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Die Gartenlaube (1865)/Heft 25

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[385]
Die Moderatoren.
Erzählung aus Texas.
Von Fr. Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


3. Der Schilfbruch.

Jenkins hatte geglaubt den Weg viel rascher zurücklegen zu können, aber sein Pferd war doch über Tag müde geworden und er selber fühlte sich abgespannt und erschöpft. Er ließ seinem Thier den Zügel, ja er stieg sogar aus dem Sattel und ging eine lange Strecke zu Fuß, um sich nur selber munter zu halten; zuletzt fielen ihm indeß die Augen selbst beim Gehen zu, und da er doch jetzt nicht hoffen durfte, sein Haus viel früher als mit der Morgendämmerung zu erreichen, so beschloß er endlich, etwa halben Wegs, eine Weile auszuruhen und dann erst seinen Marsch fortzusetzen. Ein paar Stunden schlief er so unter einem Baum, während sein Pony mit zusammengebundenen Vorderbeinen um ihn her das Gras abweidete, stieg dann wieder auf und erreichte seine Hütte etwa eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang.

Sonderbar, wie ihm dabei zu Muthe war! Hatte es ihn die letzte Strecke denn nicht unaufhaltsam vorwärts getrieben, als ob ihm oder den Seinen eine unbestimmte Gefahr drohe, welcher er keine Form geben konnte oder wollte? Waren es die Erzählungen der Freunde, die Schilderungen der Gewaltthaten, die er am vorigen Abend gehört, und ließ es sich denken, daß es die Buben wagen würden – er setzte seinem Pony schärfer die Hacken ein, und ein aus tiefer Brust ausgestoßener Seufzer machte seinem Herzen endlich Luft, als er in Sicht seiner Hütte kam und den blauen Rauch bemerkte, der friedlich und ungestört aus dem Schornstein emporqualmte.

Die Hunde, die vor der Hütte lagen, hatten sein Kommen aber schon bemerkt und schlugen an, und mit einem Jubelruf begrüßte ihn die Frau, als sie seiner ansichtig wurde. Er war ja rascher zurückgekehrt, als sie geglaubt, und sie hatte sich in der Zeit seiner Abwesenheit, weshalb, wußte sie eigentlich selber nicht, doch nicht recht ruhig und behaglich fühlen können. Auch die Fragen, die Beide jetzt mit einander tauschten, bewiesen nur zu deutlich, was bis dahin ihre ganze Seele beschäftigt: ob Niemand Fremdes am Hause gewesen; ob sie da drüben eine Spur gefunden; wer es gewesen sein könne, und was sie wollten.

Jenkins war übrigens viel zu sehr Backwoodsman, um sich irgend einer Aufregung lang hinzugeben. Mit dem hell angebrochenen Tag und seiner eigenen Häuslichkeit umher wichen auch alle die trüben Bilder, die ihn die Nacht über vielleicht gequält. Gegen elf Uhr war er neu gestärkt und völlig gerüstet, um hier in seiner Nachbarschaft das zu beginnen, was sie sich gestern da drüben vorgenommen: überall nach Spuren jener Bande von Schuften zu suchen, die bis jetzt noch so erfolgreich im Dunkeln ihr Wesen trieb. Seine Büchse schulternd und die Hunde anrufend, schritt er wieder dem Walde zu.

„Und bist Du zum Essen wieder da, John?“ rief ihm die Frau nach.

„Zum Essen nicht, es ist ja jetzt schon bald Mittag, aber jedenfalls noch lange vor Dunkelwerden.“

Unten am Creek weidete eine alte Fuchsstute; die erkor er sich für heute zu seinem Reitthier, denn der Pony mußte heute ausruhen. Langsam ritt er in den Wald hinein und zwar derselben Stelle zu, an der er damals die Spuren seines Rappen verloren hatte.

Es hatte in den Tagen nicht geregnet, obgleich es an jenem Abend, an dem er sein Pferd vermißte, mit einem tüchtigen Gewitter gedroht. Die Wolken waren jedoch von dem sich erhebenden heftigen Winde verjagt und deshalb auch die bis dahin eingedrückten Spuren nicht im Geringsten gestört worden. In einem Laubwald aber, wo die gelben Blätter Jahr nach Jahr fallen und liegen bleiben, so daß sie den Boden an den meisten Stellen mit einer dicken Schicht bedecken, ist es außerordentlich schwer, einer schon mehrere Tage alten Spur zu folgen. Ist sie ganz frisch, so geht es viel leichter, weil die neu aufgewehten Blätter unterhalb ihre Feuchtigkeit noch bewahrt haben und dann auch eine dunklere Färbung zeigen. Liegen sie aber nur sechs oder acht Stunden in ihrer neuen Lage, so trocknet sie der Luftzug vollständig ab, und sie unterscheiden sich in Nichts mehr von den übrigen.

So geübt aber das Auge des alten Mannes auch in dieser Hinsicht war, er konnte nichts Neues entdecken. In dem Wasser selber schienen die letzten Spuren verschwunden, und wenn der Bach auch hier, an der Fuhrt, kaum einen Fuß tief sein mochte, so lag weiter aufwärts, nach Süden zu, doch eine Masse hineingestürztes Holz darin, über das sich kein Pferd hinarbeiten konnte, und gleich unterhalb befanden sich tiefe Löcher, durch welche es nie geschwommen wäre. Noch weiter abwärts aber lief das kleine Wasser, wo das niedere Land begann, in eine Art von Bayou ein, die etwa tausend Schritt mehr nördlich in die Auszweigungen des Schilfbruchs mündete und sich endlich in diesem verlor. Dort begann nachher ein Gewirr von Dornranken, Schilf und Sumpf, mit ineinander gebrochenen Bäumen, und dort hinein brauchte er [386] eigentlich gar nicht zu suchen, aber er suchte doch, denn wohin anders sollte er sich wenden? An die Sabine? da hinüber führte ein Weg, den sein Pferd aber nicht betreten hatte, und dann war er auch noch nie in den Schilfbruch selber ordentlich hineingekommen.

An dem kleinen Wassercurs ritt er langsam hinab, weiter und weiter, bis das Schilf so dicht wurde, daß er kaum vorwärts konnte. Sechs oder acht Aasraben strichen über ihn hin, stiegen hoch in die Luft, kreisten dort eine Weile und stiegen dann, mehr links von ihm in der Richtung, wo der Red River lag, in den Schilfbruch nieder. Hatten sie dort Etwas gefunden? vielleicht die Ueberreste eines Stückes Wild, das ein Wolf oder Panther zerrissen. Von dem Raubzeug gab es dort herum genug und man konnte ihr Geheul jede Nacht hören, wenn man ihrer am hellen Tag auch nur sehr selten ansichtig wurde. Was kümmerte ihn das auch! Aber die greenbriars – eine dornige Schlingpflanze mit grünen, stachligen Ranken – wuchsen hier so dicht, daß sein Fuchs nur mit großer Schwierigkeit hindurch konnte. Das Beste war, er hobbelte ihn hier an irgend einer lichten Stelle aus und nahm ihn dann auf dem Rückweg wieder mit. Unfern vom Ufer der Slew fand er einen solchen Platz, stieg aus dem Sattel, nahm ihm den Zaum ab, band ihm die beiden Vorderbeine so zusammen, daß das Thier nur noch ganz kurze Schritte machen konnte, und wandte sich dann ab.

Mit einem Male fiel sein Blick auf eine abgebröckelte Uferbank und hier auf Etwas, das ihn stutzen machte. Was war das? ein Eindruck in die Erde! wo kam der her? Unwillkürlich läßt ja ein Jäger nichts Derartiges unbeobachtet, und er schob deshalb sein Bowiemesser, mit dem er sich durch das dichte Geschling Bahn gehauen hatte, in die Scheide und bog sich näher zu der befremdlichen Spur nieder.

„Hol mich der Böse,“ murmelte er dabei, „das sieht ja wahrhaftig so aus, als ob hier ein Canoe gegen das Ufer angestoßen hätte! Aber wie kommt denn hier in die Slew ein Canoe und wer hat es da gebraucht und wozu?“

Er nahm seinen Hut ab, legte ihn neben sich, um sich noch weiter vorbiegen zu können, und brachte seinen Kopf dicht über den Platz, aber es wurde nicht anders. Der Eindruck in der Uferbank hier mußte von irgend einem Gegenstand herrühren, der vom Wasser aus dagegen gepreßt war, und das konnte in aller Welt Nichts als ein Canoe gewesen sein. Das war aber die Slew nicht, an der jener Netley wohnen sollte. Die lag wenigstens anderthalb englische Meilen mehr westlich.

Jenkins wußte nicht, was er aus dem Allem machen sollte, aber er war doch entschlossen, der Sache noch etwas weiter nachzuspüren. Er stand auf, holte seine Büchse wieder, die er neben dem Pferd gelassen, und arbeitete sich langsam und geräuschlos immer mehr an dem breiter werdenden sumpfigen Wasser hinab, ohne jedoch auf irgend einen Fußpfad oder eine andere Fährte zu treffen, als die, welche hie und da ein Wolf dem weichen Boden eingedrückt. Weiter oben machte die Slew eine Biegung nach links, und er wollte hier schon wieder umdrehen, als er, dicht am Wasser durch das Dickicht kriechend, überhängendes Schilf bemerkte, das weit draußen, in der Slew selbst, abgehackt war. Das konnte nur durch ein vorbeipassirendes Fahrzeug geschehen sein, dem die Wipfel im Weg gewesen waren, und wer war das jetzt, der hier, in dem furchtbarsten Dickicht drin, sein Wesen so geheim und versteckt trieb, daß selbst Jenkins, als nächster Nachbar dazu, noch nicht einmal etwas davon gemerkt hatte?

Er mußte jetzt mehr erfahren; die Sonne stand ja überdies noch hoch am Himmel, und da er nun doch einmal so weit gekommen war, wollte er auch seine Nachforschungen noch weiter fortsetzen. Es zeigte sich aber wahrlich als keine Kleinigkeit, durch dieses Dickicht eine Bahn zu brechen, und als er jetzt plötzlich einen alten Schilfbrand erreichte – das heißt eine Stelle, wo das Schilf einmal in früheren Jahren, wer weiß ob durch einen Blitz oder durch Menschenhand, in Brand gerathen – wurde es fast zur Unmöglichkeit hindurch zu kommen. Die langen starken Stangen des zähen Rohrs waren dort abgestorben, viele zuletzt an der Wurzel gefault und querüber gebrochen, und mit den frisch hindurch gewachsenen dornigen Ranken bildeten sie an manchen Stellen solche unzerreißbare Massen, daß sich kein Wolf hätte hindurch winden können. Das Schlimmste blieb dabei, daß sich das verdorrte Schilf gar nicht mehr mit dem Messer zerhauen ließ, um eine Bahn zu bekommen, denn es war als ob man mit der scharfen Klinge auf Kieselsteine schlug. Aber Jenkins hatte einmal seinen Kopf darauf gesetzt, und hier die Stangen emporhebend, dort darunter wegkriechend, setzte er seinen beschwerlichen Weg unverdrossen fort, bis er plötzlich fast erschreckt halten blieb, denn vor seinen Füßen öffnete sich ein ebener, frei gehauener Pfad und nicht von den Fährten menschlicher Wesen, nein, von Pferdespuren war er gefüllt.

Pferde – nie im Leben hätte ein Pferd hierher den Weg zu Land gefunden; die mußten durch das Wasser hierher geschafft sein, und was machten sie hier im Schilf? Aber Jenkins war ein zu alter Bewohner des Waldes, um nicht zu wissen, daß er hier an der Schwelle eines gefährlichen Geheimnisses stand. Allein konnte er darin gar Nichts ausrichten; trieben die Raubgesellen, wie es kaum anders möglich war, wirklich ihr Wesen hier, und wurde er hier von ihnen entdeckt, so lag es auch auf der Hand, daß er mit seinem eigenen Leben ihre Sicherheit erkaufen mußte.

Dem durfte er sich nicht aussetzen, denn an seiner eigenen Sicherheit hing jetzt die Entdeckung der Uebelthäter, die ihre Familien bedrohten und Elend und Verderben über die ganze Ansiedlung brachten. Rasch entschlossen kroch er deshalb den Weg zurück, den er gekommen, aber viel vorsichtiger als vorher, denn er konnte nicht wissen, ob nicht irgendwo auf dem Wasser draußen ein Verräther lauere. Er hieb keine Schilfstange mehr durch, sondern bog sie nur aus dem Weg, bis er endlich die Stelle wieder erreichte, wo er sein Pferd zurückgelassen hatte.

So rasch als möglich legte Jenkins seinem Fuchse, den er noch auf dem nämlichen Platze antraf, wo er ihn gelassen hatte, den Zaum wieder an und machte seine Füße frei. Dann stieg er in den Sattel, setzte dem Gaule die Hacken ein und galoppirte, so rasch er ihn über den rauhen Grund fortbringen konnte, wieder in das offene Holz hinein.

Am Liebsten wäre er nun allerdings gleich nach Brownsville hinübergeritten, um dorthin die Kunde seiner Entdeckung zu bringen und mit den Freunden zu berathen, was jetzt am Besten zu thun sei, um das dort jedenfalls versteckte saubere Nest auszunehmen; aber was hätte es ihm heute geholfen, wo die Nachbarn alle selber den Wald nach den verschiedensten Richtungen hin durchstöberten? Er würde keinen dort angetroffen haben, denn ihr Zusammenkommen war ja erst auf morgen Abend festgestellt. So blieb ihm denn Nichts übrig, als seine Zeit ruhig abzuwarten. Vor morgen konnte nun einmal Nichts geschehen.

Aber auch zu Hause litt es ihn nicht lange; sowie er nur erst gegessen hatte, sattelte er sich sein Pferd wieder, um heute noch vor allen Dingen das Terrain ein wenig zu sondiren, um das er sich bis jetzt wenig mehr gekümmert, als vielleicht den Rand des Schilfbruchs einmal auf dem Pirschgang abzusuchen.

Gegen Abend ritt er deshalb noch einmal der Slew zu, an der jenes Netley Hütte stehen sollte, ohne diese aber zu berühren. Er wollte nur etwa die Entfernung wissen, in der sie sich von jenem Platz, den er heute Morgen gefunden, befand, und wie weit es von dort bis zu dem Ufer des Red River sei. Etwa eine Meile westlich war übrigens ein Weg durch den Wald geschlagen, der direct auf den Fluß zu führte. Dort hatte ein Bekannter von ihm, Joe, eine Farm, und hielt zugleich eine Fähre über den breiten und tiefen Strom.

Joe selber war nicht zu Hause; nur seine Familie und der alte Neger, der gewöhnlich die Ueberfahrt besorgte. Mit dem unterhielt er sich eine Weile über die Beschaffenheit des Ufers an dieser Seite, und zwar den Strom hinab, das der Bursche, der das Geschäft schon seit drei Jahren trieb, genau kennen mußte. Natürlich durfte er dem Neger nicht sagen, um was es sich hier handele, sondern frug ihn nur, ob er es für möglich halte, daß er von seinem Platz aus ein Stück im Land drin, vielleicht durch irgend eine der Slews oder Bayous mit dem Red River selber in Verbindung treten könne. Er wolle jetzt, wie er meinte, noch zehn Acker Land urbar machen und recht viel Mais bauen, und da wär’ es denn natürlich sehr bequem, wenn er den gleich, anstatt zu Wagen, in einem Canoe in den Strom schaffen könne.

„Gott segne Ihre Seele, Massa,“ sagte der alte Wollkopf, „das geht nicht. Sieben Meilen stromab, von hier weg, liegt Nichts als ein blutiger Schilfbruch, und die Slews, die hindurchlaufen, sind, wo sie mit dem Strom zusammentreffen, so [387] von eingebrochenen Bäumen ausgefüllt, daß ein Mann ein volles Jahr arbeiten könnte, ehe er sich durch die irgend eine freie Bahn hauen könnte – geht durchaus nicht.“

„Und ist gar keine Landung, an der ganzen Strecke?“ frug ihn Jenkins.

Der alte Neger schüttelte mit dem Kopf.

„Keine,“ erwiderte er, „ein paar falsche Bayous laufen wohl in’s Land und stehen mit den anderen auch vielleicht in Verbindung, aber kaum fünfzig Schritt drin liegen die alten Stämme toll und bunt durcheinander, und kaum ein Alligator kann hindurch. Nein, da ist’s Nichts – wie ich mit Massa Joe hierher kam, hab’ ich die Stellen alle selber abgesucht, weil Massa dort im Anfang sein Haus hineinbauen wollte, aber ’s war Nichts, und da setzte er es lieber hierher, wo er doch einen trockenen Landweg in die Hügel hatte.“

Das war Alles, was Jenkins wissen wollte, und mit dem Charakter solcher Plätze genau vertraut, konnte er sich jetzt auch allenfalls denken, wie das mit jener Colonie oder Ansiedlung im Schiffbruch zusammenhing. Daß die Slew keinen Ausweg nach dem Strom zu hatte, bestätigte schon der Pfad, den er im Schilfbruch gefunden – der verband jedenfalls das faule Wasser der Sümpfe mit dem Aufenthaltsort irgend eines der Verbrecher, der hier als Hehler diente. Wie weit dieser nachher über Mittel verfügte, mit dem Red River selber in Verbindung zu treten, wußte er allerdings nicht; mit Hülfe der übrigen Ansiedler wollten sie aber bald dahinter kommen, und dazu waren auch Joe’s Boote vortrefflich. Jetzt galt es also vor allen Dingen die Verbündeten mit den gesammelten Thatsachen bekannt zu machen; über all das Uebrige würden sie sich bald verständigen.

