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Die Gartenlaube (1864)/Heft 50

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[785]
Er kommt nicht.
Erzählung von Karl August Heigel.
(Fortsetzung.

Es war ein schmaler Fleck Erde zwischen einem Gewirr von Hintergebäuden und Hofmauern; drei, vier Beete und im Hintergrund eine Laube. Aber Elisens Vater war ein Blumenfreund; ein wunderschöner Rosenflor blühte im Gärtchen und erfüllte die Luft mit Wohlgeruch.

Und wie betäubt von diesem Duft, blieb Elise, nachdem sie die Pforte wieder hinter sich geschlossen hatte, eine Weile schwankend und mit gesenkten Wimpern stehen … der Mond war noch nicht aufgegangen, nur der Abendstern stand hoch im dunkeln Blau; aber ein milder, geheimnißvoller Glanz schien aus des Himmels tiefsten Tiefen zu quellen, dämpfte auf Erden alles Grelle und durchleuchtete das Dunkle – es war, als verströmte die Nacht ihre Seele. In diesem magischen Licht, zwischen den zitternden Rosenbüschen glich die einsame, weiße Mädchengestalt der Muse der Melancholie, die in wollustathmender Nacht der Vergänglichkeit der Blumen und Menschen, der Schönheit und Freude nachsinnt. Das Haupt, das sonst so stolz auf dem kräftigen Halse saß, neigte sich zur Brust; das Gesicht war blaß, nur dicht unter den Augen, wo die Haut vom Weinen entzündet war, brannten zwei Purpurflecke. Sie hatte die feinen, langen Finger gefaltet, und der Schlüssel zur Gartenpforte war zur Erde gefallen. Aber sie bückte sich nicht nach ihm und hob ihn auch nicht auf, als sie aus dieser Art Ohnmacht erwachte und langsam in’s Haus schritt.

In ihrem dunkeln Zimmer saß sie dann, das Kinn auf die Hand gestützt, und verlor sich in die unselige Geschichte ihres Herzens. „Eine Zeile, ein Gruß von Gustav,“ dachte sie, „hätte damals mich retten können. Von Tag zu Tag hofft’ ich auf ein Wort der Liebe und Treue, erst mit Zuversicht, mit Angst, mit Thränen dann, bis mich endlich zornige Scham ergriff. Des Mädchens nicht achten, dem man die ersten Schwüre gab, heißt es verachten. Mein erster Kuß war entheiligt, meine innerste Empfindung zum leeren Traum herabgestimmt, und der Ferne, der Treulose erschien mir nur noch als ein kecker, leichtfertiger Knabe. Oldenburg aber stand vor mir voll männlicher Schönheit und männlichen Ernstes – schön, geistreich und unglücklich.“

„Nein! nein!“ schalt sie sich selbst, „ich darf mich nicht entschuldigen. Weh mir, was hab’ ich gethan! Ueber einen Engel wollte ich durch menschliche Sünde triumphiren. Einem sanften, alles Glückes würdigen Wesen raubt’ ich sein einziges Glück, das Herz des Gatten. Einer Kranken verbitterte ich die letzten Tage. Es giebt keine Verzeihung für mich. Ja, wenn mich eine große Leidenschaft sturmähnlich in den Abgrund gerissen hätte, doch tändelnd, Schritt für Schritt, sank ich und verlor mein Heiligstes, die jungfräuliche Scham … So mußte es kommen; da keine Sühnung mehr möglich ist, am Sterbelager des armen Opfers erwache ich aus meiner Verblendung, und der erste Blick trifft Ihn, den ich verrathen, doch nicht vergessen konnte.“

Elisens Vater, der alte Reiser, trat mit Licht in das Gemach, ein graues Männchen mit blassem, gutmüthigem Gesicht, altmodisch und schlotterig gekleidet. Er trug der kranken Augen wegen eine blaue Brille. Wie er lebte, ist bald gesagt. Durch Elisens Geburt zum Wittwer geworden, vereinsamte und verwelkte er unter Büchern und Retorten, mit wunderlichen, unnützen Experimenten und planlosen Studien beschäftigt. Aus dem dumpfen Laboratorium stieg er zuweilen in das Stübchen seiner Tochter; jenes war seine Welt und diese seine Sonne.

Elise erhob sich bei seinem Eintritt nicht ohne Verwirrung, aber er drängte sie sanft auf ihren Sitz zurück und sagte, daß er sie nur einen Augenblick sehen und sprechen wolle. Selbst dem eigenen Kinde gegenüber benahm er sich schüchtern und linkisch. Während er sich verlegen die Hände rieb, suchte er, da Elise die stumme Pause nicht unterbrach, nach Worten. „Du bist traurig, mein armes Lieschen,“ sagte er endlich. „Ich weiß – Deine Freundin, Frau Oldenburg, ist gestorben. Die Actuarius Müller kam in die Apotheke und erzählte mir’s. Eine redselige Frau, die Actuarius Müller. Hm, ja, was ich sagen wollte – Herr Gustav Flemming ist heute Morgen angekommen. Das ist doch auch eine frohe Nachricht. Ein prächtiger Junge! Und doch, und doch, Eins wundert und kränkt mich –“

„Was, lieber Vater?“

„Daß er seine Freunde nicht aufsucht. Ich sah ihn über den Marktplatz gehen. Aha, dacht’ ich, jetzt kommt er zu uns. Aber er kam nicht.“

Elise seufzte. „Er kommt nicht,“ sagte sie leise.




3.

„Märtyrer hat uns Brausewetter gestern genannt. Frage Deinen Mann! Märtyrer. Ist’s nicht so? Märtyrer hat er gesagt.“

Mit diesen Worten wandte sich eine ungestalte, häßliche, schielende Frauensperson mit ungekämmten Haaren, in schlechten Kleidern und Holzschuhen, von ihrer Begleiterin, die ebenso schlecht, aber sauberer gekleidet und auch in Holzschuhen ging, sehr klein, [786] abgehärmt und immer erschrocken aussah, an einen von den Webern, welche auf dem Vorplatz eines casernenähnlichen Hauses in müßigen Gruppen umherstanden.

Dies Haus lag zwischen der Baumwollenspinnerei und dem Waldkirchener Friedhof. Der geräumige Vorhof wurde durch eine dunkelrothe hohe Mauer vom gleichfarbigen Fabrikgebäude getrennt und sah wie das Haus kahl, ärmlich und trotz des heitern Sommertages düster aus. Er besaß einen Rasenplatz, aber auch dieser war farblos und kahl, während jenseits der Straße Wiesen im saftigsten Grün lagen. Nur an Armuth reich und an Kindern gesegnet erschien der Ort. Im Grase, wie auf den Sandwegen, um den Brunnen herum und im Hausflur sprang, lief und kroch, schob und stieß sich der junge Nachwuchs, Mädchen und Knaben jeden Alters. An vielen Fenstern standen Frauen, mit Säuglingen auf dem Arm oder an der Brust, sahen stumpf auf das Getümmel nieder und schrieen zuweilen etwas herab, was im Höllenlärm natürlich unverständlich blieb und höchstens den einen oder andern Flachskopf einen Augenblick lang aufblicken machte.

Der Mann, dessen Arm die Schielende mit ihrer Stricknadel berührte, kehrte von der Unterhaltung seiner Cameraden ein erhitztes, trotziges Gesicht den beiden Frauen zu. „He! Du, Peter! Wie nannte uns Brausewetter?“ wiederholte Jene.

„Märtyrer.“

„Hörst Du?“ wandte sich die Schielende mit stolzer Befriedigung an Peter’s Frau. „Märtyrer sind arme, geplagte Leute wie wir. Alle Märtyrer sind Weber gewesen.“

„Nein,“ bemerkte Peter, den Kopf schüttelnd. „Nein, alle Weber sind Märtyrer.“

„So ist’s! Recht hat er! Brausewetter ist unser Mann!“ sprachen die Männer, welche mit Peter zusammen standen. Nur die Schüchterne schien nicht beruhigt. „Wenn er es so gut mit uns meint,“ entgegnete sie, „warum batet Ihr ihn nicht, uns bei unserm Fabrikherrn zu vertreten? Weiß er, was gestern geschehen ist? Und wenn er es weiß, warum ist er schon heute wieder abgereist?“

„Der Brausewetter?“ fragte Peter. „Na, warum sollte er es wissen? Er ist ein gescheidter Mann, der den Nagel auf den Kopf trifft, aber doch kein Weber. Und da er nicht aus Waldkirchen und kein Weber ist, so geht es ihn den Teufel an, was wir mit unserm Fabrikherrn haben.“

„Uns wird, uns muß geholfen werden, hat er gesagt,“ eiferte ein Zweiter. „Wir sollten nur Vertrauen haben.“

„Und uns nicht verführen lassen,“ fiel ein Anderer ein. „Die Morgenzeitung ist an unserm Unglück schuld! Die Regierung will uns helfen, aber die Fabrikanten, die Geldjuden und in ihrem Sold die Zeitungsschreiber schreien dagegen. Woher wissen wir, wie es der Regierung geht? Aus den Zeitungen. Woher weiß die Regierung, wie es uns geht? Aus den Zeitungen. Was aber stand neulich in der Waldkirchener Morgenzeitung? Daß sich unsere Lage von Jahr zu Jahr verbessere und der Lohn steige, daß wir keine Staatshülfe brauchten, sondern uns selber hälfen. Nun frag’ ich Euch: Wenn die Herren droben dergleichen Schwarz auf Weiß und gedruckt lesen, müssen sie nicht glauben, daß es uns gut geht, daß wir am Fleischtopf sitzen und fett werden? Hängen sollte man den Kerl, der das schreibt! Eine schöne Wahrheit! Wir verbessern uns, wir nehmen zu! Ja, unser Verdienst geht den Botenschritt, aber die Theuerung fährt sechsspännig voraus. Ein Thaler Zuwachs meinem Lohn bringt tausend dem Lohngeber.“

Ein kleiner, verwachsener Kerl stürzte in den Kreis. „Wißt Ihr die Neuigkeit?“ rief er aufgeregt und rieb sich die Hände. „Der Fabrikherr wird Abends herüber kommen – denkt Euch, Er zu uns! – will begütigen, mit uns unterhandeln! Er kriecht zum Kreuz! Sagt’ ich es nicht? er kriecht zum Kreuz!“

Die Aufregung, welche seine Worte hervorriefen, war groß. In einigen Secunden verbreitete sich die Nachricht im Hof, stürmte wie eine Lärmglocke die Leute im Hause aus der Nachmittagsruhe und trieb sie an’s Licht. Es war erstaunlich, wieviel Menschen das eine Gebäude ausspie, Männer in grauen Kitteln oder schmutzigen Hemdsärmeln, Weiber in Flanellunterröcken und ausgewaschenen Spensern, Alle voll banger Erwartung, Unruhe und Hoffnung. Selbst die Kinder hörten auf zu spielen und drängten sich in den großen Kreis, der sich um den Buckligen bildete. Man fragte, rieth und schrie wirr durcheinander. Die Mehrzahl der Arbeiter jubelte, und ihre Frauen beglückwünschten sich. Allein der Bringer der Freudenbotschaft, der bucklige Nöldeken, derselbe, der zuerst zur Arbeitseinstellung gerathen hatte, war gegen die Aussöhnung mit dem Fabrikherrn. Als der erste Sturm vorüber war, ergriff er das Wort. „Freunde!“ begann er und warf die langfingrigen Hände in die Höhe. „Seht Ihr denn nicht, daß man anfängt, uns zu hören, zu achten, zu fürchten? Der Augenblick ist unser. Die Rede vom Präsidenten der wahren Volksfreunde schuf uns einen Anhang unter den Bürgern. Der Soldat, der Beamte und kleine Handwerker murrt längst über den Fabrikanten; Brausewetter hat sie mit uns verbrüdert! Darüber erschrickt unser Bedrücker. Er bietet die Hand zum Vergleich – wir haben gesiegt. Steht es dem Sieger an, sich Bedingungen vorschreiben zu lassen oder gar in’s alte Joch zurückzukehren? Nein, lasset uns fest sein! Vorgestern baten wir um ein Drittel unseres Lohnes; fordern wir heute das Doppelte, so erlangen wir morgen das Dreifache. Consequenz, meine Freunde, Consequenz, eiserne Consequenz! Geben wir unsern Brüdern in der Provinz, im ganzen Lande ein Beispiel. Die Fabrik kann nicht still stehen. Hände aber sind rar; es ist Erntezeit und Krieg vor der Thür. Und dann – und dann – man kann uns nicht verhungern lassen. Wir sollen der Regierung vertrauen, sprach gestern Brausewetter, und unsere Sache ihr anheimstellen. Brausewetter ist ein Freund der Regierung, er muß wissen, welcher Wind für uns weht. Brausewetter ist ein ganz andrer Kerl, als unser Fabrikherr!“

Er machte eine Pause, und schon nickten ihm Mehrere beifällig zu. „Und nun paßt auf!“ erhob er seine Stimme, „kann die Regierung uns als Ruhestörer und Aufständische behandeln, wenn wir uns in ihren Schutz begeben? Kann sie das? Wie immer unsere heutige Verhandlung endigen möge, der Weg nach der Residenz bleibt uns offen. Laßt uns eine Adresse an den Minister, an den König entwerfen! Denn ich frage Euch: Wollt Ihr in der Morgenzeitung lesen: ,die Waldkirchener Weber stellten vorgestern ihre Arbeit ein, haben heute Reue und Leid gethan und sehen morgen ihrer Bestrafung entgegen’? Ha, eher wollte ich, ich allein die Pressen zerstören und die Druckerei anzünden … Wer aber wagt gegen uns zu schreiben, wer uns zu richten, wenn wir zum Könige selber gehen? Eine Adresse, eine Deputation, das ist mein Vorschlag.“

Die Weber sahen sich überrascht an; die Frauen und Mädchen blickten mit scheuer Bewunderung auf das zwerghafte Männchen. Er aber, Nöldeken, zog ein Papier aus der Tasche und schwenkte es in der Luft. „Hier,“ rief er, „hier ist der Entwurf einer Adresse. Und wenn ich Euch bitte, das unter uns Männern droben zu berathen, so weiß ich, daß jeder, der kein Feigling ist, mir folgen wird.“

… Sie folgten ihm Alle, weil er – obwohl weder klüger, noch klarer – so doch entschlossener und beredter als Alle war … Nur Peter’s Frau wollte sich nicht beruhigen, nicht zu heitern Hoffnungen überreden lassen. Während sie mit der Schielenden, ihrer Freundin, auf und ab ging, weinte sie still vor sich hin und sagte ein über das andere Mal: „Es ist unser Unglück.“

Ihr Töchterchen, ein winziges Ding mit den erschrockenen Augen der Mutter, zupfte sie an der Schürze und fragte: „Mutter, wer wird denn da begraben?“

Die Webersfrau stand betroffen still, blickte dem Mädchen starr in’s Gesicht und stammelte: „Herr Jesus, Kind, was meinst Du?“

„Drüben aus dem Friedhofe graben sie ein großes, großes Grab – so groß,“ sagte das Kind und breitete die Aermchen weit auseinander.

„Ich wollt’, es wäre für mich,“ seufzte die Mutter.

„Unsinn!“ versetzte die Andere und zog ihre Freundin mit sich zum Hagedornzaun … „weißt Du’s denn nicht, ’s ist der Doctorin Grab.“ – Der Begräbnißplatz war, mit dem Hof verglichen, ein üppiger Garten, mit einer Pappelallee in der Mitte, mit Rosensträuchern und Hollunderbüschen. Im hohen Gras standen rothe und blaue Blumen, Epheu umrankte die Kreuze und Weiden neigten sich über die Grabhügel. Im Mai und Juni sang hier die Nachtigall, an jenem Nachmittag aber summten nur geschäftige Hummeln über den Halmen, und gelbe Schmetterlinge flatterten auf und nieder, hin und her, als tändelte die Luft mit Blumenblättern.

„Prost Mahlzeit, Meister!“ rief die Schielende dem Todtengräber zu, der unweit des Zaunes bis an die Schultern in einem frischen Grabe stand und Erde ausschaufelte.

„’N Morgen,“ erwiderte er, ohne sich umzusehen.

[787] „Ist das der Doctorin Grab?“

„Es wird’s, es wird’s,“ antwortete Jener.

„Wenn es nach Recht und Verdienst ginge,“ sagte die Schielende, „müßte eine Andere hinein.“

„Ah bah; ein wenig früher, ein wenig später – ich begrabe sie Alle.“

„Bis Ihr selber an die Reihe müßt.“

„Na,“ sagte der Alte und drehte jetzt sein rothes, pfiffiges Gesicht den Frauen zu, „ich habe lange genug Andern eine Grube gegraben.“

Da die Arbeit gethan war, half er sich mit dem Spaten aus der Tiefe und hob seinen schwarzen Kittel aus dem Grase auf.

„Ist’s schon so weit?“ fragte die Webersfrau.

„Wird bald zum ersten Mal läuten,“ war die Antwort. Dann zog er eine Branntweinflasche aus der Westentasche und that einen tüchtigen Schluck.

„Gut vor einem Begräbniß,“ schmunzelte er, die Flasche den Frauen reichend. Aber nur die Schielende that ihm Bescheid. „Gut für Alles,“ sagte sie nach einem langen Zug.

„Ihr habt wohl heute noch Feiertag?“ fragte der Alte und zwinkerte mit den Augen. Aber Peter’s Frau nahm seine Anspielung übel auf.

