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Die Gartenlaube (1865)/Heft 44

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 44. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Prinzessin Champagner.
(Schluß.)

Man konnte Guy und Melusine allezeit in einem Winkel am Kamin in Cyrilla’s Salon sitzen sehen, abgesondert von den Andern, in tiefem, stundenlangem Gespräch. Es war ein kleines Tabouret von rothem Sammet da, es hieß Melusinens Thron, dort saß die Sonne der Variétés in ihrer eigenthümlichen Haltung, die linke Wange auf die Hand gestützt, in ihrem schmucklosen weißen Kleide, dem großen frischen Veilchenstrauß an der Brust, den ihr Guy jeden Tag brachte. Die irrenden Lichter des Kaminfeuers flogen über das zarte Gesicht, über die gelösten lang herabhängenden Locken, zwischen denen die schlanken Finger hervorleuchteten. Der junge Mann lag vor ihr auf dem Teppich, den Arm auf ein Kissen gestützt, und sah zu ihr auf. Sein Kopf mit dem dunkeln leicht gelockten Haar, der farblosen edlen Stirn, den tiefen Augen und den regelmäßigen Zügen erinnerte in seinem Ausdruck an die Heiligen und Märtyrer des Murillo und Ribera, halb ekstatische Verzückung, halb düstere Leidenschaft, wie sie der heilige Rodriguez zeigt. Die ganze Erscheinung hatte etwas Zartes, Hinfälliges, nur in der Form der Hand verrieth sich große Energie. Anfangs lächelten und spotteten die Andern über die Isolirung dieses Paares, allmählich ließ man es gewähren; es waren ja immer die unerquicklichsten Gespräche, an denen diese Beiden Gefallen fanden, sie sprachen über die ernsthaftesten Dinge im Himmel und auf Erden. Wunderliche Unterhaltung in dem Salon einer Cyrilla! Hätten die Spötter geahnt, wie oft Guy dann seine Verse citirte, Improvisationen vom Augenblick geboren, aber von wilder Schönheit, voll überwältigender Gluth und Schwermuth! Und leise, leise sprachen die Lippen Melusinens diese Verse nach.

„Ihr seid viel mehr zur Tragödin geboren, als zur Königin des Lustspiels,“ sagte Guy oft. Schauer des Entzückens kamen über ihn, wenn er ihren Worten, dem Tonfall ihrer Stimme, den überraschenden und leidenschaftlichen Accenten lauschte, und es waren seine Verse, die so klangen!

Wenige Minuten später erhob sie sich oft mit der hastigen Bitte: „Nun laßt’s genug sein des Ernstes!“ und trat zu den Andern. Er blieb dann ruhig neben dem Kaminfeuer liegen und folgte ihr nur mit den Augen und hörte wie im Traume zu, wie sie lachte und scherzte und über nichtige Dinge mit demselben Eifer redete, wie mit ihm über die wichtigsten Fragen des Lebens. Dann brach ihr wundervoller geistsprühender Humor wie in tausend Funken hervor, dann leuchtete Witz auf Witz, Scherz auf Scherz, dann strahlte ein seltsames Licht aus den Augen, dann glühten die rothen Lippen, dann erschienen die schönsten Frauen plump und arm neben ihr und die geistreichsten Männer schwerfällig und matt. Ein Wort, ein Blick vermochte diese hinreißende Erregung hervorzurufen, sie war dann Champagner, sprudelnder, brausender Champagner und wirkte sorgenvergessend wie Champagner. Sie schien wie im Taumel und zog die Herzen und Sinne ihrer Umgebung mit in diesen Taumel hinein.

Lord Francis lag nach wenigen Tagen wieder in den alten Banden, vielleicht fester, als je zuvor, denn zwei Dinge waren es, die hinzukamen, ihn noch mehr zu reizen: die unverhohlene Leidenschaft, welche in dem Herzen seines Bruders aufglühte für das wunderbare Geschöpf mit den seegrünen Augen, und die Gleichgültigkeit Melusine’s gegen ihn selber, der sich von ihr geliebt geglaubt.

„Wie weit denkst Du es mit dieser gefährlichen Frau zu treiben?“ fragte Francis eines Morgens seinen Bruder in einer Aufwallung von Eifersucht und Sorge zugleich. „Habe ich Dich nicht genugsam vor ihr gewarnt? Und sie spielt nur mit Dir, wie sie mit unzähligen Andern spielte! Wann wirst Du von ihr lassen?“

„Ich verstehe diese Frage nicht!“ antwortete Guy mit zusammengezogener Stirn.

„Gedenkst Du die Circe zu heirathen?“

„Sie würde weder mich noch Dich heirathen, selbst wenn wir sie auf den Knieen darum bäten, Francis, also frage lieber, wie weit sie es mit mir treiben will, oder mit uns, denn Du liebst sie noch. Und ich werde nie aufhören sie zu lieben.“

„Das ist Wahnsinn! Ich darf das nicht dulden! Begreifst Du nicht, daß wir diese Frau fliehen müssen, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir nicht ihren Zauberkreis meiden?“

„Ich begreife nur Eins: daß ich diese Frau nie lassen werde, so lange ich athme, bis sie mich selber von sich stößt.“

„Und sie wird es thun; sie wird Dich mit der Spitze ihres Fußes von sich stoßen, wie sie schon manchen Andern von sich gestoßen hat. Meinst Du, Deine philosophischen Gespräche über die Liebe würden sie ewig fesseln? Du bist ihr noch neu, sie liebt den Wechsel und die Emotionen. Ich sorge mich um Dich, Guy, denn ich liebe Dich!“

Und Francis legte seinen Arm um den Nacken seines Bruders.

Guy löste sich sanft von ihm und sagte: „Habe Geduld mit mir, ich kann nicht anders. Vielleicht kommt ein schnelleres Ende, als wir meinen. Und in zwei Monaten schicken mich die unerbittlichen Aerzte ja doch nach Italien. Laß mich noch träumen!“




Dies Gespräch war am Tage vor Allerseelen zwischen den Brüdern geführt worden, aber am nächsten Abend war Guy entzückter als je von der seltsamen Frau. Sie war gegen ihn allein sanft und freundlich, gegen alle Andern düster und schweigsam. Und die Stunden glitten vorüber, bis in dem hellerleuchteten [690] Speisesaal plötzlich eine erhöhte Stimmung den kleinen Kreis überfluthete. Man reihte sich scherzend und lachend an die reichbesetzte Tafel. Die Diners der Cyrilla waren berühmt; man speiste vorzüglich bei ihr, der Herzog war ein Feinschmecker ersten Ranges. Melusine saß zwischen den Brüdern. Sie war jetzt eine Andere. Ihr Gesicht strahlte, von ihren Lippen strömte Scherz und reizendes Geplauder. Für Jeden fand sie ein passendes, anregendes Wort, sie setzte jede Erscheinung in die passende Beleuchtung. Man sprach von Paris.

„Ich habe Heimweh nach Paris,“ sagte Melusine. „O meine glänzende Heimath, wie liebe ich Dich! Hier ist’s so schwer, fröhlich zu sein, hier ist und bleibt im Grunde der heiterste Platz die Schreckenskammer der Madame Tussaud.“

Man lachte.

„Melusine hat eine seltsame Vorliebe für jene Räume,“ erzählte Cyrilla. „Sie besuchte sie jeden Tag, die Wachsmenschen waren ihr eine angenehmere Gesellschaft als wir. Ich selbst gehe nur hin, um die schönste Frau Frankreichs zu bewundern, die bezaubernde Madame St. Amaranthe, die kein Mann, als sie noch lebte, ungestraft anschauen konnte.“

„Man sagt, daß sie auch nach ihrem Tode einen dämonischen Zauber ausübe,“ bemerkte hier der Herzog von D. „Keine Braut erlaubt ihrem Verlobten einen Besuch bei Madame St. Amaranthe ohne ihre schützende Begleitung. Es soll allen liebenden Gefahr bringen, jenes hinreißende Gebilde von Wachs.“

„Still, redet nicht von den häßlichen Wachsfiguren,“ bat die blonde Arabella, „ich fürchte mich vor ihnen! Melusine erzählt uns eine lustige Geschichte aus Paris.“

Und Melnsine erzählte mit ihrer süßen Stimme, das Champagnerglas in der Hand, eine ihrer pikanten Theaterplaudereien aus den Foyers der Variétés. Niemand konnte graziöser erzählen. Ihre glühenden Wangen, ihre funkelnden Augen, ihr Lächeln rissen hin und brachten um alle Besinnung. Eben war ihre kleine Geschichte beendet, sie wendete sich zu Guy und wie ein blendender Lichtstrahl traf ihn ihr Blick aus den halbgeschlossenen Augen. Er sprang auf, hob sein Glas und rief in leidenschaftlichster Erregung: „Es lebe Prinzessin Champagner!“ lauter Jubel begrüßte diesen Toast. Man wiederholte ihn, die Gläser klangen, man rief und lachte durcheinander. Melusine nahm ihre Rose aus dem Haar, tauchte sie leicht in den Schaum ihres Glases und befestigte sie an der Brust Guy’s. Sie neigte ihren reizenden Kopf zu ihm hin, ihre schlanken weißen Finger spielten vor seinen Augen, und es war in dieser Stellung, als der Jüngling ihr bebend zuflüsterte: „Ich liebe Euch!“

„Für heut’ Abend!“ antwortete sie leicht hin – die Rose hatte ihren Platz gefunden.

„Für die Ewigkeit!“

„So sagen alle Männer und ich glaube keinem mehr!“

„Ihr müßt mir glauben!“

„Gebt mir eine Probe!“

„Welche Ihr wollt! Sprecht nur, sprecht – ich bin bereit Alles für Euch zu thun!“

„Die Damen der Liebeshöfe erhörten ihre Ritter allezeit nur nach einer siegreich bestandenen Liebesprobe.“

„Soll ich für Euch sterben?“

„Nein, nur Madame St. Amaranthe, die unwiderstehliche Frau von Wachs, in dieser Stunde besuchen und ihr meine Rose bringen.“

Guy wurde todtenbleich.

„Wählt etwas Anderes!“ stammelte er. „Ich muß Euch ein Geständniß ablegen, ich war nie in der Schreckenskammer der Madame Tussaud, nie in dieser schauerlichen Ausstellung menschlicher Gebilde, die das Leben nachäffen und doch todt sind. Als Kind hatte man mich dazu zwingen wollen: man trug mich ohnmächtig nach Hause.“

„Und jetzt?! Und Ihr sagt, Ihr liebtet mich? Geht, Guy, Ihr seid ein –“

„Haltet ein, still! Ich gehe! Aber, daß Keiner hier erfährt, wohin,“ sagte jetzt der junge Mann mit fliegendem Athem und düsterm Blick. „Ihr sollt in mir keinen Feigling finden. Wie aber komme ich zu dieser Stunde dort hinein?“

„Hier ist ein kleiner Schlüssel, er schließt die Seitenthür des ersten Saales. Nennt dem Portier im Hause meinen Namen und er wird Euch einlassen. Ich kenne den Sohn der Tussaud. Wir haben jetzt kaum zehn Uhr. Ein Wagen bringt Euch rasch nach Kensington-Garden. Ihr wißt, das Museum liegt in der Bakerstreet. Verschafft Euch eine kleine Laterne vom Diener der Cyrilla. Am Eingang der schwarz ausgeschlagenen Schreckenskammer, die alle Schauer der Guillotine und alle großen Verbrecher Englands vereinigt, steht eine Girandole mit Kerzen. Ihr werdet sie anzünden und dann Madame St. Amaranthe in dem vollsten Lichtglanz erblicken. Schaut sie wohl an, legt diese Rose in ihre Hand und erzählt mir, ob sie Euch erlaubt hat, mich ferner zu lieben. Ich erwarte Euch hier, noch diese Nacht, Guy! Geht, besiegt sie Alle, die je von Liebe zu mir geredet.“

Er fühlte einen kleinen Schlüssel in seiner Hand und erhob sich wie im Traume.

„Wohin gehst Du?“ fragte Francis, der mit wachsender Unruhe das leise Geflüster beobachtet.

„Er wird mir einen Ritterdienst erweisen und ein Buch holen, von dem wir geredet,“ antwortete die Schauspielerin der Variétés ruhig.

„Schicke doch den Diener, mein Liebling, die Nacht ist kalt und rauh und Du fieberst.“

„Ich nehme einen Wagen und bin in einer Stunde wieder hier. Lebt wohl, Francis!“ Er reichte dem Bruder die Hand, grüßte die Gesellschaft und ging. Francis machte Miene ihm zu folgen, ein lächelnder Blick Melusine’s ließ ihn bleiben. Sie rückte ihren Sessel nahe an den seinen.

„Ihr liebt ihn wohl sehr, den schönen Knaben?“ fragte sie.

„Sehr, Ihr wißt es ja längst.“

„Mehr als Lady Geraldine?“

Eine glühende Röthe schoß in sein Gesicht. Er hielt ihren grausamen Blick nicht aus.

„Viel mehr!“ stammelte er endlich, kaum hörbar.

„Singt, Marino!“ befahl Melusine jetzt sich an den schönen Italiener wendend. „Ich höre sie so gern, Eure lügenhaften Lieder von ewiger Liebe und unauslöschlicher Gluth!“

Man schlug den Flügel auf, Marino sang.

„Die Kerzen brennen heut so dunkel und Eure Lieder klingen matt und traurig,“ sagte Prinzessin Champagner nach einiger Zeit, „laßt mich singen!“ Und sie sang, das gefüllte Glas in der Hand, das Trinklied Orsino’s aus der Lucrezia Borgia. Wie reizend klang diese verschleierte Stimme, wie bezaubernd war der Vortrag der Sängerin, wie durchzuckte es die Hörer, dies übermüthige Lied; mit welchem Feuer fielen sie ein in den Refrain! Darauf folgte ein keckes Couplet dem andern; es war gesungener, sprudelnder Champagner. Ausgelassenste Heiterkeit verbreitete sich am Tage Allerseelen unter den Gästen der Cyrilla. Man stimmte mit ein, man jubelte dazwischen, man warf sich mit Blumen, man bewunderte einander, und vor Allen bewunderte man Prinzessin Champagner.

O, wie schön sie war, wie verführerisch! Wie sie glühte und leuchtete! Francis vergaß bei ihrem Anblick seinen jungen Bruder und alle Sorgen – Lady Geraldine hatte er längst vergessen.




Das weltberühmte Cabinet der Französin Madame Tussaud, der Freundin des Scharfrichters Sanson, liegt in der Bakerstreet in nicht allzugroßer Entfernung von Kensington-Garden. Jeder Fremde besucht unter seltsamen Schauern jene schweigende Versammlung von Todten, die sich mit dem Schein des Lebens geschmückt haben. Alle Berühmtheiten der Welt sind hier in täuschender Nachbildung gleichsam versteinert aufbewahrt für eine neugierige, schaulustige Nachwelt. Könige und Königinnen. Lebende und Gestorbene, Künstler, Gelehrte und Dichter, sowie Giftmischer, Mörder und Räuber haben sich hier zusammengefunden, die Letzteren freilich in jenem dunklen Raume, den man „Schreckenskammer“ nennt. Ein Besuch bei Madame Tussaud verwandelt den heitersten Tag in einen nebelvollen, die froheste Laune in ein schwermüthiges Sinnen; diese Räume haben einen Reiz ähnlich jenem süßen Grauen, dessen wir uns aus unserer Kinderzeit erinnern, wenn die Mutter uns im halbdunkeln Zimmer Märchen erzählte. Da hätten wir auch lieber um Licht, helles Licht gebeten, und doch hielt es uns im Dunkeln fest, wir wollten nicht in die Ecke am Ofen hinschauen, denn es war sicher, daß sich dort etwas Schattenhaftes regte und bewegte, und wir wendeten trotzdem unsere Augen wieder und wieder dahin. Genau so ist’s mit der Schreckenskammer, sie zieht uns mächtig an und unser Herz klopft doch so wild, wenn wir sie betreten. Eine Nacht in einer Kirche verlebt, die Mitternachtsstunde [691] bei den stillen Todten auf dem Friedhofe ist einem Aufenthalt an diesem furchtbaren Orte zu solcher Zeit kaum zu vergleichen; dort glauben wir nur Entsetzliches zu sehen – hier sehen wir es wirklich, fühlen es, wenn wir die Hand ausstrecken.