Jenkins ritt jetzt auch ohne Weiteres direct nach Haus; er hatte seinen Auftrag vollständig erfüllt. Mit seiner Frau sprach er aber kein Wort darüber; er wollte sie nicht unnöthiger Weise mit einer so gefährlichen Nachbarschaft ängstigen, und bereitete sich nur heute, wo er doch nichts Anderes mehr unternehmen konnte, auf die nächsten Tage vor, indem er Kugeln goß, sein Messer schärfte, dem er in den trockenen Schilfstangen bös mitgespielt, und erst als der Abend heranrückte, ging er noch einmal hinaus in den Wald pirschen, um womöglich einen Hirsch zu erlegen und den Seinen, falls er gezwungen würde ein paar Tage abwesend zu bleiben, genügende Lebensmittel zu hinterlassen.


4. Die Regulatoren.

Am nächsten Morgen schlief Jenkins ziemlich lang, fütterte, als er endlich aufstand, sein Pony ordentlich mit Mais, und ließ es dann frei, damit es sich bis gegen Abend ausruhen könne. Den Fuchs behielt er am Haus; er kannte den Weidegrund, wo sich das Pony gewöhnlich aufhielt, und konnte dann, wenn er es haben wollte, dort hinreiten und es nur abholen, denn alle diese Leute gehen, wenn sie nicht nothgedrungen müssen, nur höchst ungern selbst die kleinste Strecke zu Fuß.

So war der Mittag herangekommen, und er selber, um sich die Zeit in etwas zu vertreiben, zu seinem Negerburschen noch ein wenig in’s Feld hinausgegangen, wo sich dieser gerade damit beschäftigte, die oberen Blätter des schon fast reifen Mais abzubrechen und aufzuhängen, um Futter für das Vieh daraus zu dörren.

Noch war man im vollen Einsammeln, als das Horn am Haus geblasen wurde, das Mittags immer zum Essen rief, denn den Ton desselben hört man bis weit hinein in den Wald. Sonst aber blies die Frau nur immer einen langgezogenen Ton darauf, setzte dann ab und wiederholte das Zeichen noch einmal, heute dagegen gab sie es viel rascher, in schnell hinter einander ausgestoßenen Tönen.

„Was ist das, Massa?“ sagte der Neger. „Missus tutet komisch.“

Jenkins fuhr in die Höh, als ob er einen Schuß bekommen hätte, horchte einen Moment den wie ängstlichen Tönen, warf dann den Haufen Blätter, den er gerade im Arm hielt, auf die Erde nieder, und rannte in voller Flucht gegen die Fenz an, über die er sich hinüberschwang, als ob er nur so viel Jahre in den Zwanzigen gezählt hätte, als es in den Sechzigen der Fall war.

Das Zeichen deutete Unheil; in jeder Fiber seines Körpers fühlte er es, und krampfhaft ballte er die Faust, als er daran dachte, daß er heute gerade seine Waffe daheim im Hause gelassen, lag doch das Feld auch kaum dreihundert Schritt von diesem entfernt, während die Hunde immer herüber und hinüber wechselten, so daß sich nie ein Stück Wild auf diese Strecke wagte. Nicht einmal sein Messer hatte er bei sich; aber das war jetzt zu spät zu bedenken, und ohne auch nur einen Moment in seinem Lauf einzuhalten, flog er in wilden Sätzen die Bahn entlang, bis er, aus den Büschen herausspringend, seine eigene kleine Hütte dicht vor sich liegen sah.

Und der Athem stockte ihm fast, denn dicht vor dem Haus waren sieben oder acht Pferde angebunden und dort, vor seiner Thür, neben dem Weg lag der eichene Splitter eines halbabgerissenen Fenzriegels, den griff er fast bewußtlos auf, denn dicht vor der Thür seiner Hütte sah er, wie die Buben sein Negermädchen, seine Nelly, gefaßt hatten und ihr die Hände auf den Rücken banden.

Unwillkürlich, kaum wissend was er that, stieß er seinen Jagdruf aus, und die Hunde schlugen heulend an, das Mädchen aber, die ihren Herrn nahen sah, schrie jetzt gellend um Hülfe und brach dann in die Kniee, als ihr einer der Buben einen Faustschlag versetzte, der sie halb betäubte und jedenfalls zum Schweigen brachte.

Jetzt aber war Jenkins auch heran und die auf ihn gerichteten Büchsen Einzelner so wenig achtend, als ob es nur eben so viele Maisstöcke gewesen wären, sprang er auf den, der Nelly hielt, zu und schlug ihn mit dem Eichensplitter so kräftig über den Schädel, daß er wie todt zu Boden stürzte. Aber der Uebermacht war er nicht gewachsen. Ehe er zu einem zweiten Schlag ausholen konnte, hatten sich ein paar der Banditen schon über ihn geworfen. Er wehrte sich noch kräftig genug und seine Faustschläge trafen rechts und links, doch umsonst; in wenigen Secunden sah er sich übermannt und zu Boden geworfen, und einer der Buben schnürte ihm dann die Ellbogen so fest mit Hickorybast auf dem Rücken zusammen, daß er sich nicht rühren und nicht regen konnte.

„Hallo, mein Alterchen,“ rief der Anführer der Schaar, als sie ihn so weit gesichert sahen, daß er ihnen nicht mehr gefährlich werden konnte, „das war ein rauher Willkommen und dem armen Netley wird der Schädel wohl noch ein paar Tage brummen. Zum Teufel auch, Camerad, ich hätte Euch mehr Vernunft zugetraut. Ihr glaubtet doch nicht etwa, daß Ihr unsere ganze Gesellschaft mit einem Stück Holz aus der ‚Range‘ hinausprügeln konntet?“

„Hunde! räudige Hunde die Ihr seid,“ schrie der Alte, schäumend vor Wuth, indem er, freilich nutzlos, an seinen Banden riß, „feige erbärmliche Memmen und Schufte, die in einem Schwarm über einen Einzelnen herfallen! Diebische, galgenreife Canaillen, die Ihr dem Strick nicht entgehen sollt, wenn ich nur noch vierundzwanzig Stunden das Leben behalte!“

„Stopft ihm doch den Rachen, der Bestie!“ schrie einer der Buben und stieß ihm dabei mit der Faust in das Gesicht, daß das Blut dem Stoße folgte.

„Laß ihn nur, Bob,“ sagte der Führer, in dem Jenkins schon den Burschen erkannt hatte, der neulich Morgens in einem schwarzen Frack in seinem Haus gewesen war, jetzt aber ein altes Jagdhemd und eine Büchse trug, wie die Uebrigen, „vorher unsere Geschäfte, nachher wollen wir den Herrn schon zum Schweigen bringen. Nun, seid Ihr da drinnen fertig?“

Die Frage galt einigen der Bande, die gerade aus dem Haus kamen.

„Bei Jingo!“ rief der Eine lachend, „es war die höchste Zeit, daß wir hineinkamen, oder die Alte hätte wahrhaftig noch Einem von uns eine Kugel durch den Leib gejagt. Wir trafen sie eben, als sie eine kleine Büchse von den Pflöcken herunterriß. Jim gab ihr aber eins auf den Kopf und wir haben sie jetzt an den Bettpfosten angebunden.“

„Buben und Schufte!“ schrie da der alte Jenkins, halbrasend vor Wuth, „seid Ihr Männer, daß Ihr schlimmer als indianische Diebe in die Häuser einbrecht und mordet und plündert?“

„Nur ruhig, alter Herr,“ erwiderte der Führer mit einem höhnischen Lächeln, „die Reihe kommt auch noch an Dich. Ob wir Männer sind? Ei gewiß, mein Schatz, und wir hoffen Dir das zu beweisen; mit Deinen Schimpfwörtern bellst Du aber unter dem falschen Baum. Weil wir eben Texas von dem Diebesgesindel freimachen wollen, das sich hier, aus Arkansas vertrieben, eingenistet [388] hat, haben wir einen Regulatorenbund gegründet, um die Missethäter zu strafen und auszutreiben.“

„Regulatoren – Ihr?“ schrie der Alte, „verdammte heillose Bande, die Ihr seid! Wer ist der Missethäter, ich, den Ihr hier wie feige Wölfe überfallen habt, oder Ihr?“

„Glaubst Du, mein Herz,“ sagte der Führer höhnisch, „wir lassen uns hier unsere Pferde und Neger ruhig stehlen, weil Ihr es für passend findet, jetzt eine Zeit lang die ruhigen und ehrbaren Farmer zu spielen? Hast Du die Dirne da etwa gutwillig herausgeben wollen? Gott bewahre, trotzen da noch auf ihre Gesetze, nicht wahr? Aber das Lynchgesetz ist das einzige, das Ihr von jetzt an sollt zu kosten bekommen, und daß wir es zu handhaben wissen, wollen wir Dir beweisen.“

Zwei der Burschen hatten sich indessen mit dem durch den Schlag betäubten Netley beschäftigt, der sich jetzt aber wieder erholte, mit der Hand über den wunden Kopf strich und dann das Blut betrachtete, das an seinen Fingern hing. Die Anderen plünderten unter der Zeit das Haus, aus dem sie mitnahmen, was ihnen des Mitnehmens werth schien. Jenkins’ Büchse und Messer und Kugeltasche, seiner Frau kleine Waffe, die wollenen Decken, und den kleinen Vorrath von Zucker, Kaffee und Mehl, den sie vorfanden, kurz Alles was sich im Walde brauchen ließ. Mit einer ganz anerkennungswerthen Geschicklichkeit und Schnelle stellten sie dabei aus den gefundenen Betttüchern und Kissenüberzügen Satteltaschen her, um die verschiedenen Dinge bequem auf die Pferde packen und transportiren zu können.

Nelly, die um Hülfe geschrieen hatte, als sie ihren Herrn kommen sah und von dem einen Buben zu Boden geschlagen war, hatte sich jetzt auch wieder erholt, doch mit schweigendem Entsetzen starrte sie auf die Mißhandlung des alten Mannes und zitterte vor Furcht, wenn sie daran dachte, daß sie von diesen entsetzlichen Menschen mit fortgeschleppt werden sollte.

„Wo ist Euer anderer Neger, Jenkins?“ frug diesen jetzt der Führer, der bis dahin nur die Arbeiten der Uebrigen überwacht hatte, ohne selber Theil daran zu nehmen.

„Sucht ihn,“ lautete die kurze drohende Antwort, „die Pest über Euch!“

„Wir wollen Dich schon zum Reden bringen, mein Schatz,“ lachte der Führer, „sind die Hickorystöcke da?“

„Hab’ schon dafür gesorgt,“ lachte der Eine, „gleich da drüben war eine ordentliche kleine Anpflanzung; wir hätten’s uns gar nicht bequemer wünschen können. Komm, Herzblättchen, die sollen Dich schon gesprächig machen.“

„Mich – mich laßt das thun,“ schrie da Netley, der erst jetzt seine volle Besinnung wieder erlangt zu haben schien. „Schlag um Schlag, mir hat die alte Bestie fast den Schädel zerhauen, ich will ihm jetzt die Rückzahlung auf die Schultern zeichnen, daß er sein Lebtag an mich denken soll.“

„Das ist recht,“ jubelte die Schaar, „aber gieb’s ihm ordentlich, Netley, daß wir ihm die amerikanische Flagge auf den Rücken malen; an den Dogwood mit ihm!“

„Habt keine Angst,“ rief der Bube, in wilder, ungeduldiger Hast nach den Stöcken greifend, während sich Einige von ihnen auf den alten Mann warfen und ihn zu dem nächsten kleinen Dogwoodbaum schleppten.

(Fortsetzung folgt.)




Das Meer im Glashause.[1]

Der Ocean auf dem Tische“, „das Marine-Aquarium“, „das Zoophyten-Haus im zoologischen Garten zu London“, unter welchen Titeln wir Deutschland zuerst durch die Gartenlaube[2] mit den Wundern der Meerestiefe bekannt machten, mit denen es zum Theil sofort enthustastische Freundschaft schloß, haben sich gleichwohl bei uns nicht eingebürgert, sondern sind vom großen Publicum wieder vergessen worden. Auch in England ist der Marine-Aquariums-Enthusiasmus mit seinen Tausenden von wunderbar belebten Krystall-Tempeln in den Putzzimmern der Reichen und Gebildeten ebenso ausgestorben, wie die pflanzlichen und thierpflanzlichen Bewohner darin.

In Deutschland hat es keine zoologische Gesellschaft, keine Direction eines zoologischen Gartens nur versucht, einen solchen neuen Tempel der Naturwissenschaft zu errichten, mit Ausnahme einer einzigen, der musterhaften in Hamburg. Und es ist zugleich eine wahre Freude, berichten zu können, daß der Marine-Aquariums-Tempel des zoologischen Gartens in Hamburg den Londoner in jeder Beziehung wesentlich übertrifft und als ein wahrer Triumph der Wissenschaft und Schönheit, der gesammelten Erfahrungen und praktischen Benutzung derselben anerkannt werden muß.

Das Hamburger-Meeres-Feenschloß wird der Zeit nach das vierte in der Welt sein (das dritte befindet sich, wenn ich nicht irre, in Havre), ist aber der Einrichtung nach entschieden das erste und Vorbild für alle andern, die sich nun wohl mit der Zeit einfinden werden. Es verdient deshalb genauere An- und Einsicht, wozu wir hiermit beitragen wollen. Die junge zoologische Gesellschaft, durch ihre Directoren und Leiter unstreitig eine der tüchtigsten, beschloß gleich zu Anfang, den in zoologischen Gärten vernachlässigten Wasser- und Meereslebensformen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der erste Präsident, Baron Ernst von Merck, unterstützte diese Absicht nach Kräften und vererbte sie dem jetzigen, H. A. Meyer, unter welchem der Plan zur Errichtung eines Zoophyten-Hauses im Sommer 1862 zum praktischen Anfang reifte. Der Kunsttempel, das Atelier für Ausstellung und Cultur aquatischer Lebensgebilde, war im April vorigen Jahres wunderbar vollendet und kann mit Recht als verwirklichte Wissenschaft aller während der letzten zwölf Jahre auf diesem Gebiete gemachten Erfahrungen bezeichnet werden. Alles ist gebaut und construirt und praktisch, wie künstlerisch gestaltet nach den bewährtesten Modellen und so bevölkert, daß die Wissenschaft die reichste Belehrung und das Volk die anziehendsten Wundergebilde des Meeres in den malerischsten Gruppen und der hellsten Beleuchtung auf die bequemste Weise genießen können. Der berühmte Chemiker Liebig rühmte bei einem Besuche die vollständigste und praktischste Einrichtung für Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Pflanzen- und Thierleben.

Das Gebäude, genannt „Aquarien-Haus“, oder auch blos „Aquarium“, ist ungefähr hundert Fuß lang, vierzig breit und fünfundzwanzig hoch. Um die Erhaltung möglichst gleichmäßiger Temperatur zu erleichtern, ist es mit der untern Hälfte unter die Erdoberfläche gesenkt worden, so daß es von Weitem und außen allerdings keinen besondern architektonischen Eindruck macht. Es besteht aus einem Salon mit zwei Galerieen und zehn großen Behältern von Spiegelglas, einem nördlichen mit sechs kleinen, einem südlichen mit eben so viel und einem westlichen Raume mit einem großen Behälter, Zimmern mit Heizapparaten, Eingangs-Halle, bedecktem Porticus und Treppen. Die in Abbildung gegebene innere Ansicht des großen Salons in der Mitte mit den zehn Behältern an beiden Seiten reicht hin, um uns eine Vorstellung von dem Baue und der innern Einrichtung zu bilden.

Durch diese Behälter circuliren fortwährend 3500 Cubikfuß Seewasser und zwar so, daß sich etwa 1000 Cubikfuß stets in jenen befinden und das übrige Wasser als Reservoir (unter dem Laboratorium) und künstlich erneuertes Lebenselement dient, das immer neuen Zufluß gewährt, während ge- und verbrauchtes Wasser abfließt und künstlich wieder gereinigt und gesauerstofft wird. Dieses

[389]

Das Aquarium im Hamburger zoologischen Garten.
Nach einer Originalaufnahme von M. Haller in Hamburg.

