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Die Gartenlaube (1864)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[753]
Er kommt nicht.
Erzählung von Karl August Heigel.
1.

Eines Tages erinnerte sich der reiche Gustav Flemming seiner Heimath. Es war im Juli; die Adeligen, die Banquiers und großen Industriellen, die Schauspielerinnen und Sängerinnen der Residenz waren an die Nord- und Ostsee, an den Rhein und in die Alpen gezogen. Im Casino vernahm Gustav täglich die Abreise dieses und jenes seiner Bekannten; selten noch, daß bei Tische „eine Flasche kalt gestellt“ und Abends eine Bank gelegt wurde. So ereignete es sich, daß er einmal vor Mitternacht nach Hause kam und am folgenden Morgen um acht Uhr schon zu seines Grooms Verwunderung nach dem Frühstück schellte. Und während er mit verdrießlicher Miene den Kaffee schlürfte, beunruhigte ihn der Gedanke, daß es heute, morgen und in den nächsten Wochen nicht anders sein werde; daß die „famosen“ Kerle alle fort; daß es in der Residenz langweilig sei … und da fiel ihm das bescheidene Waldkirchen in der Provinz, seine Geburtsstadt, und seine Mutter ein. Er beschloß, beide mit seiner Gegenwart zu beglücken. Während der Groom die Koffer packte, schrieb der junge Herr an seinen Freund Buttler, um ihn zum Mittagsmahle einzuladen.

Um neun Uhr Abends servirte Gustav’s Diener den beiden Herren den Kaffee. Die Fenster des Gemaches gingen nach dem Thiergarten. Sie waren geöffnet und die laue Luft strich in das Gemach. Gustav hatte sich auf einen Divan hingestreckt und sah gedankenlos nach der Mondsichel über den Bäumen. Sein Freund Buttler, eine lange, dürre Gestalt mit kahlem Kopf und vollem Rothbart, saß ihm gegenüber und rauchte.

„Und Du bist wirklich entschlossen,“ begann der Letztere, „heute nach Dings da – wie heißt es doch? – zu reisen?“

„Hm – ich denke.“

„Du wirst Dich entsetzlich langweilen.“

„So fürchte ich.“

„Warum bleibst Du dann nicht hier?“

„Ich langweile mich hier – dort – ich fange an, mich überall zu langweilen … Wenn das so fortgeht, schieß’ ich mich todt.“

Buttler lächelte überlegen. „Nein, Freundchen,“ sagte er, „wenn das so fort geht, wird eines Tages Dein Geld alle sein, und Du wirst Sorgen und Schulden haben, und damit fängt man erst zu leben an.“

„Du sprichst aus Erfahrung.“

„Wie immer,“ erwiderte Buttler und blies geringelte Rauchwölkchen in die Luft. Nach einer kurzen Weile begann er wieder: „Sind hübsche Weiber in Dings da?“

Gustav gähnte, dann erwiderte er: „Hm, ja – ’s ist lange her, daß ich in Waldkirchen war, und damals war ich ein blöder Junge – aber ich denke, es sind welche dort.“

„Und Du kannst sie mir nicht an den Fingern herzählen?“

„Ich sagte Dir ja, es sind drei Jahre, seit ich Waldkirchen verlassen. Vor drei Jahren war ich einundzwanzig alt und erröthete noch und schlug die Augen nieder, wenn ich mit einer Frau allein war.“

„Das ist der Unterschied zwischen Euch Provinzialisten und uns geborenen Großstädtern: Ihr seid einmal blöde gewesen, was man von uns niemals behaupten kann. Das ist aber auch Alles! Jetzt bist Du nicht anders, als irgend Einer von uns, die wir mit vierzehn Jahren ein pince-nez! und eine Liaison hatten. Freilich, ob Deine Frau Mama mit diesen Fortschritten zufrieden sein wird, das ist die Frage.“

„Bah,“ sagte Gustav wegwerfend, „meine Mutter findet Alles an mir gut und schön. Ich bin ihr die Strahlenkrone der Schöpfung; meine nobeln Passionen findet sie so natürlich; meinen Hang zum Nichtsthun weiß sie besser als ich selber zu entschuldigen. Ich glaube, wenn ich eines Tages die Sterne verlangte, so würde sie sich, trotzdem sie eine fromme Frau ist, über den lieben Herrgott wundern, daß er mir nicht sämmtliche Fixsterne zur Verfügung stellt.“

„Himmel! wenn ich nur auch eine so nachsichtige, einzige Mutter hätte, die meinen Lebenswandel moralisch finden und meine Schulden bezahlen würde. Aber, Freundchen, die Engelsgeduld Deiner Frau Mama in Ehren, rathe ich Dir doch, Dich nicht auf Specifikation Deiner Rechnungen einzulassen, denn wenn sie die verschiedenen Shawls, Spitzen und Roben für …. die Georgette vom Opernhaus zu lesen bekommt –“

Gustav zupfte ungeduldig an seinem winzigen Schnurrbart. „Sie wird sie bezahlen,“ sagte er und blies die Backen auf.

„Ja, aber sie wird Dich verheirathen.“

Diese ironische Warnung, so trockenen Tones sie gegeben ward, nahm Gustav all die gute Lauue, mit der man nach einer trefflichen Mahlzeit auf elastischen Polstern die Glieder dehnt. Schon vom Wein geröthet, wurde er jetzt purpurn im Gesicht und sprang voll Entrüstung empor. „Mich verheirathen?“ rief er. „Bin ich ein Backfisch? Komme ich aus einem Mädchenpensionat? Ich heirathen? Niemals!“

Er streckte wie zur Abwehr anstürmender Mütter, Tanten und heirathsfähiger Basen den Arm aus und schwor, daß er sich lieber todtschießen als verheirathen wolle. Ja, so tief empörte ihn das [754] Ansinnen, welches er schon nicht mehr als freundschaftlichen Fingerzeig, sondern wie eine unmittelbare Drohung behandelte, daß er für seinen Widerspruch ein Dutzend und mehr Gründe aufzählte; thörichte, unlautere Einwürfe, wie sie junge Taugenichtse und alternde Junggesellen gegen die Ehe vorzubringen pflegen.