Während die Gläser an Cyrilla’s Tafel klangen und Melusine sang, an jenem Abend des Allerseelentages, trat Guy mit zögernden Schritten in die Gesellschaft der Todten mit den täuschenden Larven des Lebens. Ein betäubender Duft schlug ihm entgegen und verwirrte seine Sinne, ein kühler, fremder Hauch, wie aus Särgen, wehte ihn an. Er durchwanderte eine Reihe von Sälen, ohne seine eigenen Schritte zu hören. Todesschweigen überall. Und doch schienen alle diese Menschen miteinander zu reden und zu lächeln, und doch drängten sie sich in seinen Weg, doch standen sie in dichten Reihen zu beiden Seiten und ließen ihn gleichsam Musterung passiren, und die Fernerstehenden hoben sich, wie es ihm schien, auf den Zehen und reckten sich lang und immer länger, um mit eisigen Blicken zu ihm herüberzustarren. Die Laterne in seiner leise bebenden Hand warf blitzartige Lichtstreifen auf alle diese Gestalten. Schwere Sammet- und Seidengewänder fielen in tiefen Falten herab, königlicher Purpur wallte von stolzen Schultern, die längst in Staub zerfallen; eine vornehme Gesellschaft gekrönter Häupter folgte dem kühnen Fremdling mit fragenden Blicken. Es war ihm jetzt, als ginge hinter ihm her ein leises Rauschen und Flüstern durch die Reihen. Sein irrender Blick streifte manche sorgenvolle, müde Stirn, manches schwermüthige, edle Frauengesicht, manche Züge, die ihm aus Bildern bekannt und vertraut waren.

Vorüber, vorüber; immer eisiger wehte es ihn an. Da stand das Sterbebett des großen Kaisers. Auf dem weißen Kissen lag das imposante Haupt in der Starrheit des Todes und auf der Decke ein Spielzeug des Königs von Rom, der im Garten zu Schönbrunnen schlief. In den Fensterscheiben jenes Kaiserwagens, dessen Räder nach der Schlacht von Waterloo den großen Feldherrn forttrugen, blitzte das Licht der Laterne wieder. Alles, Alles regungslos rings umher. Gruppe an Gruppe schien sich zusammengedrängt zu haben, um ihn anzuschauen, zürnend und drohend. Es war ihm, als erstarre er selber allmählich zu Eis. Schwer und schwerer wurde sein Schritt. Die alte, lähmende Furcht der Kinderzeit, jenes Entsetzen vor der täuschenden Nachahmung des warmen Lebens, der nichts fehlte, als die Bewegung, schlich durch seine Adern. Weiter, weiter, er mußte vollenden. Wie Feuer brannte die Rose Melusine’s in seiner Hand. Es war ihm, als nähme diese furchtbare Wanderung nimmer ein Ende, als dehnten sich die Räume gespensterhaft in unabsehbare Ferne aus, als rausche und dränge es sich ihm jetzt langsam nach in endlosem Zuge. Schneller und schneller hastete er sich und kam doch nicht von der Stelle. Endlich, endlich öffnete sie sich vor ihm, schwarz, wie das Grab selber, jene dunkle Kammer, das Ziel seiner Wanderung, von der er seit seiner Kindheit so viel Grauenhaftes gehört. Beim Eintritt über ihre Schwelle klangen die Worte Dante’s in sein Ohr:

„Laßt alle Hoffnung, die hier ein Ihr tretet.“

Hatte sie ihm eine fremde Stimme in’s Ohr geflüstert, hatte er sie selber laut ausgesprochen? Er hob die Laterne – da stand die Girandole, seine Hand zündete die Kerzen an. Barmherziger Gott, ihr erster Lichtstrahl fiel auf die blutige Brust Marat’s, erloschene Augen hoben sich zu ihm auf; das Wasser des Badebeckens, in dem der Körper lag, war blutig gefärbt. Guy wendete sich schaudernd ab, aber nur um neues Entsetzen zu empfinden. Das Haupt Maria Antoinette’s in der furchtbaren Blässe des Todes starrte ihm entgegen. Die schönen Augen waren geschlossen, die feinen Lippen zusammengepreßt, das ergraute Haar hing wirr um die eingesunkenen Schläfe, die so oft Rosen umkränzt hatten. Unfern von ihnen tauchte das Hyänengesicht Bacon’s, des grausamen Giftmischers, auf, nicht weit von ihm standen die gräßlichen Leichenräuber Burke und Hare in ihren zerlumpten Kleidern. Warfen sie ihm nicht gierige Blicke zu? Flüsterten sie nicht miteinander, als er sich eben schaudernd wegwandte, streckten sie nicht ihre langen Hände nach ihm aus, fühlte er nicht schon ihre eisigen Finger an seinem Nacken? Dicht daneben grinste das Schreckensantlitz des scheußlichen James Bloomfield Rush, jenes Mörders, der sich an den Todesqualen seiner Opfer weidete und mit Lust Kinder, Weiber und zahllose junge Mädchen auf die grausamste Weise tödtete.

Halb bewußtlos taumelte er weiter. Ein Holzgerüst hemmte seinen Weg. Die rothgefärbten Balken hoben sich gespenstisch von dem schwarzen Grunde der Wand. Es war die Guillotine, neben ihr zu beiden Seiten standen zwei Körbe mit blutigen Sägespähnen, bestimmt, Kopf und Rumpf der Hingerichteten aufzunehmen. Ueber ihr hing dasselbe furchtbare Messer, dessen Stahl das Blut Maria Antoinette’s und zweiundzwanzigtausend anderer Opfer der französischen Revolution getrunken, jenes haarscharfe Instrument, das so manchen stolzen Hals, so manchen blendenden Nacken erbarmungslos durchschnitten.

Das Maß des Schreckens war erfüllt, Guy sank zusammen. Allerlei Hände langten aus dem Dunkel nach ihm, um ihn nach der Guillotine zu zerren, ihn zu binden und auf jenes schmale Bret dort zu schnallen; das Messer zuckte über ihm, allerlei Gesichter und Gestalten erschienen an der Thür, um zuzuschauen. Seine Hände falteten sich, die Laterne stürzte zu Boden. Wie ein verlassenes Kind nannte er jetzt den Namen des Engels seiner hülflosen Jugend, der ihn schon einmal vor dem Schrecken dieser Räume rettete, den Namen seiner Mutter, die schon längst bei den Todten schlief. „Mutter, Mutter, hilf mir fort! Sende mir einen Engel, der mich erlöse!“ rief er, mit irren Blicken umherschauend.

Da stieß es plötzlich einen Schrei aus. Was war das? Warmes, wirkliches Leben unter den Larven, ein menschliches Wesen unter den Todten? Er war nicht mehr allein! Der volle Lichtschein fiel auf eine Frauengestalt, die auf einem Ruhebett ausgestreckt lag. Das schönste Antlitz, das seine Augen je erblickt, lächelte ihm entgegen. Ein schwarzes Gewand umschloß den herrlichen Körper, Hals und Schultern waren unbedeckt, in sanften Athemzügen hob und senkte sich die Brust. Die geöffneten, thaufrischen Lippen hauchten Liebe, die strahlenden blauen Augen mit den langen Wimpern hoben sich, um ihn zärtlich anzuschauen. Die reizende Hand reckte sich empor, um ihm zu winken. „Wer bist Du?“ fragte Guy aufstehend, um neben ihrem Lager niederzuknieen.

„Ich bin Madame St. Amaranthe,“ antwortete sie leise, „dort, jenes Ungeheuer im dunkeln Winkel, Robespierre nannten sie ihn, ließ meinen schönen Hals von dem kalten Messer hier durchschneiden, weil ich mich weigerte, den Furchtbaren zu lieben. Löse nicht das schwarze Band von meinem Nacken, Du würdest den blutigen Streifen sehen; o, er ist so häßlich! Sieh, ich lebe – höre, wie ich athme; schau her, lege Deine Hand auf meine Brust – ich athme, wie Du. Ich warte lange, lange auf Dich, um Dich zu lieben. Jetzt bist Du da und wirst bei mir bleiben! Warum zögertest Du so viele, viele Nächte?“

„Bist Du die schönste Frau Frankreichs?“ flüsterte er, in ihrem Anschauen verloren; „nein, Du bist die schönste Frau der Schöpfung. Und Du willst mich lieben?! Sag’ es noch einmal!“

„Noch liegt es wie ein schwerer Bann auf mir, noch kann ich mich nicht erheben, um Dich an mein Herz zu ziehen, Du mußt mich erst küssen! Komm, fürchte Dich nicht. Meine Lippen sind jetzt kalt, aber sie werden aufglühen, wenn Du sie berührst. Viele waren es einst, die um meine Liebe warben. Ganz Paris lag zu meinen Füßen. Ich habe viele Herzen von mir gestoßen, mit vielen gespielt, bis jene grauenvolle Zeit kam, wo mein Gatte beim Sturm der Bastille fiel und Robespierre mich bei der Leiche des Helden erblickte. Von jenem Augenblick an verfolgte er mich, er lag zu meinen Füßen, er schwur, mich zu lieben, ich wendete mich mit Abscheu von ihm. Mit einem lächelnden Blick hätte ich das Leben vieler meiner Freunde erkaufen können, ich that es nicht. Die Liebe des Schrecklichen wurde zum Wahnsinn, endlich zum Haß. Er drang einst in mein Zimmer und ließ mir nur eine Wahl, sein Haus oder – das Schaffot. Mein armer, schöner Hals! Hättet Ihr den Muth gefunden, ihn zu durchschneiden, und wenn hundert Robespierre Euch gedroht? Kommt, küßt seine Narbe, daß sie wieder heile.“ Und das Band verschob sich, ein feiner, rother Streif ward sichtbar. „Bin ich nicht trotzdem schöner, als jene Frau, die Dich hierher sandte?“ fragte sie mit süßem Lächeln. „Gebt mir die Rose, die Ihr so fest in Eurer Hand haltet und bleibt bei mir. Sie liebte Euch nicht, aber ich, ich will Dich lieben. Ich schütze Dich vor allen Gespenstern. Sei ruhig, lege Deine müde, heiße Stirn an mein Herz.“

Noch einmal schaute er zu ihr auf, wie ein rosiges Licht [692] strahlte ihre unvergleichliche Schönheit ihm entgegen, sein Haupt sank an ihre Brust. Wie im Traume empfand er noch das Wehen ihres Athems, eine entzückende Ruhe kam über ihn, ein Gefühl, als läge er gerettet in den Armen seiner Mutter.




Wenige Augenblicke später durchdrang ein greller Lichtschein die Säle, laute Schritte kamen hastig näher und näher, Lord Francis, von zwei Dienern gefolgt, suchte in unbeschreiblicher Aufregung den Bruder. Melusine hatte ihm gestanden, wohin sie ihn gesandt.

Mit einem Schrei stürzte er auf den Zusammengesunkenen zu. Eine tiefe Ohnmacht hatte Guy umfangen, er lag am Boden ausgestreckt neben dem Ruhebett der Madame St. Amaranthe. Die champagnerfeuchte Rose lag auf der Brust der wunderschönen Frau, sie hob und senkte sich leise unter ihrem Athem.

Die Diener nahmen den Bewußtlosen in ihre Arme, um ihn hinwegzutragen. Lord Francis löschte die Kerzen und folgte. Seufzte es nicht tief auf hinter ihm? Rauschte es nicht wie seidene Gewänder? Er wagte nicht, rückwärts zu schauen. Hatte sich die schöne Madame St. Amaranthe erhoben, um ihnen zu folgen? Während der Fahrt hielt Lord Francis mit einem Schmerzensgefühl ohne Gleichen den Regungslosen in seinen Armen und nannte ihn mit den zärtlichsten Namen. Vergebens, Guy verblieb in todtenähnlicher Erstarrung.




Als der Wagen an dem Hause der Brüder in das Thor einfuhr und vor dem Portal hielt, trat eine verschleierte Frau an den Wagenschlag, die hier gewartet zu haben schien.

„Wie ist’s mit ihm?“ fragte sie hastig.

„Seht Euer Werk,“ antwortete Francis verzweiflungsvoll, als der Schein der Lichter auf das bleiche Antlitz seines Lieblings fiel.

Man trug den jungen Mann in das nächste Zimmer, den Speisesaal; Melusine folgte. Wie der Todesbote selber, starr und mit düsterem Blick, stand sie zu Füßen des Divans, auf den man ihn gebettet. Ein Arzt war bald zur Stelle und seinen Bemühungen gelang es, den Regungslosen in’s Leben zurückzurufen. Guy schlug langsam die Augen auf. Mit irren Blicken schaute er suchend umher. „Amaranthe, wo bist Du?“ rief er mit herzzerschneidendem Klageton. „Ich will zu Dir! Laßt mich fort, ihr Larven! Ihr seid doch Alle todt, sie allein lebt!“

Und mit ungewöhnlicher Kraft aufspringend, versuchte er zu entfliehen. Francis hielt ihn fest. Melusine neigte sich zitternd zu ihm nieder. „Guy, komm zu Dir!“ flüsterte sie in sein Ohr, „ich sterbe vor Angst und Reue. Hier bin ich, Dein auf ewig, ich will Dich lieben! Kennst Du Melusine nicht mehr?!“

„Du bist nicht Amaranthe,“ sagte er schmerzlich nach einem langen Blick in ihr thränenüberströmtes Gesicht. „Melusine ist todt, wie alle Frauen. Amaranthe lebt und athmet, meine Hand hat auf ihrem Herzen geruht. Sie hat ein Herz, sie allein von allen Frauen der Welt!“

Mit einem Jammerruf wandte sich Melusine ab. Der Arzt befahl Ruhe für seinen Patienten. „Hoffen wir, daß nur eine vorübergehende Störung eintrat,“ sagte er, „ich allein werde heut’ Nacht bei dem Kranken wachen!“




Warum Alles schildern, was nun folgte? Thatsache war und blieb der Wahnsinn Guy’s. Keinen Augenblick kehrte das Bewußtsein des Unglücklichen zurück. Aber sein Wahnsinn hatte eine milde, fast schöne Gestalt angenommen. Die Besucher der Madame Tussaud in der letzten Hälfte der vierziger Jahre werden sich ohne Zweifel eines auffallend schönen Mannes erinnern, der in Begleitung eines alten Dieners zur bestimmten Stunde, wenn das Museum geöffnet wurde, vor der Eingangsthür erschien, leichten, schnellen Schrittes durch die Säle eilte, um in dem letzten der Räume vor der schlummernden Madame St. Amaranthe Platz zu nehmen. Hier saß er in ihren Anblick vertieft stundenlang unbeweglich, bis ihn der Diener leise an der Schulter berührte, wenn der Schließer mit dem Schlüsselbund über die Schwelle der Schreckenskammer trat. Die bewundernde Menge, die sich so oft vor der herrlichen Gestalt versammelte, um sie athmen zu sehen, das einzige Kunstwerk dieser Art in den Sälen der Madame Tussaud, störte ihn nicht, er sah und hörte Niemand. Tag für Tag hielt sein kleines, elegantes Coupé in Bakerstreet, weder Regen noch Sturm verhinderte sein Erscheinen. Sein trauernder Bruder und seine Schwägerin ließen ihn gewähren, seit er einmal, als man versucht hatte, ihn gewaltsam zurückzuhalten, in Raserei gefallen war.

In der Zeit, die er daheim verlebte, beschäftigte er sich damit das Ideal seines irren Geistes in den verschiedensten Haltungen zu zeichnen. Jahrelang wurde dieser seltsame Besucher des Museums von den Fremden mit Interesse betrachtet. Allmählich ging er langsamer. Sein Schritt wurde müde und schwer und eines Morgens blieb der regelmäßige Gast zur größten Verwunderung des Thürstehers aus. Er war in der Nacht gestorben.




Und Prinzessin Champagner? Sie kehrte nach Paris zurück und bezauberte nach wie vor die Männerwelt und brachte sie durch ihre unberechenbaren Capricen in Verzweiflung. Außer dem Theater erschien sie nur in tiefer Trauer und in ihrem reizenden Schlafzimmer stand, ihrem Lager gegenüber, ein offener Sarg, der einstigen Bewohnerin wartend. Bei den Festen ihrer Freunde und Bewunderer war und blieb sie die unvergleichliche Königin, aber sie konnte mitten in der übermüthigsten Lust in Thränen ausbrechen und sich in die Einsamkeit zurückziehen. Jetzt ist Prinzessin Champagner längst verflogen und vergessen und lebt nur noch in der Erinnerung einiger alter Theaterbesucher der Variétés. Sie starb am Allerseelentage, drei Jahre nach jenem Abend bei Cyrilla.

Elise Polko.




„Der Freiheit eine Gasse!“

„Willkommen in der Schweiz!“ rief Freund B. uns auf dem Perron des Luzerner Bahnhofs entgegen. „Ihr kommt zur guten Stunde, die Eidgenossenschaft im Festschmuck zu schauen. Morgen feiern wir in Stans den Helden, dem die Schweiz es verdankt, daß sie heutzutage nicht ein österreichisches Kronland ist mit irgend einem Erzherzog als Statthalter.“ Und so geschah es. Der nächste Morgen brachte uns auf kurzer, herrlicher, unvergeßlicher Fahrt nach Stansstad, von wo die schönste Nußbaumallee nach Stans führt.

Je näher wir Stans, dem Cantons-Hauptflecken, kommen, desto lauter rauschen uns die hochgehenden Wogen eines erregten Lebens entgegen. Wir wandeln zwischen Gruppen von Unterwaldner Landleuten, die im Sonntagsstaate zum Feste eilen. Gar kleidsam ist die Frauentracht. Solch ein Unterwaldner Mädchen mit dem silber- oder goldfunkelnden Mieder und den Ketten, die bis zur Hüfte reichen, dem banddurchflochtenen Haar und dem goldenen Pfeil in demselben, schmückt eine ganze Straße.