„Ihr seid ein aller Sünder!“ zürnte sie. „Das ewige Leichenbuddeln hat Euch herzlos und verstockt gemacht. Sonst würdet Ihr Euch schämen, über uns arme Leute zu spotten! Weil Ihr vom Tod das gute Leben habt, Todtenwachen, Begräbnißsporteln und den ganzen Kirchhof! Ihr könnt nicht leugnen, das habt Ihr!“ Sie begann zu schluchzen. „Und ich frage mich oft: warum ist mein Mann nicht Todtengräber geworden? Dann litte er nicht Noth – und mich, mich könnte er begraben.“ Ihre Stimme erstickte in Thränen. Auch das Kind begann zu weinen.

„Na,“ beschwichtigte der Alte, „ich meint’ es nicht so böse. Aber der Oldenburg,“ fuhr er ironisch fort, indem er sich mit einem neuen Schluck aus der Flasche stärkte, „der Oldenburg, das ist ein Gescheidter, der weiß Alles; er mußte natürlich auch vorherwissen, daß seine Frau bald sterben wird, und darum sah er sich bei Zeiten nach einem Ersatz um … Ein Tausendsappermenter, dieser Oldenburg!“

„Ein ruchloser Mensch ist er,“ rief Peter’s Frau und gewann plötzlich Muth und Beweglichkeit. „Eine Liebschaft vor den Augen seiner Frau zu unterhalten! dem braven Weib das Herz zu brechen!“

„Und solch ein Mörder will uns in seiner Zeitung vorschreiben, was wir thun und lassen sollen?“ fiel ihre Begleiterin ein. „Ha, seine Mamsell, des Pillendrehers Tochter, soll sich heute blicken lassen! die Augen kratz’ ich ihr aus.“

„Dabei bin ich auch,“ sagte die Schüchterne sehr entschlossen.

„Sie wird sich hüten,“ meinte der Todtengräber, „doch in die Grabrede kommt sie, dafür lass’ ich den Pastor sorgen.“ Damit verließ er den Platz. Die Webersfrauen aber kehrten in das Haus zurück und mahnten ihre Hausgenossinnen, daß es Zeit zum Begräbniß sei. Und bevor von der Kirche die Glocken riefen, wanderte eine Truppe von mehr als hundert Fabrikarbeiterinnen über den Marktplatz zum rothen Roß. Als sie beim Trauerhaus anlangten, wo Männer, Frauen und Kinder in flüsternden und doch aufgeregten, unruhigen Gruppen sich drängten, deutete die Schüchterne auf ein Fenster und sagte: „Da droben liegt sie.“

Droben lag sie. Des Doctors Wohnung steht wie die Schenke im Erdgeschoß Jedermann offen, und es herrscht zwischen unten und oben ein stillgeschäftiger Verkehr. Man sieht den wohlgenährten Bürger, der jetzt in der Wirthsstube mit Andern zusammensteht, ein Bierseidel leert und zornigen Gesichts die Fabrikfrage erörtert, einige Minuten später im Trauerzimmer mit herabgezogenen Mundwinkeln und feuchten Augen seinen Bekannten feierlich die Hand schütteln, als wäre fortan die Welt schwarz für ihn und interesselos. Kinder drängen sich an den Schänktisch und sehen mit eben der Scheu, womit sie droben den Sarg betrachteten, dem Bierschank des Kellners zu. Frauen wühlen auf der Treppe noch schonungslos in der Herzenswunde der Verstorbenen und treten dann schluchzend vor die Todte, deren Leben Dulden und Verzeihen war. Es ist ein Köpfezusammenstecken, Flüstern und Seufzen, ein rastlos Kommen und Gehen im Todtenzimmer, daß die Wachslichter um die Bahre unruhig flackern und qualmen. Aber diesen Schlaf stört kein Geräusch …

Oldenburg saß in der Nebenstube. Der Geruch von Rosen und Wachskerzen, Trauertüchern und von der Truhe, das Gemurmel und die Tritte drangen zu ihm, nichts aber zerstreute seine Gedanken, nichts verwirrte und bannte das Traumbild, das ihm vor Jahren erschienen war, als er seine Braut im Myrthenkranz an die Brust drückte, und das nun mit peinlicher Treue wiederkehrt, das er weiter denkt und ausmalt, als wäre das Dazwischen, die Enttäuschungen und Kämpfe, der Kummer und der Tod ein Traum. Er sah sich in seinem Arbeitszimmer, wie jetzt, aber mit ruhiger Stirn über Bücher und Schriften gebeugt. Es öffnet sich die Thür, und herein tritt sein schönes Weib, blühend in Gesundheit, Liebes- und Lebensglück, einen blondgelockten Knaben auf dem Arm. Lächelnd begrüßt sie den Gatten und reicht ihm das Kind zum Kusse hin. „Vater!“ sagt der Knabe, indem er die Aermchen schmeichelnd um seinen Hals legt. Er nimmt das Kind auf seinen Schooß, streicht ihm die Locken zurück und betrachtet das geliebte Antlitz: das ist seine Stirn und das sind der Mutter Augen – – Nein! nein! diese sanften, treuen Augen hatte nur ein Wesen, und sie sind gebrochen. Sein Traum ist Traum, und er ist einsam – einsam für immer.

Er schaute empor und sah Elise vor sich stehen … Es war eine Zeit, wo dieses Mädchens Besitz ihm der schönste Wunsch, das höchste Glück schien. Aber da? Gedächtniß selbst jener frevelnden Gedanken ist ausgelöscht, und das blonde Weib, das nicht mehr ist, waltet allein in seinem Traum. Elise reicht ihm tröstend die Hand, aber er fühlt, daß er einsam ist, einsam für immer.

Elise verstand Oldenburg’s irren Blick, las in seiner Seele. Schmerzlich, doch ohne Vorwurf, ließ sie seine Rechte und trat an’s Fenster. Die heiße Stirn an die Scheibe drückend, blickte sie auf die wogende Menschenmenge hinab. Und wieder zuckte sie zusammen, wie gestern. Wieder begegnete ihr Auge Gustav, der am Hause gegenüber stand und mit verächtlicher Miene zu ihr emporschaute. Sie wollte vom Fenster zurücktreten, aber ihre Augen waren gebannt, ihre Füße gelähmt. Ein wilder Schmerz ergriff sie, und sie war in Versuchung, das Fenster zu zertrümmern, sich hinabzustürzen und sterbend zu bitten: Gustav, nicht diesen Blick! … Und jetzt – bemerkt sie – wendet sich Flemming an einen Mann, der neben ihm steht, und zeigt mit seinem Stock auf das Mädchen droben – auf sie, auf sie – – Es ist ihr, als hörte sie sein Hohnwort. Ihre Sinne verwirren sich, und eine Weile lang ist es Nacht vor ihr. Dann wieder hinabblickend, sieht sie die Leute sich zusammenrotten, sieht alle Augen auf sich gerichtet, sieht zornige Gesichter, drohende Gebehrden. Sie vernimmt das Rufen der wildbewegten Gruppe – es wächst zum wüthenden Geschrei an, und ihr Name ist’s, ihr Name, den Männer mit drohend erhobenem Arm ausstoßen, Frauen kreischen, Kinder verwünschen. Elise erkennt die Einzelnen. Da ist Peter’s Frau, die Weberin; aber wie verwandelt: ihr Haar hat sich gelöst und ringelt sich den Nacken nieder; mit funkelnden Augen und fliegender Brust drängt sie sich durch die anwachsende Volksmasse, redet ihre Freundinnen und Fremde an und stachelt den Unwillen zur Wuth. Der Wirth vom rothen Roß tritt unter die Menge, will anscheinend beschwichtigen, aber bald verschwindet er unter den Tobenden. Ist Niemand da, der das Mädchen vertheidigt? Niemand. Nur mit Flüchen gepaart, schallt ihr Name zu der Unglücklichen empor. Gustav ist vor dem Andrange in den Kaufladen zurückgetreten und verfolgt als Zuschauer den Aufruhr, zu welchem er die Losung gab. Sein Blick vermeidet jetzt das Opfer droben.

Das Entsetzen raubt Elisen die Besinnung. Keines Schrittes fähig, mit schlotternden Knieen, hält sie sich am Fensterriegel aufrecht und steigert dadurch die Erbitterung der Untenstehenden, denn man legt ihr Verweilen als schamlosen Hohn aus. Da fliegt ein Stein empor, zerschmettert das Fenster, streift Elisens Arm und fällt dicht neben Oldenburg nieder, der endlich aus seinem dumpfen Brüten erwacht, und die Sinkende in seinen Armen auffängt. In demselben Augenblick wird die Thür aufgerissen und aus dem Trauergemach stürzt der Pastor herein, hinter ihm drängen sich die zum Leichenzug Versammelten zur Schwelle und blicken mit Angst und Unwillen auf das verfehmte Paar.

„Man stürmt das Haus!“ schreit der Priester. „Wehe, Wehe über die Sünde!“ Anklagen, Vorwürfe, Warnungen der Uebrigen begleiten seine Worte.

„Elende!“ ruft Oldenburg außer sich. „Achtet der Todten Nähe!“

[788] „Sie schändet den Sarg! Fluch über die Dirne! Hinweg!“ tönen die verworrenen Antworten zurück.

„Sie kommen! sie kommen!“ kreischt es aus dem Hintergrund.

Da richtet sich Oldenburg plötzlich in seiner ganzen Größe auf. „Den Sarg empor!“ befiehlt er mit mächtiger Stimme und, das bewußtlose Mädchen den Nächststehenden in die Arme drängend, setzt er hastig hinzu, daß man sie durch den Garten entführe, während er sich opfern wolle …

Während dies im Zeitraum weniger Secunden sich in Oldenburg’s Wohnung ereignete, war im Hausflur, wie auf der Treppe ein wildes Getümmel. Unmittelbar nachdem der Stein geschleudert worden und das Mädchen vom Fenster zurückgesunken war, stürmte der Volkshaufen in das rothe Roß. Ein edles Gefühl, die Theilnahme für eine tugendhafte Frau, artete so in blinden Eifer und rohe Gewaltthätigkeit aus. Die Richter wurden Henker. Diese Tobenden, welche jetzt mit wüstem Geschrei und drohenden Mienen sich die Stufen hinanstießen und drängten, waren nicht mehr das Volk, das sein Heiligstes, Scham und Sitte, vertheidigt, sondern ein zuchtloser Pöbel. Ohne bestimmte Gedanken, was sie zunächst thun wollten, schrieen sie nach der Schuldigen – im nächsten Augenblick vielleicht ein Mordgeschrei!

Schon war der Widerstand, welchen einige besonnene Bürger auf der Treppe den Eindringlingen entgegensetzten, überwunden; schon donnerten die Vordersten – Peter’s Frau an der Spitze – gegen die Flügelthür von Oldenburg’s Wohnung’, die man in der ersten Verwirrung von innen zugeschlossen hatte – da wurden beide Flügel weit geöffnet und den Anstürmenden entgegen schwankte, von Männerschultern getragen, der offene Sarg. Dicht dahinter schritt Oldenburg. Das lichtblonde Gelock umwallte ihn wie eine Löwenmähne; er hielt das Haupt emporgerichtet, ohne Trotz, aber auch ohne Furcht. Doch der düstere Pomp, das unerforschliche Geheimniß des Todes, der Anblick der schönen Frauenleiche, welche die Hände wie eine Bittende über der Brust gefaltet hatte, überraschte und überwältigte so sehr, daß der Lärm mit einem Zauberschlag sich in tiefste Stille wandelte. Von Stufe zu Stufe machte man dem langsam niederschreitenden Zuge Platz, die Männer entblößten ihre Häupter, der Frauen Wuth erstickte die aufquellende Thräne. Keine Hand hob sich gegen Oldenburg, sondern er schritt ungehindert, unbeleidigt hinter dem Sarge einer Gattin, wie hinter einem heiligen Schilde, einher. Niemand mehr erinnerte an die Mitschuldige; die Meisten schlossen sich dem Trauergefolge an …

Voll ernster Feierlichkeit bewegte sich der Zug durch die verstummte Straße dem stillen Garten zu, wo die Schmetterlinge ein gähnendes Grab umschwebten.

Elise aber wurde, als die Gefahren vorüber, Haus und Platz geleert waren, von einigen Frauen, deren Herz der jammervolle Zustand des Mädchens mehr und mehr erweichte, nach ihrer Wohnung geleitet. Sie hatte sich entschieden geweigert, den sicherern Weg durch den Wirthsgarten und das versteckte Pförtchen zu wählen. Daheim erwartete sie ein neuer Schmerz, denn kurz vor ihrer Ankunft hatte man ihrem Vater ziemlich schonungslos das Ereigniß mitgetheilt. Ein Blick auf sein gramvolles Gesicht verrieth ihr dies. Sie warf sich ihm zu Füßen und umklammerte seine Kniee. Der alte Mann stand eine Weile rathlos und barg sein Antlitz in die zitternden Hände. Dann plötzlich hob er seine Tochter stürmisch empor, um sie an’s Herz zu drücken.

„Sage mir nichts, nichts, mein Kind,“ rief er. „Ich glaube an Dich – ich glaube an Dich.“ Und die Faust gegen unsichtbare Gegner schüttelnd, fügte er hinzu, daß sie nur kommen sollten, die sein Kind verleumdeten und bedrohten. Hierauf legte er den Kopf des Mädchens zärtlich an seine Brust und streichelte ihre Wange. Dann wieder von Verzweiflung erfaßt, sagte er: „Wir müssen fort von hier! fort! – Ach, haben wir denn nicht einen Freund?“ Und eine Weile vor sich hinbrütend, sprach er: „Gustav, der Sohn meines Freundes, mein Liebling – auch er kommt nicht.“

(Fortsetzung folgt.




Einer von Oeversee.
Eine Erinnerung aus dem schleswig-holsteinschen Kriege.
Von Julius Rodenberg.

Gegen Ende October war ich einige Tage in Hamburg. Die Bäume standen zwar schon blätterlos, aber die Luft war noch ziemlich mild und die Sonne schien freundlich auf die belebten Gassen.

Ich bekenne mich zu einer gewissen Vorliebe für Hamburg. Ich liebe die Schiffe und die Matrosen, den Hafen und all’ das seltsame Gewühl, das darin herumliegt, rudert und schwimmt. Es macht mir Vergnügen hier und da stehen zu bleiben vor einem altmodischen Gebäude, welches mich an die Tage der Hansa erinnert, oder in einer Straße, die ganz nach Hanf, Theer und Farbehölzern riecht. Die Mittel und Wege des Welthandels interessiren mich, und an solch einem Platze scheint die wunderreiche Ferne mir näher gerückt, sowohl der neblige Norden, als der licht- und farbeschillernde Süden. Mir ist da zuweilen, als hört’ ich das Herz der Welt klopfen und als verstünd’ ich, gleich dem weisen König, all’ ihre Sprachen. Das Bunte, Mannigfaltige, Vielgestaltige eines solchen Platzes fesselt mich. Vor Allem, was groß und großartig ist, habe ich Respect. Ich sehe nicht ein, warum ich einen großen Kaufmann, der seine zehn, zwölf und mehr Schiffe auf der See und seine Comptoirs in den Colonien hat und der all’ das aus eigener Kraft erworben und geworden, warum ich den nicht ebenso sehr bewundern soll, wie einen großen Feldherrn, oder einen großen Gelehrten, oder einen großen Künstler. Denn das Große bei all’ diesen Männern, so verschieden auch das Feld ist, auf dem sie sich ausgezeichnet, besteht darin, daß sie, mit irgend einer außergewöhnlichen Eigenschaft von Natur begabt, durch eisernen Fleiß und ehrliche Benutzung derselben sich emporgearbeitet und so gewissermaßen aus ihrem eigenen Vorrath die Welt um neue Schätze des Geistes oder des materiellen Wohlbefindens bereichert haben.

Ein solcher Mann ist auch mein Freund J. in Hamburg. Er hat mit Nichts angefangen, wie man zu sagen pflegt; aber er hat damals, als er anfing, zuweilen die Nächte durch gearbeitet, Nichts vor sich, als seine Bücher und zwei Gläser Wasser: das eine, um daraus zu trinken, das andere, um sich die Augen damit anzufeuchten, wenn sie ihm zufallen wollten. Dann ist es dem Manne auffallend geglückt. Nachdem er einige Jahre lang seine Briefe selbst geschrieben, selbst copirt und selbst zur Post getragen hatte, schaffte er sich zuerst für die Post einen Hausknecht, dann für das Copirbuch einen Lehrling und endlich auch für die Correspondenz einen Commis an. Dann konnte man das Wachsthum dieses Mannes von Jahr zu Jahr verfolgen. Ich habe ihn gekannt, als er noch in einer von den innern Straßen Hamburgs ein ganz bescheidenes Quartier mit Hausknecht, Lehrling und Commis bewohnte. Jetzt hat er zwei stattliche Paläste, den einen an der Binnenalster, den anderen an der Außenalster, auf dem Uhlenhorst. Seine Geschäftsräume sind gänzlich von seinem Wohnhaus getrennt, und die Zahl der Hausknechte, Lehrlinge und Commis hat sich erstaunlich vermehrt. Ich weiß nicht, wie viel Hunderte von Leuten in seinem Solde stehen, Beides zu Wasser und zu Lande; denn sein Hauptgeschäft ist das überseeische. Jetzt ist er nicht blos ein Mann von Reichthum, sondern auch einer von Rang und Würden, seitdem eine große außereuropäische Macht ihn zu ihrem General-Consul ernannt. Gar stattlich prangt das Consulatswappen über der Thür seines herrschaftlichen Hauses, und es ist nun auch ein hübsches Frauchen darin. Das war es, woran die Freunde des General-Consuls lange zweifelten. Er war noch nicht so alt; nein, keineswegs, er war nicht mehr, als auf der schattigen Seite der Dreißiger. Dennoch glaubte Niemand, daß er sich noch verheirathen würde, bis er es eines Tages selber sagte. Auf einer seiner Geschäftsreisen nach einem österreichischen Handelsplatz am Adriatischen Meer lernte er die Dame kennen, welche jetzt, seit vier oder fünf Jahren, den Namen der Frau General-Consul führt. Sie ist eine jener wunderbar eigenthümlichen Erscheinungen, frappant, exotisch, wie man sie nur dort finden kann, an den Ufern der Adria, wo sich seit Jahrhunderten so viele Racen

[789]

Einer von Oeversee.