Der Groom trat in’s Zimmer und meldete, daß angespannt sei. „Gut,“ sagte Flemming, indem er sich erhob. Nachdem er den Hut aufgesetzt und eine Cigarre angezündet hatte, reichte er Buttler einen Finger zum Abschied hin.

„Nimmst Du Deinen Groom mit?“

„Nein,“ erwiderte der Andere und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ich will meiner Mutter ihren Sohn, aber keinen Spitzbuben in’s Haus bringen. Ich empfehle Dir meinen Groom und meine Freundin Georgette; Beide sind mir gleich theuer.“

„Soll ich Dich zum Bahnhof begleiten, oder vielleicht erst Georgette abholen und mit ihr von Dir Abschied nehmen?“

„Bah; ich mache ja nur eine Landpartie, weiter nichts. In vier Wochen bin ich wieder hier.“

„Wie lange fährst Du nach Dings da?“

„Um acht Uhr Morgens bin ich an Ort und Stelle.“

„Glückliche Reise denn!“

„Adieu!“

Sobald Flemming die Thür hinter sich geschlossen hatte, nahm Buttler, der in des Freundes Wohnung sich’s heimisch zu machen pflegte, als wäre es seine eigene, den bequemeren Platz auf dem Divan ein. „Geh’ zum Geier,“ murmelte er zwischen den Zähnen, „Du eitler, thörichter Bursche, geh’ zum Geier! Ohne Dein Geld könntest Du immer und ewig in Krähwinkel bleiben. Ah, warum sind die Reichen so selten gescheidt, und wir Klugen selten reich …?“

Flemming trat aus der Hausthür in’s Freie und schritt durch den Vorgarten dem Wagen zu. Ein leichter Schwindel befiel ihn, auch waren seine Füße schwer und ungeschickt. „Gustav,“ sprach er mit sich selbst, „Du wirst doch zwei Flaschen Sekt trinken können, ohne – ohne –“ Er blieb stehen und ließ seine Cigarre zur Erde fallen; mit starrem Blick, vorgebeugt, betrachtete er sie sodann.

„’S ist merkwürdig,“ sagte er plötzlich laut, wie aus tiefsten Gedanken … Als er endlich bei seinem Einspänner angelangt war, drohte er, den Groom, der mit pfiffig ernstem Gesicht am Kutschenschlag stand, aus dem Fenster zu werfen, wenn er noch einmal über ihn lache, schnalzte dem Kutscher zu und fuhr dann durch die langen Straßenzeilen und wogendes Menschengedränge, mit ziemlich unklarem Bewußtsein, wohin es ging.

Halb im Schlaf kam er am Bahnhof an; bald darauf, in einen heißen, trüberleuchteten Waggon geschoben, hörte er den schrillen Pfiff der Locomotive und fühlte die erste, sacht anwachsende Bewegung, wobei er nach wenigen Minuten schon in festen Schlummer sank … So ward Gustav Flemming durch dunkle Forste und mondbeglänzte Haidegründe, an dunstenden Städten und stillen Dörfern vorüber, so ward er, von wüstem Gelag halbtrunken, im dumpfen Schlemmerschlaf, seiner Heimath, seiner Mutter entgegengeführt.

Aber der Traum, der ihm nahte, war edler als sein Schlaf. Er träumte von den Tagen, da er ein Besserer, da seine junge Seele von schnöder Eitelkeit, entnervenden Genüssen und falscher Freundschaft noch nicht entweiht war. Er träumte jetzt, was er einst erlebt hatte.

Vor sein inneres Gesicht trat ein Mädchen mit dem Rosenhauch von siebzehn Jahren auf dem Antlitz und unschuldiger Schwärmerei in den braunen Augen, von jungfräulich schlankem Gliederbau, zart und geschmeidig, märchenhaft und doch vollendet in der Form, von glänzend frischen Farben, heiter und träumerisch im Wesen, blond, schön, wie die Madonna einen mystischen Künstlers … Im wohlbekannten Garten seines Elternhauses sieht er sie. Hinter dichtem Gebüsch steigt ein Pavillon empor, und von dorther tönt Musik und fröhlicher Lärm. Sie aber wandelt wie eine einsame Fee zwischen den Blumenbeeten. Ja, wie eine Fee; Gustav zieht es zu ihr mit unwiderstehlicher Sehnsucht, und hinwieder hält er zitternd still, als müßte die glänzende Erscheinung zerfließen oder zum lichten Abendhimmel entschweben, wenn er sie anruft. Sie aber sieht den Zaudernden nahen und wendet sich nicht ab. Und jetzt steht er mit klopfendem Herzen vor ihr … Elise, spricht er, o du dreimal gesegneter Traum, der den Verirrten nach Jahren wieder diesen Namen lehrte! Elise, fragt er, warum verläßt du uns? … Ich liebe das Lied der Nachtigall mehr, als den Reigen, antwortet sie; ich liebe traute Einsamkeit und stille Gedanken … Und wenn du allein bist, bin ich in deinen Gedanken? … Sie antwortet nicht, aber ihre Hand wehrt ihm nicht, da er sie erfaßt, und ihre Lippen erwidern ihm den ersten Kuß, da er, sein nicht mehr mächtig, das holde Mädchen an’s Herz zieht; in heiliger Schwäche, in Ohnmacht der Sinne, über die ein Engel seine Flügel schirmend breitet, schluchzt sie an des Jugendgespielen Brust, und er, vor wenig Augenblicken noch ein Knabe, jetzt ein zukunftsstolzer Mann, schwört ihr, ein guter Mensch zu werden, sie zu lieben und ihr treu zu sein bis in den Tod.