„Nicht blos schmuck, auch wacker und brav ist das Völklein,“ bemerkte B. „Es kennt die Geschichte seines Landes und ehrt seine großen Männer in sinniger Weise. Als die Marmorgruppe, die heute enthüllt wird, von Rom glücklich bis zum Alpnachersee gelangt war, befestigte das Volk Seile an den Wagen, der sie trug, und zog seinen Winkelried selbst auf dieser Straße hin bis nach Stans, und das vergißt Keiner, der die Hand mit an das Trumm eines Strickes brachte.“

„Von Rom, sagst Du?“

„Ja, dort ist das Meisterwerk von einem Schweizerkünstler, Herrn Schlöth aus Basel, entworfen und vollendet worden.“

Und auch Dich feiern sie mit, alter Sänger der Sempacher Schlacht? Am letzten Nußbaum und unweit der ersten Ehrenpforte hängt, gemalt vom Stanser Künstler Deschwander, das Bild Halbsuter’s von Luzern, dem u. A., in Beziehung auf die Wappen von Habsburg und von Nidwalden, die Worte in den Mund gelegt sind:

[693]

Das Winkelried-Fest in Stans.

[694]

„Ach, Leu. was schmuckst du dienen Wadel,
Und last erschlagen dienen Adel
Wider Recht und mit Gewalt?
Was soll dir diene grusame Gestalt?
Wilt nit anders thun darzue,
So frißt dich dermaleinst eine Schwyzerkuh.“

Das ist ein Vorspiel zu den zahlreichen Reimsprüchen, mit welchen im Flecken selbst Straßen und Häuser auftreten. Doch unendlich mehr, als die meisten derselben, sagen die einfachen Namen, Rüstungen und Fahnen, welche die Triumphbogen zieren, die auf dem Haupt- und Festplatz nach allen Straßen hin errichtet sind. Da liest man: Morgarten 1315 – Laupen 1339 – Sempach und Naefels 1386 – am Stoß 1405 – Arbedo 1422 – St. Jacob 1444 – Malserhaide 1499 – Murten und Grandson 1476; – da hängen aus jener Zeit Hellebarden, Morgensterne, Schwerter und Spieße, Panzer und Harnische; – aber noch tiefer, als dies Alles, dringt zu Herzen der Anblick des beinahe völlig zerfetzten, zerschossenen, von Noth und Tod so oft umringt gewesenen Banners von Unterwalden!

„Seht die Schweizerbübli groß und klein, mit welch leuchtenden Augen sie diese Waffen und Fahnen beschauen, mit welcher Begeisterung sie sich erzählen von den Schlachten ihrer großen Befreiungskriege! Welche Heldensaat für die Zukunft streut eine solche Feier der Thaten der Vergangenheit aus!“

Es packt uns doch stets ganz besonders, wenn wir auch Mädchen und Frauen von patriotischen Hochgefühlen erfüllt sehen. Und hier waren sie es und hatten ein blutig verbrieftes Recht dazu. Waren sie es doch gewesen, die in dem Unterwaldner Kampf von 1798, wo vom 3. bis 7. September bei Stansstad zweitausend Schweizer gegen sechszehntausend Franzosen Stand hielten, neben den Männern, Greisen und Knaben mitfochten und am 8. neben ihnen den Tod fanden. Dieselben Franzosen, die dort solch schmachvollen Sieg erreicht, mordeten Tags darauf in der Stanser Kirche dreiundsechszig wehrlose Greise, Weiber und Kinder sammt dem Priester am Altar hin. Die Namen der Unglücklichen bewahrt eine Marmorplatte im Beinhaus hinter der Kirche, deren Friedhof eine hohe Terrasse bildet. Dorthin drängen sich jetzt viele Weiber und Mädchen und beten für jene Opfer der Vaterlandsliebe. Viele Männer schaaren sich um die schöne alte Marmorstatue Winkelried’s auf den Marktbrunnen von Stans; andere Züge lenken nach Winkelried’s Wohnhaus, und diesen folgen auch wir.

B. belehrt uns, daß der Dachstuhl des Hauses neu und außerdem Vieles verändert sei, nur in der Wohnstube bewege man sich noch in demselben Raume, in welchem Winkelried mit den Seinen gehaust habe. Indeß wir die von Alter und Rauch geschwärzten Wände betrachteten, erschollen plötzlich eigenthümliche mächtige Töne vom Festplatze her.

„Die Helmibläser! Der Festzug hebt an!“ rief die Menge, und unsern B. erfaßte eine solche Schweizerhast, „dabei zu sein,“ daß wir Mühe hatten, ihn in Sicht zu behalten.

Wirklich bot der Festzug des Eigenthümlichen Mancherlei und des Bunten viel, namentlich durch die Waibel, welche den Abgeordneten der einzelnen Cantone folgten und deren Mäntel die Wappenfarben derselben zeigten, bald halb roth, halb weiß, bald halb grün, halb weiß, bald blau und weiß, schwarz und blau und so durch alle Farben, sowie ferner durch die sogenannten Helmibläser von Nidwalden, deren Instrument das große, gewundene Harschhorn (wohl so viel als Kriegshorn) ist und die, wie die Bannerträger der vier Waldstädte, in alter Schweizertracht erschienen, sowie endlich durch die vielen alten und neuen Fahnen der Cantone, Schulen, Vereine aller Art, der Militärabtheilungen etc.

Auf dem Festplatze angekommen, bildeten die Festzuggenossen um das noch verhüllte Denkmal einen weiten Halbkreis, hinter welchem das Volk sich zusammenschob. Unsern B. hatten wir richtig verloren; seine Ellnbogen hatten ihm einen Weg bis in die Nähe der Rednerbühne gebahnt, während wir bescheidene Fremdlinge uns von allem Drängen fern hielten. Um so besser genossen wir den malerischen Anblick der schönen Anordnung. Rechts und links von der gothischen Halle, in deren Nische das Denkmal gegen die Unbill des Wetters geschützt steht, erhoben sich Fahnenburgen, auf dem grünen Tannenreis derselben hingen alte Waffen und Rüststücke, vom Rost der Jahrhunderte gebräunt. Vor dem Denkmal breitete sich die Farbenmusterkarte der Waibel aus, hinter ihm die Helmibläser und Bannerträger und rings wehten die Fahnen, wie vom Gruß der stolz Herabschauenden, waldesgrünen und felsgekrönten Alpenhäupter geschwellt. Da ertönt das alte Sempacherlied, inhaltschwer und taktwuchtig wie eine Nibelungenstrophe:

„Laßt hören aus alter Zeit
Von kühner Ahnen Heldenstreit,
Von Speerwucht und wildem Schwertkampf,
Von Schlachtstaub und heißem Blutdampf,
Wir singen heut ein heilig Lied:
Es gilt dem Helden Winkelried!“

Die Festrede hielt Landammann Vigier aus Solothurn, der Präsident des schweizerischen Kunstvereins. Nach alter Tagsatzungssitte forderte er zur Verrichtung eines stillen Gebets vor dem Beginn der Enthüllungsfeier auf, ein Act, der, von Massen ausgeführt, stets von großer Wirkung ist. Die sehr tüchtige, markige Rede, von welcher wir auf unserm Standpunkte nur wenig Zusammenhängendes verstehen konnten, lernten wir durch unsern Freund B. und später noch genauer durch die Zeitungen kennen, die sie nach Verdienst verbreitet haben. Der Schluß: „Gott erhalte unser liebes Vaterland!“ gab dem Bundeswaibel das Zeichen, die Hülle des Denkmals fallen zu lassen.

Ja, das ist ein Denkmal, würdig der That, der Kunst und des Volks, das es errichtet hat. Sinnig, großartig und vor Allem einfach, dem Auge jedes Menschen verständlich, der weiß, wer der Arnold Winkelried war und ewig ist. Die Gruppe bedeutet die drei Stufen der Sempacher Schlacht: Zu unterst liegt Einer der sechszig Eidgenossen, welche den Versuch, die Eisenmauer der Ritter des Herzogs Leopold von Oesterreich zu durchbrechen, mit dem Tode gebüßt hatten; über ihm hat Arnold von Winkelried den Seinen zugerufen: „Ich will Euch eine Gasse machen, theure, liebe Eidgenossen, sorgt für mein Weib und meine Kinder!“ – er hat die Spitzen der erfaßten Lanzen der Ritter in seine Brust begraben, aber freudig sterbend blickt er empor zu dem Schweizerjüngling, dem Repräsentanten der Zukunft seines Volks, der den siegenden Morgenstern der Freiheit schwingt.

Als nach dem Schluß der Reden und öffentlichen Vorstellungen (auch der Künstler Schlöth mußte des Volkes Zuruf in Empfang nehmen) die Massen sich lichteten, näherten wir uns dem Denkmal, um es in seiner ganzen Schönheit zu genießen. Auch Freund B. fand sich hier wieder mit uns zusammen. Erst jetzt erkannten wir die Vortrefflichkeit der Ausführung bis in’s Einzelnste. Wie edel ist der Leib des Hirtenjünglings im leichten Kittel, wie spannt der Kampfmuth ihm die Sehnen, wie trotzig blickt das Auge des bildschönen Antlitzes! Unübertrefflich ist die Haltung Winkelried’s, er behauptet das Recht der Hauptfigur trotz seiner niedrigeren Stellung, denn der über ihm ist nur ein Jüngling und der unter ihm ein Todter. Er ist der Mann, der nach einer That stirbt! Aber selbst der Todte zieht uns an sich: wie sinnig ist der Schmerz ausgedrückt, das verbüllte Gesicht trauert im Tode noch über das Unglück des Vaterlandes. Ja, das ist ein Denkmal! – Wir halten Alles, Volkslust und beginnende Festtafel, vor dem Bildwerk vergessen – wir taugten nicht mehr dazu. – Aber was nun beginnen ?

„Kommt, Freunde. Wir wollen die Pracht dieses Stückchens Schweizererde in ihrer Verborgenheit aufsuchen und dabei den Winkelriedern nicht untreu werden. Durch eine Schlucht, deren romantischer Zauber vom häßlichsten Namen befleckt wird – die abscheulichen Menschen nennen sie Rotzloch und sie birgt eine gar lieblich gelegene Pension und Heilanstalt des Bauherrn Blättler, der für die große Reisewelt den Pilatus erst zugänglich gemacht hat – steigen wir über das Drachenried bis zum Drachenloch am Zingel hin und freuen uns, daß schon die Sage das Geschlecht der Winkelriede verherrlicht. Denn, so erzählt sie, in jener Höhle hauste ein grimmiger Drache, der weitumher alles Leben vernichtete. Da kam ein Struthan von Winkelried und schlug ihn todt. Zum Dank und ewigen Angedenken erbaute man die Winkelriedskapelle, die nichts mit unserem Arnold von Winkelried zu thun hat, der den Drachen Oesterreich vom Schweizerboden vertrieb.“

Wir gehorchten und danken unserm B. heute noch für seine weise Führung. Wir liefen der wundervollsten Beleuchtung der Schlucht und ihrer wilden Felsen und Wasser durch elektrisches Licht und bengalische Flammen gerade in die Hände und nahmen so zum guten Schluß dieser Winkelrieds-Denkmal-Enthüllung das herrlichste Alpennacht- und Prachtbild mit heim in unsere alte Ebene.



[695]
Negerleben.
Skizze von Fr. Gerstäcker.
Die Sclavenfrage. – Behandlung. – Der Neger bei der Arbeit. – Verachtung der Neger. – In Ecuador und Peru. – Charakter der Neger. – Ein Bild aus dem Negerleben. – Bei einem reichen Neger. – Die Fähigkeiten des Negers.

Die Menschen gewöhnen sich – und es ist das eine merkwürdige Thatsache – mit der Zeit selbst an das Wunderbarste, so daß sie es zuletzt nicht einmal der Mühe werth halten, mehr darüber nachzudenken. Wir sehen die Sonne auf- und untergehen, die Pflanzen keimen und wachsen, das Meer ebben und fluthen – sehen Winter und Sommer kommen, den Baum aus einem Kern, den Schmetterling aus einer Raupe, den Lieutenant aus einem Wickelkind entstehen, und bemerken die Verwandlung nicht einmal mehr, die für uns etwas Alltägliches geworden.

So staunen wir auch wohl anfangs neue Erfindungen an und bewundern die Kraft des Dampfes und Elektro-Magnetismus – aber nicht lange, dann benutzen wir sie und können uns kaum noch denken, daß es eine Zeit gegeben hat, in der sie nicht gekannt war.

Ebenso geht es mit althergebrachten Gewohnheiten und Sitten. Kommt ein Europäer in ein tropisches Land, so ist er ganz erstaunt, dort auf einmal einer Race zu begegnen, die vollkommen nackt in der Welt herumläuft, und will sich halb todt lachen, wenn sich der König eines fremden Volkes zu ihm auf die Erde setzt und ihn um etwas Tabak anspricht; aber kaum lebt er vier Wochen unter den Leuten, so sieht er weder die Nackten mehr, noch findet er etwas Außerordentliches in der Herablassung Sr. Majestät.

Genau so geht es uns mit der Sclaverei.

Wenn sie noch nie bestanden hätte und ein Mensch sich, dann erfrechen wollte, einen zweiten, der eine andere Hautfarbe hat, als er, und nicht ganz so „gebildet“ ist, zu zwingen, für ihn umsonst zu arbeiten, während er in der nämlichen Zeit dessen Frau und Kinder an einen Dritten verkaufte, so wären wir außer uns und hielten das mit Recht für eine Scheußlichkeit und Niederträchtigkeit. Jetzt aber sind wir so gewohnt, von Negersclaven und deren Versteigerung zu hören, daß die meisten Menschen bis vor kurzer Zeit gar nichts Absonderliches mehr in der Sache fanden. Ja, in den Ländern, wo die Sclaverei wirklich bestand, wurde sogar das Recht der Weißen, schwarze Sclaven zu halten, in den Schulen gelehrt, und Geistliche entblödeten sich nicht, die heilige Schrift zu mißbrauchen, um ein solches Verbrechen als von Gott selber eingesetzt hinzustellen.

Daß wir die Baumwolle theurer bezahlen müssen, wenn es einmal keine Sclaven mehr giebt, steht wohl fest, denn der Arbeiter verlangt dann seinen verdienten Lohn, aber das Rechtlichkeitsgefühl civilisirter Menschen hat sich endlich dahin ausgesprochen, daß ein wenn auch durch Jahrtausende geübter Brauch doch ein Mißbrauch und eine Niederträchtigkeit sein könne, und während in Rußland die Leibeigenen freigegeben werden, traten in Nordamerika Hunderttausende unter Waffen, um ihr Vaterland von der Schmach zu befreien, zu den Sclavenstaaten gezählt zu werden.

Es fällt mir indessen hier nicht ein, eine Abhandlung über die Sclaverei, ihre Nichtberechtigung oder Berechtigung zu schreiben. Der gesunde Sinn des Volkes hat längst darüber entschieden und sie für ein Verbrechen erklärt – wenn es auch selbst in Deutschland noch einige Menschen giebt, die sie vertheidigen und mit schalen Phrasen ihre Existenz als nothwendig darzustellen suchen. Ich selber möchte hier dem Leser nur eine kurze Schilderung der Zustände geben, in denen ich Neger in den verschiedenen Welttheilen getroffen habe, und eine solche Zusammenstellung ist immer insofern interessant, als sie einen Vergleich zuläßt.

Von der Heimath der Neger will ich nicht reden. Leute, die mit deren Vaterland genau vertraut sind, haben das schon viel besser gethan, als ich es im Stande wäre. Nach Allem aber, was man von ihnen hört und sieht, scheint es, daß sie dort, wo sie mit den Weißen noch nicht in nähere Berührung kamen, wie das auch bei den Indianern der übrigen Welttheile der Fall ist, harmlos und gastfrei sind und eben nicht mehr arbeiten, als sie zu ihrem Lebensunterhalt brauchen.

Dann kommen die Europäer zu ihnen. Portugiesische Sclavenhändler durchziehen das Land, die Gier nach Reichthümern wird in ihnen erregt, alle Leidenschaften werden wachgerufen und zu Verbrechen gesteigert, und dann werfen sich die Weißen in die Brust und sagen: „Was für thierische Völker sind das! Kann sie Gott der Herr für etwas Anderes erschaffen haben, als den Weißen durch ihre Körperkraft zu dienen?“

Wir wollen uns diese thierischen Völker betrachten, wie sie in anderen Ländern der Erde leben, wohin sie aber nur durch die Weißen selber gebracht wurden.

Die eingeborenen Afrikaner sind nämlich keine seefahrende Nation, woran auch vielleicht die ungünstige Beschaffenheit ihrer Küsten die Schuld trägt. Nur die ihnen zunächstliegenden wenigen Inseln haben sie bevölkert und sie entweder ganz besetzt, oder sich mit den Ureinwohnern vermischt, wie z. B. auf der Westküste von Madagascar.