[390] Seewasser wird nie durch anderes ersetzt, sondern immer dasselbe kreist fortwährend zwischen Behälter und Reservoir durch Pumpwerke, welche durch Wasserdruck Tag und Nacht in Bewegung erhalten werden. Es verliert durch den Gebrauch, d. h. durch den Lebensproceß der Thiere und Pflanzenthiere in den Behältern, mehr oder weniger an Sauerstoff, dem wesentlichen Elemente alles Lebens. Daher wird es, aus den Behälter abfließend, durch tüchtige Luftbäder immer wieder mit Sauerstoff gesättigt und zugleich durch Filtration von mechanisch beigemengten Unreinigkeiten befreit. So gewinnt man das nämliche Seewasser stets wieder als frisches, blos mit dem Unterschiede, daß es, unmittelbar aus dem großen Meere geschöpft, eine Menge Nahrungsstoffe für die Bewohner der Behälter enthalten würde. Diese müssen also durch künstliche Fütterung, Fleisch von Crustaceen, Würmer, todte oder lebendige Fische etc., eine durchaus nicht kostspielige und ungemein interessante Arbeit, ersetzt werden. Der fortwährende Gebrauch des nämlichen Seewassers auf diese Weise hat sich in Hamburg so gut bewährt, daß sich in demselben täglich neue Organismen entwickeln und die vorhandenen vortrefflich gedeihen. Hiermit scheint für alle künftigen Anlagen von Zoophyten-Häusern die größte Schwierigkeit glücklich gelöst worden zu sein. Mit ein paar Tonnen Seewasser kann man in jeder Entfernung vom Meere Marine Aquarien gründen und unterhalten.

Ein danebenliegendes Bedenken ist wohl auch mit etwas Chemie und Gewissenhaftigkeit zu beseitigen. Die Zoophyten und Thurmbewohner, besonders die gepanzerten Krebsritter, verbrauchen nämlich jedenfalls auch Material zur Befestigung und Vergrößerung ihrer kleinen Burgen, zur Anschaffung von neuen Wohnungen und Waffen. Dies beziehen sie aus dem Seewasser selbst, das aus mehr als sechsundneunzig Theilen gewöhnlichen Wassers, dritthalb Procent Chlornatrium (Kochsalz) und halben und weniger Procenten Bromnatrium, schwefelsaurem Kali, schwefelsaurem Kalk oder Gyps (blos 0,1622 Proc.), schwefelsaurer Magnesia und Chlormagnesium besteht. Dieses Baumaterial ist also nicht sehr reichlich vorhanden und wird fortwährend in Anspruch genommen, wahrscheinlich besonders Kalk. Deshalb wird es wohl nöthig sein, das Wasser öfter chemisch zu untersuchen und darin gefundene Deficits zu decken. Darin kann aber wenig Schwierigkeit liegen, da man mit Erfolg künstliches Seewasser macht und Marine-Organismen darin erhält.

Die Oxygenation oder Sauerstoffung des Wassers durch Luftbäder und immerwährenden energischen Kreislauf wird vermittelst besonderer Vorrichtungen und künstlicher „Stürme im Glase Wasser“ unterstützt, wodurch die auf engen Raum angewiesenen Meeresbewohner zugleich zu dem Genusse und belebenden Vergnügen wirklichen Meeressturmes kommen. Man bläst nämlich durch das erneuerte Seewasser zuweilen mit großer Gewalt Luft in die Behälter, so daß eine tüchtige, wellenförmige Bewegung darin entsteht, die im Kleinen den kleinen Wundern Alles leistet, was sie nur von dem größten Sturme erwarten können.

Aber alle die reichlich von außen eingeführte Lebensluft reicht nicht hin zum fröhlichen Gedeihen der maritimen Bevölkerung, so daß auch für frisch perlende Sauerstoffquellen im Wasser selbst gesorgt worden ist. Man hat deshalb lebendige Gärten und Grotten auf dem malerisch nachgeahmten Meeresboden und dessen Felsen und Gebirgen angelegt und gärtnert immer frisch weg in diesen Feen-Parks, deren Pflanzen und Moose und seltsame Bäumchen und Wäldchen nun doppelt für das Wohl der darin lebenden Wesen sorgen, indem sie die fortwährend aus dem thierischen Lebensproceß sich entwickelnde Kohlensäure wegfischen und zu ihrer eigenen Nahrung verbrauchen und dafür unter dem Einflusse des Lichts Lebensluftperlenreihen von sich geben. Das kann man an hellen Tagen oft sehr schön sehen. Wie aus einem Glase eingegossenen Champagners dichte Reihen von Luftperlen emporeilen, so sprudeln von den lichtgetroffenen Pflanzen unten lustige Bläschen sich befreienden Sauerstoffs wie feinste Diamantenketten herauf. Die wunderbaren Creaturen darin freuen sich dieses sprudelnden Luft-Champagners und wehen und winken und kokettiren angesäuselt mit ihren farbenreichen Federbüschen und gesticuliren mit ihren zahlreichen Fangfingern oder fliegen und flitzen zwischen den Grotten und Höhlen umher, wie lustige Buben, die aus der Schule hervorlärmen.

Erst durch dieses pflanzliche Leben in den Aquarien ist dessen Kreislauf abgerundet und das Gedeihen der thierischen und pflanzlichen Gebilde durcheinander gesichert. Zudem trägt die lebendige Vegetation auf dem künstlerisch nachgeahmten Meeresboden ungemein viel zur Schönheit dieser Zoophyten-Parke in ihren klar durchsichtigen Krystallpalästen bei. Wir haben die Wunder der Tiefe wirklich und im besten Lichte dicht vor uns. Die Pflanzen werden nicht vom Meere oder in Süßwasser-Aquarien aus Flüssen übergesiedelt, sondern sie entwickeln sich freiwillig aus Keimen oder hineingeworfenem Samen, so daß sie sich gleich von der Geburt an mit ihrer beschränkten Heimath befreunden. Natürlich muß Ueberwucherung sowohl als Mangel durch besondere Gärtnerkunst im Gleichgewicht gehalten werden.

Im Allgemeinen werden die Süßwasser-Aquarien mit etwa einhundert und dreißig Kubikfuß Wasser eben so sorgfältig behandelt, nur daß man mit diesem nicht so ökonomisch umgeht, sondern das abfließende durch anderes ersetzt. Die künstlerische Landschaftlichkeit in den Behältern ist durchweg malerisch und von reizender Wirkung. Die kleinen Gebirge darin sind von gut gewählten verschiedenen Arten von Steinen und Felsenstückchen zusammengesetzt. Die Kanten und Ecken und Farben der verschiedenen mineralischen Körper sind so verbunden, daß sie durch Contrast oder Analogie einen bestimmten Charakter gewinnen. Der Boden unten ist zwei bis drei Zoll hoch mit Sand oder Kies bedeckt. Darüber verstreuen sich kleine Felsenformationen, Bänke, Abdachungen und Grotten, so daß sich die Bewohner wie zu Hause auf dem wirklichen Meeresboden fühlen und benehmen. Die schöne Wirkung dieser submarinen Landschaften wird noch erhöht durch die blos von oben (durch Dachfenster oder „Himmelslichter“, wie der Engländer besser sagt) fallende, helle Beleuchtung, die um so wirksamer erscheint, als die Besucher von einem dunkleren Raume hineinblicken. Nur in dem östlichen und dem westlichen Zimmer mit sehr flachen und seichten Behältern, wie sie sich für die darin befindlichen Gebilde am Besten eignen, ist die übliche Beleuchtung von allen Seiten vorgezogen worden.

Alle Behälter können brillant erleuchtet werden, was insofern von Wichtigkeit ist, als manche der Bewohner wie Raubthiere nur des Nachts aus ihren Schlupfwinkeln hervorkommen und sich von dem künstlichen Lichte nicht abhalten lassen, zu zeigen, wie sie auf die Lauer und Jagd gehen und ihre Beute fangen und verzehren. Alle unansehnliche Prosa und Werkeltagsarbeit, die zur Erhaltung und Pflege dieser ganzen submarinen Lebensscenen gehören, wie Wasser- und Gasröhren, Heiz- und Ventilations-Apparate etc. sind in untere und Nebenränme verwiesen worden, wie Maschinen und Coulissenschieber hinter die Bühne.

Da diese niedrigsten Gebilde von Thier- und Thierpflanzen-Organismen wenig Geist haben und ihr ganzes Thun, Treiben und Trachten auf Nahrung gerichtet ist (sie sind also wie viele gute Unterthanen in intelligenten Menschenstaaten), so entwickelt sich ihre ganze Eigenthümlichkeit und Energie am Charakteristischsten und in höchster Blüthe beim Fangen und Fressen, so daß die in Anwesenheit des Publicums vorgenommene Fütterung besonders interessant ist. Ein zoophylisches Geschöpf, das blos aus einem Magen besteht, muß man fressen sehen, nur um es zu glauben, daß die Natur die satirische Laune gehabt hat, auch eine solche Creatur zu schaffen.

Ohne weiter in Einzelnheiten der Verwaltung und Bewirthschaftung der Aquarien einzugehen, begnügen wir uns, noch besonders auf die angedeuteten, meisterhaft verwirklichten Bedingungen alles Lebens und Gedeihens aufmerksam zu machen: reichliche Fülle und stets lebendige Frische der Luft und des Lichtes, und zwar verticalen, directen, nicht gebrochenen und reflectirten Lichtes. Mängel und Fehler in Versorgung mit diesen wesentlichsten Lebensbedingungen ist der Hauptgrund gewesen, weshalb die Tausende von Marine-Aquarien in den Privatgemächern der Wohlhabenden und Gebildeten ausgestorben sind und der ganze, einst blühende Enthusiasmus für diese Art von herrlichster Zimmerdecoration als ziemlich erloschen beklagt werden muß.

Freilich giebt es unter den Bewohnern solcher Aquarien weder allgemeines Land- noch Seerecht. Sie leben und fressen sich gegenseitig auf ganz feudal. Deshalb ist es schön, daß man in den Hamburger Aquarien besondere Behälter für die Raubritter abgegrenzt und die friedlichen und verträglichen Creaturen neben einander in idyllische Wohnungen vertheilt hat. Eine solche Rücksicht auf Verträglichkeit der Nachbarn und Bewohner eines Behälters ist ungemein wichtig und wird durch Beobachtung und Erfahrung gewiß noch zu ganz sichern Ergebnissen führen.

[391] Diese Erfahrungen, die täglich gebucht werden, übergiebt der Curator der Aquarien, W. A. Lloyd, dessen englischem Manuscripte wir alle factischen Angaben verdanken, gewiß für weitere Benutzung der Oeffentlichkeit. Ihm und seinen in England gemachten Studien und Erfahrungen verdankt das ganze Hamburger System seine Anordnung und Verwaltung. Das Wassermaschinensystem ward von A. Lienau ausgeführt, die Architektur von M. Haller, dem die Gartenlaube zugleich für die anschauliche Originalzeichnung zur beigegebenen Abbildung verpflichtet ist; die Modelle zur Felsenlandschaftlichkeit in den Behältern lieferte A. Mellbye. Alle diese Künstler haben zu einem in jeder Beziehung vortrefflichen Ergebniß zusammengewirkt.

Einzeln lassen sich die Tausende von Bewohnern dieser zoologischen Unterwasser-Gärten hier nicht schildern. Nur mit dem Haupthelden der ganzen Gesellschaft, dem japanesischen Riesen-Salamander (Sieboldia maxima), der ein ganz besonderes Zimmer und eine eigene, sehr schön ausgestattete Wohnung hat, machen wir eine kleine Ausnahme. Er ist Herr einer ganzen malerischen Felsen- und Grotteninsel mit Farrenwäldchen und anderer Flora, zwischen denen sich zwergenhafte Wassereidechsen, Schildkröten, Fröschlein und Fischlein amüsiren, während der Herr der Insel, vier Fuß lang und achtzehn Pfund schwer, sich gern in seine Felsen-Privatgemächer zurückzieht, die aber von Künstlerhand so gebaut sind, daß man ihn doch immer in jedem Versteck sehen kann. Zuweilen scheint er sich auf die Füße machen zu wollen, just eines Spaziergangs wegen. Er thut’s aber blos, um sich einen Fisch zu fangen. Hat er den Bissen weg, so liegt er der Verdauung ob, harrend neuen Appetits, der von der Menge kleiner Unterthanen in seinem Reiche immer leicht befriedigt werden kann.

Die Zahl der übrigen Bewohner ist Legion, vielleicht Million und mehr, obgleich man die meisten mit bloßem Auge gar nicht sehen kann. Aber unter einer guten Lupe verwandelt sich oft ein Stück gemeiner Sandstein aus dem Meere in ein ganzes Land voll seltsamster Gebilde und Bewohner.

Die „Balanus“-Arten (Eichen- und Entenmuscheln) stürzen mit Ungestüm aus ihren eckigen Kalksteinburgen hervor, strecken jede sechs Klappen aus, jede mit feinsten Fädchen und Fäserchen befranst, und fahren und fangen damit unaufhörlich nach Beute umher. Aber bei der leisesten gefährlichen Berührung klappen sie alle ihre Herrlichkeit blitzschnell ineinander, schießen in ihren Thurm, sperren ihn mit dem „Stopfer“ und sind für die Außenwelt abgeschlossen, bis die Gefahr vorüber ist. Dann strahlen sie aber auch wieder eben so blitzartig schnell nach allen Seiten. Eine andere, braune Sorte drischt mit ihren Armen so regelmäßig, wie Drescher mit Flegeln, und frißt Alles, was sie zufällig trifft. Da sind auch meine silberweißen Lieblinge, rosenfingerig, geisterhaft, graziös elastisch und unermüdlich lustig, wie Kinder auf dem Spielplatze. In halbcylindrischen Festungen, wie sie sich oft auf alten Seemuschelschalen ähnlich alten Städten mit krummen Straßen häufen, wohnen die Serpulae (Röhrenwürmer), die aus ihren posthornartigen Thurmöffnungen erst eine lange Trompete herausstrecken, um welche sich dann eine Menge feine Fäserchen regenschirmartig und in den brillantesten Farben ausspannen, um Alles in den trompetenartigen Mund zu stecken, was sie Genießbares erwischen können.

Die zahlreichen Anneliden (bis zur Länge eines Zolles) haben an der Stelle des Kopfes gleich ihre Magenöffnung und einen Hut darüber (ganz die Art mancher Menschen). Ihre federartigen Fangruthen zerfasern sich unter guter Vergrößerung jede in zwanzig bis dreißig Fäserchen. Jedes derselben ist ein durchsichtiger Schaft mit einem Knopfe, aus denen je vier feine Speere hervorschießen, wenn es gilt, ein Infusionsthierchen zu spießen und ungebraten zu verspeisen. In den Parks von Ulva latissima (Meersalat) treiben sich obdachlose Landstreicher umher, seegarneelenartige Krabben, wie sie in England täglich schiffsladungsweise zum Thee gegessen werden, flinke, flitzende Lindwürmer mit umschlängeten Medusenhäuptern und gräßlich hervorstierenden schwarzen Augen, Nereiden, dünn wie Coconfäden, aber immer gradaus dahinschießend, wie Eisenbahnzüge in der Ferne; ganze Wälder von Thierpflanzen- Colonieen mit geisterhaft weißen Farrenblättern, die aussehen wie Bäume während reisiger Wintermorgen; glänzende wie Jungfrauen weißgekleidete Zoophyten; Thurmbewohner, die als zwanzigstrahlige Sterne sich ausbreiten und mit rosigen Blumenfasern umherangeln; weiße, glasartige Körperchen, die sich weit aus ihrem Thurme heraushängen und unaufhörlich umherfischen und nie genug kriegen können – kurz eine unendliche Welt voll seltsamster Formen und Metamorphosen, aber Alle Tag und Nacht von einem Geiste belebt und bewegt, von einem rasenden, rast- und schlaflosen Appetite nach solider Kost (in der flüssigen leben sie ja schon). Dies läßt sich erklären, da die meisten, pflanzenartig angewachsen, immer warten müssen, bis sich ein Bissen in’s Bereich ihrer Fangfächer verirrt, und die Concurrenz auch hier sehr groß ist.

Bei den großen, blaustahlgepanzerten Crustaceen-Rittern (Hummern etc.), auch den kleineren Krabben wollen wir uns diesmal gar nicht aufhalten. Aber der „Eremit“ oder der Einsiedler-Krebs ist zu auffallend dazu. Diese stets umherschnüffelnde Creatur mit krebsartigen Vorderklauen, sonst aber mit dem ganzen Körper in einer gestohlnen weißen Muschel steckend, rast und rasselt zu ungebehrdig auf Steinen und Sand umher, als daß wir sie unbeachtet lassen dürften. Die vorgestreckten Klauen und der borstige Bart wirbeln immer im Wasser in unermüdlicher Kampf- und Freßlust; doch kriecht sie sofort in ihre geraubte Festung, wenn sich ihr ein respectabler Feind gegenüberstellt. Das renommistische Räuberleben des Einsiedler-Krebses kommt übrigens vielen Pflanzenthierchen zu Gute, die sich mit ihren Gehäusethürmchen auf der Festung desselben anbauen und so auf ihrem Rücken wacker nach Beute umherreiten, besonders den Eichelmuscheln, die von der südwestlichen Küste Englands oft meilenlange Strecken mit ihren blendendweißen Häuschen überkrusten.