[790] und Elemente gekreuzt haben; sie hat das Auge der Morgenländerin und das Haar des germanischen Nordens, das goldene, lange, weiche, reiche Haar, welches wie ein ausgeworfenes Netz ist. Sie hat die schlanke biegsame Gestalt der Griechin und sie hat ein Lächeln, das keiner Nation – das nur ihr allein angehört. In Leben und Haus des General-Consuls ist durch diese Frau ein feiner, poetischer Zug gekommen.

Das war der Freund, der mich am Bahnhof empfing, als ich in Hamburg ankam. Er hielt da mit seiner schönen Equipage und seinen schönen Pferden, und ihn, seinen Wagen und seine Pferde zu sehen, war in der That ein großes Vergnügen für mich. Gar behaglich saß ich an der Seite meines Freundes in seinem wohlgepolsterten Wagen, den zwei prächtige Braune zogen. Da flogen wir durch die gedrängten Straßen und menschenbelebten Märkte und Plätze, bis wir zuletzt an dem Alsterbassin Halt machten. Es war Nachmittag, spät gegen fünf Uhr, und ein herrlicher Nachmittag war es, voll von jener goldenen Herbstpracht, von jenem sanften Blau, von jener leuchtenden Klarheit und Flüssigkeit der Farben, die nur dem Norden eigen ist und nirgends schöner sein kann, als in Hamburg. Ich weiß wohl, daß Hamburg in Regen kein wünschenswerther Aufenthalt ist; aber Hamburg in Sonne, in Herbstabendsonne ist gar prächtig, es ist beinah wie es im Gedichte von Thomas Moore heißt: „Scheint selten auch die Sonne hier – ’s ist Himmelsglanz, wenn sie hier scheint!“

Am Rande des Alsterbassins bestiegen wir eine von den kleinen Dampfgondeln, die hier zum Gebrauch und Vergnügen von Einheimischen und Fremden die breite Wasserfläche unaufhörlich kreuzen. Allerliebste Dinger sind es, diese Kähne, welche Schlot und Maschine haben, wie das größte Dampfschiff, und kleine Cajüten mit kleinen Stühlen von grünem oder rothem Sammet und kleinen Spiegeln in goldenen Rahmen. Und ein kleines Verdeck ist da, wo man auf kleinen Bänken gar angenehm sitzt, während die Schraube im Wasser arbeitet und das kleine Ding mit Schornstein, Mast und alledem pfeifend unter einer Brücke oder der andern durchfährt. Plaudernd saßen wir da, und zu dem traulichen Dampf einer Manilla (es sind veritable Manillas und mein Freund importirt sie selber) erzählte er mir unterwegs, daß ich auch seine Schwägerin und seinen künftigen Schwager in seiner Villa kennen lernen würde. Ich wußte gar nicht, daß mein Freund so bald einen Schwager haben würde; die Sache war auch noch ganz neu. Die Schwester seiner Gemahlin, sagte er mir, habe schon längere Zeit die Bekanntschaft eines wackern Soldaten, eines Oberlieutenants gemacht, dessen Regiment in der Seestadt an der Adria lag, wo ihre Eltern wohnen. Die jungen Leute hatten sich in den Gesellschaften gesehen; sie hatten beim Gouverneur und auf den Carnevalsbällen mit einander getanzt und hatten eine Neigung für einander empfunden, die immer tiefer ward und zuletzt auch den Eltern nicht verborgen bleiben konnte. Diese jedoch hätten sie lieber unterdrückt gesehen, wenn es nur möglich gewesen wäre. Denn das Loos eines Oberlieutenants in k. k. österreichischen Diensten gehört nicht zu den glänzendsten dieser Welt; und wenn auch Signorina Virginia (so hieß die Schwester der Frau General-Consul) ein sehr reiches Mädchen war, welches jeden Mann, dem sie sich vermählt, in doppeltem Sinne beglückt haben würde, so hätten die Eltern ihr bei einer solchen Wahl doch wenigstens Rang und Stellung, wenn keine anderen Güter, gewünscht. Und da war gar keine Aussicht auf Avancement. Ja, wenn’s nur in Italien hätte losgehen wollen! Da standen immerfort schwere Gewitterwolken über Venedig und Rom, aber die Diplomatie intervenirte immer als guter Blitzableiter; da war kein tüchtiger Schlag zu erwarten, und die Hoffnungen zweier liebenden Herzen auf die Lösung der italienischen Frage zu vertrösten, wäre doch gar zu grausam gewesen. Da explodirte die Gewitterwolke an einem ganz andern Punkte des Horizontes: im Norden von Deutschland, in Schleswig-Holstein; der Krieg brach aus. Das Regiment, in welchem der Oberlieutenant Paul von K. stand, wurde mobil gemacht, bekam Ordre, mußte marschiren.

Wer schildert den Zustand der Liebenden, welcher zwischen dem Schmerz der ersten Trennung und der Aussicht auf das Glück der Waffen getheilt war?

Der Oberlieutenant, bevor er Abschied nahm, entdeckte sich den Eltern Virginia’s, d. h. er machte sie officiell mit dem bekannt, was sie schon längst wußten. Er hielt um die Hand ihrer Tochter an, für den Fall, daß Fortuna seine Werbung begünstige. Man nahm seinen Antrag mit Unentschiedenheit auf; man wies ihn nicht ab, aber man gab ihm auch keine bestimmte Zusage. Aber fröhlich, daß er hoffen dürfe, reiste er ab zur Armee, und der Göttin, die auf einer Kugel steht, überließ er das Weitere.

Und eine Kugel traf ihn, riß ihn hin, mitten in der Hitze des Gefechts von Oeversee. Aber das Mißgeschick im Kriege ist oft der Krieger bestes Glück. Er hatte sich so sehr ausgezeichnet vor dem Feinde und war durch That und Beispiel so behülflich gewesen bei der glorreichen Entscheidung des Tages, daß der Höchstcommandirende auf dem Schlachtfelde selber ihn, vorbehaltlich der kaiserlichen Genehmigung, zum Hauptmann machte und daß das Patent, welches diese Rangerhöhung bestätigte, mit der ersten Avancementsliste von Wien zusammen mit dem Orden der eisernen Krone für den Blessirten ankam.

Er war von einem Streifschuß in den Schenkel getroffen worden und lag wochenlang im Feldlazareth. Die Kunde seines ruhmreichen Betragens blieb nicht verborgen, und die österreichischen Blätter trugen sie auch nach dem Hafenplatz der Adria und der Casa di S., in welcher Virginia’s Eltern wohnten. Eine directe Correspondenz war den Liebenden nämlich von diesen verboten worden. So las denn Virginia zuerst in der „Wiener Zeitung“ von des Geliebten Heldenthat und gefährlicher Verwundung. Nun schrieb sie an die Schwester nach Hamburg, die sie schon früher in ihr Vertrauen eingeweiht und die demgemäß die Bekanntschaft des jungen Officiers bereits bei seinem Durchmarsch durch Hamburg gemacht hatte. Die Augen einer Schwester pflegen in solchen Fällen entscheidend zu sein. Nachdem sie den jungen Officier gesehen, billigte sie die Wahl Virginia’s vollkommen und gelobte sich, den beiden Liebenden an das erwünschte Ziel zu verhelfen. Auch ihren Gemahl, den Generalkonsul, der eine gewichtige Stimme im Familienconcil besaß, wußte sie für die Sache zu interessiren, und als sie nun den oben erwähnten Brief Virginia’s erhielt, meinte sie, jetzt sei es Zeit, Etwas für die Beiden zu thun. „Er ist jetzt Hauptmann,“ sagte sie, „und Ritter der eisernen Krone; er hat um Virginia’s Liebe und Besitz wie ein tapfrer Mann gekämpft und er hat sie ehrlich verdient.“

Auf das Betreiben seiner Gemahlin reiste hierauf der General-Consul in das österreichische Hauptquartier, um den Leidenden aufzusuchen. Er fand ihn in einem sehr beklagenswerthen Zustande; denn weder im Krieg noch im Frieden gewinnt man Ruhm und Auszeichnung, wenn man nicht zu jedem Opfer bereit ist. Das wußte wohl Niemand besser, als der General-Consul selber, obwohl er die Erfahrung in anderer Weise gemacht; und darum faßte er gleich eine entschiedene Sympathie für den Kranken, dem es im Lazareth zwar nicht an der Sorgfalt und Pflege, wie man sie im Felde haben kann, fehlte, der aber, getrennt von seiner Geliebten, ohne Nachricht, ohne Kunde, ohne Zuspruch von ihr, einen doppelten Schmerz litt. Der General-Consul lud nun den jungen Hauptmann ein, die Tage seiner vollständigen Wiederherstellung in seiner Villa zu erwarten, und nach eingeholtem Urlaub folgte ihm derselbe dahin. Durch die Vermittelung des General-Consuls hatten endlich auch, nach längerem Widerstreben, Virginia’s Eltern ihre Einwilligung zur Verlobung ihrer Tochter mit dem Hauptmann von K. gegeben, und seit Mitte August war die glückselige Braut auch nach Hamburg gekommen, um den geliebten Kranken zu pflegen und mit ihm unablässig von einer schönen und rosigen Zukunft zu plaudern.

Das war es, was mir mein Freund, der General-Consul, erzählte, während die kleine Dampfgondel das Wasser durchfurchte und nun zuletzt an dem Landungsplatz des Uhlenhorst anlegte, von welchem man in wenigen Minuten zu der Villa J. gelangt.

Diese Villa liegt ganz wundervoll. Sie ist von einem Parke umschlossen, mit so viel dunklen, alten Bäumen, Ulmen, Linden und Pappeln, als ob es ein Wald wäre. Da rauscht und säuselt es immer, und über den blauen Spiegel des Alsterbassins hin hat man die Fernsicht auf die prächtigen Häuserreihen, welche den Rand der Binnenalster decoriren. Das ist wie ein Bild. Wenn der blaue, feine Duft eines Herbstnachmittages darauf ruht, mit einem Sonnenblick, mit einem silbernen Segel auf dem Wasser, mit einem Gartenbosquet am Lande hier und da: so könnte man glauben, das Alles sei nur wie ein Märchen da heraufgezaubert und könne, wie ein Märchen, auch wieder versinken.

Durch das massive Thor traten wir nun in den Park, und indem wir die breite Kastanienallee hinaufschauten, welche mit dem [791] Blick auf die weiße Villa abschließt, da hatt’ ich eine Scene vor mir, so rührend in ihrer Natürlichkeit und so malerisch in ihrer Wirkung, daß ich sie wirklich niemals vergessen werde.

Den Laubgang herunter, uns entgegen, kam ein kleiner Handwagen, eine Art von Rollstuhl, so wie man ihn für Kinder oder Patienten gebrauchen mag, und darin saß die kräftige und schöne Gestalt eines verwundeten Kriegers, in dem Mantel, den er am Tage der Schlacht getragen; und hinter dem Wagen, halb über ihn gebeugt, war die volle, üppige Figur einer Tochter des Südens, mit dunklen Augen, dunkel wie eine südliche Nacht, die ganz voll Sterne ist, mit schwarzen, dicken Flechten, mit so viel Anmuth, so viel Grazie, so viel Melodie in der üppigen Formenfülle und mit einer Hülle, die sie nach Art der italienischen oder spanischen Frauen um den Kopf geschlungen hatte. Sie war es, die den Wagen fuhr, in welchem der Blessirte im Mantel saß. Daneben ging eine andere Dame, schlank, majestätisch in ihrer aufrechten Haltung, mit einem Gesicht, das voll innigster Sorgfalt und Theilnahme dem Kranken und der Krankenpflegerin zugewendet war. Gab es einen größern Contrast, als den zwischen den beiden Schwestern? Die Eine mit dem nixenhaften Lächeln, mit dem abendländischen Haar und dem morgenländischen Profil, die Andere mit der satten, tiefen Gluth des Südens in der Farbe ihres Gesichts und mit jener bezaubernden Harmonie in den Formen ihres Körpers, in jeder Bewegung, jeder Biegung, als ob Alles Musik und Wohllaut wäre – Musik für das Auge! Aber doch waren es Schwestern, die Schwestern, von denen die eine die Frau meines Freundes, des General-Consuls J., und die andere die Braut des Hauptmanns Paul von K. war.

Welch ein liebliches Bild das war, wie sich die Gruppe daherbewegte, mit so viel Liebe in den drei Gesichtern und mit so viel Herbstduft und Abendsonne rings um sie her!

Ein Soldat – der Diener des Hauptmanns, der ebenfalls verwundet war – folgte in gemessener Entfernung, damit dem Idyll auch der kriegerische Hintergrund, aus dem es hervorgegangen, nicht fehlen möge.

Einige glückliche Stunden verlebte ich mit diesen liebenswürdigen Menschen. Es that meinem Herzen und meinem Auge wohl, die stille Seligkeit der Liebenden theilnehmend mitzuempfinden, und ich sagte, daß es für uns Poeten doch ein wahres Glück sei, hier und da im nüchternen Leben einmal solch ein romantisches Intermezzo zu haben, etwas von wirklichen Abenteuern, Gefahren, Verwickelungen und erfreulichen Lösungen, dieser Poesie der Wirklichkeit, die schöner, rührender und ergreifender ist, als Alles, was wir zu erfinden im Stande wären.

Dies sagte ich bei Tische, indem ich um die Erlaubniß bat, ein Glas funkelnden Vöslauer Weines (dieses Heimathweines der guten Oesterreichn) dem Wohle der Beiden zu trinken, welche der Schleswig-Holstein-Krieg auf eine so unerwartete und ehrenvolle Weise vereint hatte.

„Selbst ist der Mann!“ erwiderte darauf mein Freund. „Das ist immer meine Maxime gewesen. Das Schicksal der Menschen wie der Völker liegt in ihren eigenen Händen. Denn der Erfolg fällt Niemandem fertig in den Schooß. Er will errungen und verdient sein. Ehrliche Arbeit und ehrlicher Lohn heißt es bei uns Kaufleuten; darum auch nach dem ehrlichen Kriege ein ehrlicher Frieden, ein ehrliches Glück allen Denen, die kämpfend oder duldend daran Theil genommen, und langen Ruhm dem Vaterlande, welches jetzt wieder in neuer Herrlichkeit vor allen Nationen steht!“

Ein Abglanz dieser Glorie schien auf die Beiden zu fallen, indem sie, von der Abendsonne umglüht, mit den Gläsern anstießen und sich treuinnig in die Augen blickten.

Mit einer angenehmen Empfindung denk’ ich an diesen Nachmittag und diesen Abend zurück; denn wenn ich von den wilden und blutigen Scenen des Krieges nur gelesen und gehört habe, so habe ich doch von dem Frieden ein wirkliches Bild – und welch ein freundliches! – gesehen und in meiner Erinnerung mit mir nach Hause, in dies große, volkreiche Berlin genommen.

Und heute, während ich diese Zeilen flüchtig zu Papier gebracht, wie sie das Herz mir dictirte, prangt ganz Berlin im Fahnen- und Flaggenschmuck zum festlichen Willkommen für die heimkehrenden Sieger, und auf dem Hamburger Bahnhof ist immerfort Musik und Hurrahgeschrei für die Oesterreicher, welche auf ihrem Weg in die Heimath unsere Stadt passiren.

Dort werde ich heut’ Nachmittag auch den Hauptmann von K. begrüßen, der, wie ich zu meiner Freude schon vernommen habe, von seiner Wunde vollständig wieder hergestellt ist, und noch ehe dies Jahr zu Ende gegangen, hoffe ich die Karte zu erhalten, welche mir die Anzeige macht, daß „Paul und Virginia“ ein glückliches Paar geworden sind.


Der Vogeltobies.
Die Wohnstube des Vogelmäcens. – Der Bauer mit dreiundzwanzig verschiedenen Vögeln. – Das Vogelfutter. – Die Vögel als Wetterpropheten. – Die Saison des Vogelgesangs. – Das Singen der Vögel im Traume. – „Gelernte Vögel und ihr Unterricht. – Der Finkenschlag. – Hahn und „Sie“. – Billigkeit des Vögelhaltens. – Das Finkenstechen. – Auf der Tränke. – Die Schneis. – Der Meisensang. – Der Vogelheerd.