Daß die Eingeborenen Australiens eine Mischlingsrace von Aethiopiern und Malayen sein sollten, ist nur eine Phantasie Blumenbach’s. Die australischen Schwarzen sind ein unzweifelhafter Urstamm, und nie hat ein Aethiopier oder Neger deren Küsten, außer auf einem Schiffe der Weißen, betreten.

Auch im ostindischen Archipel, ja selbst in dem ihnen gegenüberliegenden Arabien finden wir keine Spur von ihnen als freien Einwanderern. Sie sind nur als Sclaven dort hinüber geschleppt, während sie von den an ihren Küsten landenden Abkömmlingen der kaukasischen Race weiter und weiter in das innere Land zurückgedrängt wurden.

Wenn sie aber nicht selber zur See gehen wollten, so gab man ihnen Passage, und die Spanier und Portugiesen, nachdem sie in Amerika die gutmüthigen Indianer unter dem Vorwand, ihre Seelen zu retten, erschlagen oder zu Tode geknechtet hatten, mußten schon Sclaven dorthinüber führen, um die Arbeit zu thun, die das faule Seeräubergesindel nicht selber verrichten mochte.

Nordamerika folgte, und wie sich der Reis-, Baumwollen- und Zuckerrohrbau als ergiebig zeigte, schaffte man Neger dorthinüber, die nicht allein die Felder bestellen mußten, sondern auch einen einträglichen Handelsartikel bildeten.

Die Sclaven werden nun überall, wo man sie hält, nur in seltenen Fällen wirklich schlecht behandelt, denn es liegt im eigenen Interesse des Besitzers, sie gesund und bei Kräften zu erhalten. Sie dürfen deshalb ebensowenig, wie ein Pferd oder Stier, überarbeitet werden, und die Hauptkunst eines ordentlichen „Sclavenzüchters“ besteht darin, so viel Arbeit aus ihnen herauszubekommen, als sie leisten können, ohne sie dabei zu schädigen.

Es giebt Ausnahmen – ich kenne auch selbst aus den Vereinigten Staaten Beispiele von boshafter, ausgesuchter Grausamkeit – Geschichten, wie sie selbst Mrs. Beecher-Stowe nicht schlimmer erdacht hat, die doch das Mögliche darin leistete, aber es sind das doch nur Ausnahmen. Im Ganzen hatten sie ihre bestimmte Arbeitszeit und ihre ihnen angemessene Kost, auch die nöthige Kleidung, und die meisten Herren gaben ihnen auch noch einen Gartenplatz, um darin für sich selber zu arbeiten. Die Vertheidiger der Sclaverei sagen nun: „Was will so ein Neger mehr? Ist er nicht viel besser daran, als unsere deutschen Armen, die, wenn sie krank und elend werden, verhungern können, ohne daß sich ein Mensch um sie bekümmert? Der Herr muß seinen Sclaven erhalten, auch wenn er nicht arbeitet.“

Das ist wahr, und die gezwungene Arbeit bleibt das geringste Elend der Sclaven – das furchtbarste ist der Verkauf.

Eine Negerfamilie hat über Tag ihre Arbeit gethan, ihr Herr ist gut und milde mit ihnen, sie werden freundlich behandelt, aber – er liegt krank in seinem Haus. Wenn er morgen stirbt, wird das Gut mit seinem Inventar, zu dem die Sclaven gehören, verkauft, und was wird dann aus ihnen? Jetzt noch sitzen Vater und Mutter mit ihren Kindern beisammen – wie lange noch? Die Gesetze verbieten freilich, daß in den Staatsauctionen die Familien getrennt werden; aber wer kauft die Neger auf den [696] Auctionen? Nur herumreisende Yankees, denn kein anständiger Südländer würde sich zu dem schmutzigen Geschäft eines Sclavenhändlers hergegeben haben; nur diese Menschenclasse, die der freie Norden und dort hauptsächlich der kleine Complex der eigentlichen Yankeestaaten, Massachusets, Connecticut und Vermont liefert. Die aber machten sich kein Gewissen daraus, Familien zu trennen und das Weib von dem Gatten, Kinder aus dem Arme der Eltern zu reißen. Es war einmal ihr Geschäft, für das ja auch sogar mancher deutsche Gelehrte seine Lanze einlegte und, wenn auch unbewußt, seine Rechtmäßigkeit vertheidigte.

Das ist das Furchtbare im Leben des Negersclaven, daß er nie und zu keiner Stunde seiner eigenen Familie sicher ist, daß er, wenn er sein Kind auf den Arm nimmt und es herzt und küßt, nicht weiß, ob nicht schon morgen ein frecher, tabakkauender Weißer, von den Gesetzen beschützt, den Arm danach ausstreckt und er es nie, nie wiedersieht. Fragt die Aermsten unserer Armen, fragt die unglücklichen Erzgebirger, die sich in ungünstigen Jahren von faulen Kartoffeln nähren und nicht einmal genug von der Nahrung haben, ob sie mit ihm tauschen möchten!

Aber sonst geht es den Negern gut.

Es ist gerade so, als ob ich von einem Menschen sage: „Er hat freilich die Schwindsucht – aber sonst geht es ihm gut.“

Ein glücklicher Leichtsinn half dem Volk übrigens das oft Unerträglichste wirklich zu ertragen. Ja, man hörte wohl dann und wann einmal von dem Selbstmord einer Mutter, der man ihr Kind geraubt und die sich in den Strom gestürzt; auch hat dann und wann ein junger Bursch aus thörichter Eifersucht einen Aufseher erschlagen und ist natürlich deshalb gehangen worden. Aber war das nicht Wahnsinn, mußte er denn nicht wissen, daß die Sklavinnen alle Eigenthum ihres Herrn sind, und keines der Mädchen dem Aufseher oder nigger-driver eine kleine Gefälligkeit weigern konnte, wenn sie nicht die Hölle auf Erden haben wollte.

Wie vergnügt die jungen Leute trotzdem zur Arbeit gingen! Es lag ihnen einmal im Blut, und wenn man sie so zusammen schwatzen und lachen hörte, hätte man kaum glauben können, daß eine einzige Sorge ihr Leben trübe.

Der Neger hat ungemein viel Sinn für das Komische und Niemand in der Welt kann herzlicher und lauter lachen, als ein Neger, Ihr Jaw! Jaw! Jaw! hört man oft unglaubliche Strecken weit, und sie biegen sich dabei zurück und zeigen ein paar Reihen von Zähne, die an blendender Weiße Nichts zu wünschen übrig lassen. Musik und Tanz lieben sie ebenfalls leidenschaftlich und das einfachste Instrument genügt, um eine ganze Plantage auf die Füße zu bringen. Oft und oft habe ich die Arbeiter bewundert, die an der Levée von New-Orleans die schweren Baumwollenballen und Zucker-„hogsheads“ an Bord der Schiffe wälzen. Besonders das letztere Geschäft treiben sie systematisch. Es giebt nämlich kaum eine schwerere Arbeit, als solch ein großes Zuckerfaß zu rollen, denn es ist nie vollständig gefüllt. Der schwere Zucker fällt dadurch fortwährend nach unten, so daß stets das ganze Gewicht gehoben werden muß. Je schwerer die Arbeit aber, desto lauter und lustiger geht es dabei zu, und man soll nur einmal die acht Mann, die gewöhnlich zu einem großen Faß gebraucht werden, sehen, wie sie dabei hüpfen und springen und im Tact ein munteres Lied singen. Wie am Bord der Schiffe bei schweren Arbeiten, macht auch hier einer den Vorsänger, der irgend eines ihrer oft schwermüthigen, oft ausgelassenen Negerlieder singt, in das dann, beim Ende eines jeden Verses, der Chor in lauter jubelnder Lust einfällt. Aber noch nicht genug, der Vorsänger ist auch zugleich Vortänzer, und während er jetzt mit triefender Stirn gegen die ungefüge Last anarbeitet, springt er plötzlich zurück, tanzt, während er die zwei letzten Strophen seines Verses singt, um die Arbeitenden und das Faß her, und wirft dann mit dem Refrain seine Schulter wieder gegen das riesige Hogshead.

So finden wir sie in den Sclavenstaaten, während sie in der Freiheit ganz andere, viel gesetztere Menschen werden und ihrer Arbeit mit großem Eifer, aber weit ruhiger obliegen, den fröhlichen leichtherzigen Sinn aber auch da nicht verleugnen.

In den nördlichen Staaten der Union leben Tausende und Tausende von freien „Farbigen“, wie sie sich dort selber bezeichnen, denn sie setzen eine Ehre darein, nicht etwa Schwarze oder gar Neger und noch schlimmer Nigger genannt zu werden, da das Wort Nigger eins ihrer eigenen und ärgsten Schimpfworte ist. Sie belegen ihre Race auch deshalb nur mit dem Namen coloured people oder farbiges Volk, und der Unterschied zwischen ihnen und den Weißen wird mit a white lady und a coloured lady oder a white gentleman und a coloured gentleman ausgedrückt.

Nun fand man sie allerdings in vielen Gewerken vertreten; sehr selten wird man aber einen der Race als Schneider, Drechsler, Blechschmied, Uhrmacher etc. antreffen, selbst Kaufleute und Händler wurden sie nur in Ausnahmsfällen. Dagegen monopolisirten sie schon früher in allen nordischen Städten Amerikas sowohl, wie selbst im Süden die sogenannten barbershops oder Barbierläden, in denen auch stets zugleich frisirt wird. Sämmtliche Köche und Kellner in den großen Hotels, Oystershops und anderen Anstalten sind ebenfalls „coloured men“ und keine Musikbande besteht fast von den Canadischen Seen nieder bis zum Cap Horn an der Südspitze des Festlandes, wo nicht ein Neger oder Mulatte die große Trommel schlüge oder Cymbeln und Triangel bearbeitete.

Auch an Bord von Schiffen sind sie meist Köche und Stewards, seltener Matrosen, nie aber konnten sie als Steuermann fahren und können es wahrscheinlich noch nicht, denn kein weißer amerikanischer Matrose würde sich von ihnen etwas befehlen lassen.

Merkwürdig ist überhaupt die grenzenlose Verachtung, mit welcher die farbigen Leute, selbst in ihren lichtesten Abkömmlingen, von den weißen Nordamerikanern behandelt wurden, ehe ihre Emancipation erklärt war. Sie hatten im Theater ihre bestimmten Plätze, auf der Eisenbahn ihre besonderen Wagen, sie mußten in den Straßen jedem Weißen ausweichen, wenn sie sich nicht augenblicklicher Züchtigung aussetzen wollten, und nur in neuerer Zeit scheint man den Versuch gemacht zu haben, sie in Allem den weißen Bürgern der Union gleichzustellen, ja ihnen sogar das Stimmrecht zu verleihen, und es bleibt abzuwarten, wie lange das gut thut. Es wird aber sehr schwer sein, die alten Vorurtheile so mit einem Mal zu beseitigen, denn der Weiße haßte nicht allein den Neger – das hätte sich ändern lassen –, sondern er verachtete ihn auch, und ein derartiges Gefühl ist unendlich schwer in Achtung zu verkehren. Geschah doch sogar das Außerordentliche vor einigen Jahren in einem der ersten Hotels Bremens, einer deutschen Stadt, wo ein Violinenvirtuos, ein Mulatte und ein durchaus gebildeter junger Mann, die Tafel auf Geheiß des Wirthes verlassen mußte, weil die dort das Haus zahlreich frequentirenden amerikanischen Schiffscapitaine drohten, das Hotel in Verruf zu erklären, wenn der Nigger nicht entfernt würde.

Jetzt ist die Sclaverei im Norden aufgehoben, und das einzige Land des amerikanischen Continents, wo es noch (außer in einem kleinen Theile Guianas) Negersclaven giebt, ist Brasilien. Dorthin wird auch noch – trotz aller dem entgegenlaufenden Gesetze – ein lebhafter Negerhandel von der afrikanischen Küste getrieben. Man scheint übrigens die Sclaven in Brasilien – so weit ich nämlich darüber urtheilen kann, ziemlich gut zu behandeln, und die Regierung thut auch ihr Möglichstes der Verbreitung der Sclaverei entgegenzutreten. Verbietet man doch sogar den deutschen Colonisten dort Sclaven zu halten. Die Neger verleugnen aber auch dort nicht ihr leichtes Blut und verrichten die schwersten Arbeiten unter Singen und Lachen. So sah ich einst vier Neger ein Pianino in Rio-Janeiro durch die Straßen tragen, und zwar auf ganz eigenthümliche, dort aber stets gebräuchliche Weise. Sie trugen das ziemlich schwere Instrument an den vier Ecken auf den Köpfen, und keuchten nicht etwa ihren Weg entlang, sondern tanzten. Einer von ihnen hatte eine Art von Castagnetten, mit denen er den Tact angab, und während sie mit lauter, jubelnder Stimme und außerordentlich vergnügten Gesichtern eines ihrer tollen Lieder sangen, tanzten sie dabei im wahren Sinn des Worts auf dem breiten Trottoir hin und verdrehten ihre Körper in der wunderlichsten Art.

In sämmtlichen Republiken des amerikanischen Continents sind die Negersclaven freigegeben, denn mit Recht hielten es die damaligen Gesetzgeber einer Republik für unwürdig, alle Menschen frei und gleichberechtigt zu erklären, und doch dabei die eine bestimmte Race in Banden und Knechtschaft zu halten. An der ganzen Westküste Amerikas, wie auch in den La Plata-Staaten, giebt es, dem Gesetz nach, keinen Sklaven mehr. Wo aber wäre schon ein Gesetz gegeben worden, das nicht der Eigennutz und die Habgier der Menschen zu umgehen und kraftlos zu machen gewußt!

Das Gesetz in Ecuador und Peru sagt ausdrücklich, daß dort kein Neger mehr als Sclave gehalten und verkauft werden darf, und doch geschieht Beides noch bis zu dieser Stunde, wenn auch in beschränktem Maße, aber noch dazu vor Gericht und von den [697] Gesetzen unterstützt. Das Wie? ist leicht erklärt. Die Neger sind Alle frei, aber – Contracte haben, zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, volle Gültigkeit. Die Neger sind, wenn nicht zur Arbeit gezwungen, ziemlich faul, und Viele von ihnen auch dem Trunk ergeben. Haben sie gar kein Geld mehr, so arbeiten sie, und Weiße finden sich überall, die ihnen Vorschuß geben. Hat der Neger aber von einem Weißen erst einmal Vorschuß bis zu einer Höhe von vierzig Dollars erhalten, dann kommt der Gläubiger zu dem Schwarzen und sagt: „Hör’ einmal, lieber Freund, das geht nicht mehr. Was Du mir schuldig bist, kannst Du allerdings nach und nach abarbeiten, aber Du mußt mir jetzt hier diesen Schein unterschreiben, daß ich vierzig Dollars an Dich zu fordern habe und Du mir dafür ein Jahr dienen willst. Was Du indessen brauchst, geb’ ich Dir.“ Der Schwarze unterschreibt nun den Schein und tritt in den Dienst des Weißen, dessen Sclave er von dem Augenblick ist, denn in nur sehr seltenen Fällen wird er wieder frei. Was er nämlich indessen an Kleidern und Schuhwerk braucht, oder an Branntwein haben will, giebt ihm sein neuer Herr bereitwillig zu von ihm selber festgestellten Preisen, und sorgt dadurch schon dafür, daß er bis zum Ende des Jahres wieder die alten vierzig Dollars Schulden hat.

Auch ein förmlicher Verkauf ist dabei nicht ausgeschlossen, wenn dieser auch unter einem anderen Namen stattfindet. Ein Anderer zahlt nämlich dem Gläubiger die Schuldsumme vor Gericht und eine Kleinigkeit mehr privatim, wenn verlangt, und der Sclave – wechselt seinen Herrn.

In Ecuador haben sich die befreiten Sclaven meist in das niedere Land gezogen und dort ganze Districte besiedelt. In den mächtigen Niederungen, besonders an den Ufern der verschiedenen Ströme, sind förmliche Niederlassungen von ihnen gegründet, und man kann dort tagelang reisen ohne einen anderen Menschen als einen Neger oder Mulatten zu treffen. So fand ich am Cachavi (einem kleinen Strom, der sich in den Santiago ergießt und durch diesen mit dem Pailon in Verbindung steht) eine völlige kleine Negerrepublik. Sie hatten dort einen schwarzen Alcalden und schwarze Beamte und nur ein einziger weißer Händler, ein Italiener, lebte zwischen ihnen.

So war es an der ganzen Westküste aufwärts, während auch im Süden die Ufer des Guajaquilstroms meistens von Schwarzen besetzt und bebaut waren, die dort Platanen- und Cacaopflanzungen angelegt hatten, während die Weißen den Handel zwischen ihnen vermittelten.