Außerdem gesticuliren und wirken, angewachsen an Felsenstückchen, eine Menge seltsam belebter Baum- und Pflanzengebilde umher, weidenartige Stumpfe mit lebendiger Krone von bewegten, weißen Zweigen, wunderbar verzackte, zoophytische Gestalten, die mit ihren Aesten und Zweigen in tropischen Meeren Riesengröße erreichen und Menschen damit fangen, zerdrücken und aussaugen können. Ich habe von einem Matrosen gelesen, der über Bord in die Klauen eines solchen Ungeheuers fiel und mit Beilen und Aexten herausgehauen werden mußte.

Da sind noch eine Menge Zoophyta helianthoida, sonnenstrahlen- oder sternenförmige, daher auch Actinidae genannt (vom Griechischen aktis = Strahl), im weiteren Sinne: „See-Anemonen“, die sich in der Regel mit einer besondern Warze fest an Felsstücke saugen, aber auch gehen und schwimmen und kriechen können. Der eigentliche Körper gleicht oft einem abgeschnittenen Kegel oder kurzen Cylinder auf flacher Ebene. Die Glieder strahlen meist in fünf regelmäßigen Formen aus, oft in den lebhaftesten, sich wandelnden Farben und Blüthenbüscheln. In der Mitte ist der Mund mit einem häutigen Beutel von Magen, den sie bei großem Hunger auch aus sich heraustreiben wie einen ausgebreiteten Sack. So wie sich diesem ausgespannten Netze etwas Genießbares naht, ziehen sie den Sack blitzschnell darüber zusammen, in sich hinein und verdauen. In der Gefangenschaft werden sie mit Austern, Muscheln und Regenwürmern gefüttert, wie alle anderen Raub-Zoophyten.

Die Zahl der Arten und Gestalten und Namen der Actinien und Seesterne ist ungemein groß. Wir wollen blos die zierliche Actinoloba dianthus, weiß wie Schnee, glänzend wie Porcellan und zierlich bemalt mit purpurnen und bernsteinfarbigen Figuren, als ein Proteus-Wunder erwähnen. Jetzt schwimmt sie wie ein Teller, dann wie eine Untertasse mit blumigen Fransen ringsum, dann wie eine weiße Distel etc. Auch fällt es ihr zuweilen ein, sich wie eine Sanduhr, mit enger Taille in der Mitte, zu zeigen, sich nur in ihre eigene Hälfte zu verwandeln, um dann wieder dreimal so groß zu erscheinen. Bei guter Laune wechselt sie ihre Gestalt fortwährend und kann sich im Nu ganz wenden, das Innere nach außen kehren.

Und die faulenzenden, häßlichen, klumpigen Mollusken, sammet- und gallertartig mit langen Ohren, wie der einst für giftig, jetzt für eßbar gehaltene Seehase, die schwammigen und kaum haltbar erscheinenden und doch gegen die Wuth des Meeres so tapferen Gebilde, die ganze Inseln und Welttheile aus dem Meere aufbauenden Korallen-Thierchen, diese ewig wunderbare „Gestaltung und Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“? Ja, wer wird aus dieser erst neuerdings aufgeschlossenen, noch nirgends in wissenschaftliche Grenzen gebannten Wunderwelt der Tiefe klug? Emporgehoben, meisterhaft entfaltet und beleuchtet ist sie nun wenigstens in Hamburg als Mahnung und Reiz für die übrigen Stätten der Cultur und Wissenschaft, die sich und der Menge kaum etwas Anziehenderes und Gehaltvolleres

bieten kann, als gut bevölkerte Aquarien.
H.Beta.



[392]
Ein Heldenweib der Unions-Armee.
I.
Die Krankenwärterin im Felde. – Ausmarsch der Potomac-Armee. – Der Vorabend der ersten Schlacht. – Der erste Todte. – Das Kampfgewühl am Sonntag. – Der tapfere Kaplan.– Grausiger Anblick des Schlachtfeldes.– Panischer Schrecken und Auflösung unter den Unionstruppen. – Die Kirche voller Verstümmelter. – Die Wahnsinnige am Feuer. – Das Versteck unter dem Reisighaufen.– Der Jammerruf der Verwundetenen nach Wasser. – Der Sterbende und sein Medaillon.

Wenn wir in unserer deutschen Geschichte nach Beispielen der höchsten patriotischen Opferfähigkeit suchen, so wendet sich unser Blick zuerst zu den heldenmütigen Frauen und Mädchen, welche in den Befreiungskriegen nicht nur ihren Schmuck auf den Altar des Vaterlands niederlegten, sondern von den liebsten Schätzen ihrer Herzen, dem Bruder, dem Bräutigam, dem Sohn, dem Gatten, dem Vater freudig schieden, wenn diese zum Kampfe zogen, ja, von denen einige sich selbst in das Soldatenkleid verbargen, um in den Reihen der Männer für das Vaterland Noth und Tod entgegenzugehen.

Seit jenen großen Tagen hegt das deutsche Volk die innigste Theilnahme für jede Nation, deren Freiheitskämpfe durch den Opfermuth der Frauen veredelt werden: die griechischen Heldenmütter, die polnischen Jungfrauen, die italienischen Frauen erwarben ihren Völkern mehr Sympathien in Deutschland, als alle Waffentriumphe der Männer vermocht hätten. Freuen wir uns deß als eines Zuges des ritterlichen Herzens unseres Volks.
Kein Wunder, daß wieder dieser Zug es ist, der die Deutschen fast sammt und sonders (die Ausnahmen im Junkerlager zählen sich selbst nicht zu den Deutschen) in dem furchtbaren Bruderkampf für die Waffen der Union begeisterte. Und in der That stellen die Thaten des Opfermuths, die wir auf jenem unermeßlichen Kampfgebiete gerade von den Frauen vollbracht sehen, sich zu dein Bewunderungswürdigsten, von dem die Kriegsgeschichte aller Völker und Zeiten berichten kann.

Anstatt Geschichtsbilder aus jenem Kampfe stellen wir den Lesern der Gartenlaube lieber eine der kühnsten Heldinnen des Kriegs selbst vor, die ihre „Kranken und Spionendienste für die Unions-Armee“ in einem illustrirten Werke erzählt hat. Folgen wir der tapferen S. Emma E. Edmonds nur zu einigen ihrer „Abenteuer und Erfahrungen in Hospitälern, Lagern und auf dem Schlachtfelde“, so werden wir den entsetzlichen Einzelheiten der Aeußerungen wildester Parteiwuth so nahe geführt, daß Jedem ein schwaches Bild des Ganzen von selbst vor der schaudernden Seele aufsteigt. Emma Edmonds erzählt: Fünf Jahre vor der Zeit, wovon ich schreibe, verließ ich meine ländliche Heimath, nicht weit von den Ufern des St. John’s Flusses in der britischen Provinz Neu-Braunschweig, und reiste nach den Vereinigten Staaten. Ein unauslöschlicher Durst nach höherer Ausbildung führte mich zu diesem Entschlusse, denn ich glaubte damals wie noch jetzt, daß das Feld „religiöser Bekehrung im Auslande“ dasjenige sei, worin ich früher oder später arbeiten müsse. Ich kam hier als eine Fremde an und hatte nichts weiter, um mich bei dem biederen Volke dieses Landes zu empfehlen, als ein Schreiben von dem Prediger der Kirche, zu welcher ich gehörte, und ein anderes von dem Vorsteher meiner Classe in der Sonntagsschule. Nichtsdestoweniger fand ich gütige Freunde, die mir in allen meinen Unternehmungen halfen, und sowohl in Geschäften, in geistiger Ausbildung, als in religiöser Entwickelung fand ich einen Beistand, der meine kühnsten Erwartungen überstieg. Ich danke Gott, daß mir in dieser Stunde der Bedrängnis meines Adoptiv-Vaterlandes verstattet ist, einen schwachen Theil der Dankbarkeit, die ich für das Volk der Nordstaaten fühle, auszusprechen.

Zehn Tage nach dem Erlaß der Proclamation des Präsidenten war ich bereit nach Washington abzureisen, nachdem ich von der Regierung in Dienst genommen und mit allen nöthigen Bedürfnissen versehen worden war. Ich sollte mich zur Fronte der Armee begeben und an der vollen Aufregung des Schlachtgetümmels Theil nehmen, oder mit andern Worten eine „Kankenwärterin im Felde“ sein.

Um diese Zeit war ich Augenzeuge des Ausmarsches der ersten Truppen des Westens, die nach Washington aufbrachen.
Die Regimenter waren in gerader Linie aufgestellt – zu ihrer Reise vollkommen ausgerüstet – ihre glänzenden Bajonnete blitzten in der Morgensonne. Es war in der Hauptstraße eines lieblichen Städtchens von etwa tausend Einwohnern, wo es kaum eine Familie gab, die nicht einen Vater, Gatten, Sohn oder Bruder in jener Schaar von Kriegern hatte, die dort bereit standen, ihnen, Lebewohl zu sagen, vielleicht für Jahre – vielleicht für immer.

Eine Abschiedsanrede wurde von dem Prediger des Ortes gehalten und ein Neues Testament jedem Soldaten mit folgender Inschrift überreicht: „Setze dein Vertrauen auf Gott – und halte dein Pulver trocken.“

– – „Marschbefehle heut empfangen – in zwei Tagen wird die Potomac-Armee auf dem Wege nach Bull-Run sein.“ Ich finde diese Worte in meinem Tagebuche unter dem 15. Juli 1861 verzeichnet, ohne weitere Bemerkungen. Doch ich bedarf keines Tagebuches, um mein Gedächtniß in Bezug auf die Ereignisse jener beiden Tage der Vorbereitung, die auf den Empfang des Befehles folgten, aufzufrischen. Die Potomac-Armee sollte bald dem Feinde zum ersten Male entgegentreten – eine große Schlacht sollte geliefert werden. O, welche Aufregung und Begeisterung jener Befehl hervorrief! – nichts sonst war zu hören als die wilden Hurrahrufe der Soldaten, sowie ein Regiment nach dem andern seine Befehle erhielt. Die Möglichkeit einer Niederlage schien niemals einem Einzigen in den Sinn zu kommen.

– – Der 17. Juli dämmerte hell und klar herauf; Alles war in Bereitschaft, und die Potomac-Armee trat ihren Marsch nach Manassas an. Frohen Muthes zog das Heer dahin; die Lust ertönte von dem Spiel der Regimentsmusikcorps und von den patriotischen Gesängen der Soldaten. „Auf nach Richmond!“ erscholl es und fand seinen Wiederhall, sowie jene gewaltige Heeresschaar rasch durch das Land dahinzog. Ich fühlte in mir einen seltsamen Mißklang mit dem wilden, freudigen Geiste, der die Truppen beseelte. Wie ich so langsam dahin ritt und mir jene langen Reihen von Bajoneten, die im Sonnenlichte glitzerten und blitzten, betrachtete, dachte ich daran, daß viele, ja sehr viele jener begeisterten Männer, die von Begierde nach einem Strauße mit dem Feinde brannten, niemals zurückkehren würden, um den Erfolg oder die Niederlage jenes stattlichen Heeres zu erzählen. Selbst wenn der Sieg ihre Banner krönen sollte, und ich hegte daran keinen Zweifel, so mußte doch manches edle Leben geopfert werden, ehe derselbe errungen werden konnte.

Früh am nächsten Morgen schlug die Reveille, das ganze Lager war bald in Bewegung, und nach einem leichten Frühstück aus den Tornistern wurde der Marsch wieder angetreten. Der Tag war sehr heiß, und es war sehr schwierig Wasser zu bekommen, dessen Mangel den Soldaten große Beschwerden verursachte. Viele der Leute wurden vom Sonnenstich befallen, und andere fielen vor Erschöpfung aus den Gliedern. Alle solche, welche nicht fähig zu marschiren waren, wurden in Ambulanzen gebracht und nach Washington zurückgeschickt. Während des ganzen Tages herrschte beträchtliche Aufregung, da wir jede Stunde erwarteten dem Feinde zu begegnen.

Unsere Aerzte begannen sich auf die bevorstehende Schlacht vorzubereiten, indem sie mehrere Gebäude für die Verwundeten einrichteten, unter andern die steinerne Kirche in Centreville, eine Kirche, deren mancher Soldat gedenken wird, so lange seine Erinnerung dauert. Als ich an jenem Abend spät in Begleitung des Mr. und der Mrs. B. (ein Kaplan und dessen Gattin, welche ebenfalls als „Krankenwärterin im Felde“ diente) aus dieser Kirche zurückkehrte, schlug ich vor, daß wir durch das ganze Lager gehen möchten, um zu sehen, wie sich die Jungend an diesem Vorabende ihrer ersten Schlacht beschäftigte. Wir fanden Viele am Schreiben bei dem flackernden Lichte des Lagerfeuers – Soldaten pflegen Schreibmaterialien auf dem Marsche mit sich zu führen; manche lasen in ihrer Bibel, vielleicht mit mehr als gewöhnlicher Andacht, während andere in Gruppen dasaßen und sich leise und ernst unterhielten; aber die große Masse lag auf dem Boden ausgestreckt, in ihre Teppiche gewickelt, in festem Schlafe und ganz unbewußt der Gefahren des morgenden Tages.

Nachdem General McDowell die Stellung des Feindes ermittelt hatte, beorderte er drei Divisionen unter dem Befehl von Heinzelmann, Hunter und Tyler zum Vorrücken, während Miles [393] in Centreville mit der Reserve stehen gelassen wurde. Am Sonntag vor Tagesanbruch rückten jene drei Divisionen voran und boten einen herrlichen Anblick dar, wie Colonne nach Colonne über die grünen Hügel und durch die nebligen Thäler zog, während die milden Mondesstrahlen auf die langen Reihen glänzenden Stahles fielen. Nicht eine Trommel noch ein Horn wurde während des Marsches laut und die tiefe Stille wurde nur durch das Gerassel der Geschütze, den dumpfen Tritt der Infanterie oder das Gemurmel von Tausenden gedämpfter Stimmen unterbrochen.

Kaplan B. saß zu Pferde und sah so feierlich aus, als ob er dem Todesengel in das Angesicht schaute. Der erste Mann, den ich todt sah, war ein zu Oberst N.’s Commando gehöriger Kanonier. Eine Bombe war inmitten der Batterie zerplatzt und hatte einen Mann getödtet, drei Leute und zwei Pferde verwundet. Mr. B. sprang von seinem Pferde, band es an einen Baum und eilte zu der Batterie; Mrs. B. und ich folgten seinem Beispiel.

Nunmehr begann die Schlacht mit furchtbarer Wuth zu rasen. Nichts mehr war zu hören als der Donner der Geschütze, das Klirren der Schwerter und das fortwährende Knallen der Gewehre. O, daß dieses Schauspiel die glänzende Sonne einen heiligen Sabbathmorgens bescheinen mußte! Statt der lieblichen Einflüsse, die wir mit dem Sabbath zu verschwistern pflegen – des Geläutes der Glocken, die uns zum Hause des Gebetes rufen, der Sonntagsschule und aller feierlichen Andachtsübungen – war hier nur Verwirrung, Zerstörung und Tod zu finden. Auf Meilen ringsum gab es keinen Ort der Sicherheit; der sicherste Ort war der Posten des Dienstes. Viele, die an jenem Tage dem Feinde den Rücken kehrten und in dem zwei Meilen entfernten Gehölze Zuflucht suchten, wurden von Bomben in Stücke zerrissen oder von Kanonenkugeln verstümmelt gefunden, ein gebührender Lohn für Diejenigen, die, für Scham, Pflicht oder Vaterland unempfindlich, in der Prüfungsstunde der Schlacht ihrer Sache und ihren Cameraden untreu werden und aus Todesfurcht feige hinwegkriechen.