So träumte Gustav eine selige Stunde, die er vor vier Jahren gelebt hatte. Und die schnaubende, funkenstiebende Maschine brachte ihn unterdessen den heimathlichen Gauen, dem elterlichen Garten, brachte ihn Elisen näher und näher. Am wolkenlosen Horizont tauchte die Sonne empor und beleuchtete den Jüngling, der in der Wagenecke, das Haupt an die Polster gedrückt, den Hut in der Hand, schlummerte. Jetzt, wo das rosige Frühlicht die Blässe der Wangen und die leisen Spuren eines leichtfertigen Lebens verbarg, sah er gut und hübsch aus, wie zur Zeit, da er zum ersten Mal durch dieselbe Gegend der Residenz entgegenfuhr. Hochaufgeschossen, aber nicht breitschulterig von Gestalt, hatte er ein Gesicht, das für sich einnahm, ohne regelmäßig und schön zu sein; länglich, mager und von zartem Teint. Die Lippen waren vollblütig und aufgeworfen; die Nase gerade mit weiten Flügeln; die Augenbrauen nicht dicht, doch wohl gewölbt; die Stirn hoch, und breit die Schläfe. Das dunkelbraune, kurzgeschnittene Haar kräuselte sich leicht.

Die Morgenfrische, die durch das offene Wagenfenster strich, weckte ihn endlich. Er sah verwundert um sich, gähnte, rieb die Augen und sammelte die Gedanken. „Wahrhaftig,“ sagte er bei sich, „ich muß gestern betrunken gewesen sein.“

Ihm gegenüber saß eine greise Dame und schlief. Ihre dürren Hände, die gestrickte Halbhandschuhe trugen, lagen wie im Gebet gefaltet auf dem Schooß. Sie hatte einen altmodischen Hut von gelber Seide auf und eine blaßgrüne, spitzenbesetzte Echarpe um die Schultern. Außer ihr und Gustav befand sich Niemand im Coupé. Gustav, immer bemüht, vor sich wie vor Andern den Don Juan zu spielen, murmelte, nachdem er zur Musterung seiner Nachbarin das Augenglas eingeklemmt hatte, eine Verwünschung alter Weiber und langweiliger Gesellschaft zwischen den Zähnen, lächelte hochmüthig über die wunderliche Tracht der Alten und lehnte sich sodann weit aus dem Wagenschlag.

Der Zug rollte in voller Eile durch einen Buchenwald. Aus dem Gehölz heraus führte eine langgestreckte Steinbrücke über einen breiten, ruhig gleitenden Fluß. Unweit der Brücke begann dieser in weitem Bogen sich zu krümmen, während die Schienen in gerader Linie durch fruchtbares, wohlgepflegtes Ackerland einem Städtchen mit zwei Kirchthürmen entgegenliefen.

Gustav’s Herz begann plötzlich laut zu klopfen, und das Blut schoß ihm in die Wangen. Die Stadt vor ihm war seine Vaterstadt!

Und ein Gefühl, das er seit Jahren nicht erfahren, ein Gefühl wonnigen Weh’s überkam ihn. Erschüttert, dem Weinen nah, lehnte er sich in den Wagen zurück, und als jetzt sein Auge die fremde Greisin traf, blickte er sie voll Ehrfurcht an – er war seiner Mutter nahe!

Eine Viertelstunde später lag er in den Armen einer blassen, alten Frau, mit ihr schluchzend wie ein Kind … Ihr, die Ihr nach langjähriger Trennung Euere Mutter wiedersaht, Ihr kennt das Gefühl solcher Stunde. Wenn Ihr anderswo Weib und Kind, Haus und Heerd, Reichthum und Freudenfülle besitzet, in dem Augenblick, da Euer Herz am Mutterherzen ruhet, da Ihr – hochgewachsene Männer – Euch „Kind“ nennen höret, ist Euch, als wäret Ihr die Zeit bisher doch nur in der Fremde gewesen und erst jetzt wieder im wahren Daheim. Und wenn Gustav Flemming ein Schlechterer noch, denn ein Müßiggänger, Verschwender und eitler Sinnenmensch, wenn er mit Verbrechen beladen zurückgekommen wäre, in jenem Augenblick heiliger Umarmung hätte der ewige Richter im Himmel gesprochen: Geduld mit ihm!




[755] Die Marktstraße durchschnitt Waldkirchen von Osten nach Westen in zwei Hälften. Am westlichen Ende dieser Straße stand das Haus der reichen Holzhändlerswittwe Frau Flemming in einem schönen, großen Garten, der sich bis an den Fluß erstreckte. Als die Nachmittagssonne heiß auf dem Pflaster lag, schlenderte Gustav im erhebenden Bewußtsein, gegenwärtig das Gespräch sämmtlicher Kaffeekränzchen in Waldkirchen zu sein, den Hut keck auf’s rechte Ohr gestülpt und mit einem Reitstocke fuchtelnd, durch die breite, stille Straße. An der Ecke, wo sie zum Marktplatz sich kreisförmig erweitert, stürzte der Kaufmann Marowsky, von der Ahnung einer aufblühenden, fruchtbaren Kundschaft getrieben, aus seinem Laden auf den Löwen des Tages los und nöthigte Herrn Flemming über seine bescheidene Schwelle, um eine Flasche gezehrten Ober-Ungars auf des Herrn Flemming glückliche Ankunft zu trinken. Gustav, der sich vom gesprächigen Kaufmann eine bedeutende Bereicherung seiner Localnotizen versprach, nahm die Einladung herablassend an und schritt durch den Laden in das gewölbte, kühle Weinstübchen, dessen Tapete, eine Rebenlaube mit ungeheuern Trauben darstellend, ihm vor drei, vier Jahren als der Triumph der Tapeziererkunst gegolten.