Anders stellte sich das Verhältniß in Peru, wo es kein niederes sumpfiges Land giebt, das ihnen, wie in den nördlicheren Staaten, allein überlassen blieb. Dort halten sich die Schwarzen in der Nähe von Lima, oder selbst in der Stadt auf – eben nicht zum Nutzen der öffentlichen Sicherheit – und es giebt kaum ein frecheres, vorlauteres Volk in der weiten Welt, als diese freigesprochenen Neger Perus. Ganze Vorstädte bevölkern sie dort, und während die Regierung die jungen Leute meist unter die Soldaten steckte, sind doch noch genug übrig geblieben, um die Straßen unsicher zu machen. Nicht mit Unrecht legte man nämlich den Schwarzen einen großen Theil jener Straßenräubereien zur Last, die in der unmittelbaren Nähe Limas verübt wurden und ihren Höhepunkt erreichten, als die Todesstrafe aufgehoben wurde. Die Gefängnisse waren nämlich so beengt, daß man die Verbrecher gar nicht alle darin unterbringen konnte, und es ist wohl nicht blos eine Fabel, wenn die Peruaner behaupten, daß man damals, wenn die Zellen gefüllt waren und neue Sträflinge eingeliefert wurden, die hinausließ, die am längsten gesessen hatten. Erst als Präsident Castilla im Jahre 1860 die Todesstrafe nothgedrungen wieder einführte und zugleich ein riesiges Zellengefängniß mit furchtbaren Behältern im Bau begann, nahmen die Verbrechen etwas ab, wenn sie auch nicht ganz aufhörten.

Und tragen die Schwarzen allein an diesen Verbrechen die Schuld? Ich glaube kaum. Befreite Sclaven nur waren es, die das gewonnene Gut, ihre Freiheit, misbrauchten, weil sie nie gelernt hatten es zu schätzen, und wahr ist das Wort:

Vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht –
Vor dem freien Menschen erzittere nicht.

Wir dürfen uns deshalb auch nicht wundern, wenn wir in nächster Zeit noch von manchem Misbrauch hören sollten, den die Neger in Nordamerika von ihrer Freiheit machen. Es ist leicht, aus einem Sclaven einen freien Menschen, aber entsetzlich schwer, aus einer rohen arbeitenden Kraft plötzlich und mit einem Schlag einen civilisirten und vernunftbegabten Staatsbürger zu machen.

Unverhältnißmäßig wenig Neger giebt es, zum großen Glück für die dortige Bevölkerung, in Australien, was aber nur zufälligen Umständen zu verdanken ist.

In Nordamerika waren die kriegerischen Eingeborenen nicht zur Arbeit zu zwingen, und zogen sich, durch ihr Terrain begünstigt, weiter und weiter in ihre Wälder zurück; ebenso in Brasilien. In den übrigen spanischen Colonien, wo jene Piraten, die auf ihren verschiedenen Raubzügen die Länder nach und nach entdeckten, von fanatischen Priestern angestachelt, Millionen unschuldige Menschen unter dem Vorgeben erschlugen, ihre Seelen zu retten, rotteten sie die Bevölkerung aus. In allen diesen Ländern mußte der Sclavenhandel die fehlenden Arbeiter ersetzen. Nicht so in Australien, das von England aus nur als Verbrechercolonie in Besitz genommen, und durch hinübergesandte Sträflinge zuerst colonisirt wurde. Dort brauchte man keine Sclaven, denn die Kettengänge der verurtheilten Verbrecher verrichteten so lange die Arbeit, bis freiwillige Einwanderer, durch den Reichthum des Landes angelockt, ihre Plätze einnahmen. So kommt es denn, daß sich dort nur sehr wenig Neger aufhalten, und es sind das fast nur einzelne, von Schiffen entlaufene Matrosen, und selbst diese hielten sich in den Städten auf und mieden, nach einigen verunglückten Versuchen, das innere Land, wo sie bald fanden, daß selbst ihr Aufenthalt dort mit Lebensgefahr für sie verknüpft sei.

Merkwürdig ist der Haß der Mulatten und Quadronen gegen die Neger, deren Stamm sie doch entsprossen. Wie der Wolf keinen grimmigeren Feind in der Welt hat, als den Wolfshund, wie der Renegat kein Volk so hart bedrückt, als seinen eigenen Stamm, so haßt der Mulatte selbst den Weißen, der ihn unter die Füße tritt, nicht so bitter, wie seine eigene schwarze Verwandtschaft, und die grausamsten und unerbittlichsten Sclavenaufseher oder nigger-driver der ganzen Welt sind überall die Mulatten selber.

Besonders hat sich das auch in dem Befreiungskrieg von Haiti gezeigt, wo die Mulatten die entsetzlichsten Grausamkeiten gegen die eigentlichen Neger begingen, und wieder ihrerseits von diesen auf das Bitterste verfolgt und, wo es anging, vernichtet wurden.

Der Charakter der Negerrace ist im Ganzen gutmüthig, denn bei nur einigermaßen freundlicher Behandlung sind sie leicht bei guter Laune und willig zu jeder Arbeit zu erhalten. Viel religiöser Sinn liegt nicht in ihnen, wo sie sich aber einmal in diese Richtung werfen, da werden sie auch leicht fanatisch, besonders die Frauen, und neigen dann meist zu den Secten, deren Religionsübungen in den lautesten Ausbrüchen stattfinden, wie z. B. die Methodisten in Amerika. Diese haben in der That die meisten Anhänger unter den Schwarzen, und einer solchen Andacht beizuwohnen, wenn der „Geist“ über die Betenden kommt und sie zu rasen anfangen, wenn sie stampfen, springen, schreien und ihre eigene scharfe Ausdünstung dabei den geschlossenen Raum erfüllt, ist das Haarsträubendste, was man sich auf der Welt denken kann.

Dabei lieben sie Putz und helle Farben. Die Frauen besonders kleiden sich am Liebsten in Weiß und Hellgelb und es steckt wirklich etwas vom Affen in ihrer Natur, wenn man sieht, wie gewissenhaft der freie Schwarze die Moden der Weißen nachahmt, und wie komisch er sich darin bewegt.

Nehmen wir ein Bild aus der Zeit vor Aufhebung der Sclaverei, Ein alter, würdiger gelbbrauner Gentleman mit vollkommen weißwolligem Haar, der in seiner Jugend vielleicht auf irgend einer südstaatlichen Pflanzung Baumwolle pflückte, später als Steward auf einem Dampfboot mit furchtbar gescheiteltem Haar eine Serviette unter dem Arme herumtrug, um sich im reiferen Mannesalter hinter den gestreiften Barbierpfahl der schönen Kunst zurückzuziehen, hat sich endlich zur Ruhe gesetzt und ordentlich rührend ist die steife Ehrbarkeit, mit der er jetzt seinen schwarzen Frack, weiße Hosen, ein großes, schneeweißes Jabot, riesige Vatermörder und eine vergoldete Dose trägt.

Dort kommen zwei schwarze Damen Broadway herunter. Es ist Sonntag Nachmittag, die eine Dicke – mit einer Statur, mit der sie auf jeder deutschen Messe als „Kolossaldame“ ihr Glück machen könnte, ist in ein weißes, ausgeschnittenes Mousselinkleid gehüllt, das ihre Reize mehr verräth, als verbirgt – sie trägt dabei eine goldene Kette, riesige Ohrringe, Broche, Gürtelschnalle, Armbänder, Ringe, kurz einen wahren Juwelierladen von Offenbacher [698] Arbeit, einen weißen Seidenhut mit sämmtlichen Landesfarben der Welt, und einen orangegelben chinesischen Shawl. Die junge Dame aber, die sie bei sich hat, ein junges Ding von noch kaum siebenzehn Jahren, voll und schlank gebaut, nur von Rabenschwärze und mit etwas zu sehr aufgeworfenen Lippen, aber prachtvollen Zähnen und ein paar wahren Gluthaugen, geht ebenfalls weiß gekleidet und noch dazu höchst kokett mit weißen Rosen in dem wulstigen Wollhaar, das in unzählige kleine Zöpfe geflochten ist.

Ihnen begegnet ein junger Stutzer – ebenfalls „couleurt.“ Er war Steward in einem der ersten Hôtels Philadelphias und ist jetzt nach New-York gekommen, um hier ein „Engagement“ zu suchen. Er geht à quatre épingles gekleidet, ordentlich carrikirt modern, mit hellblauer, kaum fingerbreiter Cravatte, veilchenblauen Glacéhandschuhen, Glanzstiefeln, großcarrirten, sehr engen Pantalons, hellblauem Frack mit gelben Knöpfen, weißer, gestickter Weste, Tuchnadel, Hemdknöpfen, Uhrkette und Berloques, kurz mit Schmuck behangen, wie ihn bei uns nur ein jüdischer Weinreisender trägt. Ein kleines Rohrstöckchen mit Elfenbeingriff, ein gekrümmtes Knie vorstellend, hält er an die dicken Lippen und betrachtet musternd die ihm Begegnenden. Da fällt sein Blick auf das ungleiche Paar.

„By Golly!“ ruft er entzückt aus, „Missus Nelson and the lovely blossom Miss Sarah Mary!“ (Madame Nelson und die liebliche Blüthe Fräulein Sarah Mary)

„Oh, Looord a Massy,“ sagte die alte würdige Dame mit einem tiefen Grundbaß, indem sie erstaunt mitten im Weg stehen bleibt und beide Hände – von denen die eine den Sonnenschirm, die andere den „Strickbeutel“ hält, erstaunt emporhebt, „Mr. Brown in New-York.“ Die junge Dame lächelt verschämt und zeigt zwei Reihen wundervoller Zähne und ein paar verführerische Grübchen in den Backen. Mr. Brown ist ganz befangen von der aufgeblühten Knospe, die er seit Jahren nicht gesehen. Er behält den Hut in der Hand.

„Bitte, bedecken Sie sich, Mr. Brown,“ sagte die Dame, „Gemmen always do.“ (Die Herren thuen das immer.)

Mr. Brown gehorcht, aber noch immer wie in einem Traum. Dabei vergißt er die für Einen seiner Race stets nöthige Aufmerksamkeit in der Straße.

Ein junger Patricier kommt des Weges; er ist elegant, aber nachlässig gekleidet, sein Gesicht sieht verlebt und unzufrieden aus. Er scheint nicht besonders guter Laune; seine Stirn ist in Falten gezogen: plötzlich stößt er gegen den ent- und verzückten Mr. Brown aus Philadelphia an.

„Kannst Du nicht aus dem Weg gehen, verdammter Nigger!“ und ein Faustschlag schleudert den Unglücklichen aus seinem Himmel und von dem Trottoir hinab, daß ihm der Hut vom Kopf und der Stock mit dem Elfenbeinknie aus der Hand fällt.

„Looord a Massy,“ haucht die alte würdige Dame wieder in tiefer Entrüstung, aber mit nur halblauter Stimme, und der unglückliche Mr. Brown wagt gar keine Entgegnung und hebt nur bestürzt seine Habseligkeiten wieder auf. Er weiß recht gut, daß alle Weißen in Sicht bei der geringsten Widersetzlichkeit über ihn herfallen und ihn mit Händen und Füßen mißhandeln würden. Klagen? bei wem?

„No dammage done“ (kein Schaden verursacht), lacht ein Irländer, der gerade sehr vergnügt mit seiner „dray“ oder seinem Karren vorüberfährt.

Es waren das tägliche Scenen in New-York und sind es vielleicht noch, denn das Volk, was auch die Regierung für Gesetze erläßt, wird sich schwer daran gewöhnen können, dem „Nigger“ eine Gleichberechtigung mit sich selber zuzugestehen.

Dadurch bleiben sie auf sich selber angewiesen – eine verachtete Classe in einer ihnen fremden Welt, selbst wenn sie sich, wie das gar nicht etwa selten geschieht, zu Wohlstand und selbst Reichthum hinaufarbeiten.

So besuchte ich einst das Haus eines alten, sehr reichen Mulatten, der am False River in Louisiana eine große Plantage und selbst viele Sclaven hatte. Ich wollte einen von diesen von ihm miethen und wurde von der chamber maid oder dem „Kammermädchen“, das mir die Thüre öffnete, in das untere, hohe und luftige „Parlour“ gewiesen.

Welch ein Unterschied: die Stammesgenossen des alten Herrn wohnten da draußen in kleinen, dürftigen Negerhütten, ihre Kleidung war ein weißbaumwollener Kittel, ihre Nahrung die gewöhnliche Negerkost: Speck und Syrup – und hier?

Das Zimmer war mit einer rothen, geschmackvollen Tapete ausgeschlagen. Gepolsterte Divans und Fauteuils standen darin umher und Mahagonymeubles. An den Wänden hingen – allerdings nicht gerade von den ersten Künstlern gemalte – Bilder alter, würdiger Herren und Damen aus der Familie, mit schwarzbraunen Gesichtern und Wulstlippen, aber in höchstem Staat und Glanz – es schien der Ahnensaal zu sein – und auf dem einen Divan und in dem einen Fauteuil lehnten zwei gelbbraune Damen von etwa zwei- und sechsundzwanzig Jahren in einem sehr losen, aber sehr sauberen Morgenanzug – die erhitzten Gesichter komischer Weise dicht mit weißem Puder bestreut, um die transpirirte Feuchtigkeit abzutrocknen. Sie empfingen mich aber mit Grazie, und der alte Herr, der bald darauf eintrat, machte das Geschäft mit mir in wenigen Minuten ab.

Es war ein Mann von – wie man ihn dort taxirte – etwa hunderttausend Dollars Vermögen, aber dennoch durfte er nicht wagen, sich in irgend einem Hôtel mit an den Tisch zu setzen, oder – wenn er einmal das Dampfboot nach New-Orleans benutzen wollte – auf diesem in der Cajüte zu fahren. Er mußte im Zwischendeck bleiben, wohin die „Niggers“ gehörten.

Wie wunderbar ist überhaupt die ganze Race über den Erdboden zerstreut! In der Heimath, unter ihren kleinen Fürsten, deren Geldgier die Weißen erregt haben, geknechtet, gehetzt, eingefangen und an die Fremden verkauft, arbeiten sie in einigen Ländern unter der Peitsche ihres Aufsehers, während sie in anderen, der eigenen Heimath entfremdet, als unabhängige Menschen leben dürfen – und wie benutzen sie diese Freiheit?

Der Stamm Israels, auf ganz ähnliche Weise in der Welt zerstreut ist, macht einen anderen Gebrauch davon. Er weiß, daß er nie durch sich selbst, nur durch den Erwerb herrschen kann, und wirft seine ganzen Fähigkeiten auf diesen Zweig. Der Neger nicht. Er hat keinen Sinn, kein Geschick für den Handel, und was er sich verdient, geschieht mit schwerer Arbeit oder eisernem Fleiß. Allerdings haben wir einige Ausnahmen, wie z. B. Ira Aldridge und einige Wenige, die sich wirklich der Kunst gewidmet, aber sie stehen viel zu vereinzelt da, um auch nur zu zählen.

Wo wir in Europa Neger oder ihre Abkömmlinge zu sehen bekommen, sind es entweder in Livrée gesteckte herrschaftliche Diener, Kunstreiter, oder Gesindel, das sich auf den Messen und Märkten herumtreibt, um dort entweder die große Trommel zu schlagen oder sich als Indianer in den Buden für Geld sehen zu lassen.

Der Neger lernt dabei leicht eine fremde Sprache, aber nie rein, und besonders scheint ihn der Buchstabe r darin zu stören, während dagegen die Indianerstämme, z. B. die australischen Schwarzen, ein ganz merkwürdiges Gehör für einen fremden Klang haben und vorgesprochene Sätze auf das Genaueste nachsprechen.

Vollkommen ungerecht wäre es aber, dem Stamm der Neger, wenn sie bis jetzt auch noch nicht gerade viel darin geleistet haben, alle geistigen Fähigkeiten abzusprechen, denn wenn wir gerecht sein wollen, müssen wir immer annehmen, wie wenig Gelegenheit ihnen bis jetzt geboten wurde, sich zu entwickeln. Selbst wo man sie freigegeben hat, hörten sie nie auf, einen untergeordneten Stamm zu bilden, und wo man ihnen wirklich ein eigenes und freies Terrain anwies, um einen eigenen und selbstständigen Staat dort zu bilden, oder wo sie sich das selber nahmen, wie in der Negercolonie in Liberia oder auf Haiti, war es immer nur wieder ein heißes, tropisches Land, das sie bewohnten und das nun einmal einer jeden geistigen Entwicklung hinderlich ist und Geist und Körper erschlafft. Selbst der Europäer, so lange er nicht seinen in einer gemäßigten Zone gestärkten Körper mit in ein heißes Land bringt, fühlt sich dort am wenigsten zu geistigen Arbeiten angeregt, wie können wir es da von dem Neger verlangen?

Freieren Spielraum bekommen sie jetzt allerdings in den nordamerikanischen Staaten, aber sie werden immer und ewig ein verachteter Stamm bleiben, unbequem durch ihre Masse, aber deshalb nur noch mehr gehaßt, und wenn man nicht ein Mittel findet sie zu Hunderttausenden aus dem Lande zu schaffen, so kann gerade das Anwachsen des Negerstammes, inmitten der weißen Bevölkerung, später noch einmal zu schweren und blutigen Conflicten führen.