Ich wurde eiligst nach Centreville geschickt, um mehr Branntwein, Charpie etc. für die Verwundeten zu bestellen. Als ich zurückkehrte, war das Schlachtfeld buchstäblich mit Verwundeten, Todten und Sterbenden übersäet. Mrs. B. war nirgends zu finden. War sie getödtet oder verwundet? Einige Augenblicke qualvoller Ungewißheit verstrichen, und darauf sah ich sie in gestrecktem Galopp zu mir heranreiten, während etwa fünfzig Feldflaschen von dem Sattelknopfe herabhingen. Auf alle meine Fragen gab sie nur die eine Antwort: „Halten Sie sich jetzt nicht auf, um die Verwundeten zu verpflegen; die Truppen verdursten und fangen an zurückzuweichen.“ Mr. B. kam darauf mit demselben Befehle herangeritten, und wir Drei eilten nach einem eine Meile entfernten Quell hin, nachdem wir die auf dem Felde zerstreuten leeren Blechflaschen gesammelt hatten. Dieses war die nächste Quelle; der Feind wußte dies und hatte deshalb Scharfschützen auf Schußweite davon aufgestellt, um die Versorgung der Truppen mit Wasser zu verhindern. Trotz alledem füllten wir alle mitgebrachten Feldflaschen, während die Miniékugeln uns dicht umsausten, und kehrten wohlbehalten zurück, um die Früchte unserer Bemühungen unter die erschöpften Krieger zu vertheilen. Wir verwendeten drei Stunden auf diese Weise, während die Schlacht grimmiger als zuvor hin und her wogte, bis der Feind einen verzweifelten Angriff auf unsere Truppen machte, sie zurücktrieb und die Quelle vollkommen in Besitz nahm. Kaplan B.’s Pferd wurde durch den Hals geschossen und verblutete sich in wenigen Augenblicken zu Tode. Darauf stiegen Mrs. B. und ich ab und gingen wieder an unsere Arbeit unter den Verwundeten.

Noch immer rast die Schlacht ohne Unterlaß: Kartätschen und Traubenschüsse erfüllen zischend die Luft, wie sie auf ihrer furchtbaren Sendung dahin eilen; der Anblick des Schlachtfeldes ist wahrhaft entsetzlich; Männer werfen die Arme wild in die Höhe und schreien laut nach Hülfe; Andere liegen blutend, zerrissen und verstümmelt da; Arme, Beine und Rümpfe sind zermalmt und gebrochen, als ob sie von Donnerkeilen zerschmettert wären; der Boden ist von Blut dunkelroth gefärbt – es ist ein grausiger Anblick! Burnside’s Brigade wird von den Rebellenbatterien wie Gras niedergemähet; die Leute sind nicht im Stande, jenem furchtbaren Hagel von Kugeln und Bomben zu widerstehen: sie beginnen zu wanken und langsam zurückzufallen, aber gerade im rechten Augenblick kommt Capitän Sykes mit seinen Regulären ihnen zu Hülfe. Diese stürmen den Hügel hinan, wo Burnside’s erschöpfte und gelichtete Brigade sich noch immer hält, und werden mit einem Freudenjubel begrüßt, so wie ihn nur Soldaten, die von einem grimmigen Feinde fast überwältigt sind und von ihren tapfern Cameraden verstärkt werden, anzustimmen vermögen.

Aber gerade wie unsere Armee zuversichtlich auf Erfolg rechnet und die gewonnenen Vortheile verfolgt, kommen den Rebellen Verstärkungen zu und wenden das Kriegsglück. Zwei frische Rebellenregimenter werden abgeschickt, um eine Flankenbewegung gegen Griffin’s und Rickett’s Batterien zu machen. Sie marschiren durch das Gehölz, erreichen den Gipfel der Anhöhe und formiren eine Linie so vollkommen hinter uns, daß ihre Schüsse die Kanoniere fast im Rücken treffen. Griffin sieht sie herankommen, aber vermuthet, daß es die von Major Barry ihm zugeschickte Bedeckung sei. Als er indeß sie schärfer in’s Auge nimmt, hält er sie für Rebellen und kehrt seine Kanonen gegen sie. Gerade wie er im Begriff steht, den Befehl zum Feuern zu geben, reitet Major B. heran und ruft: „Das ist Ihre Bedeckung, lassen Sie nicht feuern.“

„Nein, Sir, es sind Rebellen,“ versetzte Capitain Griffin.

„Ich sage Ihnen aber, Sir, es ist Ihre Bedeckung,“ sprach Major B.

Diesem Befehl gemäß wurden die Geschütze abermals gewendet, und während dieses Manövers gab die vermeintliche Bedeckung eine Salve auf unsere Kanoniere. Männer und Pferde kamen in einem Nu zu Falle. Zu einem weiteren Augenblicke befanden sich jene berühmten Batterien in den Händen des Feindes.

Die Nachricht von diesem Unglück verbreitete sich reißend schnell durch unsere Linien; Officiere und Soldaten wurden gleichmäßig bestürzt; ein Regiment nach dem andern löste sich auf und lief davon, und fast augenblicklich riß ein panischer Schrecken ein. Cavalerie-Schwadronen wurden quer über die Landstraße mit gezogenen Säbeln in Linie aufgestellt, aber Alles war nicht genügend, um der zurückprallenden Fluth der Flüchtigen Einhalt zu thun. Darauf kamen die Geschütze dahergedonnert, die Fuhrleute trieben wüthend die Pferde zum Galopp an, was das Entsetzen der vom Schrecken ergriffenen und zu einer wirren Masse zusammengedrängten Tausende bedeutend steigerte. Auf diese Weise erreichten wir Centreville, wo die Reserve, die deutsche Brigade unter General Blenker, den verfolgenden Feind zurückhielt und die Ordnung unter den flüchtigen Truppen einigermaßen wiederhergestellt wurde.

Mrs. B. und ich bahnten uns einen Weg nach der steinernen Kirche, um welche wir Haufen von Leichen aufgeschichtet sahen und Arme und Beine massenweise umherlagen. Aber wie soll ich den Anblick innerhalb der Kirche zu jener Stunde schildern? O, dort gab es Leiden, welche keine Feder jemals zu beschreiben vermag. Einen Fall kann ich niemals vergessen. Es war ein armer Bursche, dem beide Beine oberhalb der Kniee gebrochen und von da bis zum Leibe buchstäblich in kleine Stücke zerschmettert waren. Er war am Sterben; aber ach, welch ein Tod war das! Er war wahnsinnig, vollkommen rasend, und es bedurfte zweier Personen, um ihn fest zu hallen. Entzündung war eingetreten und vollbrachte rasch ihr Werk; der Tod erlöste ihn bald von seinen Leiden und war eine Erleichterung sowohl für alle Anwesenden, wie für den armen Dulder.

Ich ging zu einem andern Sterbenden, der mit Geduld alle seine Schmerzen ertrug. O du jammervoll bleiches Gesicht! Ich sehe es noch jetzt mit seinen weißen Lippen und flehenden Augen – und dann die rührende Frage: „Denken Sie, daß ich vor dem nächsten Morgen sterben werde?“ Ich bejahte dies und fragte ihn, ob der Tod für ihn etwas Schreckhaftes habe. Aber ein himmlisches Lächeln voll frommer Zuversicht umschwebte seine Lippen, als er erwiderte: „O nein, ich werde bald in Jesu schlafen,“ – und darauf in leiser, schmerzlicher Stimme den Vers wiederholte, der anfängt:

Ich schlaf’ in Jesu selig ein.

Unsere Herzen und Hände waren mit solchen Auftritten so vollkommen beschäftigt, daß wir an nichts Anderes dachten. Wir wußten nichts von dem wahren Stande der Dinge draußen, noch konnten wir es für möglich halten, als wir erfuhren, daß die ganze Armee sich gegen Washington zurückgezogen und die Verwundeten in den Händen des Feindes gelassen habe, wodurch auch wir in eine ziemlich unangenehme Lage versetzt waren. Ich konnte [394] nicht an die bittere Wahrheit glauben und war entschlossen, mich selbst davon zu überzeugen. Demzufolge ging ich nach den Anhöhen zurück, wo ich die Truppen ihre Gewehre zusammenstellen und sich mit Einbruch der Nacht auf den Boden werfen gesehen hatte – aber keine Truppen waren dort zu sehen. Da dachte ich, sie hätten blos ihre Stellung verändert und ich würde sie sicherlich finden, wenn ich über das Feld ginge. Ich war nicht weit gegangen, als ich ein Lagerfeuer in der Entfernung bemerkte. Ich eilte auf das Feuer zu, in der Hoffnung, dort einen vollen Aufschluß zu bekommen; aber als ich näher kam, sah ich nur eine einsame Gestalt am Feuer sitzen – es war die Gestalt eines Frauenzimmers.

Als ich zu ihr herantrat, erkannte ich sie als eine der Wäscherinnen unserer Armee. Ich fragte sie, was sie da mache, und wohin die Armee gezogen sei. Sie sprach: „Ich weiß nichts von der Armee; ich koche meinem Manne sein Abendessen und erwarte, daß er jede Minute nach Hause kommt; sehen Sie, was für eine Menge Sachen ich für ihn geholt habe.“ Dabei deutete sie auf einen gewaltigen Haufen Teppiche, Tornister und Feldflaschen, die sie gesammelt und über die sie sich selbst als Schildwache eingesetzt hatte. Ich fand bald aus, daß das arme Geschöpf wahnsinnig geworden war. Die schrecklichen Auftritte der Schlacht hatten ihren Geist gebrochen, und alle meine Bemühungen, sie zum Mitgehen zu bewegen, waren vergeblich. Ich hatte keine Zeit zu verlieren, denn ich war jetzt überzeugt, daß unsere Armee wirklich abgezogen war.

Ich ging abermals auf Centreville zu. Ich war nur wenige Schritte gegangen, als ich den Tritt von Pferden vernahm. Ich hielt still, und als ich nach dem Lagerfeuer, das ich eben verlassen hatte, hinblickte, sah ich eine Abtheilung Cavalerie zu der Frau, die noch immer dort saß, hinreiten. Zum Glück hatte ich kein Pferd, das ein Geräusch machen oder die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte; denn ich hatte das meinige bei dem Hospital gelassen, mit der Absicht bald dahin zurückzukehren. Ich war davon überzeugt, daß es feindliche Cavalerie sei, was ich sah, und daß ich mich womöglich außer Sicht halten müsse, bis dieselbe abgezogen sein werde. Zum Glück war ich in der Nähe eines Zaunes, an welchem große Haufen Reisholz aufgeschichtet waren, und da die Nacht sehr finster wurde und es zu regnen anfing, so dachte ich, ich könnte mindestens bis zum nächsten Morgen unentdeckt bleiben. Mein Argwohn, daß das wahnsinnige Weib ihnen meine Anwesenheit und Richtung, die ich eingeschlagen, verrathen haben möchte, erwies sich als richtig. Sie kamen auf mich zu, und ich beschloß, unter einen jener Reisighaufen zu kriechen, was ich that; kaum war ich darunter verborgen, so kamen sie heran und blieben an dem nämlichen Haufen stehen, in welchem ich versteckt war.

Einer der Rebellen sprach: „Sieh hier, altes Weib, weißt du es auch gewiß, daß sie es uns sagen kann, wenn wir sie finden?“ „O, ja, sie kann es euch sagen, ich weiß es gewiß,“ war die Antwort der Wahnsinnigen. Sie gingen darauf eine kleine Strecke fort und kamen dann wieder; endlich beschuldigten sie das Weib, daß es sie betrogen habe; sie fluchten und drohten, sie zu erschießen, und sie begann zu weinen. Schließlich gaben sie die Jagd auf mich als hoffnungslos auf und ritten fort, indem sie das Weib mitnahmen, und ich blieb in einer vollkommenen Ungewißheit des Geheimnisses, das sie von mir enträthselt zu haben wünschten, und zum ersten Male in meinem Leben freute ich mich, daß meine „Neugierde“ nicht befriedigt wurde. – Ich blieb dort, bis der Wiederhall der Tritte ihrer Pferde in der Ferne erstorben war; darauf kroch ich sehr vorsichtig hervor und gelangte nach Centreville, wo die angenehme Nachricht meiner wartete, daß Mr. und Mrs. B. fort waren und mein Pferd mitgenommen hatten, in der Meinung, daß ich gefangen genommen worden sei.

Das Dorf Centreville war noch nicht von den Rebellen besetzt, so daß ich ohne Belästigung mich retten konnte; aber wie konnte ich davongehen und jene Hospitäler voll sterbender Männer verlassen, ohne daß irgend Jemand ihnen einen Trunk Wasser reichte? Ich mußte noch einmal in jene steinerne Kirche gehen, selbst auf die Gefahr hin, gefangen genommen zu werden. Ich that es – und der Ruf „Wasser! Wasser!“ erscholl lauter als das Gestöhn der Sterbenden. Kaplan B. hatte ihnen, ehe er sie verließ, gesagt, daß sie sich bald in den Händen des Feindes befinden würden – daß unsere Armee sich nach Washington zurückgezogen habe und daß keine Möglichkeit vorhanden sei, die Verwundeten fortzuschaffen.

Da lagen sie und erwarteten ruhig die Ankunft ihrer grausamen Feinde, augenscheinlich bereit, sich mit Ergebung in jedes Schicksal zu fügen, das deren Grausamkeit ihnen eingeben möchte. O, wie tapfer jene Männer waren! Welchen sittlichen Muth sie besaßen! Nur die Gnade Gottes und die richtige Würdigung der großen Sache, wofür sie so hochherzig fochten und bluteten, konnte sie mit solchen beiden und solcher Demüthigung aussöhnen.

Sie Alle drangen in mich, sie zu verlassen und mich nicht der barbarischen Behandlung auszusetzen, die ich als Gefangene wahrscheinlich erleiden würde, mit dem Beifügen: „Wenn Sie bleiben, so werden die Rebellen Ihnen doch nicht erlauben, Etwas für uns zu thun.“ Einer der Verwundeten sprach: „Doctor E. ist erst vor Kurzem fortgegangen – er zog mir drei Kugeln aus dem Bein und Arm, und zwar mit seinem Federmesser. Ich sah einundzwanzig Kugeln, die er in diesem Hospital den Soldaten aus den Gliedern geschnitten hatte. Er war entschlossen, bei uns zu bleiben, aber wir wollten dies nicht zulassen, denn wir wußten, die Rebellen würden ihm nicht mehr gestatten, Etwas für uns zu thun; und Sie müssen sich ebenfalls fortmachen, und zwar sehr bald, oder sie werden Sie noch hier finden.“

Nachdem ich Wasser in den Bereich Solcher, die ihre Arme gebrauchen konnten, gestellt und Andern, die dies nicht konnten, einen Trunk gereicht hatte, wandte ich mich zum Fortgehen mit Gefühlen, die ich nicht beschreiben kann; aber ehe ich die Thür erreichen konnte, rief mich eine schwache Stimme zurück – es war die Stimme eines jungen Officiers von Massachusetts; er hielt in der Hand ein goldenes Medaillon, und als er es mir überreichte, sprach er: „Wollen Sie es gefälligst öffnen?“ Ich that es und hielt es ihm vor, damit er einen letzten Blick auf das darin enthaltene Bild werfen könnte. Er ergriff es hastig und preßte seine Lippen zu wiederholten Malen darauf. Das Bild stellte eine junge Frau von seltener Schönheit mit einem Kindlein in den Annen dar. Sie selbst schien kaum den Kinderjahren entwachsen zu sein; auf der entgegengesetzten Seite stand ihr Name und ihr Wohnort gedruckt. Während er es noch immer mit zitternder Lippe anstarrte und ich auf eine theure Botschaft für die Geliebten wartete, hörte man das unverkennbare Stampfen von Cavalerie in der Straße – in einem Nu erhaschte ich das Medaillon aus den Händen des Sterbenden und machte mich davon.




Ein Prinz und Maler Indiens.
Von Friedrich Hofmann.

In einem Zimmer des sogenannten Cavalierhauses zu Gotha saßen zwei junge, im Anfang der glücklichen Dreißig stehende Männer, der eine ein Verwandter, beide Gäste des Herzogs, beim gemeinsamen Frühstück. Ein Kenner militärischer Sitte würde in dem fürstlichen verwandten, an dessen Haltung und namentlich an dem in morgentlicher Ungezwungenheit lang herabhängenden Schnurrbart, der offenbar bestimmt war, gerade gedreht und steif gewichst, eine Freude ungarischer Husaren zu sein, ebenso leicht den österreichischen Officier, wie Jedermann im Andern an Farbe und Form des Gesichts und der orientalischen Hauskleidung auf den ersten Blick das Kind des fernen Morgenlandes erkannt haben. Im Zimmer deuteten Staffelei, Palette, halbfertige Bilder, Cartons und Skizzen aller Art an, daß man hier ernstlich der Kunst huldige.

So war es auch, und zwar von Seiten beider junger Männer; nur begnügte sich der Officier mit einer dilettantischen Pflege seines schönen Talents, während der Orientale für seine geniale Begabung die bildenden Meister in Paris und Dresden gesucht und durch seine Werke schon damals die Beachtung der Kunstwelt [395] gefunden hatte. Gehören die Bilder desselben zu den Schmuckstücken jeder Sammlung, fesseln sie den Laien durch die Wahl des Stoffs, wie den Künstler durch die Kraft und Treue der Ausführung, so mußten sie noch weit höheres Interesse bei dem gewinnen, welcher die eigenthümliche Art der Entstehung vieler seiner Gemälde beobachten konnte. Er modellirt nämlich, wie sein Freund uns erzählte, sich meisterhaft die Figuren seiner Bilder und zeichnet dann darnach, und wenn dies geschehen ist, knetet er die herrlichen Modelle zusammen und wirft sie in einen Winkel. Welche Reihe plastischer Kunstgebilde ist so durch die wunderliche Bescheidenheit eines Künstlers verloren gegangen, der sie der Erhaltung wohl nur deshalb nicht für werth hält, weil sie für die von ihm mit ganzer Seele gepflegte Kunst der Malerei ihm nur als Hülfsmittel dienen.