„Hier finden wir den Mann, zu welchem ich Sie führen will,“ sagte mein Begleiter, ein bairischer Revierförster, mit dem ich auf einer Tour in den Frankenwald zusammengekommen war, „er ist Factor der kleinen Löffelfabrik, deren rußige Gebäude hier neben dem freundlichen Wohnhäuschen des Mannes liegen.“ Wir wurden auf das Herzlichste willkommen geheißen, nur wurde bedauert, daß wir gerade zu einer Zeit kämen, wo die Vögel nicht mehr sängen. Das mit zwei kleinen Fenstern versehene Wohnstübchen enthielt außer dem Bett, dem Tisch und einigen Stühlen in der That nichts als Vogelbauer, die theils an den Fenstern hingen, theils die diesen gegenüberliegende Wand bedeckten und selbst unter dem Ofen angebracht waren. Und welch ein Leben hier in den vielen kleinen und großen Käfigen! Diese kleine bunte Welt in ihrem schmucken Gefieder bildete einen wunderbaren Gegensatz zu der einförmigen todten Landschaft, die wir eben erst verlassen hatten. Es war ein unaufhörliches Hüpfen und Springen, ein lustiges Zwitschern und Piepen, ein munteres Spielen und Necken, so daß man fast meinen sollte, die kleine Gesellschaft befände sich hier in der Gefangenschaft wohler, als draußen im Freien. In einem einzigen Bauer, der sechs Fuß breit, vier Fuß hoch und zwei Fuß tief in eine Wandnische eingefügt war, wohnten dreiundzwanzig Vögel beisammen. Wir sahen hier eine Amsel, drei Dompfaffen, vier Finkmeisen, drei Blaumeisen, einen Zeisig, einen Hänfling, einen Stieglitz, eine welsche Grasmücke, drei Finken, ein Rotkehlchen, einen Grünling, einen Buchfinken oder Quäker, einen Emmerling und einen Meerzeisig oder Zetscher. Unter dem Ofen hatten außer verschiedenen schwarzköpfigen und welschen Grasmücken, Stieglitzen, Hänflingen und Rothkehlchen auch Feld-, Haide- und Dulllerchen ihr Logis angewiesen bekommen. An Zippen, Weindrosseln, Krammetsvögeln und dergl. fehlte es natürlich auch nicht.

In kleineren Drahtbauern, welche an den Fenstern hingen, waren die Kreuzschnäbel oder die „Kreinitze“ verwahrt. Auch im Frankenwalde ist der Glaube weit verbreitet, daß der Kreuzschnabel gewisse Krankheiten, namentlich die Gicht, der Menschen an sich ziehe und alsdann sterben müsse. Ob der Umstand, daß der Kreuzschnabel – von allen Vögeln der einzige – im Winter brütet, an der Entstehung dieses Volksglaubens Antheil hat, wollen wir dahingestellt sein lassen. Man findet aber, wie auf dem Thüringer Walde, so auch auf den Höhen des Frankenwaldes, fast in jedem Hause einen Kreuzschnabel, welcher, je nach seiner Stimme, mit dem Namen Kipper, Tripper, Witzer oder Sapper belegt wird und nur von den Samen der Tannenzapfen lebt, die er sich aus den ihm zugesteckten „Krusteln“ selbst herauszulösen weiß. Sämmtliche Vögel eines und desselben Vogelbauers, auch diejenigen des erwähnten größten Käfigs, fraßen aus einem und demselben Gefäße, und alle zusammen hatten auch nur ein Saufnäpfchen. Als der Besitzer der kleinen befiederten Wesen eine Hand voll Hanf in das Freßnäpfchen that, war es eine Lust, zu sehen, wie schnell die meisten Vögel von ihren Stangen herabgeflogen kamen, um rasch einige Körner zu erhaschen.

Am Eifrigsten zeigten sich die Dompfaffen oder Gimpel, die sogar Niemanden weiter am kleinen Freßständer dulden wollten und um sich bissen, hierdurch aber sich in einen Krieg verwickelten, der äußerst lebhaft im ganzen Bauer herum geführt wurde und so lange währte, bis die anderen Vögel ungestört die sämmtlichen vorgeworfenen Körner aufgefressen hatten, so daß die Gimpel schließlich gar [792] nichts bekamen. Jeder Vogel hatte im Bauer sein selbstgewähltes, bestimmtes Plätzchen, und zwar meist auf den Stangen des Bauers, welches unser Vogelkundige auch selbst dann noch und zwar an der Losung zu erkennen glaubte, wenn die Vögel auf einige Zeit im Bauer herumflogen oder sonst wie promenirten oder sich nachbarliche Besuche abstatteten oder in eine Fehde verwickelt waren oder Vesper und dergl. hielten. Einige, wie z. B. die Grasmücken, die Rothkehlchen und die Amseln, lieben ein dunkles Plätzchen; andere, wie die Finken, Zeisige und namentlich die Meisen, sind weniger lichtscheu. Die unruhigsten Gesellen unter der Bevölkerung des großen Bauers waren die Meisen, die, von einer unwiderstehlichen Neugierde und Spiel- und Zanksucht getrieben, fast fortwährend hin und herfliegen oder hüpfen. Aeußerst lebhaft sind auch die Rothkehlchen, während die Dompfaffen, solange als es nicht zum Essen geht, sich als die Faulsten und Trägsten erweisen. Die Finkmeisen sind äußerst streitsüchtig, und der Zeisig macht sich als ein naseweiser und sehr gefräßiger Bursch bemerklich.

Im ersten Augenblicke war ich der Meinung, das Beisammensein so vieler Vögel in einem kleinen Raume müsse einen übelen Geruch in dem Zimmer erzeugen. Es war dies jedoch durchaus nicht der Fall. Unser Vogelmäcen gab uns auch darüber die gewünschte Auskunft. „Reinlichkeit,“ sagte er, „ist auch bei den Stubenvögeln ein Haupterforderniß, um sie recht lange munter und frisch zu erhalten. Aus diesem Grunde wird die Losung der Vögel täglich zwei Mal und zwar stets vor dem Füttern entfernt. Reines, frisches Wasser muß ebenfalls täglich mindestens zwei Mal gegeben werden. Das Futter selbst, aus griesiger Weizenkleie, gekochten Erdäpfeln und Milch bestehend, soll man jeden Tag frisch anmachen und alsdann an einem kühlen Orte aufbewahren, um das Säuern zu verhüten. Manche Vögel, z. B. die Amseln, Drosseln etc., ziehen zwar das bereits in Säure eingetretene dem frischen Futter vor; man darf indessen hierin nicht nachgeben. Als „hartes Futter“ dienen Rübsen, Canariensamen und gekochter Hanf; der letztere muß jedoch nach dem Kochen schnell an der Sonne oder auf dem Ofen getrocknet werden. Es ist sehr anzurathen, solchen Vögeln, welche, wie die Finken, Quäker, Stieglitze, Hänflinge etc., das sogenannte harte Futter dem weichen vorziehen, zuweilen nur weiches zu reichen, weil man dadurch die Lebenszeit der Vögel verlängert. Ameiseneier und Mehlwürmer dürfen nicht im Uebermaß gespendet werden, da dieselben sonst leicht ihre gute Eigenschaft, zum Singen anzureizen, verlieren.“ Als ein vorzüglich gutes Recept für Vogelkost, die ebenfalls zum Singen vielen Anreiz gäbe, empfahl unser Vogelfreund Folgendes: Man siede mehrere Eier, schneide sie in Stücke, trockene diese und gebe alsdann täglich Morgens jedem Vogel ein Stückchen, nachdem über dasselbe siedende Milch gegossen worden ist. Beinahe alle Vögel fressen das Ei gern. Je nach der Jahreszeit verabreicht unser Löffelfactor seinen Lieblingen auch etwas Grünes, z. B. Salat, Knöterich („Hühnerscherbel“), Sauerampfer, Hollunderbeeren etc. Die Hänflinge fressen den Wegebreitsamen gern.

Bei dieser sorgfältigen Abwartung der kleinen Thiere ist es wohl kein Wunder, wenn unser Vogelfreund auch ganz besondere Resultate erzielt hat. Matthias Bechstein, der große Kenner unserer Stubenvögel, sagt irgendwo, daß man eine welsche Grasmücke kaum länger als vier Jahre in der Stube fortbringen könne; der mich begleitende Revierförster bezeugte aber unserem Factor, daß derselbe eine welsche Grasmücke bereits seit funfzehn Jahren besitze, die jetzt noch ganz wacker sänge. Ebendasselbe Thierchen hatte sich vor sechs Jahren während der Flugzeit, in welcher die Vögel Nachts bekanntlich im Vogelbauer sehr unruhig werden, die Flügelfedern ausgestoßen, so daß ihm seit dieser Zeit ein besonderer Bauer zur Wohnung gegeben werden mußte.

Auch als Wetterpropheten gelten unserem Vogelfreunde seine gefiederten Sänger. Wenn nämlich regnerisches Wetter im Anzuge ist, so verwandelt sich der Gesang der Vögel in ein unangenehmes eintöniges „Pfletschen“. Höchst ausgebildet ist ferner der Instinct, mit welchem die Stubensingvögel die Nähe eines Raubvogels draußen im Freien wittern. In einem solchen Falle verstummt natürlich der Gesang ebenfalls, und die Vögel selber machen lange Hälse, die Augen scharf nach den Fenstern des Zimmers gerichtet, bis der böse Geselle die Gegend wieder verlassen hat oder von dem Schirmherrn der geängsteten kleinen Gesellschaft mit dem stets bereit gehaltenen Gewehre erlegt ist.

Anfangs Februar fangen die meisten Vögel zu singen an, und im Mai ist das ganze Orchester besetzt, bis dann Anfangs Juli die Saison zu Ende geht. Das Morgenconcert, von den melancholischen Tönen des Rothkehlchens eingeleitet, beginnt schon während der Dämmerung. Nach der Mauserzeit, welche in den ersten Wochen des August ihren Anfang nimmt und sechs Wochen währt, singen viele Vögel noch einige Wochen zum zweiten Male. Es wurde uns auch erzählt, daß nicht selten einzelne Vögel Nachts, namentlich bei Mondenschein, im Traume zu singen anfangen. Die sogenannten Nachtschläger, wie z. B. die Haide- und die Nachtlerche, die schwarzköpfige Grasmücke oder der Meiselmönch, der Steinklitscher, die Wachtel etc., beginnen ihren Gesang einen Tag wie den andern immer zu derselben Stunde. Auch „gelernte“ Vögel bekamen wir zu sehen und theilweise auch zu hören. Es wurde uns mitgetheilt, daß es am besten sei, nur solche Vögel etwas zu lehren, welche man ganz jung, d. h. vor dem neunten Tage und also noch im Zustande der Blindheit, dem Neste entnommen habe. Die zum Lernen bestimmten Vögel werden in mit Tüchern verhängte Käfige gethan. Den Schwarzamseln bläst man auf der Flöte Melodieen in A- oder D-Dur vor. Die Orgeln, deren man sich beim Lernen wohl auch bedient, enthalten meist unreine Töne; deshalb ist es besser, eine und dieselbe Melodie mit dem Munde vorzupfeifen, was denn auch meist geschieht. Für die Gimpel oder Dompfaffen muß die Lehrstunde auf den Abend verlegt werden, wenn draußen im Freien mit der einbrechenden Dunkelheit auch vollkommene Stille und Ruhe eintritt. Ein Gimpel, welcher auch nur einige kleine Melodieen pfeift, wird nicht selten mit zehn bis fünfzehn Gulden rheinisch bezahlt.

Wie nicht selten ein junger Canarienvogel dadurch „gelernt“ wird, daß man ihn in die Nähe eines anderen Canarienvogels bringt, welcher ein guter Schläger ist, so geschieht dies auch bei den Finken. Gerade bei der Schätzung des Finkenschlages gelten die feinsten Rücksichten. Unser Stubenornitholog erzählte uns, daß in seiner Gegend noch einzelne gute Reitzugschläger, auch Reitpatscher und Reithähne angetroffen würden; in entfernteren Gegenden habe er einen Quetschiger, einen Hochzeitgebier und einen Wirzgebier „gestochen“, welche letzteren häufig mit fünf bis acht Gulden gekauft werden. Auch die Grünlinge lernen von anderen Vögeln und namentlich von den Finken. Auf die Spottvögel aber, welche erst Mitte Mai in den Frankenwald kommen und die Stimmen anderer Vögel gleichsam scherzend nachahmen, war unser Factor nicht gut zu sprechen. „Sie vertreiben,“ sagte er, „nicht nur die Grasmücken, sondern stören auch den Gesang anderer guter Schläger.“

„Und woran erkennen Sie denn,“ fragte ich weiter, „ob ein Vogel ein Hahn oder eine Sie ist?“ „Nur in wenigen Fällen,“ entgegnete unser Factor, „kann man sich irren. So ist der Hahn bei den Schwarzamseln bekanntlich ganz schwarz, die Henne aber rothbrann; bei den Finken zeigt der Hahn eine rothe, die Sie eine graue Brust, zudem hat der Hahn auch einen blauen Kopf. Die Hähne der Gimpel zeichnen sich durch rothe, die Hennen aber durch aschgraue Brust aus. Der männliche Zeisig ist gelb und hat einen schwarzen Kopf, während der weibliche grau und nur auf der Brust mit Blaßgelb vermischt ist. Bei den Nachtigallen fehlt ein untrügliches Unterscheidungszeichen der Geschlechter, dagegen hat das Männchen der Waldgrasmücke einen schwarzen, das Weibchen aber einen rothbraunen Kopf. Nur in der Brutzeit giebt’s ein untrügliches Kennzeichen für fast alle Vögel. Wird z. B. ein Rothkehlchen oder eine Feldlerche während der angegebenen Zeit vom Neste weggefangen, so ist das Männchen auf der Schärfe der Brust mit Flaumfedern bedeckt, während das Weibchen an derselben Stelle nackend ist. Es mag dies daher kommen, daß die Sie in der fraglichen Periode fortwährend sitzt, wodurch die zarten Flaumfedern verloren gehen. Bei vielen Vögeln, wie z. B. bei den Rothkehlchen und den Heidelerchen, ist das Weibchen übrigens von Gefieder viel schöner als das Männchen.“

Die Zeit und die Arbeit und selbst den Aufwand, welchen die Abwägung und die Unterhaltung seiner kleinen gefiederten Wesen erfordere, schlug der Mann nicht hoch an. Er meinte, daß man das wöchentliche Kostgeld eines Vogels durchschnittlich mit einem Kreuzer berechnen könne, sodaß sich für seine dreißig Vögel jährlich die Summe von sechsundzwanzig Gulden rheinisch ergäbe. Für einen echten Vogelliebhaber sei dies aber gar kein Geld. Er habe schon Grasmücken gezogen, für welche er je einen Louisdor habe lösen können. Ein guter Schläger sei ihm aber niemals feil [793] gewesen. Es schmerze ihn wohl, daß er nicht auch eine Nachtigall unter seinen Lieblingen zähle; als loyaler Unterthan suche er aber jeden Conflict mit dem königlichen Landgericht zu vermeiden; denn das Halten der Nachtigallen sei streng verboten. Uebrigens sei die Abwartung und die Beobachtung und namentlich der Gesang seiner gefiederten Pfleglinge ein Genuß, der, ihm wenigstens, durch ein Zweites nicht ersetzt werden könne. Wir sollten nur einmal im Frühjahr in der Morgendämmerung zu ihm kommen; gewiß würden wir, wie seine Arbeiter aus den unteren Dörfern, schon von Weitem stehen bleiben und seinem Morgenconcerte lauschen. Die schönste Cadenz einer Opersängerin und das beste Orchester einer Hofcapelle seien gegen diese vielen und verschiedenartigen Natursänger in keinen Vergleich zu stellen.

Als ich die Frage aufwarf, ob die eingesperrten Vögelchen nicht auf irgend eine Weise den Verlust ihrer Freiheit merken ließen, entgegnete mir der Factor, daß man hierbei wohl unterscheiden müsse, ob blos ein Vogel in einer Stube eingesperrt sei, oder ob zu gleicher Zeit mehrere Vögel die Gefangenschaft theilten. Im letzteren Falle wollte unser Ornitholog die Beobachtung gemacht haben, daß die neuen Bewohner eines Käfigs sich leicht und schnell an die Stube gewöhnten. Er habe z. B. Schwarzamseln eingefangen, welche schon am zweiten Tage gesungen hätten. Nur die Finken zeigten in der Gefangenschaft fort und fort einen bestimmten Grad von Wildheit; doch sei ihm auch der Fall begegnet, daß einige Finken, denen er die Freiheit zurückgegeben habe, immer wieder zum Fenster hereingeflogen seien oder so lange an das Fenster gepickt hätten, bis es ihnen geöffnet worden wäre.

Wie wir schon angedeutet haben, hatte unser Stubenvögelfreund seine Lieblinge auch selbst eingefangen. Aus seinen Mittheilungen ging hervor, daß die verschiedenen Fangarten im Frankenwalde ganz dieselben sind, wie auf dem Thüringerwalde, dem Harze und im Erzgebirge. Auch im Frankenwalde ist das Finkenstechen zu Hause. Hat ein Vogelsteller irgendwie Kunde erhalten, daß sich da oder dort im Freien ein Finke aufhalte, der einen ganz besonders werthvollen Schlag hat, so macht er sich mit zwei Finken auf den Weg, von denen der eine ein Schläger sein muß, während der andere als sogenannter Läufer in einem kleinen ledernen Geschirre steckt, an welches ein anderthalb Fuß langes Drahtkettchen befestigt ist. Ist der fragliche Ort ermittelt, wobei eine Entfernung von acht, ja selbst von zwölf Stunden kein Hinderniß bietet, so wird in dem vier bis acht Morgen umfassenden Standquartier des zu fangenden Finken, in welchem dieser wohl andere Vögel, aber keinen zweiten Finken duldet und welches er wie jeder andere Vogel alljährlich wieder von Neuem bezieht, an einer freien Stelle der sogenannte Läufer an einem eingeschlagenen Nagel mit seinem Kettchen befestigt, ihm auch etwas Futter vorgestreut und einige Zoll außerhalb der Peripherie, welche der Läufer mit seiner Kette beschreiben kann, ein Ring von Leimruthen hergerichtet. Einige Fuß von dieser Stelle entfernt setzt man alsdann den kleinen Bauer nieder, in welchem – jedoch verdunkelt – der Schläger steckt, wobei man sorgfältig über sein Behältniß grüne Zweige breitet, um keine Spur von seinem Dasein aufkommen zu lassen. Während nun der Läufer an seinem Kettchen hin und her flattert und sein Futter frißt, beginnt der Finke im verdeckten Bauer zu schlagen. Der Insasse des Standquartiers, hierdurch eifersüchtig gemacht, eilt herbei, fliegt auf den höchsten Baum seines Reviers, erspäht von da den Läufer als den vermeintlichen Schläger und stößt schnell auf diesen herab. Hierbei muß er aber den den Läufer umgebenden Ring von Leimruthen durchbrechen, wobei er natürlich hängen bleibt, so daß seine Freiheit unvermuthet und schnell ihr Ende erreicht.

