einem Kornfeld gefunden. Er hatte seine Wunden mit feuchtem Gras verbunden und sein Leben mit halbreifen Roggenähren gefristet, während der strömende Regen seine lechzende Zunge erquickte. Man trug ihn behutsam in’s Lazareth. Nachdem man ihm aber einige Tropfen Branntwein eingeflößt hatte, verschied er. Ein Anderer (Hannoveraner) hatte anderthalb Tage in der Unstrut gelegen, doch so, daß der Oberkörper auf dem flachen Ufer ruhte, als man ihn bewußtlos auffand. Schon hatten sich gefräßige Maden in seiner Kopfwunde eingenistet. Da er jedoch noch schwache Lebenszeichen von sich gab, wurde er stundenlang frottirt, bis er zum Bewußtsein erwachte. Und siehe, die norddeutsche Kernnatur erholte sich in wunderbarer Weise. Nach wenigen Tagen rauchte der Genesende seine Cigarre. Wie er aber in die Unstrut gekommen und wie lange er darin gelegen, das wußte er nicht. –

Aus dem Garten des Heynemann’schen Kaffeehauses in Langensalza, das voller Verwundeter liegt, drang plötzlich ein wilder Schrei. Wir eilten dahin. Ein markerschütternder Anblick! Halb emporgerichtet sitzt auf einem Bette, das man in die offene Kegelbahn gestellt hat, der Dragonercorporal Hartmann aus Nordheim. Sein Schädel ist gespalten, so daß die Gehirnmasse ausfließt. Er aber stiert mit den Blicken des Wahnsinns umher, bald lachend, daß es durch die Seele schneidet, bald thierische Töne ausstoßend, bald sentimentale Lieder singend. Und daneben – kniet seine Braut, mit der er sieben Jahre verlobt ist, und hält seine eiskalte Hand und ruft mit herzzerreißender Zärtlichkeit seinen Namen. Da flüstert er: „Anna!“ Aber es ist nur ein Moment des Bewußtseins. Sofort überschattet ihn wieder der Irrsinn. Ein Geistlicher, der zur Seite steht, will die Braut trösten, und ermahnt sie zum Gebete. „Beten?“ zürnt sie, „hab’ ich’s nicht Tag und Nacht gethan, seitdem er fortging? Aber hat denn mein Beten geholfen?“ Der Arme starb. Die Braut nahm seine Leiche mit sich in die Heimath. Tief ergriffen kehrten wir in’s Haus zurück. Aber auch dort erwartete uns eine nicht minder ergreifende Scene.

Ein preußischer Soldat beugte sich über ein Bett, worin ein Hannoveraner mit schon halbgebrochenen Augen schmerzlich röchelte. „Lieber Bruder,“ stammelte er, „hab’s wahrlich nicht gern gethan, aber siehe, Du hast es nicht anders gewollt, und wenn Du sterben mußt, thut’s mir im Herzen weh. Die böse Kugel! Kannst Du mir verzeihen?“ Und der Sterbende drückte ihm leise die Hand. Ein Blutstrom entquoll seinen Lippen. „Grüß’ meine Frau!“ lispelte er und hatte ausgelitten. Beide, bis dahin einander fremd, waren auf dem Schlachtfeld zusammengestoßen. „Camerad, ergieb Dich!“ hatte der Preuße ihm zugerufen. „Wozu uns tödten, da wir deutsche Brüder sind!“ – „Darf’s nicht, Camerad! Alles, was ich habe, sei Dein“ – und damit hielt er ihm seine Geldbörse entgegen – „aber meinem König hab’ ich Treue geschworen, und die muß ich halten.“ Und so haute er auf ihn ein. Der Preuße aber schoß ihn durch die Brust. Im Lazareth, wo sie sich wieder erkannten, waren sie die besten Freunde geworden. Allein die Tage des Hannoveraners waren gezählt. Wir hatten seinen letzten Kampf gesehen und hörten nun die bittern Selbstanklagen seines befreundeten Widersachers, der sich von der Leiche nicht trennen wollte. Endlich richtete er sich in die Höhe und sprach: „Ich bin wieder gesund. Aber wahrlich, wenn sie mich abermals in den Krieg schleppen wollen, so thu’ ich’s nicht, mag daraus werden, was da will. Mein Gewissen hat an einem Brudermord genug zu tragen.“ Und er schlug die Hände vor’s Gesicht und schluchzte.