Mit einer Art jovialer Majestät lehnte er dann im Ledersopha unter den Bildnissen Ihrer Majestäten. Er war mit sich, wie mit Gott und der Welt zufrieden. Selbst die Gesichter der zwei Ladenburschen, die am Guckfenster der Thür abwechselnd auftauchten, störten ihn nicht, denn er las auf ihnen die aufrichtige Bewunderung seines englischen Sommeranzugs und seiner blauseidenen Halsbinde.

Aber trotz der behaglichen Stimmung lastete eine Frage auf seinem Herzen, die er nicht bei seiner Mutter, nicht jetzt beim redseligen Krämer auszusprechen wagte: „Was macht des alten Reiser Kind Elise?“ Der Name derjenigen, deren Bild, entweiht und vergessen im Wirbel der Residenz, jetzt mit alter Macht und neuem Zauber in ihm erwacht war, wollte nicht über seine Lippen. Es bedrängte ihn ebenso sehr falsche Scham, sich ihrer zu erinnern, wie heimliche Reue, sie vergessen zu haben.

„Geduld!“ sagte er sich im Innern, „Du hast ja Zeit. Ich wette, das gute Mädchen stellt sich heute oder morgen selbst bei meiner Mutter ein, und wenn sie noch immer so hübsch ist –“

„Aber Sie trinken ja gar nicht,“ unterbrach Marowsky seine Gedanken. „Hat Sie der Tod des alten Palm oder die Heirath von Bürgermeisters Anna so nachdenklich gemacht? Ja, ja, in drei Jahren kann sich vieles ändern. … In den nächsten Tagen werden wir wieder die Todtenglocke läuten hören: Komm’ her! komm’ her!“

„Liegt Jemand im Sterben?“

„Ja, eine blutjunge, schöne Frau – Sie brauchen nicht zu erschrecken; es ist keine Waldkirchnerin; sie kam von auswärts. Aber ihren Mann, dem Gott verzeihen möge, den Doctor Oldenburg, kennen Sie.“

„Den Literaten?“

„Ja, den Sohn des verstorbenen Pastors, der vor sieben Jahren von hier fort und, anstatt unter die Theologen, unter die Literaten ging, den meine ich.“

„Seit wann ist der wieder hier? Damals machte man ja ein Geschrei und Aufhebens von ihm, als ob er der zweite Goethe wäre. In der Residenz freilich hörte und las ich von dem neuen Wunder nichts.“

Der Kaufmann schenkte seinem Gaste und sich die Gläser voll. „Was ich Ihnen jetzt erzähle,“ begann er, „bleibt unter uns; denn Sie werden einsehen, daß ich es mit dem Doctor nicht verderben darf. Er ist mein Kunde, und mehr noch, er schreibt eine Zeitung. Was nun den Rumor betrifft, den er hier machte, als Sie noch in die Schule gingen, so glaube ich, daß sein Lockenkopf und blonder Bart mehr dazu wirkten, als seine Verse. Er war und ist heute noch ein bildschöner Mann, fünf Fuß, elf Zoll hoch, breitschultrig, mit einem Paar Augen, in deren Himmelblau die Hölle brennt. Kurz, unser Frauenvolk war vernarrt in ihn, und weil es bei ihnen im Guten wie im Bösen, im Für und Wider immer aus dem Vollen geht, mußte der schöne Heinrich auch ein Genie sein. Zuletzt bildete er sich selber ein, ein Phönix zu sein, und ging nach der Residenz, um ein berühmter Mann zu werden. Wie es ihm dort, wo viele Vögel singen, ergangen, weiß man nicht. Er war lange Zeit wie verschollen. Eines Tages kam er wieder in Waldkirchen an, nicht reich, nicht berühmt, aber, was seine ehemaligen Gönnerinnen am meisten verdroß, verheirathet. Sie wurden meine Nachbarn; da drüben im rothen Roß wohnen sie nun zwei Jahre schon. Er machte dem Bürgermeister, dem Kreisrichter und andern Honoratioren seinen Besuch, und drei Wochen nach seiner Ankunft erschien zum ersten Mal die ,Waldkirchener Morgenzeitung, redigirt von Doctor Heinrich Oldenburg’.“

Marowsky reichte Gustav ein Exemplar der Zeitung hin, das dieser jedoch mit vornehmer Geringschätzung zurückschob, indem er bemerkte, daß er für Politik ganz und gar kein Interesse habe.

„Uns war es Wasser auf die Mühle,“ fuhr der Kaufmann in seiner Erzählung fort. „Nun hatten wir außer dem Kreisblalt und den drei Exemplaren der Vossischen, welche hier gehalten werden und nach vier Wochen in die letzte Hand gelangen, unser eigenes Organ. Jede Nummer war ein Feuerbrand. Abends debattirten über den Leitartikel vom Morgen drüben im rothen Roß die Fortschrittsmänner, bei mir die gemäßigt Liberalen und in der Theegesellschaft beim Major Falkenstein die Reactionären. Oldenburg ließ sich wenig sehen; er schrieb Tag und Nacht, hatte sein Auskommen und war wieder der Phönix. Seine Frau, der man die Güte und Sanftmuth zehn Schritte weit ansieht, führte einen musterhaften Hausstand; immer um ihren Gatten besorgt, geräuschlos thätig, nie recht gesund, aber niemals klagend. Soweit wäre nun Alles gut gewesen. Da lassen sich Oldenburgs im vergangenen Winter zu ihrem Unglück überreden, einen Ball im rothen Roß mitzumachen. Die Frau Doctorin sah wie ein Engel aus, aber unseres Apothekers Tochter, Mamsell Reiser, war doch schöner noch.“

Hoch auf horchte Gustav. „Wer?“ fragte er.