Während die Freunde noch am Frühstückstisch traulich beisammen saßen, schwänzelte der Liebingsdachs der Frau Herzogin Alexandrine ins Zimmer. „Da fiel es ihm ein, ihn zu modelliren, und zwar in aufwartender Stellung. Ich mußte ihn dazu halten, und unter vielem Lachen und Scherzen ward das Werk vollendet. Wie gewöhnlich wollte er das reizende Modell, nachdem es diesmal zur Unterhaltung seine Dienste geleistet, zerdrücken und in den Winkel werfen; ich fing ihm aber die Hand und eroberte es, und so prangt nun das Dächschen in Gyps und Bronze ausgeführt auf den Schreibtischen vieler seiner Freunde – als das einzige gerettete Zeugniß einer Kunstfertigkeit, das um so mehr das viele Verlorene bedauern läßt. Ich lege Ihnen eine kleine Zeichnung der Scene bei, vielleicht eignet sie sich zu einer Illustration.“ Diese Zeilen müssen den Leser von der Treue unseres vorstehenden Bildes um so mehr überzeugen, als sie beweisen, daß es von derselben Hand herrührt, die das Dächschen schmeichelnd still hielt. Der Modelleur des Hündchens ist der berühmte Morgenlands-Landschaften- und Thiermaler Radhen Saleh aus Java und sein Freund der kaiserliche Husarenmajor Graf Arthur Mensdorff-Pouilly (jüngster Bruder des jetzigen Ministers von Oesterreich), der, nachdem er unter Radetzky in allen Schlachten und Gefechten des damaligen italienischen Kriegs mitgekämpft, nun in einem der lieblichsten Thäler Steiermarks dem Glück des stillen Heerds, dem Studium und dem Genuß der Natur und der Uebung der Kunst lebt.

Radhen (das ist: der Sohn eines der ehemals unabhängigen Fürsten auf Java, also so viel wie unser Prinz) Saleh ist im Mai 1816 zu Djokjokarta geboren. Die Engländer, welche 1811 Herren der Insel geworden waren, hatten die bis dahin unabhängig gebliebenen Fürsten geschont; im Geburtsjahre Saleh’s kehrten die Holländer zurück und betrieben fortan die Ausbreitung ihrer alleinigen souverainen Macht über die gesammte Bevölkerung der Insel ziemlich energisch. Saleh’s Vater scheint mit am längsten dem holländischen Andrang widerstanden zu haben, wie wenigstens aus der heiteren Seelenstimmung zu schließen ist, von welcher sein Sohn gar Ergötzliches dem Freunde mitgetheilt hat.

„Mein Vater,“ so erzählte Radhen Saleh dem Grafen Arthur Mensdorff, „war stets mit Wissenschaften beschäftigt und ein großer Gelehrter, und er stand deshalb in Relation mit vielen anderen Gelehrten unseres Volks. Da kam denn einst ein sehr gelehrter Mann, der viel mit meinem Vater verhandelte, ohne daß ich ihn je zu Gesicht bekam. Eines Morgens ließ mein Vater mich rufen und sagte zu mir: ‚Du wirst von nun an täglich zu meinem gelehrten Freund gehen, und er wird Dich den Koran singen lehren.‘ Ich war entzückt, nicht über die Aussicht auf den Singunterricht, sondern über die Gelegenheit, mich nun selbstständig außer dem Hause herumtreiben zu können. Mein Debüt bei den Gassenbuben war, daß ich mir von einem derselben eine Laus geben ließ, und diese mußte mit einer Ameise kämpfen. Das ist eines der interessantesten Thiergefechte, die man sehen kann. So trieb ich’s denn alle Tage, hatte bald eine Schaar von Vasallen unter den Straßenkindern und ging eben nie zu dem Gelehrten. Nachdem ich hübsch lange in dieser Art meine Freiheit genossen hatte, rief mich eines Tagen mein Vater, legte mir sehr ernst und stillschweigend den Koran vor und sagte dann: ‚Singe!’ Einen Augenblick ward mir höchst unheimlich zu Muthe, aber ich besann mich schnell, suchte in meinem Gedächtniß nach Melodien, die ich von den Gassenkindern gehört, und sang frischweg nach diesen profanen Tönen die heiligen Worte des Koran. Mein Vater betrachtete mich mit Zufriedenheit und sagte: ,Du hast nun nicht mehr nöthig zu dem Gelehrten zu gehen und kannst bei Hausandachten den Koran vorsingen.’ So schien mein Unrecht heimlich zu bleiben. Aber siehe, da kam eines Tags der Gelehrte wieder auf Besuch zum Vater, der ihn nun mit Lobsprüchen und Danksagungen über den Eifer und Erfolg überhäufte, mit dem er mich so schön den Koran singen gelehrt. Nun wurde es mit einmal offenbar, daß der Gelehrte mich noch gar nicht gesehen hatte. Also sollte die Strafe doch nicht ausbleiben. Mein Vater rief mich, ließ mich an eine Säule binden und gebot meiner Schwester, mir Hiebe auf den bloßen Rücken zu geben. Sie fing aber an zu weinen und sträubte und weigerte sich so sehr dagegen, daß mein Vater dem ältesten Sclaven befahl, statt ihrer die Strafe an mir zu vollziehen. Aber auch dieser wollte mich nicht schlagen, sondern berührte mich nur ganz leicht mit der Peitsche. Da sprach mein Vater zu dem Gelehrten: ‚Sie sehen selbst, dieser kleine Kerl ist so böse, daß ich Niemanden finde, der ihn schlagen möchte. Ich denke, wir schenken ihm die Strafe und den Gesang dazu.’ – Ich wußte freilich vorher, daß es nicht gar schlimm werden würde, da die Schwester und die Sclaven mich sehr lieb hatten und der Vater so gut war.“

Wie bescheiden im Umgang mit der abendländischen Gesellschaft Radhen Saleh auch stets sich zeigte, so wahrte er doch, wie jeder tüchtige Mensch, seinen Nationalstolz. Er rühmte sich gern seiner rein arabischen Abkunft und verbarg ebendeshalb die nationale Geringschätzung nicht, die er gegen die Chinesen wegen ihrer niedrigen und eigennützigen Eigenschaften hegte. Wie schon im Knaben dieser Stammesstolz gegen die Chinesen sich äußerte, darüber erzählte er dem Grafen Arthur Mensdorff eine andere Geschichte, die nicht weniger ergötzlich ist, als die erste. Sie lautet:

„Ein chinesischer Gelehrter kam nach Djokjokarta und machte meinem Vater seine Aufwartung. Da derselbe einen kleinen Sohn hatte, so nahm mein Vater, als er dem Chinesen den Gegenbesuch abstattete, auch mich mit. Während die Männer im Hause sich besprachen, spielten wir Kinder im Hofe. Da ward ich plötzlich eines abscheulichen, dickbäuchigen Götzen gewahr, der unter einer Art Tempelchen im Eck des Hofes stand. Ich zeigte mit dem Finger darnach und frug den kleinen Chinesen, was das für ein garstiger Kerl sei. Dieser aber wurde ganz bleich vor Angst und schrie: ‚Zeige nicht nach ihm, sonst wird Dir der Arm steif, denn das ist ein sehr grimmiger Gott!’ Das mußte ich doch untersuchen, und so ging ich nun auf den dicken Pagoden zu, zeigte einmal mit dem linken, einmal mit dem rechten Arm nach ihm, indem ich immer dem kleinen Chinesen zurief: ‚Siehst Du, mein Arm ist noch nicht steif!’ Je näher ich aber dabei dem Götzen rückte, desto höher stieg die Angst des Chinesen, und als er sah, daß ich Anstalt machte, dem Pagoden ein paar Ohrfeigen zu geben, floh er unter einem Zetergeschrei zu seinem Vater. – Ich hatte mich indessen mit wahrer Herzenslust über den Dicken hergemacht, ihn derb abgeprügelt, von seinem Sitz geworfen und kugelte ihn eben im Hofe herum, als mein Vater und der gelehrte Chinese herzukamen. Mein Vater verwies mir mit einem Gesichtsausdruck, in welchem wenigstens ich ein Lächeln erkennen konnte, mein respectwidriges Benehmen gegen den fremden Gott und ließ mich sogleich fortführen. Als er nach Hause kam, mußte ich ihm den ganzen Vorgang erzählen, und er lachte herzlich darüber.“

Wir wissen nicht, ob die Kindheit Saleh’s so heiter endete, wie sie nach diesen Erzählungen gewesen sein muß. Sein Vater konnte der Macht der Holländer nicht länger widerstehen, auch er mußte sich ihnen unterwerfen; aber der Kummer über den Verlust der Ehre der Selbstständigkeit soll ihm am Leben gezehrt haben, so daß er bald darauf starb. Sicher ist dagegen, daß Radhen Saleh in seinem vierzehnten Jahre nach Holland kam und daß er von 1830 an fast dreiundzwanzig Jahre in Europa blieb.

Es lag offenbar im Interesse der holländischen Regierung, unter den jungen Abkömmlingen der geachtetsten Fürstenhäuser die Begabtesten auszuwählen und in ihnen ein europäisch gebildetes, willfährigeres Geschlecht zu erziehen. Sie sparte für diesen Zweck keine Kosten, und so wurde denn Radhen Saleh mit allen Mitteln versehen, um fürstlichen Ansprüchen zu genügen. Er widmete sich im Haag der Kunst und dem Studium europäischer Sprachen. Im Holländischen, Französischen und Deutschen brachte er es zu seltener Fertigkeit, wenn es auch im Eifer der Rede bisweilen geschah, daß er irgend einen Ausdruck aus der Sprache nahm, in welcher er ihm zuerst beifiel, einerlei, in welcher er eben conversirte.

[396]

Radhen Saleh.
Nach einer Skizze vom Grafen Arthur Mensdorff-Pouilly.

In der Malerei nannte er sich selbst einen Schüler des Horace Vernet. Man möchte daraus schließen, daß er längere Zeit in Paris verweilt habe, ehe er, von der Liebe zur Kunst fester, als die holländische Regierung berechnet hatte, an Europa gefesselt, sich entschloß, zu seiner weiteren Ausbildung nach Deutschland zu gehen.

Die Regierung gewährte ihm gern seinen Wunsch, gab ihm Mittel und Empfehlungen seines Ranges würdig, und so zog er denn nach Dresden. Ausflüge nach Berlin und Wien abgerechnet, verweilte er in der königlich sächsischen Residenz- und Kunststadt volle acht Jahre. Man kam ihm dort mit der Rücksicht und Theilnahme entgegen, die er in jeder Beziehung verdiente, denn höher, als den Reiz des Fremdländischen und Fürstlichen, schätzten Alle, die ihm näher treten konnten, die Klarheit und Erhabenheit seines Geistes bei der Reinheit und Kindlichkeit seines Gemüths – und diese vortrefflichen Eigenschaften öffneten ihm die Herzen der Künstler bis zu den hervorragendsten Leitsternen der Akademie hinauf und die Thüren vieler Familien von Auszeichnung, so namentlich das Haus des hochverdienten Majors Serre auf Maxen und selbst den königlichen Hof. Den innigsten Freundschaftsbund aber schloß er dort mit dem Herzog (damals noch Erbprinzen) Ernst von Coburg-Gotha; beide junge Männer von gleich regem Geist, gleicher ritterlicher Lebensrüstigkeit und gleichem Kunststreben schlossen sich so eng aneinander an, daß sie sogar ein gemeinschaftliches Atelier besaßen.

Als Erbprinz Ernst nach Coburg zurückkehrte, folgte Radhen Saleh einer Einladung des Leipziger Kunstmäcen Schletter. Saleh’s berühmtestes Dresdener Bild, der „Anfall eines Löwen auf ein Pferd, das mit ihm in einen Abgrund stürzt, während der Reiter an einem Aste festgeklammert vielleicht sich rettet“, hatte Schletter’s sehr schätzenswerthen Beifall in einem Grade, daß ihm nach dem eigenen Besitz eines Gemäldes von Saleh verlangte. So entstand in Leipzig die „Stierjagd im Orient“, die jetzt ein schöner Schmuck des dortigen Museums ist. (Das Bild hängt im rechten Eckzimmer nach der Augustusplatzseite über der Thür, leider nicht in günstigem Licht und für die Größe der Figuren zu hoch.) Nach etwa einjährigem Aufenthalt in Leipzig folgte Radhen Saleh endlich dem Freundschaftswinke des nunmehr (1844) zur Regierung gelangten Herzogs nach Coburg und Gotha, wo wir ihn Eingangs dieses Artikels mit dem Grafen Mensdorff bereits in treuem Seelenbund gefunden haben.

Der Aufenthalt am coburgischen Hofe scheint, nach der künstlerischen [397] Fruchtbarkeit zu schließen, Saleh’s glücklichste Zeit in Europa gewesen zu sein. Im freundschaftlichsten Verhältniß zu den Gliedern der Familie stehend und in fürstlichen Ehren gehalten, theilte er mit ihnen die Wohnung in all den reizenden Schlössern, die zu den Perlen der Natur und der Baukunst Thüringens und Frankens gehören: Gotha, Reinhardsbrunn, das Jagdschloß Oberhof, Coburg, Kallenberg und die Rosenau sahen den sinnigen, südlich lebhaften Künstler, und zwar stets mit dem Skizzenbuch in der Hand, abwechselnd (mit kurzen Unterbrechungen, namentlich im Jahre 1846, wo der Herzog mit seiner Gemahlin und dem Grafen Mensdorff nach Marokko reiste) als ständigen Gast bis zum Jahre 1849. Er begleitete die fürstliche Familie auf allen Jagden und Ausflügen und war der Liebling Aller, die mit ihm in nähere Berührung kamen; auch die Damenwelt war dem braunen Mann mit den geistreichen Augen sehr zugethan, mag sie auch nur von dem Ungewöhnlichen der Erscheinung angezogen worden sein.

Radhen Saleh’s Landschlößchen auf Java.

Die meisten der in Coburg und Gotha vollendeten Bilder Saleh’s beschäftigen sich ebenfalls mit dem Jagdleben auf Java, mit der Tropennatur und haben groteske Staffagen. Sein werthvollstes Gemälde, im Besitze des Herzogs, stellt eine Jagd indischer Fürsten auf Hirsche im hohen Grase dar, wobei ein auf einem Büffel reitender Treiber von einem Tiger angefallen wird. Für den Grafen Mensdorff malte er eine Löwenjagd in der Wüste. Außer anderen indischen Thier- und Landschaftsbildern entstanden dort auch Seestücke und viele treffliche Portraits fürstlicher Familienglieder.

Ungern, ja schwer schied Radhen Saleh aus dem lachendgrünen, gemüthswarmen Thüringen, um vor seiner Heimkehr nach Java in Paris gleichsam noch einmal zu repetiren, was er an europäischer Kunst und Sitte gelernt hatte. Jedenfalls war dies mehr, als man in seiner Heimath wohl gut geheißen hätte. Er las einst dem Grafen Mensdorff einen Brief seines Oheims vor, in welchem dieser ihn streng verwarnt hatte, europäische Kleidung zu tragen oder gar von seinem Glauben abzufallen. – Saleh trug stets europäische Civilkleidung, nur bei besonderen Gelegenheiten und größeren Hoffesten erschien er in seiner orientalischen Tracht. Dagegen war er seiner Religion getreu, war Mohammedaner geblieben, discutirte aber sehr gern über kirchliche Fragen und besuchte fleißig christliche Kirchen jeden Bekenntnisses. Graf Mensdorff erzählt, daß Saleh während ihres Zusammenlebens in Gotha und Coburg jeden Morgen auf einem ausgebreiteten Teppich sein Gebet verrichtet und daß Saleh ihm oft gesagt habe, wie viel Mühe man sich gegeben, ihn zum Christen zu machen; „aber,“ fügte er hinzu – „eine Religion, die so wenig schöne Resultate liefert, wo Religionsstreit an der Tagesordnung ist, kann ich nicht als die meinige annehmen.“ In seinen Religionsgebräuchen war er so streng, daß er den bei Tafel neben ihm sitzenden Grafen Mensdorff einmal bat, ihn unter dem Tisch mit dem Fuße zu stoßen, wenn Schweinfleisch oder Etwas vom Schweine käme, damit er nicht davon esse. Wie er sagte, hatte er auch, wohl als Kind mit seinem Vater, die Wallfahrt nach Mekka vollbracht.