Horch! Da dröhnte eine dumpfe Salve herüber – noch eine – und die dritte. Schon wieder hatten sie einen Todten auf den Gottesacker getragen und ihm die letzte Ehre erwiesen, gleichviel ob Feind oder Freund. Der Tod hielt in den Lazarethen, trotz der sorglichsten Pflege, eine entsetzlich reiche Ernte. Er trat häufig in der Form eines Starrkrampfes an seine Opfer heran, wenn sie schon einer sichern Genesung entgegensahen.

Die hannoversche Armee war abgezogen, nach einer siegreichen Schlacht als Besiegte. Ihre Rolle war ausgespielt. Am zweiten Morgen nach dem heißen Kampfe war ein hannoverscher Soldat auf die Kanzel der Kirche gestiegen, worin man die preußischen Gefangenen eingepfercht, und hatte gerufen: „Brüder, unsere Könige haben Frieden geschlossen; ihr seid frei!“ Als aber die Capitulationsbedingungen ruchbar wurden, ging ein lautes Murren und eine tiefe Erbitterung durch die Reihen der hannoverschen Truppen. Und da sie nun abmarschirten, ohne klingendes Spiel, ohne Wehr und Waffen, selbst ohne Mäntel und Käppis: es war die ergreifendste Scene des tragischen Kriegszugs. Einzelne Officiere wendeten sich ab, und eine zornige Schamröthe überflog ihr Gesicht; andere knirschten mit den Zähnen, andere konnten sich der Thränen nicht erwehren, und einer soll sogar im Uebermaße des Schmerzes seinem Leben, das die feindlichen Kugeln verschont hatten, mit eigener Hand ein Ende gemacht haben.




Blätter und Blüthen.


Die amerikanischen Dampf-Fähren. Wer zum ersten Male eine amerikanische Dampf-Fähre mit ihren elastischen Docks sieht, dem fällt das Ei des Columbus ein. Hier sind auf eine wunderbar einfache Weise verschiedene mechanische Schwierigkeiten überwunden, auf eine so einfache, daß Jeder denken möchte, eine solche Aufgabe hätte er auch wohl lösen können, bis er bei näherer Ueberlegung findet, daß Genie nicht geringen Grades dazu gehört hat, die Sache zum ersten Male zu unternehmen.

Die mächtigen Ströme Amerikas können entweder gar nicht, oder nur mit ungeheuren Kosten überbrückt werden; selbst an Stellen, wo dem Brückenbau keine übermäßigen natürlichen Hindernisse entgegentreten, verbietet sich derselbe durch eine höchst lebhafte Schifffahrt. Die Aufgabe war also, an Stelle der Brücken überall da, wo der Verkehr quer über den Strom lebhaft ist, das nach einer Brücke nächstbeste Beförderungsmittel herzustellen. Es galt, Dampfboote zu erdenken, welche Schnellsegler wären, mit dem geringsten Zeitverlust beladen und entladen werden und im Verhältniß zur Tonnenzahl die größtmögliche Geräumigkeit bieten könnten; Dampfboote, welche zu jeder Landung und Abfahrt nicht mehr als zwei bis drei Minuten Zeit brauchten, während alle anderen damit oft halbe Stunden verschwenden, ganz ungerechnet den Zeitverlust beim Ein- und Ausladen der Güter, welche also im Lauf einer Stunde vier bis sechs Fahrten quer über einen oft eine Viertelstunde und darüber breiten, reißenden Strom machen und welche auf jeder Fahrt tausend und mehr Personen und zehn oder mehr beladene und bespannte Wagen befördern könnten, also im Laufe eines Tages fünfzig- bis hunderttausend Personen und fünfhundert bis eintausend solche Wagen. Dabei mußten die Frachtkosten sehr gering sein, um den Verkehr auf diese Art allgemein willkommen zu machen, und es müße eine fast vollkommene Sicherheit für Leben und Eigenthum erzielt werden.