Die meisten der uns gezeigten Vögel hatte unser freundlicher Factor „auf der Tränke“ gefangen. Zur Tränke eignet sich am besten eine rings von Wald umgebene sonnige Stelle, wo sich etwas Quell- oder Regenwasser ansammeln läßt. Nachdem alle übrigen Wassertümpel in der Nähe sorgfältig mit Reisig zugedeckt worden sind, legt man über die Fangstelle oder die Tränke kreuzweise Leimruthen, auf welche die Vögel hierauf geflogen kommen, um ihren Durst zu stillen und zugleich ihre Freiheit einzubüßen. Hie und da bedient man sich auch auf der Tränke eines Garnes. In einer einzigen Stunde hatte unser Factor einmal sechsundsiebenzig Vögel auf der Tränke gefangen. Die Zeit der Tränke beginnt erst dann, wenn die letzten jungen Vögel die Nester verlassen haben.

Leider werden aber wie anderwärts so auch im Frankenwalde nicht blos nordische Zugvögel wie Krammetsvögel, Grünlinge, Zetscher etc., sondern auch die höchst nützlichen heimischen Singvögel massenweis weggefangen, obschon sich’s die Forstpolizei hat angelegen sein lassen, dieser Unsitte zu begegnen. Schon am anderen Tage hatte ich Gelegenheit, mit einem Vogelsteller eine „Schneis“ zu begehen. In einem nach Nordosten zu gelegenen und mit Fichten und Kiefern bestandenen Gelände hatte der Mann wohl gegen zwanzig Schock Bügel in zwei Reihen in Brusthöhe in die Bäume befestigt; in die aus Pferdehaaren bestehenden verschiedenen Schlingen waren als Locke Vogelbeeren gelegt. An einigen Stellen hatten Eichhörnchen die Beeren unberufen weggenommen, hie und da kam auch eine Amsel geflogen, welche, die Schlinge vorsichtig vermeidend, im Fluge ein Paar Beeren erhaschte. Wo „ausgebeert“ war, mußten frische Beeren eingehängt werden. Außer einigen Quäkern, Finken und Grünlingen hatten sich vorzugsweise auch Weindrosseln gefangen, welche in dieser Jahreszeit, wo sie aus den Weinbergen zurückkommen, besonders gut schmecken sollen. Man unterscheidet vier Perioden in der Schneis; die erste ist diejenige der Zippen, die zweite die der Weindrosseln, nach diesen kommen die Meeramseln, und ihnen wieder folgen die Krammetsvögel. Auch einen Nußhäher trafen wir an und zwar noch lebend. „Sein Fleisch ist durchaus nicht zu verachten“, meinte der Mann, und so wurde ihm die Freiheit nicht zurück gegeben. In der Schneis selbst waren hie und da – natürlich ganz versteckt – auch Laufschlingen angebracht; in einer derselben, am Ausgange des Waldes nach dem Felde zu, hatte ein Rebhuhn seinen letzten Athemzug gethan.

So lange sich im Walde noch Heidel- und Preißelbeeren finden, ist indessen die Schneis im Ganzen nicht sehr ergiebig. Auf die „Kluppe“ werden zwei Krammser und zwei Schnerren, vier Zippen und ebenso vier Weindrosseln gerechnet, während von den kleineren Vögeln, wie z. B. den Buchfinken, zwölf Stück, und von den allerkleinsten vierundzwanzig Stück eine Kluppe ausmachen. Die Kluppe wird gewöhnlich mit sieben bis neun Groschen bezahlt. Die Krammetsvögel werden auch, wenn sie sich auf Wachholderbüschen oder auf Vogelbeerbäumen niederlassen, oft massenweise im Spätherbst geschossen. Auch die Staare, welche die Gegend schon Ende August verlassen und gegen Michaelis aus den Weinbergen zurückkehren, sollen vielfach als leckeres Mahl verspeist werden. Die Zeisige loben sich den Erlensamen; deshalb legt man über die Bäche, an welchen Erlen stehen, kreuzweise einige Stecken, auf welchen Leimruthen befestigt sind.

Für den Vogelsteller von Profession ist namentlich auch der Meisenfang von Wichtigkeit. Die Finkmeisen, bekanntlich äußerst neugierige Vögel, kehren in manchen Jahren in ungemein großen Schaaren nach dem Süden zurück. Um sie zu fangen, baut man aus Fichten- und Tannenreisig eine Hütte von der Größe, daß ein Mann bequem in derselben stehen kann. Der Eingang zu derselben muß jedoch, sobald der Vogelsteller in die Hütte eingetreten ist, vollständig mit grünem Reisig bedeckt werden, so daß die herbeigelockten Meisen nichts von dem Innern der Hütte gewahr werden können. Sobald der Vogelsteller hierauf aus einem kleinen Loche der Hütte den „Kloben“ oder das Fangholz herausgesteckt und mit der Lockpfeife, die aus dem Rohre eines Gänseflügels besteht oder auch aus Messing gefertigt ist, zu locken begonnen hat, kommen die Meisen herbeigeflogen und setzen sich auf den Kloben. Hat eine hinreichende Zahl Vögel Platz genommen, so wird der Kloben „gerückt“, wodurch die Vögel mit den Füßen zwischen den zwei Hölzern des Klobens gefangen und hierauf eingezogen werden. Alsdann werden die Meisen getödtet, was am besten von einem zweiten Steller in der Hütte besorgt wird, und der Fang beginnt sofort von Neuem. An besonders nebeligen Morgen ist schon oft von einem einzigen Vogelsteller von fünf bis zehn Uhr in guten Jahren ein ganzer Korb voll Meisen gefangen worden. Nur hat sich der Vogelsteller zu hüten, daß nicht beim Zuziehen des Klobens eine Meise, die mit auf dem Kloben stand, entschlüpft. Die einmal Geprellte schwirrt nämlich von diesem Augenblicke an ununterbrochen um die Hütte herum, fliegt jedem neuankommenden Zuge ihrer Colleginnen entgegen und zeigt diesen durch besondere Töne und unruhiges Umherfliegen die Gefahr an, so daß sich keine einzige Meise mehr dem Kloben nähert.

Am großartigsten wird der Vogelfang aber auf den Vogelheerden betrieben. Meist sind industrielle Anlagen, z. B. Hammerwerke, Glashütten etc., auch Forsteien und selbst Pfarreien mit dem Privilegium eines Vogelheerdes ausgestattet. Wer auf dem Vogelheerd [794] stellen will, muß das ganze Jahr hindurch gegen zwanzig gute Schläger, die den verschiedensten Vogelarten angehören, unterhalten, um dieselben dann im Herbst als sogenannte Lockvögel verwenden zu können. Damit die Vögel aber während der Zugzeit im Herbste singen, werden ihre Käfige schon Anfangs April in eine dunkle Kammer gebracht, so daß die Vögel sich unbehaglich fühlen und zu singen aufhören. Mitte August läßt man das Licht alsdann wieder zu, worauf die Vögel dann bis tief in den Herbst hinein schlagen. Als ich nach einigen Tagen zu unserem freundlichen Factor zurückkehrte, verabredeten wir, am andern Morgen einen Vogelheerd in der Nähe zu besuchen. Wir machten uns gegen vier Uhr auf den Weg, sodaß wir bei dem Heerde eben ankamen, als die Knechte des Besitzers desselben die Lockvögel in großen, eigens für diesen Zweck bestimmten Körben herbeitrugen. Es war noch völlig dunkel, und ein kalter Ostwind fegte über die kahle Hochebene, auf welcher wir uns befanden. Wir gingen deshalb in die jedem Vogelheerde nothwendige kleine Hütte, welche eine Moosbank und einen Kochheerd enthielt, auf welchem der eine Knecht auch sofort ein Feuer anzündete, das nicht nur die nöthige Wärme in der Hütte verbreiten, sondern auch zur Bereitung des Kaffees dienen sollte. Draußen wurden unterdessen beim Schein einer Laterne die kleinen Käfige der Lockvögel an den den eigentlichen Heerd ringsum umstehenden „Krakeln“ aufgehängt. Diese Krakeln sind entweder lange Stangen, in welchen etliche grüne Zweige als Scheinäste befestigt sind, oder sie werden von natürlichen Fichten gebildet, denen man jedoch die Aeste bis fast hinauf zum obersten Wipfel abgeschnitten hat, damit die herbeigelockten Vögel nicht viel Raum zum Niedersetzen finden, sondern vielmehr genöthigt sind, auf den Heerd aufzufallen. Der Heerd selbst besteht aus einem sechs bis acht Fuß breiten, vierzehn bis sechszehn Fuß langen und zwei bis drei Fuß hohen horizontalen Erdaufwurf. Auf demselben werden Wachholderbüsche und Vogelbeeräste herumgelegt, verschiedene Sorten Vogelfutter ausgestreut, und zuletzt die sogenannten Läufer an ihren Kettchen befestigt. Das Heerdtuch endlich, aus starkem Bindfaden filetmäßig gestrickt und schon in früherer Zeit mit zwei bis drei Karolin bezahlt, wird in der Weise um den Heerd herum ausgebreitet, daß durch einen raschen, festen Zug an einem Seile, welches durch eine kleine Oeffnung bis in die Hütte reicht, sofort sämmtliche Vögel zu Gefangenen gemacht werden, die im Augenblicke des „Rückens“ sich auf dem Heerde befinden.

Inzwischen war der Besitzer des Heerdes selbst angekommen. Er besichtigte die sämmtlichen Vorrichtungen, und nachdem er Alles in Ordnung gefunden hatte und in die Hütte wieder eingetreten war, befahl er, ihm das Rückseil durch die fragliche Oeffnung in die Hütte zuzureichen. Die Morgendämmerung begann; einzelne Sterne fingen schon an zu erbleichen. Jetzt wurden wir gebeten, die größte Stille zu beobachten. Der Vogelsteller nahm seine kleine messingene Locke vor den Mund und spähte wie wir durch eine kleine Oeffnung, die einen Blick von der Hütte aus über den Vogelheerd gestattete. Da mit einem Male wurde es draußen lebendig: das Morgenconcert der Lockvögel begann. Das war ein Wettgesang, wie ich ihn noch nie gehört, ein Schmettern und ein Pfeifen, ein Jubiliren und Frohlocken in die Stille der Morgendämmerung hinein, daß man sich plötzlich in den Frühling versetzt glaubte. Der Vogelsteller fing jetzt an, lauter und lauter zu locken; ein großer Schwarm Quäker kam näher geflogen und nahm seine Richtung nach dem Heerde zu; plötzlich fiel ein Schwarm von mehr als vierzig Stück auf den Heerd auf, andere herbeigeflogene Vögel nahmen auf den Krakeln Platz, und nun galt es, auch diese noch auf den Heerd zu locken. Bald da, bald dort verließ ein Vogel seinen Krakel, um die tückische Luft auf dem Heerde zu theilen. Schnell ein gewaltiger Ruck – und das rings um den Heerd ausgebreitete Garn schnellte in die Höhe, die Vögel waren gefangen. Nun ging es an ein grausames Morden der harmlosen Thiere, daß mir die Lust in der That verging, noch länger diesem Schauspiele zuzusehen. Nachdem die Beute in einem Sacke geborgen war, wurde von Neuem gestellt, wiederum gelockt und, sobald sich eine größere Anzahl Vögel auf dem Heerde niedergelassen hatte, gerückt etc. Mitunter verstummen die Lockvögel plötzlich, dann ist stets ein Raubvogel in der Nähe, der weggeschossen oder doch wenigstens vertrieben werden muß, wenn die Lockvögel ihren Gesang wieder beginnen sollen.

Auf dem Heimwege konnte ich nicht umhin, meinem Begleiter zu bemerken, daß unter den Lockvögeln auf dem Heerde doch ganz vorzügliche Schläger gewesen seien. „Glauben Sie dies nicht, lieber Herr!“ sagte er, „erst müssen Sie einmal im Frühjahr zu mir kommen, um meine Vögel zu hören; dann wird Ihr Urtheil anders lauten.“

„Und hat der Mann auch immer Absatz für die vielen Vögel, welche er jeden Morgen fängt?“ fragte ich weiter.

„Meistens doch,“ wurde mir entgegnet, „außerdem werden die Vögel gebrüht, gerupft und eingepökelt!“

Ihr lieben gefiederten Sänger des Waldes – eingepökelt in Fässern!

„Grüßen Sie mir Ihre liebe Frau!“ sagte ich beim Abschied.

„Sie meinen meine Schwester, lieber Herr. Ich habe nie eine Frau gehabt!“

„Und wie kommt das, da Sie doch ohnedies so klösterlich einsam wohnen?“

„Das ist wohl wahr,“ entgegnete mein Begleiter, „aber wer konnte wissen, ob die Frau, wenn ich geheirathet hätte, die Liebe zu meinen Vögeln billigen würde, und ohne meine Vögel kann ich ja doch nicht leben!!

„So grüßen Sie mir die Schwester und Ihre Vögel dazu,“ antwortete ich, „bis ich im Frühjahr wiederkehren und Ihre Schläger bewundern werde.“ Und mit einem herzlichen Händedruck schieden wir von einander.
August Topf. 




Land und Leute.

Nr. 18. Der fahrende Krautschneider.

Noch im Jahre 1846 durfte Herr Ludwig Steub, der geistvolle Reisende nach Tirol und in’s bairische Gebirge, ohne ernstlichen Einwurf zu gewärtigen, behaupten: „In’s Montavon gerathen nur wenig Reisende.“ Wohl hat sich seit jener Zeit in dem stillen Hochthale, das mächtige Bergzüge der rhätischen Alpen ein- und abschließen, Vieles zum Bessern gewendet, und auch Reisende verschiedenster Gattung gerathen nun von Jahr zu Jahr in ansehnlicher Menge in’s Montavon. Dennoch aber dürfte es noch gar Viele weiter draußen im deutschen Reiche und auch manche Leser der Gartenlaube geben, deren geographische Begriffe hinsichtlich dieses Montavon einigermaßen unbestimmter Natur sind. Wir wollen ihnen also für’s Erste sagen, daß das Montavon zum Lande Vorarlberg gehört, welches man seit den achtziger Jahren zur Grafschaft Tirol geschlagen hat, von dem es der Arberg scheidet. Es ist ein herrlich Stück Erde, unser Montavon. Reichbevölkert und fleißig bebaut, dehnt sich die liebliche Landschaft, durch welche die Ill ihre silbernen Wasser spült, zu geräumiger Weite aus; rundum steht das Mittelgebirge mit Gebüsch und Laubwald, mit Häusern und Kapellen, und darüber schauen die beschneiten Zacken des hohen Rhätikon in stiller Majestät in das grüne Thal hernieder. Die Bevölkerung hat unverkennbar unterschiedliche Tropfen romanischen Bluts in ihren Adern; das bekunden die tiefe Färbung, das starke Incarnat, die großen leuchtenden Augen, die vollen hochrothen Lippen der Montavonerinnen, mit deren reizvollen Zügen seitdem dieser und jener Münchner Kunstzögling seine Skizzenbücher gesckmückt hat.

Der Vorarlberger ist ein wanderlustiger Mensch, der Montavoner aber der wanderlustigste; fast ein Drittel der Thalbewohner (etwa neuntausend) geht jährlich in mehrerlei Gestalten in’s Ausland. Etwa um Lichtmeß machen sich die Maurer und Gypser auf die Beine und ziehen nach Frankreich und in die wälsche Schweiz, um den reichen Galliern und Helvetiern ihre Paläste zu bauen. Ihnen folgen, sobald der Schnee geschmolzen, zahlreiche Haufen von Jungen, welche auf die großen Verdingstätten von Ravensburg und Leutkirch in Württemberg oder nach andern Orten jener Gegend wandern, wo von Lichtmeß an von den Bauern weitumher [795] die Hirtenbuben gedungen werden und zwar je für eine Sommerszeit, so daß die Zuzügler im Spätherbst mit ihrer Errungenschaft wieder in’s Heimaththal zurückpilgern können. Im schönen Monat Mai stellen sich die Sensenhändler ein, im Glarnerlande, im Appenzellschen der Schweiz und allenthalb in Baiern und Schwaben. Zur größeren Ehre und genauern Charakteristik dieser Sensenmänner muß noch erwähnt werden, daß sie sich durch merklich vornehmere Gebehrde, Haltung und Sprache vor den andern Auswanderern des Thales vortheilhaft auszeichnen. Auch die Mädchen suchen sich zur Zeit der Ernte für ihre zarten Hände einen geeigneten Erwerb aus, nämlich das Aehrenlesen. Da schlendern sie zu Hauf nach Schwaben hinaus und bringen daselbst den Tag ährenlesend auf den Getreidefeldern, die Nacht schlummernd und träumend in den Heuscheuern zu. Ist die Erntezeit vorüber, so sammeln sich die Jungfrauen wieder alle zu Leutkirch, miethen mehrere große Leiterwagen, laden das aus den gesammelten Aehren gewonnene gute Schwabenkorn in Säcken auf und fahren singend zurück in’s Montavon. Es hat sich indessen auch schon zugetragen, daß eine oder die andere ährenlesende Montavoner Ruth einen schwäbischen Boas berückte und nicht mehr in die heimathlichen Berge zurückkehren mochte.