[699]
Menageriebilder.
Nr. 8. Vom Morgen bis zur Nacht.

„Da treibt sich hier ein gewisser L. auch in allen Menagerien herum, die nach Leipzig kommen,“ so erzählte mir einst Jemand, mit dem ich in einer Restauration über Thiere und Thierfreunde mich unterhielt. Obgleich ich mich hütete, mich als den betreffenden Herumtreiber zu erkennen zu geben, in der Absicht noch mehr Schmeichelhaftes von dem edlen Unbekannten zu erfahren, so hatte es doch bei dieser Mittheilung sein Bewenden und ich habe sie um so weniger vergessen.

Nun, dieses häufige „Herumtreiben“ in den Menagerien erleichtert es mir vielleicht, wenn ich es diesmal unternehme, nicht einzelne Thiergestalten, sondern das Leben und Treiben in einer Menagerie überhaupt zu schildern.

Bekanntlich ist es der Nachmittag, an welchem das Publicum hauptsächlich die Menagerie besucht, und es genießt da für sein Geld die betreffende Erklärung, den Anblick der einzelnen Thiere, die etwaige Vorstellung, die Fütterung und für ein besonderes Trinkgeld die unvermeidliche Boa Constrictor (die es aber gewöhnlich gar nicht ist) oder sonst ein absonderliches Thier, was bis dahin noch im Kasten steckt. Der Geruch ist gratis. Durch einen solchen Besuch bekommt man aber durchaus noch keine vollständige Vorstellung von dem Leben und Treiben, wie es einen derartigen Ort kennzeichnet und wie es natürlich mit mehr oder weniger Abwechselung schon vom Morgen bis zum Abend sich abwickelt.

Für die Thiere ist die fertige Aufstellung einer Menagerie gleichbedeutend mit Erlösung aus engster Zellenhaft. Denn nicht nur, daß während der Fahrt Alles in den Käfigen steckt, was, wie z. B. Lama, Zebra, in der Bude frei angebunden werden kann, so dienen auch die Käfige auf der Reise zur Beherbergung von Kisten, Kasten, Betten, Decken und allem möglichen Gepäck, ja die Wärter selbst nehmen oft als einstweilige Faulthiere darin Platz, so daß die Thiere durch hineingeschobene Zwischenwände (die Schieber) auf den geringsten Raum eingeschränkt werden.

Ist die Ausstellung beendet, sind vor Allem auch die Schilder, d. h. die großen Bilder vor der Bude aufgehangen, so kann es natürlich losgehen. Ein „Recommandeur“ ist selbstverständlich auch schon angenommen. Er hat vielleicht in der vorhergegangenen Messe vor der Bude einer Riesendame, eines Riesenschweins oder dergleichen gestanden und mit Begeisterung deren Vorzüge empfohlen, aber er wird jetzt mit derselben Begeisterung die seltenen Raubthiere aus allen Erdtheilen preisen. Sänger oder Schauspieler sein ist Kinderspiel gegen das, was die Lunge eines solchen Recommandeurs leisten muß. Er darf sich nicht schonen, denn will er etwa zu lange Kunstpausen machen, so muß er bald hören, daß irgendwo anders ein „sehr guter Recommandeur“ zu haben sei, und dergleichen stachelnde Reden mehr. Höchstens kann er am Vormittag seine Kräfte sammeln für die Stunden der Begeisterung, denn der Vormittag ist überhaupt die Zeit der Vorbereitung für die ganze Menagerie. Dieselbe wird zwar Morgens auch geöffnet, wer aber ganz früh hineingeht, muß gewärtigen, daß er zunächst Nichts sieht, als die großen Läden, mit welchen die Käfige während der Nächt geschlossen werden und die vielleicht eben erst abgenommen werden. In tiefes Stroh vergraben, erblickt man jetzt die Nasenspitze, manchmal sogar fast den ganzen Kopf der Thiere hervorschauen. Die Störung und der schnelle Lichtwechsel sind ihnen offenbar unbehaglich und es fällt ihnen gar nicht ein, sich dem Beschauer, etwa durch Aufstehen, zu zeigen. Dieser wandelt daher mißmuthig vorüber bis an das Budenende. Hier sitzen vielleicht die meisten Wärter um einen geheizten Ofen versammelt. Es muß nämlich Wasser gewärmt werden zum Baden der Krokodile und Schlangen, es müssen Kartoffeln gekocht werden für die Affen, ebenso muß man für warme Milch sorgen und so fort.

Die Wärter vertreten oft die verschiedensten deutschen Stämme, denn die Menagerie recrutirt sich nöthigenfalls überall, wo sie hinkommt. Der eine ist ein gewesener Zimmermann, jener ein früherer Schlosser, manche sind auch vorher gar nichts gewesen, haben gleich ihre Lehrzeit als Thierwärter durchgemacht, andere wieder gehören zu der großen Masse der wandernden Künstler und sind heute Thierwärter, morgen bei einer Seiltänzergesellschaft. Die ausgedienten und eingeübten haben natürlich die Hauptposten; so ist z. B. der dicke Heinrich, eine bei den wandernden Künstlern sehr bekannte Persönlichkeit, jedesmal, wenn er bei Kreutzberg antritt (und er tritt oft an, weil er oft fortgeht), gleich wieder Oberwärter. Er ist freilich nie etwas Anderes als Thierwärter gewesen, versteht Alles, eigentlich zu viel, wie man mir einst sagte, und kann nöthigenfalls die Zahmheitsproduction in den Käfigen eben so gut geben, wie der Thierbändiger, wenn dieser etwa verhindert ist. Derart sind die Leute, welchen Wohl und Wehe der Thiere übergeben ist.

In ihr Thun wird jetzt Abwechselung gebracht durch die Ankunft des Fleisches für die Raubthiere. Dasselbe wird gewogen, um dann zunächst in die einzelnen Portionen zertheilt zu werden. Oder es wird Stroh gebracht und zur Aufbewahrung unter die Wagen geschafft.

Das Beseitigen des schmutzigen Strohes aus den Käfigen hat inzwischen begonnen und die Käfige werden mit Bürste und Lappen, in verhärteten Fällen mit dem Kratzer gereinigt. Bei diesen Operationen ist es, wo sich hauptsächlich der bekannte Menageriegeruch entwickelt und wie aus einem unerschöpflichen Füllhorn über alles Lebende ausströmt mit jener Energie, welche in solchen Fällen bekanntlich stets einer bessern Sache würdig ist.

Einen ziemlichen Unterschied macht es, ob es der Morgen eines Markttages, also eines solchen ist, wo die Landbewohner ihre Erzeugnisse zum Verkauf zur Stadt bringen, oder nicht. Denn im erstern Falle sieht man dann schon Vormittags Viele, deren Geschäfte beendigt sind, den Schaubudenplatz besuchen, und auf sie wird dann natürlich gleich gefahndet. Der Recommandeur muß daran glauben, er mag wollen oder nicht. Drinnen in der Bude werden die Gongs geschlagen, kurz das ganze Leben regt sich viel eher, als sonst. Leider manchmal vergebens, denn Niemand ist bei dergleichen mißtrauischer und zurückhaltender, als der Dorfbewohner, und mit granitner Unbeweglichkeit lassen sie sich oft anschreien und antuten, besonders dann, wenn ihnen der Strom der Menge nicht Gewißheit giebt, daß Viele ihr Schicksal theilen.

Drinnen in der Menagerie geht indessen Alles seinen Gang. Das schmutzige Stroh ist hinaus aus der Bude, oder wenigstens in eine Ecke hinter den Wagen geschafft, den etwa frei herumlaufenden Vögeln, Marabustorch, Pelikan, Kranich, Pfau oder dergleichen, ist jetzt die Bahn frei geworden und sie gehen ihren Geschäften nach. Die ersteren sehen sich dadurch zum Fleischvorrath geführt, von dem sie hinter dem Rücken des Zertheilers oft ansehnliche Stücken abzwacken. Jetzt werden auch die Thiere, deren Lebenszweck darin besteht, durch ihr Thun außerhalb der Bude die Menschen zunächst zum Stehenbleiben zu veranlassen, aus ihrem Behälter genommen, um ihr Tagewerk zu beginnen. Affen und Papageien haben bekanntlich vor allen andern dieses Ehrenamt, aber auch Rüsselbären, Pelikane, Geier, ja in drängenden Fällen selbst Lamas, Kameele etc. sieht man außen aufgestellt. Zu diesen Lockvögeln gehört auch ein etwa vorhandener Neger, dessen Posten als Billeteinnehmer oder dergleichen daher immer ein ziemlich bequemer ist.

Jetzt wird den Affen, welche in keiner Menagerie fehlen dürfen, die warme Milch gereicht, während zugleich die grasfressenden Thiere, damit sie dem Tage froh in’s Angesicht schauen können, ein Bündel Heu erhalten. Gleichzeitig empfangen, wenn gerade der Badetag ist, das Krokodil oder die Riesenschlange ein Bad in lauwarmem Wasser. Vergißt dabei der Wärter die Wanne zuzudecken, so unternimmt dann wohl die Schlange einen Spaziergang oder richtiger einen Spazierkriech heraus auf den Fußboden, wird aber natürlich bald abgefaßt und ihr der Standpunkt klar gemacht.

Eine interessante Erscheinung in der Menagerie bilden des Vormittags oder in den Mittagsstunden die Besucher anderer wandernder Künstler, vorausgesetzt, daß, wie dies bei Messen und Jahrmärkten der Fall, gleichzeitig eine Anzahl an einem Orte anwesend sind. Da tritt z. B. eine Gruppe Harfenistinnen ein. Sie beginnen erst Nachmittags oder Abends zu singen und gehen daher Vormittags, wenn sie nicht noch schlafen, spazieren. Jetzt treiben sie also Zoologie, wobei die Affen besonders bevorzugt werden. Auch die Wärter haben die Ehre, zu den Studien zu dienen, besonders wenn sie den Nachtigallen durch Besuch in deren Localen schon [700] bekannt sind. Diese sind kaum fort, so tritt ein Waffelmädchen ein; da sie täglich kommt, um ihre Waffeln zum Füttern für die Affen „des Scherzes wegen“ los zu werden, so ist sie sehr intim mit dem Personal. Auch höhergestellte „Künstler“ machen oft Vormittags ihre Besuche und manchmal sieht man sie in ganzen Gruppen dastehen und sich über ihre oder die Geschäfte ihrer Concurrenten unterhalten. Andere Menageriebesitzer sehen sich an, was der College gegenwärtig hat, suchen wohl auch einen Kauf abzuschließen. Ueberhaupt ist um diese Zeit der Eigenthümer am besten zugänglich und auch zur Unterhaltung mit Laien aufgelegt.

Die stillste Zeit ist begreiflicherweise Mittags. Publicus fehlt da ganz oder ist so vereinzelt, daß man ihm die Ehre einer Erklärung gar nicht anzuthun braucht. Das Personal kann, wenn auch verstohlen und vereinzelt, ein Schläfchen machen, nur darf „der Alte“ nicht dazu kommen. Auch die Thiere, welche ja zur Fütterungszeit aufgeregt sein müssen, bereiten sich zu dieser wichtigen Zeit durch fortgesetztes Ausruhen aus, wobei sie sich zur Abwechselung höchstens einmal anders legen. Das sind schöne Stunden für den studirenden Künstler. Er kann mit Muße seine Studien betreiben und ist noch unbelästigt von den oft höchst beharrlichen Zuschauern und ihren Fragen.

Je weiter der Mittag vorüber ist, desto mehr kommt nun Leben in die Bude und man kann von innen ziemlich zuverlässig auf das Treiben außerhalb schließen. Jetzt werden auch diejenigen Gäste häufiger, deren Vergnügen hauptsächlich in dem Necken der Thiere besteht und die an keinem Käfig vorübergehen können, ohne mit ihrem Spazierstock oder Regenschirm das Thier zu stoßen. Ich habe stets eine herzliche Freude gehabt, wenn in solchen Fällen von dem Thier der Stock zerbrochen, der Schirm zerrissen wurde. Auch jene sieht man jetzt, welche mit großer Selbstbefriedigung über die Macht ihres Blickes eine Bestie so lange anglotzen, bis dieselbe aus Langerweile wegsieht.

Je zahlreicher nun die Menge draußen wird, desto lauter brüllt der Recommandeur. Kann er nicht mehr und der Augenblick ist drängend, hat vielleicht ein Herr College nebenan zu viel Publicum vor seiner Bude versammelt, so werden dann Extraanstrengungen gemacht. Die Riesenschlange wird ihrem beschaulichen Dasein entrissen und aus dem Kasten geholt. In gefährlichster Weise schlingt ein Wärter sie sich um Leib und Hals und tritt so vor das Publicum, welches noch säumt hereinzukommen. Er schreit dazu, der „Alte“ schreit, und der wieder zu sich gekommene Recommandeur schreit, der kleine Elephant wird gleichfalls herausgeholt, ein Junge muß sich auf seinen Nacken setzen, vielleicht sind ein paar kleine Bären auch bereits vor der Bude angebunden; nun, wer da noch nicht hereingeht, an dem ist eben Alles verloren.

Solche Anstrengungen werden aber gewöhnlich nur Sonntags unternommen, wo Alles auf den Beinen ist, besonders auch das Publicum, welches sich nicht vorher den Besuch der Menagerie vornimmt, sondern hineingelockt sein will.

Wie es Nachmittags in der Menagerie zugeht, das wissen die Leser aus eigener Anschauung. Je nach der Größe und Berühmtheit einer Menagerie ist auch der Besuch in diesen Stunden mehr oder weniger zahlreich, und in der Zeit der etwaigen Vorstellungen und der Fütterung drängt er sich natürlich am meisten zusammen. Ohne Vorführung von Zahmheitsproductionen kann sich, wie ich glaube, eine Menagerie jetzt kaum noch halten. An manchen Tagen bestehen besondere Anreizungen in der Fütterung der Schlangen, die aber gewöhnlich nicht fressen, und ähnliche Extrafälle.

Auch andere außergewöhnliche Vorkommnisse unterbrechen oft den Gang des täglichen Gebens. Es sind z. B. vielleicht neue Thiere mit der Eisenbahn angekommen und werden nun der Menagerie einverleibt, wobei die Uebersiedlung aus dem oft sehr lose zusammengefügten Transportkäfig in den Wagenkäfig manchmal viel Zeit und Mühe verursacht. Oder es erkrankt ein Thier und der Thierarzt wird geholt, was aber natürlich gewöhnlich Nichts hilft. Den Raubthieren, wenn sie krank scheinen, aber noch Freßlust zeigen, giebt man meist in den Frühstunden, wo kein Publicum anwesend ist, ein lebendes Thier, Kaninchen etc., wie das auch in den zoologischen Gärten geschieht. Die Voraussetzung, daß das warm genossene Blut und Fleisch zuträglich sei, dürfte auch ganz richtig sein. Stirbt ein Thier, so ist das Nächste der Verkauf des Felles, der aber bei der öfteren Wiederkehr dieser Fälle oft schwierig ist. Hier hängt z. B. an einem senkrechten Balken ein am vorhergegangenen Abend verendeter Leopard. An den Hinterbeinen aufgehangen, ist ihm bereits die Haut, ausgenommen am Kopf, abgezogen und hängt noch am letzteren herunter, und während ich seine bloßgelegten Muskeln und das Gebiß seinen geöffneten Rachens zeichne, ist schon ein Ausstopfer im Handel mit dem Oberwärter begriffen. Gewöhnlich bietet man in solchen Fällen die Haut erst dem naturhistorischen Museum an, wenn sich am Ort ein solches befindet, allein die Häute der größten Raubthiere haben dabei in der Regel die wenigste Aussicht, weil sie am häufigsten angeboten werden.

Sind Reparaturen innerhalb eines Käfigs vorzunehmen, so müssen, wenn gelernte Handwerker dabei beschäftigt sind, die Thiere natürlich abgesperrt werben. Zuweilen geht aber auch einer der Wärter oder der Besitzer hinein, um die Ausbesserung selbst vorzunehmen, wobei ihm dann die Bestie gewöhnlich Gesellschaft leistet. Als der junge Kreutzberg, derselbe, welcher kürzlich von einem seiner Löwen angefallen worden ist, eines Morgens an der zum großen Centralkäfig führenden Thür des Löwenkäfigs etwas auszubessern hatte, spazierte der Löwe dabei gemüthlich ein und aus, untersuchte alle Ecken des großen Käfigs, sprang dabei auf das für die jungen Löwen am Gitter aufgehangene Sitzbret, fiel sammt dem zusammenbrechenden Bret herunter und setzte seine Untersuchungen fort, ohne daß das Herrn Kreutzberg gestört hätte.

Es würde zu weit führen, wollte ich derlei Intermezzos noch weiter schildern.