„Nun,“ erwiderte der Andere mit schlauem Lächeln, „ihrer müssen Sie sich doch erinnern. Sie war ja im Hause Ihrer Frau Mutter früher ein täglicher Gast.“

„Ja, ja, ich erinnere mich jetzt,“ sagte Gustav, feuerroth im Gesicht, „ein leidlich hübsches Mädchen – aber was hat sie mit der Geschichte Oldenburg’s zu thun?“

„Hm, sie wurde der Frau Doctorin vorgestellt, und diese stellte ihr hinwieder ihren Mann vor. Die arme Frau durfte nicht tanzen, denn sie war damals schon leidend, aber er, er tanzte und mit der neuen Bekannten mehr, als mit jeder Anderen. Und vom folgenden Tag an kam das Mädel täglich in Oldenburg’s Haus. Erst wunderte man sich über die rasche Freundschaft einer Frau zu einem Mädchen, dann begann man zu munkeln; man beobachtete, man bemerkte, reimte zusammen – kurz, es dauerte nicht vier Wochen, so wußte ganz Waldkirchen, daß Doctor Oldenburg mit Mamsell Reiser eine Liebschaft habe.“

„Tod und Teufel!“ fuhr Gustav empor.

„Die Frauen riefen des Himmels Strafgericht auf die Schuldigen hernieder; die Mütter warnten ihre Töchter; wir Männer zuckten die Achsel; der Pastor Gottwald predigte eines Sonntags über den Ehebruch; nur sie, die am tiefsten verletzt ward, Frau Oldenburg sagte nichts, klagte nicht und that, als finde sie es durchaus natürlich und in der Ordnung, daß ihr Mann mit dem ehrvergeßnen Mädchen stundenlange Spaziergänge machte und bis in die sinkende Nacht im Garten des Apothekers saß. Aber was und wie sie litt, verriethen ihre blassen Wangen und verweinten Augen. Wenn sie am Arm ihres Gatten durch die Straßen vor das Thor wandelte, was immer seltener geschah, und dann links und rechts, immer lächelnd, immer freundlich grüßte, da schnitt Jedem dies Lächeln in’s tiefste Herz, und Keiner war, der nicht den Hut vor ihr wie vor einer Prinzessin gezogen und die Faust hinter Ihrem Manne her geballt hätte. Der unterdrückte Jammer zehrte an ihrem Leben. Bald kam der Arzt täglich in’s rothe Roß; im Mai und Juni stand sie schon nicht mehr von ihrem Lager auf, und seit einigen Tagen soll sie hoffnungslos ihrer letzten Stunde entgegensiechen. Mamsell Reiser aber kommt nach wie vor Tag für Tag in ihr Haus.“

Die Entrüstung und das Feuer, womit der Kaufmann seine Erzählung schloß, schien sich auch Gustav mitzutheilen. Er redete plötzlich der Tugend und strengen Sitte das Wort, als ob er nie auf ihrem Pfade gestrauchelt hätte. „Diese Verworfenen!“ rief er. „Ehrvergessenes Mädchen! Treuloser Barbar! Seine Frau, eine solche Frau zu kränken, zu morden! Eine Kugel verdient er. Bei Gott, ich werde ihn fordern! Und wenn er zu feig ist, sich mit mir zu schießen – er ist feig – werd’ ich ihn öffentlich peitschen, ihn massacriren!“ Er knirschte die Zähne zusammen und [756] stieß sein Glas so heftig auf den Tisch, daß es in Stücke zerbrach.

„Marowsky,“ sagte er, den Wein von Hand und Aermel schüttelnd, „ein neues Glas und eine zweite Flasche!“




Während Gustav in herbem Ungarwein sich Trost trank, saß der gelästerte Oldenburg in seinem Arbeitszimmer. Er hatte beide Arme auf den Schreibtisch gestützt und barg sein Haupt in die Hände. Durch das breite Fenster, das nach der Marktstraße ging, fluthete der Sonnenschein und ließ das zerwühlte Haar des Sinnenden wie Gold schimmern. Ein zitternder Strahl von dieser Lichtfülle, vom wunderschönen Sommertag stahl sich durch die halboffene Thür in das verdunkelte Nebengemach, wo die kranke Frau des Schriftstellers lag.

Auf der Schwelle, welche die beiden Zimmer verband, erschien jetzt ein Mädchen, das Gesicht von Gram, Angst und Thränen entstellt. Sie trat mit geräuschlosen Schritten hinter Oldenburg und berührte leise seine Schulter. Er fuhr erschrocken empor, sah verstört um sich und stieß, als er das Mädchen erblickte, ein tiefes Stöhnen aus.

„Elise,“ sprach er, „sind Sie noch hier? Ach, ich leide entsetzlich …“

Er schlug sich vor die Stirn, dann stand er plötzlich auf, preßte Elise’s Hände krampfhaft in die seinigen und fragte mit verzweiflungsvollem Blick: „Elise! Ist denn keine Hoffnung? Muß sie sterben? Muß ich ein Mörder sein?“

„Um des Himmels willen, still!“ flehte Jene. „Sie kann Sie hören; sie ist aufgewacht und begehrt nach Ihnen. Kommen Sie!“

„Darf ich unter ihre Augen treten?“

„Wenn Sie verzweifeln,“ beginn das Mädchen, „woher soll ich dann den Muth nehmen, diese Tage, diesen Tod zu überleben? Bin ich weniger unglücklich, weniger schuldig als Sie?“

„Heinrich!“ rief aus dem Nebenzimmer eine schwache Stimme, bei deren Klang die kräftige Mannesgestalt zitternd zusammenzuckte.

„Kommen Sie!“ drängte Elise. „Sie sagt, sie müsse Sie sprechen, denn –“ ihre Stimme stockte und ward von hervorbrechenden Thränen fast erstickt – „denn heute sei ihr letzter Tag!“

Als beide Unglücklichen vor dem Leidenslager standen, bat die Sterbende, die Fensterladen zu öffnen. „Das Licht blendet meine Augen nicht mehr,“ sagte sie, „denn sie ahnen schon den Schimmer eines höheren. Aber noch einmal vorher will ich mein Liebstes auf dieser Welt in der Sonne wandeln sehen.“ Heinrich warf sich im Uebermaß des Jammers vor dem Lager auf die Kniee und bedeckte die abgemagerten Hände seiner Gemahlin mit heißen Küssen. Elise aber öffnete vorsichtig die Fensterladen, und während das süße Licht allmählich und mehr und mehr die Stube erfüllte, richtete die Kranke das Haupt des Gatten sanft empor und betrachtete mit schmerzlich seligem Lächeln sein Antlitz Zug für Zug.