Wer von den Männern den Frühling und Sommer über durch Feld- und Ackerbau, Viehzucht und Alpenwirthschaft daheim gehalten wurde, zieht Ende Septembers noch thalauswärts in die weite Welt auf den – Krautschnitt, d. h. nicht auf das Absicheln oder Abschneiden der in Gärten und Feldern prangenden Krauthäupter, sondern auf deren Umwandlung zu delicatem Sauerkraute. Ja auch mancher Maurer, der beim Beginn des Lenzes nach Frankreich gezogen, macht sich plötzlich auf um diese Zeit, verläßt die üppigen Fluren an der Rhone und eilt zurück über den Rheinstrom und so fort und fort heim nach Gaschura oder Partenna zu Füßen des riesigen Vermont Gletschers, und nach nur drei- oder viertägigem Aufenthalte bei seiner „Husehr“ rüstet er sich auch schon auf den Krautschnitt. Von dem aus Frankreich mitgebrachten Häufchen gelber Napoleone werden drei bis vier Stücke als Zehr- und Reisepfennige aufgehoben, die übrigen aber vorsorglich im Wandschranke deponirt; die blaue Maurerblouse wird gegen eine graue Joppe ausgetauscht, die schwarze Zipfelkappe weicht einem flotten grünen Tirolerhut, die gemeine Pflasterkelle wird aus der Hand gelegt, und dafür ein blanker sechsmesseriger Krauthobel auf den Rücken geschnallt. Ein Ledersack mit verschiedenartigem Marend (Speck, gedörrtem Fleisch und Obst, Käse, Kirschengeist etc.) wohl gespickt, schützt ihn unterwegs vor theurer Wirthshauszeche, und ein tüchtiger Bergstock unter dem Arme hilft ihm gelegentlich bei steilen Pfaden unterstützend nach. So schreitet denn der Montavoner Krautschneider in Tirolercostüm bedächtigen Schrittes und gemüthlich seine Pfeife rauchend, ganz so wie es unser Bildlein darstellt, hinaus durch das Thal der gletschermilchenden Ill entlang und denkt schon an das reichgesegnete Banat tief unten im Ungarnlande, oder an das stolze Köln am Rhein und die großen Krautköpfe, die heuer daselbst gewachsen, und an den künftigen Gewinn seines Schweißes.

Wie? Banat, Rheinlande? Ja, in allem Ernste gesagt, das ganze große Gebiet zwischen Rhein und Theiß, zwischen Saar und Oder beherrschen die Montavoner Krautschneider, und sie theilen sich so ziemlich friedlich in diese großen Länderstrecken. Eine Gruppe von zehn bis zwölf Hoblern nimmt sich z. B. Wien und Umgebung zu ihrem „Revier“; jeder einzelne aber hat sein eigenes „Gäu“ in diesem Reviere als: den Graben und Kohlmarkt in der inneren Stadt Wien, die Vorstadt Wieden, oder Weidling am Bach, oder Penzing und Hitzing und wie die freundlichen Dörfer und Städtchen in der Umgebung der österreichischen Kaiserstadt heißen. Natürlich die meisten Reviere und folglich auch die meisten Gäu haben sie sich in dem lieben Kaiserstaate ausgesucht, und wohl die meisten größern Städte der Monarchie: Agram, Peterwardein, Temesvar, Szegedin, Kaschau, Ofen-Pesth, Preßburg, Graz, Wien, Brünn, Prag, werden allherbstlich von ihnen befahren. Doch auch München, Ulm, Augsburg, Tübingen, Stuttgart, Carlsruhe, Mannheim, ja selbst mancher größere und kleinere Ort des deutschen Norden und Nordwesten sind von den Montavonern gesuchte und gepriesene Krautschnittstationen. Einzelne tragen den Hobel selbst bis nach Holland, bis nach Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen, in die wallonischen Lande, nach Brabant, Hennegau, Luxemburg und in das liebe, ehemals so recht gutdeutsche Elsaß, nach Kolmar und Straßburg.

Man will übrigens behaupten, daß die Züge der Montavoner Krautschneider an Ausdehnung eher ab-, als zunehmen; noch vor zwanzig Jahren setzten etliche Verwegene bei Belgrad über die Save und streiften bis vor die Thore Stambuls, und massenhaft sanken die türkischen Kabishäupter unter Montavon’s vielschneidigem Hobel. Zur selben Zeit führten sie außer Hobel und Marendsack noch zwei mächtige Holzschuhe mit, in ein kirschblüthenweißes Tüchlein eingebunden; diese Schuhe benutzten sie, um das geschnittene fest in die Tonnen einzustampfen.

Es wurde oben kurz erwähnt, daß sich die krautschneidenden Montavoner in das im Herzen Europas auserkorene Ländergebiet so ziemlich friedlich theilten; mit dem soll aber nicht gesagt sein, daß nie unliebsame Mißhelligkeiten wegen Grenzverletzungen, Annectirungen („in’s Gäu go,“ sagt man von solchen Uebergriffen im Krautschneider-Idiom), Vertragsbrüchen etc. vorgekommen wären. So kam just im laufenden Jahre beim k. k. Bezirksamte in Schruns, dem Hauptorte Montavon’s, folgende Civilklage vor: A. verklagt B., weil dieser dem Erstern, der durch viele Jahre die Provinz Westphalen als seinen Krautschnitt Gäu bereiste, für Ueberlassung dieser Provinz und Anhandgabe des bezüglichen Ueberlassungsbriefes jährliche sechs Gulden ö. W. oder sechs Tage Holzarbeit zu leisten vor Zeugen versprochen habe. B. habe nun seit drei Jahren den Krautschnitt ausgeübt und gute Geschäfte gemacht, stehe dagegen mit der versprochenen Zahlung jährlicher sechs Gulden oder der Leistung der versprochenen Holzarbeit im Rückstande. A. stellt somit das Klagebegehren, es wolle zur Verhandlung dieser Rechtssache Tagsatzung bestimmt und sohin durch Urtheil zu Recht erkannt werden: B. habe bei Executions-Vermeidung dem A. für die letzten drei Jahre achtzehn Gulden binnen vierzehn Tagen zu bezahlen, auch für die Folge jährlich sechs Gulden oder drei Tage Arbeit zu leisten, oder aber ihm die Provinz Westphalen zurückzustellen.

Es ist nun aber Zeit auf das eigentlich praktische Thema, Geldpunkt, zu kommen. Das Einkommen eines Krautschneiders besteht durchschnittlich in einer Kopfsteuer, die er in seinem jeweiligen Gäu erhebt; sie ist je nach Gäu und Kopf verschieden. Das reine Einkommen während einer ganzen Schneidezeit (acht bis zehn Wochen) beläuft sich auf etwa hundert Gulden, ein ordentliches Sümmchen für die kurze Zeit, wo auch noch ohnehin zu Hause nichts versäumt wurde. Die Mühsal eines Krautschneiders ist übrigens keine geringe; sobald nämlich in einem Gäu einmal der Ruf erschollen: „Der Krautschneider ist da!“ so regen all’ die bekümmerten Hausfrauen und Köchinnen ihre fleißigen Hände und putzen und höhlen die Köpfe, und sind sie damit fertig, so will jede zuerst bedient sein, um baldmöglichst den Schweinrippchen solide und schmackhafte Unterlage unterbreiten zu können. So geschieht es, daß sich die Arbeit für den Krautschneider manche Woche außerordentlich häuft und er von des Morgens Grauen bis tief in die Nacht hobeln und immer hobeln muß – gewiß eine ermüdende Arbeit. Die billigdenkenden Rheinländerinnen aber und die gutherzigen Oesterreicherinnen sehen das auch zur Genüge ein und spenden ihrem armen Krautmann neuen Wein in Hülle und Fülle; jener spricht natürlich dem erquickenden Naß tapfer zu unter der schalkhaften Behauptung: „Je mehr dem Hobler Wein, desto besser wird das Kraut gegohren sein.“

Der Werth eines gewöhnlichen Krauthobels wird auf sieben bis neun Gulden berechnet, der eines Küchenhobels auf zwei bis vier Gulden. Es ist nämlich zu wissen, daß der recht praktische und geschmeidige Krautschneider außer dem großen Hobel auch noch ein apartes, kleines „Höbele“ mitführt, mit dem er Abends nach vollbrachtem Tagewerk in den Küchen saubern Kochkünstlerinnen gefällig noch Salat, rothe Rüben, Rettige und verschiedenes Wurzelwerk zusammenhobelt, um vor dem süßen Schlummer noch ein „Nebenverdienstle“ mitzunehmen.

Die Hobeleisen verfertigt der Schmied in Schruns für den ganzen Bedarf des Thales. Es sei das Anfertigen mit gewissen Kunstgriffen verbunden, behauptet man insgemein; aber eine weit höhere Kunstfertigkeit erheische das Schärfen der Eisen, das „Dengeln“ (mittels Dengelstock und Hammer nach Art der Sensen), auf das sich aber gleichwohl gar mancher Montavoner vortrefflich versteht. Auch die Rahmen, die „Gefäße“ zu den Hobeleisen, fertigen die einheimischen Schreiner meisterlich aus Buchenholz, und so fürchtet man denn eigentlich in Montavon die Concurrenz mit andern Hobeleisenschmieden und Hobelmachern nicht, bedauert es

[796]

Der Montavoner Krautschneider.
Portraitskizze nach der Natur.

[797] aber tief, wenn echte Montavoner Hobel leichtsinnig von Montavonern selbst verkauft werden. Man ist zwar still zur Sache, wenn solche in großen Lieferungen über das Wasser nach Amerika gehen, macht aber dem Unmuthe um so lauter Luft, wenn selbe in den bisher von Montavonern innegehabten Grenzen käuflich abgesetzt werden; man nimmt nämlich hierbei stillschweigend an, es möchten in der Länge der Zeit und mit dangelrechtem Hobel ausgerüstet die Westphalen, die Wiener, die Ungarn u. A. ihre Weißkohlköpfe zu Sauerkraut zu hobeln selbst erlernen.

Und nach Wochen und Wochen, am Weihnachtsabende, erscheint dann unser Krautschneider, der Ende Septembers ausgezogen war, in seinem erborgten Tirolercostüm, mit Hobel, Stock und Marendsack und einhundert Gulden in der Tasche, wieder in Vorarlberg, wohlgenährt und seelenvergnügt zu Bludenz auf dem Markte und „stört“ noch, ehe er die Alfenz überschreitet und in’s Montavon einbiegt, für seine Kinder „de Klosa“. Dieser Klos ist St. Nikolaus, der Bischof von Myra. Derselbe kommt nach der kindlichen Anschauung am heil. Abend (25. Decbr.) als freundlich lächelnder Greis mit Mitra, Kreuz und Tunica hoch zu Roß und mit Geschenken aller Art gerade aus dem Paradies nach Bludenz auf den Markt. Die guten Hausmütter und Hausväter „stören“ dort den heiligen Mann, d. h. zupfen ihn etwa manierlich am Aermel und bitten ihn, ihrer Kinder nicht zu vergessen. St. Nikolaus kennt aber genau alle Kinder im Revier, und je nachdem dieselben gesittet und brav waren oder nicht, fallen seine Bescheerungen reichlich oder spärlich aus. Es wissen aber des Krautschneiders Kinder, daß heute Abend der Aetti aus der Fremde kommt, daß er in Bludenz Klosa stören und mancherlei „Kram“ mitbringen wird, was Wunder also, wenn ihnen aller Schlaf aus den Augen gewichen und sie vor Ungeduld fast vergehen. Es ist zehn Uhr Abends, und unser Krautschneider tritt in Gaschura in eine niedrige Hütte und in eine traulich warme Stube ein, wo im Tischwinkel zwei bausbackige Buben und ein kleines, braunes, glanzäugiges Mädchen andächtiglich beisammen „höckeln“ und zu dem Klosa beten, aber plötzlich erschrocken zusammenfahren, wie der Tiroler hereinkommt. Dieser aber reißt rasch den spitzen Hut vom Kopfe: „Er werden mi wol no kenna?“ und sucht und greift hastig und geheimnißvoll lächelnd herum in den Taschen nach all’ den Geschenken und Krämen, und da ist nun unter den Kleinen ein Aufschrei des Entzückens, ein fröhliches „Gottwilcha, Aetti“ und ein endloses, freudiges Begucken und Betasten all’ der Sachen, die St. Nikolaus durch ihren heimkehrenden Aetti ihnen eingelegt, daß der Hausmutter, und ich glaube fast auch dem Aetti, das helle Wasser in die Augen schießt.

Wir, die wir dies niederschreiben, und der geneigte Leser, der es liest, befinden uns in dem Falle, als ständen wir bei einem halbgeöffneten Fensterläufer des krautschneiderischen Häuschens in Gaschura und als sähen wir, selbst unbemerkt, all’ diese Glückseligkeit. Wenn uns auch Niemand übel nehmen wird, daß wir in seliger Erinnerung an unsere eigene Jugendzeit und die beglückende Christbescheerung einen Augenblick hier stehen bleiben, die schöne Gruppe betrachtend, so halten wir es doch für passend, gleich darauf leise den Fensterläufer zuzuschieben, still vorüber zu gehen und somit vom Montavoner Krautschneider Abschied zu nehmen.
J. Vonbun. 




Amerikanische Special-Mittheilungen der „Gartenlaube“.
Nr. 2. Der nordamerikanische Eisenbahn-Buchhandel.

Als ich nach Amerika kam, schien mir hier eine in der That neue und bessere Welt vorhanden; allein dies lag nur in der Unbekanntschaft, und das Essen vom Baume der Erkenntniß hatte seine leidige Wirkung. Mit frischer Empfänglichkeit nahm ich alle Erscheinungen im Babel am Hudson, in New-York, in mich auf, und als dieses weite Revier einigermaßen geläufig geworden war, kam mir die Einladung zum Besuch nach Philadelphia überaus gelegen. Dort sollte dem Vernehmen nach ein viel gemüthlicheres Leben herrschen, als in New-York, und Niemand machte mich aufmerksam, daß die Bezeichnung durch „Stadt der Bruderliebe“ nur ironisch aufzufassen sei. Niemand führte an, wie auch dort die grobe Selbstsucht ihr Unwesen treibe und arme Menschen wegen Nichtzahlung des Hauszinses dem unbarmherzigen „Help yourself“ (hilf dir selbst) in die Arme geworfen würden, indem man sie einfach an die Luft setzt. Kurzum, ich trat die kurze Reise in bester Stimmung an, ohne der herkömmlichen Eisenbahnunfälle zu gedenken, wodurch die Zeitungen ein Hauptinteresse erhalten. In allen „Cars“, oder Karren, wie man die eleganten Eisenbahnwagen nennt, glitzerten die prächtigsten Ladiesaugen und überstrahlten vielfach recht elende Schminkungen, so wie meistens sehr gute Toiletten. Durch die Vermittelung eines Conducteurs bekam ich einen Rücksitz ohne Nachbarschaft, von wo aus sich die gesammten Wagengenossen von Angesicht zu Angesicht überschauen ließen. Da in der Regel nur Herren in Begleitung von Ladies Zutritt erhalten, wo besondere Ladies-Cars eingerichtet sind, so zog ich Vereinzelter natürlich die Augen besonders auf mich, und Neugierde sprach entschieden durchweg aus denselben. Welch eine schöne Gelegenheit, sich in das Studium leuchtender Augensterne zu vertiefen! Allein trotz aller Bereitwilligkeit, dies zu thun, konnte ich doch zu keiner rechten Andacht dabei gelangen, denn fortwährend erschien im Wagen ein etwa vierzehnjähriger Bursche, hinter sich stets die Thür unfläthig zukrachend, um – Buchhändlergeschäfte zu treiben. Dergleichen sind auf allen Eisenbahnlinien stationär etablirt und scheinen unter Concession der Direktionen, speciell aber der Schaffner zu stehen.

In Deutschland würde solch ein kleiner Geschäftsmann, wenn er existiren dürfte, sicher so sanft und bescheiden wie möglich auftreten, dabei sich der sprachgewandtesten Ausführlichkeit bedienend. Es würde dort etwa klingen: „Ist Ihnen vielleicht ein Eisenbahnwegweiser gefällig, mein Herr?“ während hier zu Lande republikanischer Lakonismus freiheitsfleglerisch waltet. Nach dem Eintritt in einen Wagen mit obligatem Thürgekrach, schreit so ein Bursch gellend blos die Namen der Zeitungen aus und geht dabei links und rechts frech um sich blickend durch die Mitte des Wagens, hinter sich darauf dessen entgegengesetzte Thür wieder barbarisch zuschmeißend. Wer ein Blatt zu haben wünscht, muß dasselbe verlangen und es wird ihm gegen Bezahlung protzig dargereicht, wobei der Bengel sich wohl auf die Lehne eines der Sitze hinlümmelt, seinen Fuß irgendwo hoch aufstemmt und gewöhnlich einen Gassenhauer pfeift, wenn er nicht etwa Tabak kaut und dabei widerwärtig spuckt. Das Publicum zeigt sich dieser Art des Auftretens keineswegs abgeneigt, es hat sich daran gewöhnt, und Viele freuen sich im Gegentheil noch darüber, indem sie darin Zeichen lobenswerther, freiheitsfreundlicher Gesinnung erblicken, worauf der Fortbestand der großen republikanischen Union basirt sein soll. Nur Einzelne fangen jetzt an, das Nachtheilige solcher Zuchtlosigkeit zu begreifen, und es wird noch geraume Zeit erfordern, bis man allgemein bessere Sitten einführt.