Wie fast alle Indier von zierlichem Körperbau und höchst gewandt zeigte sich Radhen Saleh als ebenso kühner Reiter wie leidenschaftlicher Jäger und erfindungsreicher Angler. Als ihm beim Angeln einmal der Köder ausging, riß er einem Jagdhund einige Schweifhaare aus und gestaltete aus denselben eine künstliche, so täuschend gelungene Fliege, daß er in der nächsten Minute eine Forelle damit fing. Das Staunen der Umgebung darüber erregte dann erst recht seine kindliche Verwunderung.

Saleh war nie in Italien und bezeigte große Lust, den Grafen Mensdorff, als dieser zu seiner damaligen Garnison in Florenz zurückkehrte, dorthin zu begleiten; die holländische Regierung schien dem Wunsch jedoch nicht günstig zu sein, und so ging er denn nach Paris, um von da über Holland um das Jahr 1853 nach Java zurückzukehren. „So heiter und voll köstlichen Humors er gewöhnlich war,“ – schreibt Graf Mensdorff, – „so traurig war er die letzte Zeit vor seiner Heimreise. Er vertrug unser Klima nicht und hatte Heimweh, obgleich er, wie er mir oft sagte, fürchtete, daß ihn die heimathlichen Zustände auch nicht viel heiterer stimmen würden, – „denn,“ sprach er, „wenn ich auch meine Bildung der holländischen Regierung, besonders dem König verdanke, was ich nie vergessen, nie mit Undank lohnen werde, so wird man mir doch verzeihen, wenn ich die tiefe Stufe der Cultur, auf der meine Landsleute stehen, sowie ihre Unterjochung stets betrauere.“

Wer gewinnt den Mann gerade um dieser Aeußerung willen nicht doppelt lieb? Ja: „er war von Gemüth einer der ausgezeichnetsten Männer, wahrhaftig und treu, voller ritterlichen edlen Gesinnungen, poetisch und kindlich orientalisch in seinen Auffassungen, bestimmt und wohlwollend in allen seinen Handlungen,“ – so charakterisirt ihn Herzog Ernst, dem dieser Artikel nicht nur viele werthvolle Notizen, sondern auch die Illustration verdankt, welche Radhen Saleh’s Landschlößchen auf Java darstellt. Die Worte, die Saleh den Herren der Novara-Expedition bei deren Besuche auf Java wiederholt zugerufen: „Ich habe Deutschland so Vieles zu danken, meine Gedanken und Gefühle sind immer in Deutschland!“ – diese Worte hat er hier in Stein ausgeführt, denn die liebe Erinnerung an das Bild Reinhardsbrunns ist in den gothischen Giebelwänden so wenig zu verkennen, wie im Altan und in den Altansäulen die an die Terrasse des Kallenbergs, seiner beiden Lieblingsplätzchen in Deutschland. – Nach einer Photographie, die er im vorigen Jahre an den Herzog nach Gotha gesandt und die uns mit vorgelegen, ist er sehr gealtert; dafür ist die Aehnlichkeit unseres Mensdorff’schen jugendlichen Portraits auch mit dem jetzigen Radhen Saleh uns um so erfreulicher gewesen.




Der bairische Hiesel.
Volkserzählung aus Baierrn.
Von Herman Schmid.
(Schluß.)

Der Morgen des andern Tags kam spät und trübe herauf; der Nebel lag so tief und dicht, daß es kaum möglich war, drei Schritte vor sich zu sehen. Hiesel hatte im Osterzeller Wirthshaus nur ein paar Stunden auf der Ofenbank in unruhigem Schlafe zugebracht: die Erwartung des Kommenden hielt ihn in beständiger Erregung und weckte ihn früh. Schon zur Weiterreise gerüstet [398] schritt er in der Gaststube hin und wieder, in Bilder der Heimath, Bilder der Liebe und Erinnerung um so enger verstrickt, je sorgsamer und strenger er bis dahin jede Erinnerung von sich ferne gehalten … er zählte die Secunden, bis die Cameraden kamen, die es sich nicht wehren lassen wollten, ihm noch eine Strecke das Geleit zu geben; dann sollte Abschied genommen werden auf Wiedersehen und Wiederfinden in Ulm.

Endlich erschienen sie – aber mit verstörten Gesichtern.

„Wir bringen nichts Gutes,“ rief der Tiroler, „wir sind verrathen, Hiesel! O, hättest Du mir doch gefolgt und wären wir nicht mehr umgekehrt!“

„Was ist denn geschehn?“ fragte Hiesel, nach der Büchse greifend.

„Ein ganzes Detachement von Augsburgischen Grenadieren ist uns im Nebel über den Hals gekommen … das Wirthshaus ist schon von allen Seiten umstellt!“

„Nur ruhig, ruhig, Cameraden,“ erwiderte Hiesel, indem er rasch durch einige Blicke nach Fenster und Thüren sich von der Richtigkeit der Nachricht überzeugt hatte … „Es ist wahr, am vordern und hintern Ausgang blitzen Musketen … schnell über das Hausfletz in die Küche! Von dort führt auch eine Thür ins Freie … dort sind wir jedenfalls rückenfrei und können nach drei Seiten schießen …“

Sie stürmten nach der Küche, einem geräumigen Gewölbe, das außer den beiden sich gegenüberliegenden Thüren keinen Ausgang hatte, als in die ebenfalls gewölbte Speisekammer – der Lieutenant hatte zu viele Muße gehabt, seine Vorkehrungen zu treffen: kein Weg des Entrinnens war offen geblieben. „So müssen wir uns halt unsrer Haut wehren,“ rief Hiesel, „und das bissel Leben so theuer verkaufen, wie es nur anzubringen ist!“

Kaum hatte er seine Anordnung getroffen, daß je zwei an jeder Thür sich aufstellen und das Feuer unterhalten, die Andern nur laden und den Schützen die Gewehre hinreichen sollen – kein Schuß Pulver sollte vergebens abgebrannt werden, keine Kugel ihr Ziel verfehlen – als am Fenster der Lieutenant erschien und mit lauter Stimme im Namen des Fürstbischofs von Augsburg als des Landesherrn zur Ergebung aufforderte und denen, welche sich sogleich fügen würden, die geringste Strafe verhieß.

„Das ist unsere Antwort!“ rief Hiesel und drückte los, mit dem sichren Stutzen mitten auf die Brust des Officiers zielend; aber das Pulver in der Pfanne brannte vergeblich auf, zum erstenmale versagte das nie fehlende Gewehr seinen Dienst. Erbleichend und mit einem wilden Fluche warf er es den Andern zu, um die Ladung zu untersuchen – aber der Officier war gerettet und damit wohl der Ausgang des Unternehmens entschieden: hätte der erste Schuß den Anführer hingestreckt, so würde die Mannschaft vor dem Ungestüm der Wildschützen schwerlich wieder Stand gehalten haben.

Da mit dem Widerstande die Ergebung als verworfen erscheinen mußte, ließ der Lieutenant seine Grenadiere zum Angriff gegen die Thür vorrücken, aber die Wildschützen waren hinter den verrammelten Thüren geborgen und auf jeden ihrer Schüsse stürzte ein Mann, um nie wieder aufzustehen. Schuß auf Schuß krachte hin und wider, die Thüren waren schon wie Siebe durchlöchert, die Grenadiere hatten bereits zwei Todte und viele schwer Verwundete, und noch war kein Ende des Kampfes abzusehen; die Belagerer änderten daher in etwas ihren Plan.

„Courage, Cameraden!“ rief Hiesel. „Wenn wir die Kugeln gehörig aufsparen und recht sicher zielen, machen wir sie mürbe und wenn ihrer noch so viel wären! Wir schlagen uns doch noch durch – der Wald kann keine fünfzig Schritte entfernt sein!“

„Horch, was ist das?“ rief der Tiroler entgegen. „Was ist das für ein Gepolter über uns?“

Dumpfe gewaltige Schläge erdröhnten von oben, der Kalkbewurf des Gewölbes fiel in Stücken herab.

„Sie sind über uns … sie schlagen das Gewölb’ ein …“

„So deckt Euch,“ rief Hiesel, „daß sie Euch nicht erreichen können … wie das Loch durch ist, gebt ihnen gleich eine ordentliche Ladung zu verkosten!“

Jetzt prasselten Steine hernieder, eine dichte Staubwolke wälzte sich auf und durch dieselbe blitzten die sichern Schüsse der Wilderer den Eindringenden entgegen – Geschrei der Getroffenen antwortete; aber auch die Soldaten hatten ihren Mann sicher gefaßt. Eine Kugel drang dem Tiroler, der sich zu weit vorgewagt hatte, in Kinn und Hals und schmetterte ihn zu Boden. „B’hüt Gott, Hiesel …“ rief er im Stürzen, „mit mir ist’s aus …“

„B’hüt Gott, Peter,“ rief Hiesel entgegen, „hab’ jetzt keine Zeit zum Abschiednehmen, wir gehn wohl bald miteinander …“

Die Soldaten hatten sich indeß überzeugt, daß das Durchbrechen des Gewölbes ihnen nicht viel genützt habe; sie begannen daher Patronen, mit Stroh umwickelt anzuzünden und in die Küche hinab zu werfen, um die Eingeschlossenen zur Ergebung zu zwingen. Der erstickende Dampf nöthigte diese auch, sich aus der Küche in das Speisegewölbe zurückzuziehn, aber er vertrieb auch die Belagerer und das brennende Stroh drohte das Haus selber in Brand zu setzen. Eine Kufe voll Bier, das oben zum Kühlen aufgestellt war, mußte zum Löschen dienen und machte die Lage der Eingeschlossenen noch verzweifelter. Der Lissaboner Bäck wollte mit raschem Sprunge die eine Thüre erreichen, um vielleicht durch sie einen gewaltsamen Ausweg zu finden; mitten im Sprunge traf ihn eine Kugel und streckte ihn auf das halbbrennende Stroh, daß er theils in dem entsetzlichen dicken Qualm erstickte, theils in dem herabströmenden Bier ersoff. Der Sattler war verzagt geworden und hatte sich in den Kamin geflüchtet, der Blaue war ins Ofenloch gekrochen, der Sternputzer lag mit einer schweren Kopfwunde bewußtlos in der Ecke …

Vier Stunden schon hatte der Kampf gedauert; Hiesel allein stand noch aufrecht, die letzte Kugel rollte in den Lauf … Widerstand war nicht länger möglich, kein Zagen kam in sein furchtloses Herz, aber die Möglichkeit sich zu retten, vielleicht doch noch entrinnen zu können, stieg in ihm auf.

„Wenn es noch Pardon giebt,“ rief er durch die Thür, „so will ich mich ergeben …“

Im Augenblick wurde das Feuern eingestellt; die Thür ging auf, Hiesel stand dem Lieutenant gegenüber mit wirrem Haar und pulvergeschwärztem Angesicht … Erschüttert bot er dem Officier seine Hand. … „Sie tragen den Officiersrock,“ sagte er, „Sie werden ein Ehrenmann sein … Ihnen ergeb’ ich mich: ich heiß’ Matthias Klostermaier …“

In der Stube des halbzerstörten Hauses musterte der Lieutenant seine Mannschaft, traf Anordnungen wegen der Gefallenen und Verwundeten und sandte nach allen Seiten Boten ab mit der Nachricht des endlich errungenen Sieges.

Der Rothe, der sich während des Gefechts fern gehalten, schlich behutsam ins Zimmer. „Ich hab’ mein Wort gehalten,“ sagte er, „nun bitt’ ich, daß der Herr Lieutenant das seinige auch hält und mir meine Belohnung ausbezahlt …“

„Die soll Er haben,“ rief Schedel abgewendet, indem er einen schweren Beutel auf den Tisch warf. „Feldwebel, zahl’ Er dem Burschen seinen Lohn aus, ich mag nichts damit zu schaffen haben …“

„Komm’ her, Judas,“ sagte der Feldwebel und begann die Goldstücke vor dem Rothen aufzuzählen, in dessen Augen wilde Gier funkelte und dessen Hände zuckten, als könne er den Augenblick nicht erwarten, wo dieser Schatz völlig sein gehören sollte.

Ein Sergeant trat inzwischen ein und meldete dem Lieutenant, daß er mit einer Abtheilung Grenadiere zur Verstärkung nachgeschickt worden, und da er an dem bezeichneten Treffpunkte, in der verlassenen Schmiede, Niemand mehr angetroffen, den Spuren nachmarschirt sei, bis vor einigen Stunden das Schießen ihm vollends den Weg gezeigt habe. „Schade,“ schloß der Sergeant, „daß wir zu spät gekommen sind, es muß heiß hergegangen sein und die Wildschützen müssen sich tüchtig gewehrt haben! Hätt’ mich wohl auch ein wenig mit ihnen herumraufen mögen! Aber etwas Merkwürdiges haben wir doch auch erlebt … in der verlassenen Schmiede haben wir eine Todte gefunden!“

„Eine Todte?“ rief verwundert der Officier – der Rothe bebte zusammen.

„Ja, Herr Lieutenant, eine Ermordete noch dazu; eine junge saubere Person mit einem Stich in Brust und Hals und ihre Hände so fest wie im Krampf geschlossen, und wie wir die eine davon öffneten, hielt sie diesen Knopf und diese Schnüre darin – es ist kein Zweifel, sie hat sich gegen den Mörder gewehrt und im Ringen ist ihr das in der Hand geblieben!“

Der Rothe war immer mehr erblichen und wankte; die Goldstücke auf dem Tische tanzten vor seinen Augen durcheinander wie Feuerfunken der Hölle.

[399] „So,“ sagte der Feldwebel, der seinen Mann wohl beachtet und auch die Meldung des Sergeanten nicht überhört hatte, „da hast Du Deinen Judas-Lohn! Was wirst damit machen?“

„Das brauch’ ich wohl Ihm nicht zu sagen,“ erwiderte der Rothe keck, indem er mit hastig bebender Hand die Dukaten in seinen Geldgurt streifte; er suchte seine Betroffenheit hinter einem zuversichtlichen Wesen zu verbergen.

„Da hast Du allerdings nicht Unrecht, Kerl,“ sagte der Feldwebel wieder, „aber vielleicht kann ich Dir was rathen, was Du damit thun könntest …“

„Und was wäre denn das ?“ stammelte der Rothe.

„Daß Du Dir ein Stück Tuch und einen Knopf kaufst und das Loch da in Deinem Wamms ausstückeln lassen sollst …“

Der Rothe schwankte und mußte sich auf den Tisch stemmen. „Ich weiß nicht, wie ich dazu gekommen bin,“ würgte er hervor, „ich muß irgendwo hängen geblieben sein …“

„Du weißt es nicht, Kerl?“ rief der Feldwebel und vertrat ihm den Weg. „Dann will ich Dir’s sagen … Der bairische Hiesel ist vielleicht ein arger Spitzbub und Verbrecher gewesen, aber er hat Ehr’ im Leib’ und Courag’ wie der Teufel; Du bist einmal sein Camerad gewesen und hast ihn doch verrathen! Wer das kann, der kann auch mehr – der kann auch ein Weibsbild umbringen, das ihm im Weg’ ist …“

„Was fallt Ihm ein …“

„Mir fallt ein, daß Du in der Schmiede gewesen, daß Du von Deinem Weib geredet und dort zurückgeblieben bist … die Ermordete hat diesen Knopf da in der Hand gehabt, an Deinem Wamms fehlt er und der Mörder bist Du! Streich’ Dein Sündengeld zusammen, Schandkerl, und nimm’s – nutzen wird Dich’s nicht viel, denn Dich selber nehmen wir beim Schopf!“

Halb ohnmächtig, schwankend zwischen Grimm und Verzweiflung ward der Verbrecher ergriffen und gebunden. „Bringt ihn fort,“ rief der Feldwebel, „aber nicht zu den Uebrigen … die haben wir in ehrlichem Gefecht gefangen genommen, denen wollen wir die Schand’ einer solchen Gesellschaft nit anthun!“ – So war die furchtbare Wildschützenbande vernichtet, der bairische Hiesel überwältigt und erwartete im Gefängniß zu Dillingen den Ausgang des peinlichen Verfahrens, das über ihn und seine Genossen eröffnet wurde. Dort traf er mit dem Buben wieder zusammen, der schon zuvor dahin abgeliefert worden war.

Hiesel blieb sich auch in Gefängniß und Verhör gleich; er hatte bald seine volle Ruhe wieder gefunden und selbst die alte Heiterkeit kam manchmal zurück. Er leugnete nichts von Allem, was er gethan, aber er wehrte sich mit Eifer dagegen, wenn ihm eine Rohheit, eine That des wilden Uebermuths zur Last gelegt werden wollte, die von seinen Genossen begangen worden war. Mit Vergnügen erzählte er von den bestandenen Abenteuern und Gefahren und kam seinen Richtern gegenüber oft so sehr in Zug, daß er Manches rückhaltlos erzählte, was mindestens vor diesen Zuhörern besser verschwiegen geblieben wäre. Beharrlich verweigerte er jede Auskunft darüber, wer ihm etwa Wild abgekauft, wer ihn beherbergt und ihm eine freundliche Warnung gesandt habe. „Wenn ich was Unrechtes gethan hab’,“ sagte er, „so soll meinetwegen Niemand was Unliebes geschehn; ich denk’, ich werd’s wohl allein ausmachen können!“

Der Proceß war sehr umfangreich und darum langwierig; endlich war er doch so weit vorgerückt, daß das Urtheil von Augsburg, wohin die geschlossenen Acten eingeschickt worden waren, jeden Tag eintreffen konnte.