„Weine nicht,“ bat sie dann, „denn sonst muß ich fürchten, Du glaubest an kein Wiedersehen – dort.“

„Bleibe! bleibe! verlaß mich nicht!“ rief er verzweifelnd aus, „oder laß mich mit Dir sterben!“

„Was soll dann aus Elise werden?“ sagte sie sanft, ohne Vorwurf. Und da er vernichtet sein Antlitz in die Hände barg, beugte sie sich zu ihm und sprach: „O Du mein Alles, zürne mir nicht! Ich will ja nur Eins wissen, um Euch vor meinem Scheiden segnen zu dürfen: Liebt Ihr Euch?“

In diesem Augenblick sah Elise, die in dumpfem Sinnen am Fenster stand und theilnahmlos zur Straße niederschaute, aus dem Hause gegenüber einen jungen Mann treten, dessen Anblick sie wie ein Dolchstoß durchzuckte. „Heiliger Gott!“ stammelte sie, „das ist – – Gustav!“ schrie sie plötzlich mit herzzerreißender Stimme. „Gustav!“

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.
Nr. 17. Das Gespensterkloster in Schwaben.
Von E. Förster.

Ein köstlicher Spätsommertag war es, einer der wenigen freundlichen dieses kühlen, trüben, weinfeindlichen Jahres, als eine heitere Gesellschaft von Männern und Frauen von Stuttgart aus nach dem nahen, vielbesuchten alten Kloster Maulbronn fuhr.

Durch eine offene steinerne Vorhalle, auf welche mächtige Linden ihre Schatten warfen, traten wir in die wohl zufällig offene Klosterkirche. Man erkennt sogleich die verschiedenen Bauzeiten des Langhauses und des Chors aus dem zwölften Jahrhundert gegenüber der spätern Vorhalle und der noch spätern gothischen Südseite. Ein colossales leidlich erhaltenes altes Marienbild, das an einem der Pfeiler angebracht ist, zog zunächst die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich. Der Kirchendiener war inzwischen erschienen und hatte sich zu uns gesellt. Er gab die Erklärung, daß das Bild den heiligen Christoph vorstelle.

„Ja aber, bester Mann,“ erwiderte ich, „das ist ja offenbar ein Frauenbild; St. Christoph hatte einen langen Bart und keine Brust, an der er ein Kind hätte nähren können.“

„O,“ antwortete er, „das haben Andere auch schon gesagt, es sei die Madonna; ich aber sage, die Jungfrau Maria war so groß nicht, so groß war nur der heilige Christoph!“

Dagegen ließ sich nichts ausrichten; ich meinte nur, am Ende sei die Bavaria in München auch ein heiliger Christoph. Der Mann führte uns in’s Chor, wo uns die Chorstühle mit den seltsamen Holzschnitzereien fesselten. Mehr aber beschäftigte uns ein räthselhafteres Menschenwerk unter und vor den Chorstühlen. Da sind die dicken Dielen, ja selbst an deren Stelle gelegte starke Steinplatten stellenweis bis zur Durchlöcherung ausgewetzt. Hier schien mir unser Führer nach etwas rationelleren Grundsätzen zu erklären, als beim heiligen Christoph. „Diese Löcher sind noch aus der alten, katholischen Zeit,“ sagte er, „wo die Mönche hier Hora sangen. Das Horasingen muß ein langweiliges Geschäft sein, und gewiß sind die alten Herren darüber oft ungeduldig geworden und haben, wenn’s zu lang gedauert, mit den Füßen zu arbeiten und zu scharren angefangen, und so haben sich nach und nach die Löcher gebildet. Noch zu rechter Zeit ist die Kirche protestantisch geworden, sonst wären die frommen Väter gar durchgefallen.“

„Mir sind noch mehrere Beispiele der successiven Wirkung anhaltender Frömmigkeit bekannt,“ sagte ich. „Dem heiligen Petrus in der Peterskirche zu Rom muß, obschon er von Erz ist, von Zeit zu Zeit ein neuer Schuh angezogen werden, sobald der alte durchgeküßt ist; in der St. Lorenzkirche vor den Mauern Roms sind die Marmorstufen um sein Grab durchgekniet, und eine Madonna in der Marcuskirche zu Venedig verbraucht auch viel Schuhmacherarbeit, um die Andacht der Frommen auszuhalten.“

„Ja, ja,“ meinte der Mann; „aber hier giebt es doch noch andere Sehenswürdigkeiten; denn das Kloster ist sehr alt und hat viele und große Schicksale erlebt. Sehen Sie,“ fuhr er fort und wies nach einem halbverlöschten Gemälde oben an der Südwand der Kreuzung, „da kniet der Gründer des Klosters, Ritter Walther von Lomersheim aus Eckweiler. Es ist eine sonderbare Geschichte.

Der Ritter hatte das Kloster in Eckweiler gründen wollen; aber den Mönchen, die er aus Kloster Neuburg im Elsaß berufen, gefiel der Platz schlecht; sie packten ihre Geldsäcke auf einen Esel, nämlich auf einen Maulesel, und zogen weiter und beschlossen, da, wo der Esel stehen bleiben würde, da wollten sie auch bleiben und Gottes Fingerzeig darin erkennen und ihm da eine Wohnstatt erbauen. Nun kamen sie an eine Stelle im Walde, da immer viel Raub und Mord verübt worden, und wären gern ohne Aufenthalt weitergezogen; aber es war da auch eine frische Quelle; und ob nun aus Gottes Fügung, oder weil der Maulesel durstig war und das Plätzchen schattig und kühl – kurz, er blieb stehen und wollte auch nicht mehr weiter, und die Mönche sahen, das sei die Stelle, wo sie das Kloster erbauen sollten; und weil der Maulesel an dem Brunnen stehen geblieben, nannten sie den Ort Mulenbrunnen oder Maulbronn, wie er noch heißt bis auf diesen Tag.