Kaum hat der junge Geschäftsmann seine Tour durch alle Wagen des Zuges vollendet und ist in einen der hintersten, oder auch gelegentlich der vordersten, zurückgekehrt, wo er sein Depot hat, so kommt er auch schon wieder mit einer neuen Literaturtracht herangelärmt. Diesmal erscheint der Betriebsame bücherbelastet und findet mich eben beschäftigt, die klebrigen Finger eines etwa fünfjährigen, buntspechtartig herausgeputzten, candisnaschenden Mädchens von mir abzuwehren. Dergestalt in Anspruch genommen, kann ich dem literarischen Vermittler keine besondere Aufmerksamkeit widmen, die er mir dafür schenkt; denn es schallt in mein Ohr der gellende Ruf: „United States Railroad Guide, Sirrrrr!“ (der Vereinigte Staaten-Eisenbahnführer, Herr!) das Trommelfell bedenklich erschütternd. Emporfahrend halte ich meine beiden Ohren zu, mache ein grimmiges Gesicht und brumme dazu lakonisch: „No!“ worauf der Schlingel höhnisch hell auflacht. Er hat vermuthlich die Wagengesellschaft irgendwie von seiner witzigen Absicht unterrichtet; denn ich sehe auf allen Gesichtern beifälliges Lächeln oder Lachen. Man gönnt ersichtlich dem „old Dutchman“ (altem Deutschen), wofür mich sicher Alle erkennen, die Verhöhnung und genügt damit einem Widerwillen gegen unsere Landsmannschaft, der an ein gewisses Schülerverhältniß Lehrern gegenüber erinnert, an denen man schwache Seiten findet.

[798] Jetzt hält der Zug auf irgend einer Station zwischen Amboy und Camden. Die Wagen sind umringt von kleinen Knaben, unter denen nur zwei schon etwa zwölfjährige sich befinden. Der ganze Knirpschorus schreit aus vollen Hälsen: „No papers, Gentlemen? No papers, papers, papers?“ („Keine Zeitungen, meine Herren?“) Das heißt so viel als: die Passagiere sollen ihre gekauften und gelesenen Zeitungen der mehr verlangenden als bettelnden, in keinem Falle aber bittenden Brut schenken. Kein echter amerikanischer Junge wird sich überhaupt zur Bitte herablassen. Das Kind in Amerika ist von klein auf gewöhnt, in allen Dingen seinen Willen auf bloßen Begehr hin erfüllt zu bekommen, ohne zur Bitte oder zum Dank angehalten zu werden. Aber die Amerikaner sind trotzdem auf ihre Weise gutmüthig und besonders gegen Schwache überaus hingebend, so daß sich von Schwäche dabei reden läßt. Dies thut sich eben wieder kund, denn die meisten Zeitungen erhält der allerkleinste Knabe, ein Kerlchen von gewiß nicht mehr als drei Jahren, „weil er so klein und hülflos ist,“ sagt ein in meiner Nähe sitzender robuster Herr, anscheinend aus dem Lande der menschlichen Alligatoren, aus Kentucky stammend, dabei seinen Kautabak von einer Seite des Mundes zur andern wälzend und darauf einen braunen Strahl nach der Gegend hinspuckend, wo der ihm zunächst befindliche Spucknapf im Wagen aufgestellt war. Die größern Knaben erhielten selten von Jemandem ein Blatt, denn es hieß auf meine Nachfrage deshalb: „Ach, sie können irgend ein anderes Geschäft ergreifen,“ worunter natürlich Gelderwerb verstanden wird, der das eigentliche Betteln ausschließt. Mir kam dabei in’s Gedächtniß, daß hier zu Lande die Knaben fast ausnahmslos schon mit dem zwölften oder dreizehnten Jahre von den Eltern auf eigenen Broderwerb angewiesen werden, wobei bis zur Grenze des Criminellen gehende Uebervortheilung in der Regel als lobenswerthe Gewandtheit gilt. Wenn nicht geradezu die altspartanische Sitte angenommen wird, geschickte Dieberei als Vorzug anzuerkennen, so kann man sich darüber nur wundern. Von den kleinen Zeitungsbettlern, die uns mit echten Straßenräubermanieren anfallen und deren Verlangen durchaus in keine wirkliche Bitte eingekleidet wird, ist die Bettelei sicher nur als Geschäft angesehen, und entweder verkaufen sie die erhaltenen Blätter im Orte, oder stehen mit den Eisenbahn-Buchhändlern im Rückkaufshandel; denn ihr Aussehen verräth durchaus keine Armuth.

Der Zug geht weiter, und während der Fahrt zur nächsten Station zeigt sich unser stationäres Exemplar, der Literaturverkäufer, in einer neuen Verwandlungsphase. Er bringt unter seinem Arm einen gewaltigen Stoß Broschüren, nebst zwei eingebundenen Büchern und schreit gellend: „Harper’ Monthly Magazine, Sirrrrr!“ (Harper’s Monatshefte, Herr!) in mein Ohr, indem er mir das neueste Heft dieser schönwissenschaftlichen Monatsschrift dicht unter die Nase hält. Um mich zu amüsiren, frage ich: „Was kostet’s?“ Warum bin ich kein geschickter Zeichner! Hier müßte durchaus das Schelmengesicht meines Buchhändlers dargestellt werden, denn mit Worten läßt sich nicht einmal annäherungsweise der pikante Ausdruck desselben wiedergeben. Ein Paar feurig-braune Augen verschlingen meine ganze Figur gleich Schlangen, die blitzschnell zuschnappen; der Mund ist energisch zusammengepreßt; auf der hohen Stirn, die eine knappe Reisemütze von Glanzleder stark hervortreten läßt, zeigt sich ein Zusammenziehen der Haut, wie solches bei scharfen Denkern häufig zum Vorschein zu kommen pflegt, und außerdem zucken die Finger der rechten Hand. Ach, der junge Schelm hat es noch nicht weit gebracht im Leben; man kann noch Eindrücke auf sein Inneres äußerlich an ihm bemerken. Ich lese seinen Gedanken mit unverkennbarer Deutlichkeit: „Dies scheint mir ein Neuangekommener zu sein; mag er dafür bezahlen!“. Und mit gedämpfter Stimme, so daß es den Umsitzenken nicht auffallen möge, erfolgt fast schüchtern die Antwort: „Nur vier Schillinge, mein Herr.“ Das Bürschlein brach aber in helles Gelächter aus, als ich ihm trocken erklärte: „So, mein Herr? ich kaufte gestern ein Exemplar für zwei Schillinge.“ Der kleine Mann meinte, nun müsse ich ihm Etwas abkaufen, nachdem er von mir so angeführt worden sei. Er bot mir noch etliche andere „Monthlies“ an, und als ich darauf nicht einging, kamen Novellen an die Reihe, das Stück zwei Schillinge. Als auch diese Romanlockspeise verschmäht wurde, zog der Unermüdliche aus der Mitte seines Bündels etliche Hefte, die er vor meinen Augen rasch aufblätterte, um die darin enthaltenen Bilderchen sehen zu lassen, welche Nuditäten zeigten. „Belieben Sie diese Sorte?“ hieß es dabei unter verschmitztem Augenblinzeln. Aber auch damit war bei mir nichts zu machen, denn der amerikanische Verlegerwitz war nichts Neues mehr für mich: allerlei Abklatsche von Holzschnitten mit lüsternen Darstellungen aufzukaufen und sie dann irgend einer trivialen Novelle beizudrucken, ohne Rücksicht darauf, ob sie zum Texte passen oder nicht.

Während einer spätern Reise auf der Erie-Eisenbahn lernte ich das Geheimniß kennen, wie es den Eisenbahnbuchhändlern möglich wird, ihr Publicum so mannigfaltig zu versehen. Der vorletzte Wagen unseres Zuges war für die Dienerschaft bestimmt, und es trugen dessen Eingangsthüren entsprechende Ueberschriften. Hier war es erlaubt zu rauchen; man fand da Gelegenheit sich zu waschen und konnte sonst noch Mancherlei abmachen, was nicht für andere Wagen paßte. In diesem Kosmopoliten-Wagen hatte der stationäre Händler sein Literatur-Depot in ein paar Koffern. Als wir – ich weiß nicht mehr auf welcher Station – zu Mittag speisten, war unser Eisenbahnbuchhändler mein Tischnachbar und in Dunkirk bewohnten wir zusammen das nämliche Hotel. Es war mir darum zu thun, von ihm Einzelnheiten über die Bedingungen bei seinen Büchereinkäufen zu erfahren, allein der Mensch wich allen meinen desfallsigen Fragen aus, so wie ich denn seither – trotz mannigfacher Buchhändlerbekanntschaften in mehreren Städten der Union – niemals genau Rabattverhältnisse und dergleichen erfahren konnte. Ich mußte mich damit trösten, daß auch im lieben Deutschland nur direct Eingeweihte, als da sind Buchbinder und Marktbudenbuchhändler, hinter den Isisschleier der Literaturverhältnisse zu blicken Gelegenheit haben, bei denen das „gedruckt in diesem Jahr“ eine sehr bedeutsame Rolle spielt. Allen Vermuthungen nach finden in Amerika ähnliche Mysterien den Laien und Profanen gegenüber statt, deren Enthüllung so verpönt ist, wie einst jene der Ceres-Mysterien und jetzt die der Freimaurer-Geheimnisse, an deren Vorhandensein sogar gezweifelt wird. Die populärste Literatur steht auch zum Publicum in viel zu intimen Verhältnissen, als daß nicht gewisse Verhüllungen dabei vom Decorum dictirt sein sollten; zumal in einem Lande, wo das Volk als Souverän ausgeschrieen wird, am Lebhaftesten von Leuten, die während ihres Schreiens ein verschmitztes Lächeln kaum unterdrücken. Souveräne aller Art finden wir am Häufigsten geneigt, zur Aufrechterhaltung ihrer „Gewalt und Autorität“ kleine, zärtliche Umgangsverhältnisse mit dem Schleier der Heimlichkeit zu überdecken; ich sehe also keinen Grund, weshalb nicht auch über obenerwähnte Zustände der Mantel christlicher Liebe gebreitet sein und bleiben sollte.

Auf zahlreichen anderen Ausflügen, die ich mit Eisenbahnzügen nach verschiedenen Richtungen hier zu Lande unternahm, bot sich mir noch öfter Gelegenheit dar, allerlei Beobachtungen nach literarischen Richtungen hin anzustellen, wovon nur Folgendes herausgehoben werden möge. Auf einer meiner Touren nach dem Westen handelten die stationären Eisenbahn-Buchhändler auch noch mit Aepfeln, Kuchen und namentlich mit dem landesüblichen, unerläßlichen Zuckerwerk, worin die Näscherei bei Alt und Jung epidemisch zu nennen ist, wogegen Literaturspeise – Zeitungen ausgenommen – nur sporadisch vorkommt.

Bei Gelegenheit einer Fahrt in westlicher Richtung wurde mir von einer Person, die eilig durch alle Wagen unseres Zuges streifte, eine rosafarbene Ankündigung, auf starkem Kartenpapier abgedruckt, in die Hand geschoben, mit den Worten: „Miß Burnham wird gleich selbst erscheinen.“ Ich hatte eben nur Zeit die empfangene Karte zu besehen; sie enthielt die ziemlich plump in Holz geschnittene Abbildung eines Schiffes mit vollen Segeln, auf dessen Flagge zu lesen war: „Gebt das Schiff nicht auf.“ Nebenbei und darunter stand: „Eben veröffentlicht: die schauerliche und erstaunliche Geschichte der Fostina Woodman. Geschrieben und herausgegeben von Miß A. A. Burnham.“ Auf kleinerer Schrift war dann noch ein Salm darunter gedruckt, der deutsch etwa wie folgt lautete: „Der Gegenstand dieser wahrhaft interessanten Erzählung stammte aus S. in Massachusetts, wo sie bis zum Alter von neunzehn Jahren wohnte. Zu dieser Zeit wurde sie eine Waise, worauf ihre abenteuerliche Laufbahn begann, begleitet von so sehr befremdenden und mysteriösen Begebenheiten, wie sie nur jemals aufgezeichnet wurden. Nach dem Tode ihrer Eltern wurde sie der Sorgfalt von Fremden überlassen, welche kurz nachher mit dem Schiffe Essex (welches Schiff, wie die meisten unserer Leser sich erinnern werden, den Hafen von Boston im Juni 1849 verließ) nach Californien unter Segel ging; unsere Heldin folgte bald in der Verkleidung ihres Bruders, und ihre kühnen Heldenthaten, [799] beispiellos in den Annalen weiblicher Abenteuerer, sind vollständig in diesem Werke dargestellt, welches von der Verfasserin zu erhalten ist, die bald diese Karte abverlangen wird.“ Dann kam wieder mit fetter Schrift gedruckt: „Verkauft von der Verfasserin für den Preis von fünfundzwanzig Cents“ und darunter in Petit-Schrift hinter einer Hand: „Bitte, bewahren Sie die Karte, bis sie abverlangt wird.“ Man sollte also gefälligst die Karte aufbewahren, bis die beblaustrumpfte Verfasserin dieselbe abforderte.

Besagte Kartenabforderung ließ auch nicht lange auf sich warten, denn kaum hatte ich die erfinderische Ankündigung durchflogen, so präsentirte sich in unserem Wagen eine ziemlich phantastisch gekleidete, nicht hübsch, nicht häßlich zu nennende und weder zu jung noch zu alt erscheinende „Lady“, was bekanntlich alle Amerikanerinnen sein wollen, deren Gesichtszüge jene verschmitzte Einfalt oder dreiste Geradheit ausdrückten, die dem Yankeecharakter eigenthümlich ist. Miß Burnham reichte mir eine in rosafarbenen Umschlag geheftete Broschüre ungefähr wie eine Sache dar, die sich nur von der Hand weisen läßt, wenn man völlig darüber hinweg ist, was die Nachbarn von uns denken; ob sie uns für einen „Gentleman“ halten oder nicht; ob wir für einen Knauser, armen Schelm und dergleichen angesehen werden, oder für freigebig, galant, bemittelt u. s. w. Ist man vollends in gewissen verhängnißvollen Jahren, werden die Kopfhaare überhandnehmend grau, dann bleibt uns vollends nichts übrig, als freigebig zu erscheinen, wenn es irgend möglich ist, denn wir können dann eben nicht mehr mit der Jugend bezahlen, die es allenfalls verzeihlich macht, daß man knapp an Gelde ist. Von den Umständen eines deutschen Schriftstellers in Amerika hat nur dessen nächster Bekanntenkreis eine annähernd richtige Vorstellung, und mir war ungefähr so zu Muthe wie in meiner Jugendzeit, wenn der Klingelbeutel in der Kirche herumgetragen wurde und ich aus ärmlicher Tasche den Säckel der Geistlichkeit füllen helfen sollte. Ich zinste also mit Gedankensäure vermischt die fünfundzwanzig Cents für sechzig gedruckte Seiten in groß Octav, obgleich mir einleuchtete, es sei viel zu viel weißes Papier durch den Druck hier verdorben worden. Wer in fremden Ländern reist, muß nun einmal auf Anzapfungen gefaßt sein, und es bleibt immerhin vorzüglicher, wenn es durch Mitglieder des schönen Geschlechts geschieht, als wenn ein Buschklepper unter dem rohen Rufe: „Den Beutel oder das Leben!“ uns die Pistole auf die Brust setzt. Uebrigens muß ich der Miß Burnham alle Gerechtigkeit widerfahren lassen; sie begnügte sich damit, mir nur die Ankündigung eines zweiten ihrer geistreichen Werke zu überreichen, anstatt dieses selbst zu präsentiren. Für nur einen Schilling wurde da sehr Merkwürdiges geboten, unter der bescheidenen, lakonischen Ueberschrift: „Reich, genial und selten. Die Geheimnisse von Fort Hamilton, geschrieben von Miß A. A. Burnham, während ihrer Passage am Bord des Dampfers Chingarora.“

Bei einer andern Reisegelegenheit empfing ich aus der Hand eines schwarzgekleideten Herrn mit weißer Halsbinde ein Circular folgenden Inhalts: „Das Closet, oder die Morgen- & Abendgebetstunde. Jede Seite mit einem neuen Thema beginnend. Vom ehrwürdigen David Sly.“ Mir fiel hier das angebrachte kaufmännische & zuerst auf und machte mich Wissensfreundlichen stutzig; denn der Verdacht einer beabsichtigten Speculation auf Kopfumnebelung und Taschenerleichterung drängte sich mir unwillkürlich auf. Zudem hatte der Name Sly sein etymologisch Bedenkliches, und so erkundigte ich mich denn beim Conducteur näher über den Austheiler des Circulars, wodurch herauskam, daß es der ehrwürdige Verfasser in eigner Person sei, mithin an keine Mystifikation zu denken wäre. Durch meinen Kopf war gefahren, was Flügel in seinem Wörterbuch Erklärendes über „sly“ sagt, das mit: schlau, verschlagen, listig und sogar hinterlistig verdeutscht wird.