Hiesel erwartete es in vollster Unbefangenheit; er dachte gar nicht des Kommenden, zumal nachdem man den treuen Buben in dasselbe Gefängniß zu ihm gelegt hatte: man hatte die Bitte Beider gewährt, da doch eine Gefahr, daß sie schädliche Verabredungen treffen könnten, nicht mehr bestand. Seitdem war Hiesel fröhlich und guter Dinge, und Beide sangen wieder zusammen die geliebten Lieder vom lustigen Wildschützenleben im freien grünen Wald.

Eines Abends hatten sie wieder zusammen gesungen, bis der Wächter Stille geboten hatte; Anderl war eingeschlafen, Hiesel wachte noch und sah in das Dunkel der Nacht und des Gefängnisses vor sich hin – plötzlich fuhr er von seinem Strohlager empor und lauschte.

… Vom Fenster der Keuche her ließ sich ein sonderbarer Ton vernehmen, wie das Zischen einer Feile, die an den Eisenstangen des Gitters arbeitete.

„Was giebt’s?“ flüsterte Hiesel. „Wer ist da?“

„Ich bin’s …“ flüsterte es entgegen. „Kennst mich nicht?“

„… Studele … Du ?“

„Ja, ich bin’s. Ich hab’s nit übers Herz bringen können, daß ich Dich verlassen sollt’ in der Noth. Wie ich gehört habe, daß Du gefangen bist, bin ich hieher nach Dillingen und hab’ mich in dem Brauhaus nebenan als Knecht verdungen. Glücklicher Weis’ hat Niemand was Arges gedacht, sie haben mich aufgenommen, und so hab’ ich Gelegenheit gehabt und hab’ Alles in der Still’ vorbereiten können und auskundschaften … Gieb Acht, ich drück’ das Fenster ein und werf’ Dir die Feile zu, daß Du Deine Ketten losmachen kannst …“

Die Fensterscheibe knackte, aber sie klirrte nicht, die Scherben hingen an dem mit Leim bestrichenen Tuche, das Studele an das Glas angedrückt hatte.

„Ich brauch’ die Feile nicht,“ rief Hiesel, „ich bin nicht angekettet …“

„Was? Das ist ja herrlich! Dann haben wir’s nur mit dem Gitter zu thun, aber das sitzt teuflisch fest! Ich hab’ nur die eine Stange wegbiegen können: aber vielleicht ist das Loch doch groß genug, daß Du durchschlüpfen kannst … Versuch’ es einmal …“

Hiesel schwang sich hinauf und suchte sich zwischen den Stäben durchzudrängen, es war unmöglich; auch die Anstrengungen Beider, die übrigen Stangen loszurütteln, waren vergeblich, da alles Geräusch vermieden werden mußte. „Es geht nicht,“ sagte Hiesel endlich, „Du siehst, es soll nit sein! Ich dank’ Dir, Studele, für Deinen guten Willen … aber mach’, daß Du fort kommst, damit sie Dich nicht auch noch erwischen … Nimm den Buben mit Dir und nachher Bhüt’ Dich Gott …“

„Den Buben?“ fragte Studele zögernd.

„Ja – wirst Dich doch nit besinnen, Studele? … Komm her, Anderl,“ rief er dem Buben zu, der ebenfalls erwacht, mit glühenden Wangen mitgeholfen hatte und noch an dem Gitter zu rütteln versuchte. „Ich hab’ Dir versprochen, daß ich wie ein Bruder für Dich sorgen will … jetzt kann ich’s halten! Du bist noch jung, Anderl, Du kannst noch ein anderes Leben anfangen, kannst noch ein anderer Mensch werden … thu’s! Geh’ mit dem Studele, folg’ ihm, wie Du mir gefolgt hast, und wenn’s Dir einmal gut geht … nachher denk’ an mich!“

Der Bub brach in Thränen aus und umfing Hiesel’s Kniee. „Nein,“ rief er, „ich geh’ nit von Dir! Was Dich trifft, Hiesel, soll mich auch treffen …“

„Geh, Anderl,“ sagte Hiesel, „ich will’s haben! Folg’ Deinem Hauptmann zum letztenmal … geh mit dem Studele … und Du, bester von allen Cameraden und liebster von alle’ Freund’, nimm’ Dich um den Buben statt meiner an … Bhüt’ Euch Gott miteinander, und wenn Ihr an mich denkt … und daß Ihr zwei mich nicht vergeßt, das weiß ich … wenn Ihr an mich denkt, dann betet ein Vaterunser für mich …“

„Ich kann nit so gehn, Hiesel,“ rief Studele, „wir wollen noch einen Versuch machen …“

„Es ist vergebens … macht nur, daß Ihr Beide fortkommt, eh’ Euch die Wächter gewahr werden … Fort, ich hör’ schon ein Geräusch draußen auf dem Gang …“

Er hob den Buben, der sich weinend an ihn hielt, zu dem Fenster empor und half ihm durch das Gitter schlüpfen. Ich komm’ noch einmal wieder,“ rief Studele und verschwand …

Er kam nicht wieder.

Am andern Tage ward der Ausbruch und die Flucht des einen Gefangenen entdeckt und der Zurückgebliebene in ein besser verwahrtes Gefängniß gebracht.

Kurze Zeit nachher kam das Urtheil; es lautete:

„In peinlichen Verhörsachen entgegen und wider den Mathias Klostermaier, sogenannten bayrischen Hiesel, von Kissing des Landgerichts Friedberg in Bayern gebürtig, wird auf dasselbe gerichtliche und gütliche Bekenntniß, auch hierüber eingenommene eidliche Erfahrungen, nach gepflogenem genauen Rechtsbedacht und der Sache reif erwogenen Umständen von der hochfürstlich-augsburgischen weltlichen Regierung mit Urtheil zu Recht erkannt, daß dieser Erzbösewicht wegen seiner vielfältigen Wilddiebereien, öffentlichen Gewaltthaten, Landfriedensbrüchen, Räubereien und vorsätzlichen [400] Todtschlägen den göttlichen, natürlichen und menschlichen Gesetzen auf die vermessenste und ärgerlichste Weise zuwider gehandelt und dahero das Leben verwirkt habe: weßwegen derselbe zu seiner wohlverdienten Strafe, Andern aber zum abscheuenden Beispiel, dem Scharfrichter zu Handen und Banden übergeben, zur Richtstatt geschleift, daselbst mit dem Rade, durch Zerstörung seiner Glieder von oben herab, vom Leben zum Tode gerichtet, alsdann der Kopf von dem Körper gesondert, dieser aber in vier Stücke zerhauen und an den Landstraßen aufgehangen, der Kopf hingegen auf den Galgen gesteckt werden solle …“

Der Richter fragte nach der Verlesung, was der Verurtheilte noch zu sagen habe.

„Nichts,“ erwiderte Hiesel gelassen, „… nichts, was ich nicht schon oft genug gesagt habe … Ich bleib’ einmal dabei, daß das Wild frei ist im Wald … die Herren hätten das Bauernvolk gegen das Wild schützen sollen, sie haben’s nit gethan, und weil ich mich’s unterstanden hab’, haben sie mich verfolgt und richten mich … In Gottes Namen, ich hab’ mich vor dem Sterben nie gefürchtet und ob es ein bissel früher oder später geschieht, … was macht es aus? In fünfzig Jahren,“ fuhr er fort, indem er lächelnd die ganze Versammlung überblickte, „ist auch von Allen, die da vor mir sind, Niemand mehr am Leben!“

Dem Spruche folgte der Vollzug auf dem Fuße – blutig, wie jene Zeit die Gerechtigkeit üben zu müssen glaubte; die Gegenwart, welcher die Todesstrafe selbst schon zum Unrecht geworden, wendet sich von den Gräueln, womit diese damals noch ausgeschmückt wurde, mit Schauder hinweg.

Am Tage vor dem Tode ging die Thür zu Hiesel’s Gefängniß auf; auf der Schwelle stand ein greiser Mann in priesterlichem Gewande, neben ihm ein schwarzgekleidetes Mädchen, das die weinenden Augen und das bleiche Gesicht in einem Tuche verbarg.

„Hiesel,“ rief der Geistliche, „Du bist nicht mehr zu uns gekommen – aber die wahre Liebe läßt nicht von dem Gegenstande, den sie einmal erkoren, darum kommen wir zu Dir …“

„Herr Pfarrer …“ rief Hiesel, „Monika …“ wollte er rufen, allein die Stimme versagte ihm, schon hing sie an seinem Halse, aber wortlos und wie ohne Bewußtsein – nur ihr Schluchzen und das Beben des Körpers verrieth, daß noch Leben in ihr war.

„O Ihr guten, guten Menschen … fuhr Hiesel erschüttert fort … „ja, Ihr habt es gut gemeint mit mir … Ihr habt mich wirklich gern gehabt! Könnt Ihr mir denn verzeihn, was ich Euch angethan hab’?“

„Wir Menschen haben kein Recht, einander zu grollen,“ erwiderte der Priester, „hienieden sind wir Alle schwach! Wir haben Dir lang’ verziehn. Dein Vater schickt Dir durch mich einen letzten Gruß – Deine Schwester auch! Sie bedauert ihre Hartherzigkeit, die vielleicht mit geholfen, Dich vom Hause fort zu treiben … sie bittet Dich um Verzeihung für jedes harte Wort, Du sollst es ihr nicht nachtragen in die Ewigkeit …“

„Und Du, Monika?“ rief Hiesel, unter Thränen zu ihr niedergebeugt. „Und Du?“

„Sie hat,“ erwiderte der Pfarrer für sie, „ihr Heil in dem gefunden, in welchem das Heil unser Aller liegt! Du kannst ruhig hinüber gehn, Du wirst eine treue unermüdete Fürbitterin haben bei Gott …“

Monika kam etwas zu sich und richtete sich halb auf, aber der Blick der vom Weinen verblichenen blauen Augen war wie verwirrt und das Lächeln, mit dem sie zu Hiesel empor sah, stimmte nicht zu dem traurigen Ort und der ernsten Begegnung.

„Gelt, Hiesel,“ sagte sie halblaut, „ich hab’ Dir’s vorher gesagt, es kommt eine Zeit, wo Du’s erst einsiehst, wie gern ich Dich hab … Ich bin Dir treu ’blieben, Hiesel … warum hast mich so lang nit geholt in das schöne Jägerhaus … draußen im Wald … mit den lustigen grünen Läden? … Ich bleib’ Dir allemal treu … ich will schon warten, bis daß Du kommst und mich abholst …“

Der flüchtige halbe Sonnenblick der Besinnung schwand und Ohnmacht umfing sie wieder. –

„Es ist besser so,“ sagte der Pfarrer und winkte den Dienern, „laß sie so von Dir gehn, Hiesel … erspare Dir und ihr die nutzlose Qual! Auch ich muß von Dir scheiden … laß mich’s mit der Hoffnung thun, daß ich Dich drüben unter meinen Pfarrkindern wieder finden werde! Versöhne Dich mit Gott; trage, was über Dich verhängt ist, als Mann und Christ und büße durch einen reuigen Tod, was Du hienieden verbrochen … O mein Sohn, mein unglücklicher Sohn …“ fuhr er, selbst von Rührung ergriffen, fort, „mußte ich so furchtbar Recht behalten, daß Dein Trotz es werde erfahren müssen, Gewalt zu leiden!“

„Ich will als ein guter Christ sterben,“ sagte Hiesel fest, ihn zur Thür geleitend … „aber was ich leide, ist wirklich nur Gewalt – ob es Recht ist, will ich unsern Herrgott fragen …“

Er endete standhaft. Mit ihm starben der Blaue und der Rothe unter dem Schwerte des Nachrichters; der Sternputzer war im Gefängniß seinen Wunden erlegen.

Studele wandte sich ins Bairische; in der Gegend von Althegnenberg erwarb er ein kleines Gütchen, das er still bewirthschaftete, bis ins hohe Alter seinem Hauptmanne in der Erinnerung getreu und für sein Andenken begeistert.

Der Bube folgte der Trommel und hielt sich wacker; unter den bei Leipzig auf dem Felde der Ehre Gefallenen war der österreichische Hauptmann Andreas Mair – die Sage will, er sei Hiesel’s Liebling gewesen, dessen jugendliche Vergangenheit man wohl gekannt oder doch vermuthet, aber absichtlich übersehen habe, um seiner Trefflichkeit willen.

Fünf Jahre noch beweinte der allgemach ganz erblindete greise Bildschnitzer den unglücklichen verirrten und wohl eben darum doppelt geliebten Sohn; dann ward ihm der Tod ein sicherer Trost.

Die treue Monika starb erst 1820 … eine unschädliche Geisteskranke, die man frei gewähren ließ, die fast mit Niemand sprach, unermüdlich arbeitete, aber ohne Unterbrechung dazu betete. An Festtagen setzte sie wohl das Kränzel auf, das sie bei der Erdweger Hochzeit getragen, und wenn einer der jüngern vorwitzigen Burschen sie um die Bedeutung fragte, erwiderte sie lächelnd, das sei um ihres Hochzeiters willen, auf den sie warte – als sie ausgewartet hatte, gab man ihr das Kränzel mit in die Grube.

Das Andenken an Hiesel selbst ist im Volke noch sehr lebendig, zumal in den Gegenden, wo er heimisch war und am häufigsten gehaust; obwohl das, was er gewollt, lange erreicht und was damals ein Verbrechen war, zu einem auf Gesetz und Recht ruhenden festen Zustande geworden, denkt das Volk noch gern des kühnen Wildschützenhauptmanns, dessen Kraft, auf andere Wege geleitet, wohl zu einem andern Ende geführt haben würde. Er ist viel besungen im Volksliede von Freund und Feind; aus einem Spottliede über ihn hört man wohl noch einzelne Absätze, wie

Der gute Stutzen kracht nicht mehr;
     Aus seinem Mundloch geht,
Euch zu erschrecken, wie vorher
     Kein bleiernes Billet!

Er hat das Forstrecht lang studirt
     Und mit dem Jägercorps
So scharf und hitzig disputirt,
     Daß es den Sieg verlor.

Der Jäger Einwurf war sehr matt
     Auf Hiesel’s Argument,
Doch endlich machte der Soldat
     Dem Disputat ein End!

Oefter aber und lieber, wenn auch gegenstandslos geworden, hört man das alte, schon am Anfang erwähnte Lied, das also schließt:

Und kommt die letzte Stunde
     Und mach’ ich d’ Augen zu,
Soldaten, Scherg’n und Jaga,
     Erst dann habt’s vor mir Ruh!

Da wird si’ ’s Wild vermehren
     Und springen kreuzwohlauf,
Und d’ Bauern wer’n oft rufen:
     Geh, Hiesel, steh’ wieder auf!


Nicht zu übersehen!
Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Ernst Keil. 



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Neuerdings hat eine ebenfalls in Leipzig erscheinende illustrirte Zeitschrift einen Artikel über das Hamburger Aquarium veröffentlicht; nach dem competentesten Urtheile aber, dem des Custos jener Abtheilung des zoologischen Gartens selbst, ist nicht nur der Holzschnitt, der in dem erwähnten Blatte eine Anschauung des Aquariums gewähren sollte, im höchsten Grade incorrect in allen dargestellten Einzelheiten, ganz abgesehen davon, daß die Zeichnung auch in künstlerischer Beziehung hie und da zu wünschen übrig läßt, sondern auch der beigegebene Text in nachlässigster Weise aus einem Führer durch den Hamburger zoologischen Garten compilirt, so daß des Verfassers eigene Unkenntniß von der Sache an mehr als einer Stelle zu Tage tritt. – Bei dieser Gelegenheit wollen wir noch Eins bemerken. Obgleich nämlich gerade für das Aquarium die Hamburger zoologische Gesellschaft bedeutende Summen verausgabt und alle Anstrengungen aufgeboten hat, es so vollkommen wie möglich zu machen, so ist doch die Thatsache wahrhaft niederschlagend und demüthigend, daß es aller angewandten Mühe nicht hat gelingen wollen, Geschöpfe, die im Meere in so übergroßen Mengen vorhanden sind und leben, ohne daß ihnen irgendwelche Sorge und Pflege zu Theil wird, wie der Häring und die Makrele, nur einen einzigen Tag im Aquarium lebend zu erhalten. Wie wenig ist also der Mensch im Stande nachzuahmen, was die Natur mit Leichtigkeit vollbringt!
    D. Red.
  2. Verf. Gartenlaube Jahrgang 1855, Nr. 4, 28 und 38.