Wenn endlich der Abend angebrochen und insbesondere die letzte Vorstellung vorüber ist, so leert sich die Menagerie schnell, die Papageien, Affen etc. sind schon mit eintretender Abendkühle hereingenommen worden. Jetzt wird abermals massenhaftes Stroh gebracht, jeder Käfig erhält seine Portion, damit sein Bewohner weich und warm liegt. Gewöhnlich legen sich die Thiere sofort auf ihr Lager nieder, so sehr wissen sie es zu schätzen. Nunmehr werden die Käfige mit den Läden geschlossen, und nachdem der Elephant gleichfalls seine Streu erhalten, strecken sich auch die Wärter auf ihre hinter und unter den Wagen bereiteten Strohlager, neben sich die angekettete Dogge. Alles ruht, nur die Hyäne, jenes berüchtigte Scheusal der Grüfte, rennt unermüdlich in ihrem Behälter umher und entlockt dem noch nicht daran gewöhnten Wärter einen ingrimmigen Fluch; er beneidet jetzt seine Genossen, welche es vorgezogen, ein Trinklocal zu besuchen, um zu zechen.

So und ähnlich vergehen die Tage in einer Menagerie.

L.



Die letzte Todte aus Weimars großer Zeit.

Auf dem Friedhofe zu Jena steht, geschützt durch ein Geländer, zwischen zwei reichentwickelten Cypressen, ein marmornes Kreuz, auf dessen nach Osten gekehrter Seite in vergoldeter Schrift man die Worte liest:

Sie irrte, litt, liebte,
verschied
im Glauben an Christum,
die erbarmende Liebe.“

Wer ist das Frauenherz, drängt es die Neugier des Lesers, das, nachdem es geirrt, gelitten und geliebt und dann mit dem Troste des Glaubens geschieden war, gebrochen unter diesen beiden dem Tode geheiligten Bäumen schlummert?

In diesem kurzen Grabspruch hat sie uns wohl ihr ganzes Leben geoffenbart: ja, es will uns bedünken, als habe sie in den drei Zuständen des Irrens, Leidens und Hebens den Inhalt unsers eigenen Lebens uns enthüllt. Mitten auf dieser Stätte des erstorbenen Lebens tritt die erschütternde Frage an uns heran, ob nicht unser Leben mit seinem ewigen Ringen nach vermeintlich hohen Zielen ein einziger großer Irrthum ist, an dem nichts wahr bleibt, als unser Leiden und unser Lieben!

Wer ist die Todte, die ihr Leben mit einer solchen Erkenntniß geschlossen? Wir wenden uns nach der gen Westen gewandten Seite des Kreuzes und finden dort halbverhüllt von den immergrünen Zweigen der Cypressen die Worte:

Hier ruht Caroline von Wolzogen.

[701]

Ein Morgen in der Menagerie. Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[702] Unter diesem einfachen Kreuze, mitten unter allerlei Todten, in der gewöhnlichen Gräberreihe des Kirchhofs zu Jena, ruht die Schwägerin Schiller’s. Sie also war es, die ein Leben voll Irrthum, Leid und Liebe durchgekämpft hat – nach ihrem eigenen Geständniß, denn wir erfahren, daß sie die Kreuzesworte sich selbst gewählt und bestimmt hat.

Das Leben Carolinens ließ ich an meinem Geiste vorbeiziehen und ich fand, sie hatte Recht mit ihrem Bekenntnisse.

Schon früh beging Caroline von Lengefeld einen Irrthum – es war ihre Vermählung mit Herrn von Beulwitz. Wohl konnte dieser Mann Carolinen jene äußere Achtung abgewinnen, welche jeder Mann, der schlicht und einfach seinem Berufe und seiner Lebensstellung zu genügen strebt, verdient; aber eine innere Befriedigung konnte dies Verhältniß dem hohen Geiste Carolinens und ihrem Herzen, das „der Liebe bedurfte“, nicht gewähren. Nie aber hat Caroline um diesen Irrthum Klage erhoben. Sie hat das Martyrium dieser Ehe neun Jahre lang nicht mit dem demüthigen Duldersinn eines Weibes, sondern mit der starken Fassung eines Mannes getragen. Früh schon, vielleicht in und durch dies Verhältniß, hat sie gelernt, mit jenem feinen Takt, den die Frau vor dem Manne voraus hat und der ihr Ersatz giebt für den männlichen Verstand, die Leidenschaften und Wünsche ihres Herzens zu zügeln. Der Widerspruch zwischen ihrem innern und äußern Leben, der Irrthum ihres Herzens, drängte sie, wenn er nicht Blüthen des Humors trieb, ferner zur Reflexion, zu einer philosophischen Anschauung des Lebens, wozu es ihrem reichen Geiste nicht an Kraft gebrach. Aber auch der anfangs so übelgelaunte Genius ihres Lebens war nicht unversöhnlich. Er schuf ihrem unbefriedigten Geiste einen anfangs geringen, dann einen überreichen Ersatz und schützte ihn so vor der Verkommniß. Wir kommen zu Carolinens Liebe.

Zuerst war es ein edler Jüngling, den eine Ahnung von dem reichen Geistesschatz, der in ihr verborgen lag, zu ihr hindrängte, ihr eigner Vetter, Wilhelm von Wolzogen. Dem zwar nicht selbstschöpferischen, aber für das Ideale im Leben begeisterten und in gleichem Maße mit dem Gebotenen unzufriedenen, daher nach Jenem suchenden Manne öffnet die nach Mittheilung lechzende junge Frau den ganzen Reichthum ihres Geistes und Herzens. Als aber der von dieser Entdeckung berauschte Jüngling nicht mehr auf der hohen See des Geisteslebens treiben will, sondern stürmisch nach Hafen und Land begehrt, da wußte sie von den genannten Eigenschaften ihres Charakters und von jener „Kraft“ Gebrauch zu machen, welche, wie sie dem Freund schreibt, in der Seele des Menschen ist, ihn vor allzu heftigen Eindrücken zu schützen, vor ungestümen Wünschen und streben nach Allem, was nicht in dem Preise seines Wirkens ist, abzuhalten. „O,“ rief sie aus, „unser ganzes Leben dient dazu, diese Kraft zu üben! Denn wie selten werden unsere Wünsche erhört! Suchen Sie, mein Theurer, durch diese Kraft Ihr Herz zu mehrerer Ruhe zu stimmen.“ Ach, sie hat diese Kraft selbst noch härter üben müssen – der leidenschaftliche Vetter ist indeß damit noch nicht abgeschreckt. Jede warme Aeußerung „sieht er mit dem Vergrößerungsglas der Liebe an“, und es bedarf erst einer umfassendern Auseinanderlegung der Verhältnisse und Begriffe, um sein und wohl auch das eigne Herz zur Ruhe zu philosophiren.

Bald aber kam ein Größerer – vor ihm mußte nunmehr der einfache Jüngling weichen. Von der Gewalt seiner Liebe zeugt sein an die Freundin gerichtetes „Lebewohl“ – „Lebe wohl, mit unbegreiflicher Wehmuth sage ich Dir Lebewohl – Du bist glücklich, denn dieses Lebewohl fühlst Du nicht. Lebe wohl, Caroline –“ Es war ihre und seine erste Liebe.

Im Sommer 1788 begann die Annäherung Schiller’s an beide Schwestern Lengefeld. Carolinens Schwester Charlotte war vielfach der Gegensatz ihrer Schwester. Hatte Caroline mehr Männliches, im Urtheile Gereiftes, so repräsentirt Lotte das rein Weibliche, die Sanftmuth und Liebe, die Anmuth und Naivetät. Dort Urtheil und Reflexion, hier das natürliche Gefühl, fast wie der von Schiller gefundene Gegensatz zwischen naiver und sentimentaler Dichtung – so erscheinen sie Beide, und wunderbar, Beider Wesen findet vereinigt sich wieder in – Schiller. Mit mehr oder weniger Nuancen findet sich dieser Gegensatz in allen spätern Frauengestalten des Dichters wieder. Schon im Don Carlos die Eboli und Elisabeth dann Thekla und die Terzka, Marie Stuart und Elisabeth, Agnes Sorel und die Jungfrau, Beatrice und Isabelle – Charlotte und Caroline.

Und so geschah es, daß zwischen den Dreien, zwischen Schiller und den beiden Schwestern, ein so seltenes Verhältniß sich entwickelte, daß ein geistvoller Professor der Theologie meint, es habe sich im Reiche der Geister das vollführt, was die Volkssage von dem Ehebett des Grafen von Gleichen erzählt.

Vorsichtig aber und mit heiliger Scheu muß man eintreten in das Heiligthum, in welchem sich der gemeinsame Cultus dieser drei Seelen vollzog.

„Unser himmlisches Leben wird ein Geheimniß für die Menschen bleiben, auch wenn sie Zeugen wären,“ schreibt Schiller. Das vollenden konnte eben nur er, der Glückliche, dem es gelang, ewig im Reiche der Ideale zu leben, und hinter dem „im wesenlosen Scheine lag, was uns Alle bändigt, das Gemeine“! Wie beglückend für Carolinen, für alle Drei war diese Liebe! In der gleich empfundenen Verehrung des Hohen und Schönen fand sie ihren Aufgang, in der gemeinsamen Pflege desselben ihre Nahrung. Darin fand sie auch ihre natürliche Wächterin. Wie herrlich klingt die Analyse dieser Liebe in Schiller’s Feder: „Das ist das höchste Glück in unserer Verbindung, daß sie auf sich selbst beruht und sich in einem einfachen Kreise ewig um sich selbst bewegt. Unsre Liebe braucht keine Wachsamkeit, keine Aengstlichkeit. Wie könnte ich meiner eignen Seele immer genug bleiben, wenn meine Gefühle für Euch Beiden, für jedes von Euch nicht die süße Sicherheit hätten, daß ich dem Andern nicht entziehe, was ich dem Einen bin. Frei und sicher bewegt sich meine Seele unter Euch und immer liebevoller kommt sie von Einem zu dem Andern zurück, derselbe Lichtstrahl, der nur verschieden wiederscheint aus verschiedenen Spiegeln. Eure Liebe ist das Licht meines Lebens.“ Dahin darf man wohl auch die Worte Carolinens deuten, die sich in einem ihrer Romane finden: „Unter Menschen, die sich nicht fremdartig, vielmehr durch gleiche Liebe zum Schönen und Guten miteinander verschwistert sind, kommt früh oder spät ein Moment der inngsten Annäherung.“ Die Anforderungen der Verhältnisse, die Vorurtheile des Lebens, mehr noch aber die Rechte des Herzens verlangten indeß bald, daß diese Annäherung eine reale, von der Sitte geweihte Seite gewinne. Schiller fühlte dies lebhafter, als seine Anstellung in Jena eine räumliche Trennung zwischen ihm und den Schwestern beanspruchte.

Wohin fiel nun die Wahl?

Sein Geist zog ihn zu Carolinen, sein Herz zu Charlotten. „Caroline,“ gesteht er später selbst, „ist mir näher im Alter und darum auch gleicher in der Form unsrer Gefühle und Gedanken. Sie hat mehr Empfindungen in mir zur Sprache gebracht als Du, Lotte. Aber ich wünschte nicht, daß es anders wäre, daß Du anders wärest. Was Caroline vor Dir voraus hat, mußt Du von mir empfangen, Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten und mein Geschöpf mußt Du sein.“ Mit dem feinen Treffersinn des Genies fand er so das Rechte. Nicht die geistig mit thätige, weit mehr die mit empfindende und empfängliche Frau, die, ohne die Wiege des schlummernden Kindes zu verlassen, dem schaffenden Genius lauscht, ist die ihn ehelich wahrhaft beglückende. Und sie hat es im reichen Maße bewährt, Lotte, die Dulderin. Ihr, die mit der ganzen Innigkeit ihres Gemüths Schiller liebte, war auch die Kraft zur Entsagung nicht so verliehen, wie der geistesstärkern Schwester. Auch ohne den sie bindenden Irrthum ihrer Ehe fiel Carolinen, welche mit der Leidenschaft ihres Herzens Haus zu halten verstand, die schon geübte Rolle der Resignation zu: Charlotten wäre das Herz gebrochen. Caroline that aber noch mehr, als daß sie mit der Resignation sich begnügte. Schiller rang lang mit dem Geständnisse. Mit der jeder zarten, reinen Liebe innewohnenden Scheu wurde von beiden Seiten der Entdeckung des süßen Geheimnisses ausgewichen. Lolo ängstet sich mit dem Gedanken, daß Caroline Schiller mehr sein könne als sie. Schiller klagt die Umstände, die Meinung der Welt an, klagt, daß er gewisse Verhältnisse nicht umkehren könne. Doch das rechte Wort will sich nicht finden. Immer bleibt es der von der Form ewig fliehende Gedanke. Da tritt die hochherzige Schwester selbstthätig auf, als der „gute Engel, der Schiller’s furchtsamem Geheimniß so schön entgegenkam“. Sie führt die Entscheidung herbei. Hier tritt sie am höchsten in die Erscheinung und es war nur ein Reflex dieser Erscheinung, wenn sie am Spätabend ihres Lebens an den leidenschaftlichen Stellen von Schiller’s Briefen ihren Namen [703] zu tilgen und den ihrer Schwester dafür einzusetzen suchte. Als nun das Wort gesprochen und der Herzensbund zwischen Schiller und Lotte geschlossen war, ist Schiller noch glücklich, daß er mit dem Besitze der Einen auch den Besitz der Andern sich gesichert habe. „Eueres Besitzes bewußt werde ich mit Allem, was mich umgiebt, versöhnt. In Euch zu leben und Ihr in mir, das ist ein Dasein!“ jubelt er. Aber mit dem Gürtel und dem Schleier mußte naturgemäß die Wendung kommen.

Schon in dem letzten Briefe an Beide, kurz vor der Hochzeit mit Lotten, ist das gemeinsame Element aufgelöst in die beiden vom Leben geweihten Begriffsformen Braut und Schwägerin.

Gemeinsam mit der bräutlich geschmückten Schwester trat Caroline noch ein in das Kirchlein von Wenigenjena, aber mit der dort am 20. Februar 1700 vollzogenen Trauung Schiller’s vollzog sich auch die Trennung. Lotte wurde nicht blos sein Geschöpf, sie wurde der gute Engel seines Hauses und seines Lebens. Sie nahm nun seine Liebe ganz für sich, und duldend und opfernd hat sie in den fünfzehn an Schmerz und Seligkeit überaus reichen Jahren ihrer Ehe und über sein frühes Grab hinaus diese Liebe treu bewahrt. Doch noch einmal schloß sich der Geisterbund – am Sterbebette Schiller’s. Und wie dort Charlotte gebrochenen Herzens auf den Knieen liegt, während Caroline aufrecht starken Geistes mit dem Arzt am Fuße des Lagers steht und die Füße des Sterbenden hülfreich in Kissen hüllt, so ist es das charakteristische Bild von beiden Schwestern.

Nach der Trennung des Dreibundes fühlte Caroline mehr als je das Drückende ihres Ehebündnisses mit Beulwitz. Schiller übernahm es die Ehetrennung herbeizuführen.

Aber die „Angelegenheit“, wie sie Schiller nennt, verzögerte sich und kam erst nach vier Jahren zur Ordnung. Caroline hat in dieser Zeit viel gelitten. Sie half sich dabei zum Theil mit dem Goethe’schen Mittel. Wie dieser seine innere Verstimmung oft in ein poetisches Product ergoß und so von sich ablöste, so schrieb Caroline damals einen Roman, „Agnes von Lilien“, in welchem sie ihr eignes Leben zum treuen Spiegel nahm. Dann wendet sie ihr liebebedürstig Herz wieder zu einem Verlassenen: Wilhelm von Wolzogen. Derselbe war inzwischen hinausgezogen in die Welt, hatte dort seine Leidenschaft gefühlt, seinen Geist gebildet. Er, der von der Leidenschaft Freigewordene, bot der von dem Irrthum Freigewordenen seine Hand und sie beschloß den Abend ihres Lebens „mit ihm zu verleben“.

So war Carolinens Liebe.

Schon hier konnte sie sagen: ich irrte, litt und liebte; denn wie immer Liebe lohnt mit Leide, hat sie schon da, wenn auch kein laut geklagtes, aber tief verschlossenes Leid erfahren. Ihr tiefstes Leid war ihr aber noch aufgespart.

Der Zufall führte mich an den Ort, darin es ihr geschah, und ließ es mich dort erfahren. Da die Verhältnisse wohl nicht sehr bekannt sein dürften, verstatte ich mir eine genauere Erzählung.

Zwischen Arnstadt und Rudolstadt liegt das zum Großherzogthum Weimar gehörige Dorf Bösleben. Der Drang, meinen lieben Freund R–n, der dahin als Pfarrer versetzt war, einmal wieder zu sehen, war es allein, der mich vor nun schon länger als zwei Jahren an den vorher unbekannten Ort führte.

Bald mußte ich erfahren, daß ich mich daselbst nicht blos auf einem durch eine reiche historische Vergangenheit, sondern auch durch allerhand Berührungspunkte mit Weimars classischer Zeit bemerkenswerthen Boden befand – eine Entdeckung, welche mich und meine Reisegenossen für den Mangel materiellen Genusses entschädigte, an dem das damals noch der waltenden Hausfrau entbehrende Pfarrhaus litt.