Freilich, leicht ist es den Mönchen nicht geworden, ihr Werk auszuführen. Denn als sie mitten im Bau waren, kamen die Räuber und bedrohten sie mit Feuer und Schwert, nicht weiter zu

[757]

Kloster Maulbronn.
Originalzeichnung von Theodor Pixis in München.

[758] bauen, denn sie fürchteten von der Gottesstatt für ihr Handwerk. Da sagte einer der Mönche und schwor’s den Räubern zu, der Bau solle unvollendet bleiben. Damit gelang es, die Räuber zu verblüffen, so daß sie die Mönche unbehelligt ließen. Diese aber bauten lustig weiter, und bald riefen die Glocken die Andächtigen zum Gottesdienst. Da kamen aber auch die Räuber wieder und wollten Rache nehmen für den Betrug. Die Mönche aber zeigten ihnen oben an der Chorwand die leere Stelle – sehen Sie sie, dort links vom Crucifix? – und unten den Stein, der noch hier liegt, und sagten: ‚Vollendet ist die Kirche nicht und soll es nie werden; denn der Stein wird niemals eingesetzt!‘ Und damit mußten die Räuber abziehen. Da oben aber sehen Sie in der Wand die zum Schwur erhobene Rechte, eine Kelle, ein Winkelmaß und einen Spaten zum Andenken an die betrogenen Räuber. – Das Kloster ist aber bald sehr reich geworden, hat herrliche Gründe erhalten mit Obstbäumen, Feldern, Weinbergen, fischreichen Seen und mit Wäldern voll Hirschen, Rehen und Hasen; und viele Mönche sind hier eingezogen, und was an die Kirche, die, wie Sie sehen, gar schlicht und einfach ist, der Cistercienser Regel gemäß, nicht gewandt werden durfte, das haben sie dann auf ihren Leib gewendet, an ihre Wohnung, an Küche, Keller, Speisesaal, Spaziergang und Garten, wie Sie sich noch überzeugen können, wenn die Herrschaften mir folgen wollen.“

Das thaten wir denn mit Vergnügen und überzeugten uns bald, daß die frommen Väter gegen ihr zeitliches Wohl sich nicht gleichgültig verhalten haben und daß es kein Wunder gewesen, wenn sie im Chorstuhl beim Gedanken an die übrigen Klosterräume hie und da zu scharren begonnen haben. Da ist gleich hart an der Kirche der kleine Keller, größer als der dritte Theil der Kirche bis zum Chor, und weiterhin der große Keller, in welchem der kleine einigemal Platz haben würde. Der Speisesäle oder Refektorien waren drei, zwei für den Sommer, einer für den Winter.

Das ältere Sommerrefectorium liegt ganz in Trümmern, das neuere aber vom Anfang des dreizehnten Jahrhunderts ist noch ziemlich gut erhalten, und macht mit seiner einen Reihe hoher, schlanker Säulen und seinen leichten Wölbungen, den hohen Fenstern, Wandpfeilern und Nischen einen sehr heitern und festlichen Eindruck und somit seinem ausdrucksvollen Namen „Rebenthal“ alle Ehre. Unser Führer machte uns darin auf eine Säule aufmerksam, die, mit zwei Seitenöffnungen versehen, als Brunnen und zwar für rothen und für weißen Wein gedient haben soll. Er hatte auch vorher in der Kirche uns ein anderes Denkmal der Zechlust der fröhlichen Brüder gezeigt, an dem Chorgewölbe nämlich die Buchstaben: A. V. K. L. W. H. und Noten darunter, nach welchen die Mönche in’s Gloria hinein gesungen haben:

„Alle voll! Keine leere! Wein her!“

Bei allen Klöstern und Stiften bildet der sogenannte Kreuzgang einen Glanzpunkt der Gesammtanlage. Der Maulbronner gehört zu den schönsten in Deutschland; der ältere Theil, zunächst der Kirche, ist zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts erbaut. Die übrigen drei Abtheilungen stammen aus dem vierzehnten Jahrhundert.

„Also dies ist,“ begann einer meiner Reisegesellschafter „die bedeutungsvolle Stelle, an der unser würdiger Freund, Justinus Kerner, in frühester Knabenzeit seine Geisterjagd begonnen, die ihn später so berühmt gemacht. Sein Vater war in den neunziger Jahren Oberamtmann von Maulbronn, und wenn er nächtlicher Weile mit einer kleinen Laterne oder beim trügerischen Schimmer des Mondes von seinen Spielkameraden nach Hause ging, wählte der neunjährige Junge mit Vorliebe den Weg durch die Klosterkreuzgänge, in der Hoffnung, daß einmal einer der ehrwürdigen alten Kuttenträger mit langem Bart und dem schwarzen Gürtel der heiligen Jungfrau aus einem der eingesunkenen Gräber aufstehen und ihm erscheinen möchte. Auf jene Zeit bezieht sich sein bekanntes Gedicht:

„Würde wahrlich nicht erschauern,
Schwebtet ihr aus Grabesmauern,
In den Kutten, schwarzen, weißen,
In den Bärten, langen, greisen,
Im Gesichte Geistertrauern.
Schläfer, auf zum Rebenthale!
Dort im bunt bemalten Saale
Warten Euer die Pokale,
Warten auf dem Eichentische
Wildpret und gebackne Fische.“ etc.