Die Aufgabe ist, wie gesagt auf wunderbar einfache Weise gelöst. Das Dampffährboot ist scharf, wie jeder Schnellsegler, gebaut, und zwar vorn und hinten scharf, denn es giebt daran kein Vorn und Hinten, sie segeln gleichgut vor- und rückwärts. Zu diesem Behufe ist an jedem Ende ein Steuer vor dem Buge angebracht, das leicht ausgehoben und in einen Wellenbrecher verwandelt werden kann, auf der Seite, welche gerade [504] die vordere ist. Das Deck ist im Verhältniß zum Schiffsrumpfe übermäßig groß, breit und sehr stark gebaut, es ragt über denselben ringsum vier bis acht Fuß hervor und fängt alle Stöße auf, welche dem Schiffe beim Begegnen mit andern Schiffen oder beim Einlaufen in’s Dock widerfahren könnten. Dieses breite und lange Verdeck trägt alle zu befördernden Personen, Viehheerden und Gespanne und einen leichten Oberbau, welcher theils die Passagiere und Wagen überdacht zum Schutze gegen das Wetter, theils ein Thürmchen hoch emporhält, in welchem der Capitän oder Steuermann, um von hier aus das ganze Fahrwasser zu überblicken, den Steuerapparat mittels eines senkrechten Rades in Bewegung setzt. Die Maschine und der Feuerraum sind ganz unterhalb des Deckes im Schiffskörper eingelassen, den sie eben ausfüllen; nur der Ingenieur, welcher die Maschine in Bewegung oder Ruhe setzt, und die ihm dazu dienenden Theile der Maschine sind ebenfalls über dem Deck, und zwar in einem schmalen Gehäuse längs der Achsenrichtung desselben eingeschlossen. Der mächtige Balancier endlich spielt in der Luft, über dem Dache der Deckräume und neben dem Steuerhäuschen. Der Dampfer ist ein Raddampfer; die Maschine eine Niederdruckmaschine. Das Dock, in welches er auf beiden Ufern einläuft, ist ganz elastisch; eine Anzahl mächtiger Balken ist eben nur so tief eingerammt, daß sie dem Stoße des Schiffes nach- und denselben sanft zurückgeben, um das etwa schief eingelaufene Boot wieder in die gerade Richtung zu bringen. An diese elastischen Balken ist ein ganzes Netzwerk anderer Balken nach innen befestigt, an welche das einlaufende Boot anstreift, ohne einen empfindlichen Stoß zu erleiden, da kurz vorher der Dampf abgesperrt und erforderlichen Falls die Steuerung rückwärts gestellt worden ist. Die Steuerleute bekommen aber bald eine bedeutende Uebung darin, den rechten Bedarf an Dampfkraft sowohl als an Geschwindigkeit zu bemessen, mit welchem sie möglichst ohne Stoß in’s Dock und an die Landungsbrücke gelangen können. Die letztere ist in der Regel eine schwimmende, aus starkgebautem Schiffskörper errichtet und hinterwärts mit eisernen Gewinden an den feststehenden Theil der Brücke befestigt. So hebt sie sich mit Fluth und Hochwasser, oder senkt sich mit Ebbe und Tiefwasser genau um ebensoviel, wie das anlandende Dampfboot, dessen Deck also mit der Brücke immer in gleicher Ebene bleibt. Das Deck ist im Halbkreise convex, der bewegliche Theil der Brücke, daran passend, concav ausgeschnitten, so daß das Boot, wenn es an die Brücke festgehakt ist, mit derselben einen zusammenhängenden Flur bildet. Vorn und hinten hat das Deck keine Brustwehr noch Geländer, sondern wird nur während der Fahrt mit einer Kette gesperrt. Es können also in der Mitte des hier offenen, breiten Weges Wagen und auf beiden Seiten Menschen unmittelbar nach erfolgter Landung in breitem Strome rasch ausgesetzt und gleich darauf eine neue Ladung eingenommen werden. Eines oder zwei Glockensignale sind die nie mißverständliche Sprache, durch welche der Steuermann mit dem Ingenieur und dieser mit den Heizern verkehrt.