Von der Pfarrei grad über lag mit der Breitseite der Straße zugekehrt ein stattlich Gebäude, gegenwärtig die Schule des Ortes. Das Haus war einst das Herrenhaus des von Wolzogen’schen Gutes.

Auf allen Gassen konnte ich nun bald erzählen hören von „Geheimraths von Wolzogen“, von Carolinen, von dem unglücklichen Tode ihres einzigen Sohnes, von Schiller. Ja, auch Schiller sollte dort zum öftern gewesen sein. Ein gekritzelter Namenszug in einem Fenster des Hauses sollte von ihm herrühren. Wahr oder unwahr: die guten Bösleber hielten auf das Fenster als ein Ortsheiligthum.[1] In der südöstlichen Ecke des an das Schulhaus anstoßenden Gartens begrenzten vier Steinwürfel eine Grabstätte, an deren mittägiger Seite sich ein hohes eisernes Kreuz auf steinernem Sockel erhebt. Die ausgestreckten Kreuzesarme tragen die Worte: „Friede sei mit Euch“, während es auf der Nordseite des Sockels heißt: „Hier ruhet Adolf Freiherr von Vollzogen. Er starb im Glauben, Lieben und Hoffen seines Erlösers! Im 30. Jahre den 10. September 1825.“

Dieses Kreuz hat Carolinens tiefsten Schmerz gesehen, diese vier Leichensteine halten ihr herbstes Leid umschlossen.

Es ist die Grabstätte ihres einzigen Kindes, welches in den Blüthenjahren des Menschenlebens an jener Stelle einen ungewöhnlichen Tod gefunden. Der vier Jahre nach Schiller auch heimgegangene Gatte hatte ihr nur einen Sohn hinterlassen. Der zu schönen Hoffnungen berechtigende Jüngling hatte in den Strapazen des Feldzugs von 1813 bis 1815, denen er beiwohnte, oder wohl auch im Uebermaß des Lebensgenusses den Keim einer zehrenden Krankheit in sich gelegt. Die besorgte Mutter zieht ihn zur Erholung zu sich in die ländliche Stille des väterlichen Erbgutes. Dort fällt er in eine schwere Krankheit. Wieder im Genesen, steigt er an dem sonnighellen Herbsttage vom Krankenlager auf und tritt mit seiner von neuer Hoffnung belebten Mutter in’s Freie. Ueber den Garten hinaus, weit in die Felder, trägt ihn der frischgekräftigte Schritt. Bei der Heimkehr bemerkt er an der Gartenthür einen Zug Feldhühner. Er heischt nach einer Flinte. Als ihm diese sein Diener gebracht und sich kaum gewendet, vernimmt er einen Schuß – und der junge Herr liegt am Gartenzaun in seinem Blute. Das Kirchenbuch des Ortes erzählt von dem Vorfall: „Während er (Adolf v. W.) geht, verwirrt sich sein Mantel im Gebüsche, er, noch schwach, wankt, das Gewehr geht los und trifft ihn in die linke Brust. Tags darauf endete er sein Leben.“

Das Volksgerücht, immer geschäftig, jedem Ereigniß eine düstere Seite abzugewinnen, hat wohl dem Todten eine Versündigung gegen sich selbst angedichtet. Der seinen Herrn begleitende Diener, welcher erst vor Kurzem heimgegangen ist, hat mir und Andern gegenüber dieser Deutung entschieden widersprochen. Das tiefe Weh über diesen Verlust des einzigen Kindes raubte Carolinen fast die eigne Kraft zum Leben. Jahre lang zitterte es noch nach in ihrem Herzen. Länger als ein halb Jahr darnach schreibt sie in ihrem Tagebuch:

„An dem Schreibtisch, wo ich einst leicht und fröhlich die Blumen der Dichtkunst pflückte und streute, als vier liebe Augen nach mir schauten und mir ein neues Leben in dem Deinigen aufging, geliebtes Kind, hier sitzt die Einsame, verödet im harten Schmerz Untergegangene.“ Und im Jahre 1827: „Wie ist Alles verödet um mich her! Wie war Alles voll Hoffnung, als Deine Augen, geliebtes Kind, dem Lichte offen waren!“ Und am dritten Jahrestage des Todes: „Heute vor drei Jahren legte ich mich zum letzten Male mit Lebenshoffnungen nieder. O, mein Gott, daß du mich im unsäglichsten Jammer bei Sinnen erhieltest, war Gnade, Gnade.“ Dann noch im Jahre 1832: „Nur Lichtblicke der Liebe treffen mich zu Zeiten in der Erinnerung an meinen Adolf. Sein Bild steht vor Allem.“ Die äußern Zeichen der Trauer legte sie nie wieder ab.

[704] Das war Carolinens Leiden.

Der Ort Bösleben war ihr verleidet. Sie verkaufte das Gut an den Fürsten von Schwarzburg, von dem es dann die Gemeinde zur Einrichtung einer Schule erwarb. Dem Andenken des Sohnes aber errichtete sie eine noch jetzt in Ehren gehaltene Stiftung, der zufolge an dem nach dem Todestage des Sohnes folgenden Sonntage eine kirchliche Feier an dem Grabe stattfindet, zwei arme Knaben neu gekleidet und die Schulkinder mit Schulsachen beschenkt werden. In von der Stifterin sinnig erdachter Weise tragen die beschenkten Knaben und die beiden ersten Schulmädchen dem Zuge der Kinder voran Kränze und hängen sie dann als Todtenopfer an die vier Marksteine des Grabes, statt der im Jahreslauf verwelkten und verwehten: ein Symbol der sich ewig erneuernden Erinnerung. Im nächsten Jahre nach des Sohnes Tode brach auch das treue Schwesterherz Charlottens, zu Bonn am Rhein.

So war Schiller todt, der Gatte und der Sohn todt, die Schwester gestorben – Caroline war vereinsamt. Ihr Herz, wie immer das Herz der Einsamen, kehrte sich zum Glauben: „Das Licht auf Erden ist erloschen, nur das von oben kann auf mich herniederleuchten.“

So warf sie sich, nachdem sie geirrt, gelitten und geliebt, in die Arme der allerbarmenden Liebe.

Längere Zeit wohnte Caroline in Schiller’s ehemaligem Gartenhaus in Jena.

Als dies für anderweite Zwecke bestimmt war, zog sie auf ein auf der Nordseite der Stadt vor dem Thore gelegenes Landgut (das sogenannte Meister’sche Gut), das noch heute mit ihrer Gedenktafel geziert ist. In dem Gärtchen am Hause wandelte sie oft am Arme ihrer treuen Dienerin. Und ich erinnere mich aus meiner Kinderzeit, als mich der Weg in meiner Eltern Garten oft dort vorbeiführte, des tiefen Eindruckes noch, den die ehrwürdige Greisin auf den Knaben, der weder die Bedeutung, noch das Schicksal der Frau kannte, blos durch ihre äußere, ehrfurchterweckende Erscheinung machte. Ihr Leben nährte und fristete sich an den großen Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit, von denen sie einen Theil niederlegte in ihrem Leben Schiller’s.

Fürsten- und Gelehrtenhuld umgab sie. Indeß starben nacheinander alle ihre großen Freunde und Freundinnen. Unter den Ersten der Großherzog Karl August, dann bald auch der große Meister Goethe – und als im Beginn des Jahres 1847 auch ihr Herz brach – war sie die letzte Todte aus Weimars großer Zeit. Auf dem Friedhof zu Jena ruht das irrende, leidende und liebende Herz Carolinens, drei Meilen gen Westen in der Fürstengruft zu Weimar ruht das Herz ihres großen Freundes Schiller, aber weit entrückt an den Ufern des Rheines ruht Charlotte. Die einst im Leben Eins gewesen in der Liebe, sie sind im Tode weit voneinander getrennt. Und doch haben sie alle Drei eine gemeinsame Ruhestätte – in dem Herzen des deutschen Volkes.

Wie im Volksmund lebt die Sage vom Grafen von Gleichen, also wird nach Jahrhunderten noch im Herzensschooß des deutschen Volkes die Sage erklingen von der Dreieinigkeit ihrer edlen Seelen.
Fr. Helbig.




Blätter und Blüthen.

Das Vaterhaus Don Juan’s von Oesterreich – ist der Regensburger Gasthof zum goldenen Kreuz, der seit mehr als drei Jahrhunderten besteht. Kaiser Karl der Fünfte scheint nicht nur während der Reichstage, sondern auch außerdem gern in demselben verweilt zu haben, denn ihn zog dorthin die schöne Barbara Plumberger, welche die Mutter des Don Juan d’Austria geworden ist. Bekanntlich wurde dieser Halbbruder Philipp’s des Zweiten in Spanien und als Spanier erzogen und zeichnete sich als einer der größten spanischen Helden zu Land und Meer aus. Die Ausrottung der Morisken in Spanien, die Vernichtung der türkischen Seemacht bei Lepanto und die Eroberung von Tunis sind seine berühmtesten Thaten. Philipp’s des Zweiten Mißtrauen, daß er nach einem eigenen Throne strebe, brachte vieles Leid über ihn; dies und sein ruheloses Leben, oder auch Gift, verursachten seinen frühen Tod. Er starb, noch nicht dreiunddreißig Jahre alt, im verschanzten Lager bei Namur, 1578, als Statthalter der Niederlande. Sein Leichnam ruht neben dem seines Vaters, Karls des Fünften, im Escurial. Sein deutsches Geburtshaus aber ist in diesen Tagen mit seinem wohlgelungenen Portraitmedaillon und folgenden altdeutschen Versen in Spruchbändern geziert worden:

In diesem hauss vonn alter art
Hat oft geruet nach langer fahrdt
Herr Keyser Carl der fünfft genandt,
In aller welt gar wol beckhannt,
Der hat auch hie zue gueter stundt
Geküsset einer Jungkfraw mundt.

Dieselb die hiess bey fern vnnd nah
Man nur die scheene Barbara,
Ir Stamm war pieder, schlicht vnd recht,
Plumberger schrieb sich dass geschlecht,
Dem bracht des Keysers Lieb vil leid.
Doch trost vnd Heil der Christennhait.

Dann drauss erwuchs, dem Vatter gleich,
Der Don Juan vonn Oesterreich,
Der bey Lepanto inn der schlacht
Vernichtet hat der Türckhenn Macht,
Der Herr vergelts Ihm alle zeit
So yetz wie auch inn Ewigkheit.

Weil aber solch ain thewrer Heldt
Vnd Retter fuer dy gantze welt,
Zue Regenspurg geporen war,
So stellt sich hie sein bildtnuss dar.
Ir wisst nun, was Ir wissen solt,
Erzelt es weiter wann Ir wolt!

Solchen Häuserschmuck, der dem Volke die Geschichte vermittelt, es an große Ereignisse, Thaten und Menschen erinnert, sollte keine Stadt und kein Ort vermissen lassen, der dadurch ausgezeichnet ist: hier ist ein Feld für die bildenden Künste, würdiger und nützlicher zugleich, als die ewige Fürsten- und Heiligen-Verherrlichung.


Ein deutscher Schneider als Lord-Mayor der Londoner City. Zur höchsten Magistratswürde des britischen Reichs, zur Würde eines Lord-Mayors von London, wurde am 29. September der Alderman Philipps gewählt. Die große, reiche, erleuchtete und unabhängige Körperschaft der City Londons hat sich nicht gescheuet, einem Manne Macht und Einfluß zu übertragen, welcher vor etwa fünfunddreißig Jahren als deutscher Schneidergeselle nach London gekommen, vor dreißig Jahren noch daselbst mit Glas hausiren gegangen war und nun als Lord-Mayor einen Einfluß übt, um welchen so mancher Fürst ihn beneiden möchte. Philipps unternahm später ein Geschäft mit Stickwolle, erwarb dabei ein großes, ja ungeheures Vermögen und wußte nicht nur durch die allmählich nachgeholte Bildung, sondern auch durch seine geschäftliche Noblesse und Gewissenhaftigkeit, durch seine mercantile und communale Intelligenz so sehr die Achtung zu gewinnen, daß die größte Corporation des Königreichs ihm den höchsten Beweis des Vertrauens gab, als sie ihn mit einem Amte betraute, das zuweilen an Wichtigkeit den Obliegenheiten eines Gesetzgebers gleichkommt. Philipps ist aber nicht nur ein Deutscher, sondern auch ein Jude, und dieser Triumph der Humanität ist um so höher anzuschlagen, als es noch nicht hundert Jahre her sind, als die City das Parlament nöthigen wollte, die Toleranz-Acte zu widerrufen und den Juden die Naturalisation zu verweigern. Nach drei Generationen feiert die bürgerliche und religiöse Freiheit ihren Triumph und die City verleihet einem Juden und Deutschen die höchste Würde, die sie zu vergeben hat. Den 29. September 1855 sah London den ersten Juden und nach zehn Jahren den ersten deutschen Juden als – Lord-Mayor.


Werke der Barmherzigkeit. Sie brachten in Ihrem geschätzten Blatte vor Kurzem einen sehr interessanten Bericht über die Organisation des „Rauhen Hauses“ zu Hamburg. Es wird nicht ganz uninteressant sein, das Wirken eines Vereins zu schildern, der auch Werke der Barmherzigkeit übt, ohne daß er für eine bestimmte dogmatisch-kirchliche Richtung Propaganda macht. In Oberhessen, wo sich, nebenbei bemerkt, im ehemaligen Kloster Arnsburg auch eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder ganz nach dem Vorbild des Rauhen Hauses befindet, zieht sich zwischen kurhessischem, nassauischem und preußischem Gebiet ein schmaler hessen-darmstädtischer Landstrich hin, das sogenannte Hinterland. Die Bewohner desselben sind großentheils arm, denn die bergigen Grundstücke liefern nur geringen Ertrag und die Leute müssen sich durch Fuhren für die an der Lahn, der Dill, der Eder u. a. w. etablirten Eisenhütten, durch Verkohlen von Holz, Taglohn in der Wetterau und am Rhein, Stricken u. dergl. zu ernähren suchen. Es kann bei dieser Lebensweise nichts Seltenes sein, daß Kinder hier und da keine rechte Erziehung erhalten. Um den dadurch hervorgerufenen Uebeln zu steuern, hat sich ein Verein gebildet, der sehr praktisch für die Erziehung dieser verwahrlosten Kinder sorgt. Er schließt Verträge mit tüchtigen Bauern, Handwerkern etc., die ein Herz für ein derartiges Kind haben, ab, giebt ihnen die Kinder in Pflege und bezahlt für dieselben vierzig Gulden jährlich. Die Kinder werden dafür in die Schule geschickt, gekleidet, genährt und erhalten diejenige Erziehung, die sich für ihre Verhältnisse schickt. Aber sie werden nicht zu orthodoxen scheinheiligen Betbrüdern und Betschwestern abgerichtet. Das Mittel ist so einfach und dabei so gut, es hat schon so schöne Früchte getragen, obwohl es erst wenige Jahre angewandt wird, daß man es allen Menschen, welche sich für die armen verlassenen Kinder interessiren, mit gutem Gewissen empfehlen kann, denn es empfiehlt sich selbst und dient nicht zum Verkleistern anderer, schließlich nach Rom hin führender Zwecke.



  1. Von Schiller’s Besuch in Bösleben wird bestimmt folgende Einzelheit dort erzählt. Vor dem Ort erhebt sich nach dem Dorfe Willersleben zu eine lebhaft ansteigende Ebene, weshalb es geschehen kann, daß bei heftigen Regengüssen das Wasser stark gegen das Dorf andrängt. Als nun einmal Schiller im Frühjahr mit seiner Familie bei „Geheimraths“ zum Besuch war, strömte da auch in Folge eines raschen Thauwetters das Wasser mächtig in das freiliegende „Herrenhaus“. Die im Hause befindlichen Damen – es war zahlreicher Besuch von Weimar da – fingen an, sich darob sehr zu ängstigen und den Einsturz des Hauses zu fürchten. Sie ließen sich deshalb auf den Rücken einiger stämmiger Bauernbursche durch das Wasser über den Fahrweg hinüber in ein geschützter gelegenen Bauernhaus tragen.
    Nur Schiller harrte muthig aus auf dem Posten, spottete zum großen Aerger der furchtsamen Damenwelt sehr lustig und ausgelassen über dies wahrhaft tragikomische Ereigniß und erließ vom offenen Fenster herab ergötzliche Anrufe und Anreden, ganz im Stile seines Kapuziners in Wallenstein’s Lager.
    Seinen dann aus dem Geisterseher citirten Beschwörungsformeln gelang es hierauf auch bald, das aufgeregte Wasser zu besänftigen, und die Damen konnten trockenen Fußen wieder in’s Haus zurückkehren, um sich von Schiller wegen ihrer Furchtsamkeit auslachen zu lassen. Sehr gelehrte Forscher wollen behaupten, Schiller habe aus diesem Vorfalle die Motive zum Taucher, zu Hero und Leander und der Stelle im Graf von Habsburg, wo dieser das Pfäfflein über den reißenden Bach trägt, entnommen.