Getröstet durch des Conducteurs Bescheid, las ich im „Circular“ weiter: „Eine Appellation an das reisende Publicum,“ die in deutscher Übersetzung folgendermaßen lautete: „Menschen und Brüder, unsere beste Vertheidigung dieser Appellation ist: 1) Zum Besten einer andern Art von Lectüre, als die gewöhnlich auf unsern öffentlichen Durchfahrten (längern Reisen) umlaufende. 2) Während die Tendenz des Lesens von Romanen und Novellen auf Faulheit und Unkeuschheit hinausläuft, führt die Closet-Lectüre zur Tugend, zum Fleiß, Glück und Himmel. 3) Weil Closet-Andacht göttlicher Anordnung ist und den Keim zur ersichtlichen Gottesverehrung enthält. 4) Weil alle wahren Wiedererweckungen im Closet beginnen. Kurzum, es ist, um im Wesen dies süße System christlicher Thätigkeit in Hoffnung zu erwecken, besonders zur Sicherung der Generalausgießung des heiligen Geistes auf alles Volk, daß alle reisenden Bürger achtungsvoll eingeladen werden, ein Exemplar vom Closet zu nehmen und dadurch das Werk in ihren respectiven Familien und Kirchen einzuführen. Preis 121/2 Cents. Bitte, dies Circular zu behalten, bis es abgefordert wird.“

Mag man deshalb über mich noch so schlimm urtheilen, ich muß dennoch gestehen, daß von mir das „Closet“ nicht gekauft wurde und ich beim Erscheinen des Klingelbeutelträgers Sly den moralischen Muth hatte, mit dem Kopfe zu schütteln, was mir gegen Miß Burnham nicht gelang. Der ehrwürdige Eisenbahn-Buchhändler machte ersichtlich keine guten Geschäfte, vielleicht weil es in den Wagen unseres Zuges an entsprechenden Closets gänzlich mangelte und nur in etlichen derselben Water-Closets vorhanden waren, deren Frequenz zum Ueberfluß Closet-Einsamkeit ausschloß. Vielen Spaß machte es mir, der Unterhaltung zuzuhören, die ein unfern von mir sitzender alter Yankee mit dem ehrwürdigen Sly pflog und welche am Ende mit der runden Erklärung schloß: „Ich gehöre zu einer Gesellschaft, die sich Verbreitung von Wahrheit und Aufklärung zur Aufgabe gemacht hat. Wir sind übereingekommen, den Dunkelmännern allerwärts entschieden entgegenzutreten, weil sie unsere Republik in’s Verderben bringen können.“
Lokia. 




Blätter und Blüthen.

Die Blumenmalerin von Altona. In Altona war es und im Jahre 1794. In einem bescheidenen Zimmer, mit der Aussicht auf die Elbe, saß eine Frau mittleren Alters und malte bunte Blumen auf ein vor ihr liegendes Blatt Papier. „Nicht zu fleißig,“ sagte ein stattlicher Herr, der neben ihr stand, Herr Wengraf, der Besitzer einer Altonaer Kattunfabrik, „und unterdrücken Sie das Heimweh.“ Darauf ging er. Madame Felicie aber, so nannte man unsere emsige Blumenmalerin, sank in einen Stuhl und dachte an Frankreich, ihre Heimath, an Paris, an Versailles, und ihr Herz bebte vor Schmerz. Sie war eine Emigrantin, die, wie so viele ihrer Landsleute, die Revolution aus Frankreich vertrieben hatte.

Arm war sie nach Altona gekommen. Hier wollte sie unter dem Namen „Madame Felicie“ leben und sich mit der Blumenmalerei für Wengraf’s Kattunfabrik ihren Unterhalt erwerben. Ihren wahren Namen zu nennen, verbot ihr der Stolz der Aristokratin, denn auch sie gehörte dem alten französischen Adel an; nicht einmal ihre Landsleute, deren sich gegen vierzigtausend in und um Hamburg aufhielten, sollten von ihr erfahren; arbeiten wollte sie und in der Einsamkeit auf glücklichere Tage hoffen.

Wacker ertrug sie ihr Geschick; hätte sie nur ihre Harfe nicht zurücklassen müssen, das Instrument, das sie mit Meisterschaft spielte, wie zu ihrer Zeit kaum Jemand sonst! Während des Sonnenscheins half die Arbeit wohl über Alles fort, aber mit den langen, trüben Abenden stellten sich auch die trüben Gedanken ein und immer größer wurde die Sehnsucht nach der Harfe. Sie war ein Geschenk des Königs Ludwig’s des Sechzehnten gewesen, der gar oft ihrem Spiele in Bewunderung gelauscht hatte. Diese Tage konnte Felicie nicht vergessen. Je öfter sie daran zurückdachte, je mächtiger wuchs ihr Verlangen nach dem Instrumente. So stand sie manchen Abend trauernd am Fenster, auch heute wieder – da plötzlich bebte sie zusammen und schrie vor freudiger Ueberraschung laut aus, denn im Hause gegenüber ertönte Harfenspiel. Sie vergaß, daß sie in Altona unbekannt bleiben wollte; sie warf ein Tuch über die Schultern und eilte hinüber.

Am nächsten Tage sehen wir einen Mann nach Hamburg wandern. Es ist Portales, der frühere Secretair des früheren Ministers Dumouriez. Er pflegte sein Mittagsmahl bei einer Wittwe zu nehmen, deren Tochter ein wenig auf der Harfe zu klimpern verstand. Das waren die Leute, zu denen Felicie in’s Zimmer stürzte. Sie spielte dort stundenlang; den Hörern drängten sich Thränen in die Augen. Portales erkannte schon an der Spräche die Landsmännin, die wieder forteilte, ohne ihren wahren Namen zu nennen, aber er rief aus: „So kann nur eine Dame Frankreichs, nur die Gräfin von Genlis kann so spielen. Stets war es mein Wunsch, sie auf der Harfe zu hören; ach, nur Denen jedoch, welche die Tuilerien und Versailles betreten durften, ward diese Gunst zu Theil. Aber ganz Frankreich liebt die Gräfin ob ihrer Kunst. Morgen gehe ich zu Dumouriez. Ihm ist es ein Leichtes, Licht zu bringen in das geheimnißvolle Dunkel, mit dem sich die sogenannte Madame Felicie umgiebt. Es wäre eine Schande für jedes französische Herz, wenn sich die Gräfin durch geisttödtende Handarbeit kümmerlich durch das Leben schlagen, wenn sie gar darben müßte!“

Und Portales kam zu Dumouriez – und Dumouriez kam zu Georg Sieveking, dem Rothschild Hamburgs, dem Freund der hervorragendsten Emigranten. Beaumarchais, der Dichter des „Figaro“, General Valence, die Gräfinnen Rochefoucauld, Choiseul und Vergennes waren seine täglichen [800] Gäste. Seine Salons hatten Weltruf wie seine Handelsunternehmungen; zwei Agenten kauften für das Haus Sieveking ein französisches Nationalgut nach dem andern, und in London gehörten ihm zwei Häuser in der City.

Dumouriez’s Bericht rief einen wahren Sturm hervor. Eine Muthmaßung jagte die andere, aber man wollte Gewißheit. Waren die Blumenmalerin und die Gräfin Genlis, die schöne Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orleans, die bekannte geistvolle Schriftstellerin, die erste Harfenspielerin ihrer Zeit, wirklich eine Person, so hatte Sieveking einen Plan im Sinne, den er seiner Frau, einer Tochter des unsterblichen Reimarus, anvertraute und der eines Crösus würdig war. Also am andern Morgen nach Altona! Nicht nur Dumouriez erbot sich den Kaufherrn und seine Frau zu begleiten, auch die übrigen Emigranten, welche früher mit der Gräfin Genlis verkehrt hatten, wollten von der Partie sein.

In zwei Wagen machte man sich auf den Weg. Bald hatte man das niedrige Haus erreicht und stieg seine schwindelige Treppe hinauf. Vor einem Tische saß Felicie. Fertige Zeichnungen deckten den Tisch; vor ihr lag eine Skizze, über deren Ausführung sie eben nachsann, während die Gedanken in’s Weite hinausflogen. Sie hatte den Ellbogen gestützt, um über die Vertheilung ihrer Blumen und Ranken nachzusinnen – und sie dachte an die Veilchen und Rosen im Garten zu Roucou, ihrer heimathlichen Besitzung. Da pochte es.

Die Gräfin Rochefoucauld war die Erste in der Stube. Ein Blick, ein Schrei hüben und drüben – Felicie, Gräfin von Genlis, war einer Ohnmacht nahe. Alle sprangen zu ihrer Stütze herbei; nachdem sie sich von der Erregung erholt, sagte sie: „Unbekannt und still wollte ich hier als Blumenmalerin für das Geschäft des Herrn Wengraf bis zu dem Tage leben, wo Frankreichs Stern wieder …“

Da traten Georg Sieveking und seine Gattin vor. „Um Vergebung, Frau Gräfin,“ begann der Kaufmann und nannte seinen und seiner Frau Namen, „in meinem Salon sollen Sie erfahren, wie wir Sie und Ihren traurigen Aufenthalt entdeckten. In meinem Musikzimmer steht eine Pariser Harfe, die fortan die Ihre ist.“

In Felicien regte sich der Stolz. „Meine Herrschaften,“ versetzte sie, „ich finde es weit ehrenhafter, von der Arbeit zu leben, als im Müßiggange.“

Aber Sieveking faßte ihre Hände und sagte: „Blumenmuster für eine Kattunfabrik zu malen, das ist keine Arbeit für Ihren Geist. Es wird eine Zeit kommen, wo die Sonne des Glückes wieder über Frankreich aufgehen wird. Für diese Zeit müssen Sie von heute ab in Hamburg thätig sein. Mein Vorschlag ist der: Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß ich einige der sogenannten Nationalgüter durch Kauf an mich brachte. Jetzt gedenke ich auch Schloß und Felder von Roucou zu erwerben. Sie gehörten Ihnen, bis das Volk sie an sich riß. Aber ich müßte ein herzloser Mensch sein, wollte ich, nachdem ich die Bekanntschaft der rechtmäßigen Besitzerin gemacht, den vollen Gewinn für mich behalten. Nein, Frau Gräfin, meine Ehre gebietet, den Gewinn zu theilen, und von diesem Theile leben Sie fortan in Hamburg, schreiben Ihre Werke, bis Frankreich wieder zur Ruhe gekommen ist. Dann kehren Sie in’s Vaterland zurück, dann werden Sie mit Ihren Werken Tausende erwerben, dann kaufen Sie mir das Schloß Roucou wieder ab. Nicht wahr,“ fügte er lächelnd hinzu, „ich bin doch ein Rechenmeister comme il faut?“

Auch Felicie mußte lächeln über den – schlechten Rechenmeister. Wie zart wurde die Wohlthat geboten! Mit einem Blicke voll Dankes sank sie in Frau Sieveking’s offene Arme. Sogleich eilte Sieveking zu Wengraf und löste die Blumenmalerin von dem bindenden Contracte. Dann ging’s nach Hamburg zurück. Ein Jahr darauf siedelte Frau von Genlis nach Berlin über. Dort blieb sie, bis über Frankreich die Sonne ihres Glückes wieder aufging; dann kehrte sie in die Heimath zurück und sah noch, nachdem sie der neunzig Bände von Jugendschriften, Romanen und Memoiren verfaßt, den Mann den Thron besteigen, über dessen Kindheit sie gewacht hatte – Louis Philipp.




Handeln die Thiere nur nach Instinkt, oder auch mit Ueberlegung, Vorbedacht und Berechnung?
Einer meiner Freunde hatte einen jungen Fuchs aufgezogen und dergestalt gezähmt, daß ihm derselbe auf Spaziergängen durch Wald und Feld so getreu folgte, wie ein Hund. Bei aller Zahmheit konnte der Fuchs aber sein Gelüste nach frischen Hühnern doch nicht völlig bezwingen und machte, um sich diesen Genuß zu verschaffen, nicht selten nächtliche Exkursionen nach den benachbarten Hühnerställen, indem er die etwa sechs bis sieben Fuß hohe Umfriedigung des Hofes übersprang und sich einen leckern Braten aus der Nachbarschaft holte. Einige Male wurde der Schelm bei seinen Räubereien ertappt, und meines Freundes Geldbeutel mußte für den Strauchdieb büßen. Um diesem sein sauberes Handwerk zu legen, band mein Freund ihm in meinem Beisein einen etwa anderthalb Fuß langen und zwei Zoll dicken Knüttel am Halsbande fest, der, indem er zwischen die Läufe zu hängen kam, ihn wesentlich im Springen hindern mußte. Darauf wurde Meister Reinecke aus dem Stalle und in den Hof gelassen. Wir begaben uns hinaus in’s Zimmer, um ihn von dort aus zu belauschen. Er lief, offenbar sehr ärgerlich über das Hemmniß, mehrmals den Hof auf und ab. Dann blieb er stehen und betrachtete den Knüttel sehr nachdenklich, faßte ihn und warf ihn entrüstet zur Erde. Aber was konnte das helfen? Hierauf setzte er zu dem gewöhnlichen Sprunge an, doch umsonst; denn der Knüttel kam ihm dabei zwischen die Läufe und er kugelte wieder herunter, ohne sein Ziel erreicht zu haben.

Gleich darauf ein zweiter, ebenso vergeblicher Versuch. Was that der Schelm nun? Er betrachtete nochmals mit prüfenden Blicken lange Zeit den fatalen Knüttel, dann zog er ihn hervor, nahm ihn zwischen die Zähne und machte, den Knüttel hoch tragend, aus freier Hand mehrere Sprünge zur Probe, frei in die Luft. Mit einem Male, den gehörigen Anlauf nehmend und den Knüttel hoch im Maule tragend, flog er mit einem sichern Sprunge über die Hofmauer, und fort war er. –

Mein Hühnerhund, der mein täglicher Stubengenosse ist, hat eine große Passion, jeden auf die Diele des Zimmers fallenden Sonnenstrahl wahrzunehmen, um sich dort niederzulegen. Vor einigen Tagen stehe ich, mich rasirend, vor dem Spiegel und höre zu meiner Verwunderung – denn ich war allein im Zimmer – einen Stuhl rücken. Was gewahre ich durch den Spiegel? Durch das Fenster, über meinen Schreibtisch hinweg, fällt die Sonne unter einen Stuhl. Daneben steht mein Perdrix und schiebt mit seinem Rücken den Stuhl und zwar sehr vorsichtig und anständig, indem er sich von der Seite gegen den Sitz lehnt, allmählich so weit zur Seite, bis der von der Sonne beschienene Raum vollständig frei ist, auf dem er sich nun gemächlich niederstreckt. Ist das nur Instinct?
V. 




Der Dichter der Gartenlaube. Bei der herannahenden Festzeit dürfte es manchem der Leser unsers Blattes, der auf eine sinnige zugleich und elegante Christspende für Gattin oder Schwester, für Geliebte oder Braut sinnt, gewiß eine willkommene Mittheilung sein, daß von Albert Traeger, dem Dichter der Gartenlaube, so eben eine mit manchem neuen und schönen Liede bereicherte vierte Auflage der Gedichte und zwar in so reichem Kleide erschienen ist, daß das Buch auch äußerlich sich neben den stattlichsten Weihnachtsgaben nicht zu schämen braucht. In einer der nächsten Nummern denken wir ausführlich auf den Inhalt dieser neuen Auflage zurück zu kommen.



Als Weihnachtsgeschenke empfohlen.

Bernstein, A., Vögele der Maggid. Eine Geschichte aus dem Leben einer kleinen jüdischen Gemeinde. Bernstein, A., Vögele der Maggid. …. Eine GeschichteIn engl. Cartonnage 271/2 Ngr.

Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. 5. Aufl. broch. 1 Thlr. 221/2 Ngr., eleg. geb. 2 Thlr.

Bock, Supplement-Band zu allen Ausgaben von Bock’s Buch à 221/2 Ngr.

Gartenlaube, 1859. 1860. 1861. 1862. 1863 broch. à 2 Thlr., eleg. geb. in gepreßter Decke à 22/2 Thlr.

Gerstäcker, Gemsjagd in Tirol Mit 34 Illustrationen. eleg. broch. 3 Thlr. 10 Ngr., in engl. Preßdecken 4 Thlr. 5 Ngr.

Saphir, M. G., Wilde Rosen. Dritte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 2 Thlr. 15 Ngr.

Stolle, Palmen des Friedens. Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise. Zweite Auflage, eleg. geb. 1 Thlr. 10 Ngr.

Stolle, ausgewählte Schriften. Volks- und Familienausgabe. 30 Bände. Zweite Auflage, broch. à Band 71/2 Ngr.

Stolle, Ein Frühling auf dem Lande. broch. 271/2 Ngr.

Storch, Gedichte. eleg. cart. 1 Thlr. 6 Ngr., prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

Storch, ausgewählte Romane und Erzählungen. Volks- und Familienausgabe. 19 Bde.broch. à Bd. 71/2 Ngr.

Storch, ein deutscher Leinweber. 12 Bde. broch. à Bd.. 71/2 Ngr.

Traeger, Gedichte. Vierte, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 11/2 Thlr.

Carl Maria v. Weber. Ein Lebensbild von Max Maria v. Weber. Zwei Bände. Mit Portrait. broch. 5 Thlr. 10 Ngr.