Ein solches Fährboot von zwei- bis dreihundert Pferdekraft wird also durch vier, höchstens fünf Angestellte bedient: den Capitän, welcher zugleich steuert, den Ingenieur, einen oder zwei Heizer und eine Deckhand, welche Ordnung unter den Passagieren und Gespannen hält, die Aus- und Einladung, das Fest- und Losmachen des Fährbootes an der Landungsbrücke, das Aus- und Einhängen des Steuers und der Sperrketten, das Einnehmen von Kohlen und Wasser und die Reinlichkeit des Decks besorgt. Der Heizer erspart durch seine große Uebung im Bemessen des Hitzegrades eine Menge Kohlen. Kurz, die Dampffähre ist billig bedient, und deshalb kann das Fahrgeld für die Person auf ein, zwei, höchstens drei Cents, für den Wagen auf zwölf ein halb bis fünfzig Cents erniedrigt werden. Die Dampffähren sind zugleich die sicherste Personenbeförderung, die es geben kann. Auf zehn Millionen beförderte Passagiere geht noch nicht ein Menschenleben verloren. Mitunter verunglückt ein solches Boot durch Zusammenstoß mit anderen Schiffen, durch deren Gewühl sie sich höchst geschickt hindurchwinden; aber sie sind in der Regel so eingerichtet, daß sie nicht rasch ganz versinken können, sondern Zeit behalten, die Passagiere zu retten. Auf solchen Dampffähren strömen z. B. der Stadt New-York täglich eine halbe Million Menschen zu, welche in den Nachbarstädten Brooklyn, Williamsburg, Jersey-City, Hoboken und zahlreichen anderen wohnen, um gesündere Luft, billigere Lebensweise oder den Besitz eines eigenen Grundstücks zu genießen, während sie in New-York ihren Lebensunterhalt finden. Die Fahrt auf diesen Dampffähren ist, außer zu Zeiten des Eisganges oder dichter Nebel, höchst regelmäßig und sehr angenehm. Es ist eine Vergnügungsfahrt, bei welcher man seinen Geschäften nachgeht. Während derselben verschlingt der Geschäftsmann, wie der einfache Arbeiter, den Hauptinhalt seiner täglichen Zeitung. Auf dieser Fahrt treffen sich Hunderte von Bekannten, die sich sonst bei den großen Ortsentfernungen das ganze Jahr nicht sehen würden. Hier werden die neuesten Neuigkeiten wie Lauffeuer verbreitet, Geschäfte aller Art verabredet und geschlossen, Liebeshändel und Bekanntschaften von weniger Bedeutung für das Leben angeknüpft, und alles Dieses angesichts einer prächtigen Scenerie, wie sie die Wasserseite aller amerikanischen Großstädte einschließt.
A. Douai.




Speisung eines preußischen Landwehrbataillons. Der Krieg bietet der traurigen und grausigen Scenen auf allen seinen Schritten so viele und, treue Chronisten der trüben und leidensvollen Zeit, mußten wir unsern Lesern aus dem gegenwärtigen deutschen Kampfe schon so viele schmerzliche Bilder vorführen – Bilder, die doch immer nur einzelne Tropfen aus dem Meere des Jammers darstellen – daß es uns selbst eine Genugthuung ist und sicher auch unsere Leser wohlthuend berühren wird, wenn wir auch einmal auf eine freundlichere Episode aus dem großen Trauerspiele aufmerksam machen können. Ein solches freundlicheres Intermezzo ist die Scene, welche der erste Bogen unserer heutigen Nummer illustrirt, jene Speisung des zwanzigsten preußischen Landwehrbataillons, das, vom blutigen Schlachtfelde Langensalza’s kommend, hier kurze Zeit rastete, und von der Stadt Leipzig vor einer Menge von Zuschauern aus allen Gesellschaftsschichten auf dem Magdeburger Bahnhofe mit Speise und Trank erquickt wurde. Der einfache Vorgang bedarf eines weitern Commentars nicht.




Kleiner Briefkasten.


B. Th. in C…tz. Das Reiterbild eines sechsten preußischen Heerführers, des Prinzen Friedrich Carl von Preußen, werden Sie schon in einer der nächsten Nummern unserer Zeitschrift finden. Das von Ihnen bezeichnete neulich erschienene Zerrbild ist allerdings der Höhepunkt, den eine schlechte Xylographie erreichen kann.

F. in E–ch. Auch hier und anderwärts, überall namentlich, wo man das schöne, grüne Thüringen kennt, haben, wie wir hören, die Ansichten von Thal und Umgebung sehr angesprochen. Beide sind vom Maler Friedrich Schmidt in Lübeck nach der Natur aufgenommen worden.

E. St.e in Dr…n. Nach Mittheilungen aus dem österreichisch-sächsischen Feldlager haben wir uns mehrfach, doch immer vergeblich, bemüht. Entweder sind unsere Briefe den Adressaten in Folge der Verkehrsstockung, die uns ja von Böhmen und Mähren, wenigstens von der österreichischen Armee, fast ganz abschnitt, gar nicht oder doch zu spät gekommen, als daß eine Erfüllung unserer Wünsche möglich gewesen wäre. Hoffentlich können wir in „Erinnerungen“ an den Krieg das Versäumte nachholen.

G. S…t in M.h.n. Der Verfasser der in Nr. 29 und in heutiger Nummer veröffentlichten Schilderungen vom Langensalzaer Schlachtfelde ist ein in nächster Nähe Langensalzas lebender und dort allgemein bekannter Prediger,[WS 2] aus dessen seit vielen Jahren schriftstellerisch bewährter Feder in Kurzem im Verlag einer Langensalzaer Buchhandlung eine ausführliche Darstellung der erwähnten Schlacht erscheinen wird.




Für die Verwundeten und Hinterlassenen der Gefallenen


gingen wieder ein: Jv. (Postz. Schmölln) 1 Thlr. – E. E. R. (Postz. Brome) 2 Thlr. und ein Sack Binden etc. – J. Höhndorf 1 Thlr. – Aus Kötzschenbroda 5 Thlr. – A. Usbeck in Obersteinbach 2 Thlr. – Einige junge Kaufleute in Rudolstadt 5 Thlr. Besten Dank für den herzlichen Glückwunsch. – Aug. G. in Leipzig 1 Thlr. – Von einem Freunde der Gartenlaube in Weimar 3 Thlr. – Aus Königstein 2 Thlr. – Be–Wr. und D. in Altenburg 3 Thlr. – Aus einer Sammlung für verwundete Soldaten durch Ger.-Amtm. Beyer in Crimmitzschau 15 Thlr. – Rosalie und Sophie in Altenburg 10 Thlr. – G. K. C. in Steinbach 5 Thlr. – B. Haraß in Böhlen in Thüringen 3 Thlr. – Pauline Meißner 2 Thlr. – C. Müller in Sitzendorf 2 Thlr. – A. M. in Leipzig 5 Thlr. – Frl. Schachtschneider in Schwerin 2 Thlr. – H. Franz in Meißen 2 Thlr. – H. S. in Leipzig 2 Thlr. – F. Möhler in Altmittweida mit dem Wunsche: „Möge es nie wieder vorkommen, daß mit Wunden bedeckte Invaliden es nöthig haben den Leierkasten zu drehen“ 5 Thlr. – Frau Keßler in Zwönitz 1 Thlr. – C. und B. in Chemnitz 5 Thlr. – Sammlung bei einer Geburtstagsfeier in Haynichen 15 Thlr. 12½ Ngr. – A. S. in Neustadt bei Stolpen 1 Thlr. – Franz Mauer in Leipzig 5 Thlr. – A. M. in Meißen 1 Thlr. – Eine Gärtnerfrau vom Lande: eine goldene Brosche. – W. F. Israel in Eybau 5 Thlr. – Ferd. Krauße in Hundshübel 5 Thlr. – W. B. und Th. E. in Nieder-Rennersdorf 2 Thlr. – Frauen- und Jungfrauen-Verein in Apolda 30 Thlr., nebst einer Kiste Verbandzeug, Wein etc. – Bruno und Ottilie (Postz. Annaberg) 10 Thlr. – Elly in Dresden 1 Thlr. – Durch W. Petzold in Markneukirchen von vierundzwanzig Betheiligten 28 Thlr. 5 Ngr. – W. S. 3 Thlr. und eine Sendung Charpie.– Otto Meves 5 Thlr. – E. Thieme in Frohburg 3 Thlr. – C. Müller in Sitzendorf 1 Thlr., nebst Verbandutensilien. – Alma M. in L. 1 Thlr. – Barth. Sff. 5 Thlr. – Dr. K. 3 Thlr. – Gemeinde Röttelmisch bei Kahla 5 Thlr. 17½ Ngr. – Von einer preußischen Familie in Frankfurt am Main 2 Thlr. – Aus Eisenach: Sendung von Charpie und Verbandzeug. – Eine deutsche Frau und Mutter in E.: eine goldene Halskette. – Arthur und Richard 10 Ngr. – „Erinnerung aus glücklichen Zeiten“: ein Paar goldene Haarnadeln.




Wenn auch durch die Liebesgaben des deutschen Volkes für die Bedürfnisse der Verwundeten schon erfreulich gesorgt ist, so stehen wir in der That doch erst am Anfang unserer Pflichterfüllung, denn die größte, eine noch gar nicht übersehbare Summe des Elends liegt in den Familien der Gefallenen und Derer, die aus dem Krieg als arbeitsunfähige Krüppel an den Heimathheerd zurückkehren. Wir dürfen nicht dulden, daß das Bettelbild des Leierkastens sich auch nach diesem Krieg erneuere, daß die Kinder der für uns verbluteten Helden dafür einem Leben voll Jammer und vielleicht der Schande verfallen und „das Hirtenhaus“ oder „der Armenspittel“ ihre letzte Aussicht werde! Das Weib, das den Gatten, der Vater, der seine Söhne, die Braut, die den Geliebten gesund neben sich sieht, müssen es ebenso, wie alle die tausend Städte und Ortschaften, an deren Mauern und Fluren der furchtbare Kriegssturm vorübertobt, ohne sie zu berühren, als heilige Pflicht erkennen, nicht blos Thränen des augenblicklichen Schmerzes zu trocknen und der Noth des Tags abzuhelfen, sondern, so weit als nur möglich, für das Lebensglück Derer zu sorgen, die selbst oder deren Ernährer für uns Alle dahingeopfert worden sind. Ja, das Geben muß jetzt, wo die erste Noth überwunden ist, erst recht beginnen, um der größeren, an tausend Heerden verborgenen Herr zu werden! Für diese Gaben steht nun der Opferstock offen: möge der Genius des Vaterlands, der bei ihm wacht, viele Hände segnen können!

Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zurückgegeben
  2. Heinrich Schwerdt (1810–1888)