„Sollte mich sehr wundern,“ fiel unser kundiger Führer ein, „wenn die Beschwörungsformel des seligen Herrn Doctor Kerner keine Wirkung gehabt hätte! Er hat Geister genug gesehen, wie er mir selber gesagt, als er vor einigen Jahren noch einmal hier war, und in Kloster Maulbronn war nie Mangel an Geistern und Gespenstern, vornehmlich als die schwarze Katze hier ihr Wesen getrieben.“

„Hu! das wird interessant und gruselig,“ sagte lachend eine der Damen, „erzählen Sie uns von der schwarzen Katze! Bei Sonnenschein ist’s nicht so bedenklich, wie im Mondenlicht.“

„Sehen Sie,“ hub der Schlüsselmann an, „wenn Sie den seligen Herrn Doctor Kerner gekannt haben, so wird er Ihnen gewiß von seinem alten Matthias, dem Kutscher des Herrn Oberamtmanns, erzählt haben und was der Alles erlebt und gesehen. Ich hab’ den auch noch recht gut gekannt, und mir hat er’s mehr als einmal zum Besten gegeben. Der hat verschiedentlich mit eigenen Augen den längst verstorbenen Prälaten Weiland im weißen Frack mit schwarzen Aufschlägen die Treppe herunter und in die Prälatenkutsche einsteigen sehen. Es hatte nämlich der Prälat Weiland für den üblichen Jahresbesuch bei dem katholischen Prälaten von Bruchsal sich – zum Angedenken an die alten weiß mit schwarz gekleideten Cistercienser von Maulbronn und vielleicht um seinem katholischen Herrn Collegen eine Artigkeit zu erweisen – einen weißen Frack mit schwarzen Aufschlägen machen lassen; ist aber plötzlich erkrankt, so daß er den Besuch aufgeben mußte. Um sich aber gewissermaßen zu entschädigen für das gestörte Glück, ließ er den schwarz-weißen Habit sich gegenüber über dem Bett aufhängen und betrachtete ihn von früh bis spät, bis sein Auge brach; und weil sein letzter Blick daran haften geblieben und sein letzter Gedanke der Besuch bei dem Herrn Prälaten in Bruchsal gewesen, hat er nach seinem Tode noch immerfort den weißen Frack mit den schwarzen Aufschlägen anziehen und in die Prälaturkutsche steigen müssen. Ich habe diese Prälatenkutsche noch gekannt, die jetzt längst zu ihren Vätern versammelt ist. Es war ein großes Gebäude, eine Kutsche wie ein kleines Haus, in welcher die Prälaten ihre Staatsvisiten abstatteten. Sie wurde von vier starken Pferden gezogen, den Vorreiter nicht gerechnet. Es soll eine Pracht gewesen sein! Sie wurde nur zwei- oder dreimal im Jahr angespannt; in der Zwischenzeit wohnten Fledermäuse darin, und Katzen hatten da ihr Lager aufgeschlagen, und vornehmlich die schwarze, bucklige Teufelskatze ohne Schwanz.“

Er sah uns dabei Eins um das Andere an, und als er bemerkte, wie wir die Ohren spitzten, fuhr er fort: „ Ja, die alte, böse, schwarze Katze! von der läßt sich was erzählen. In den festverschlossenen Zimmern hat es gerumpelt und getobt, als ob eine Schlacht mit Holzfällen geliefert würde, und wenn man aufschloß und sah in die Stube, war nichts darin, als die schwarze Katze; und die verschwand vor Aller Augen wie Pulverdampf. In Schlappschuhen hörte man die Geister treppauf, treppab gehen; Tische, Bänke, Stühle, Krüge wurden von unsichtbaren Händen aufgehoben und durch’s Fenster in den Garten geworfen, oder eigentlich nicht geworfen, sondern gleichsam durch die Luft getragen und langsam auf den Boden niedergesetzt.“

„Was Kuckuk,“ rief ich, „da haben wir ja schon die Seherin von Prevorst mit den interessanten Erlebnissen, die uns unser würdiger Freund von Weinsberg von ihr erzählt hat.“

„Es muß doch sehr ernsthaft gewesen sein,“ fuhr der Schließer fort; „denn Prälat Schlotterbeck hat wegen des Gepolters und wegen der schwarzen Katze das Prälatenhaus verlassen und eine andere Wohnung bezogen; Militär ist requirirt worden gegen den Teufelsspuk, und eine Commission fürstlicher Räthe wurde von Stuttgart hierher gesandt, die nach gründlicher Prüfung der Umstände in der schwarzen Katze die Quelle alles Unheils und aller bösen Anschläge sah. Die Regierung setzte nach deren Bericht einen Preis von vierzig Gulden auf ihren Kopf. Verdient hat sie Niemand; aber die schwarze Katze ist verschwunden, und seitdem –“

„Spukt es nicht mehr?“ frug ich.

„Wenig nur,“ antwortete er, „man könnte sagen, fast gar nicht mehr. Doch ganz sicher ist man nicht, und unheimlich ist’s noch immer in dem alten Gemäuer bei finstrer Nacht oder bei Mondenschein, wo man lange Processionen durch den Kreuzgang hat ziehen sehen, freilich von Ratten, sagen sie, die der Durst zum Brunnen treibt; aber man weiß schon, was für Ratten das sind.“

[759] Aus dieser Geister- und Gespenster-Sphäre und -Atmosphäre geleitete uns unser einsichtsvoller Führer den Kreuzgang entlang nach der Ostseite und zeigte uns dort ein dunkles Gemach, wo wir beim Schein einer angezündeten Kerze das Bild eines Mönchs mit der Ruthe in der Hand auf der Mauer erkannten. „Es gab nicht immer Hammelskeulen,“ sagte er, „Wein und Fische für Jeden im Kloster; zuweilen mochte einer oder der andere der heiligen Männer an die Kutte nicht gedacht haben, in die er seinen Leib gesteckt, und dann wurde er hier in stiller Abgezogenheit dieser Kammer daran erinnert; davon hieß sie die ‚Geißelkammer‘. – Heiterer sieht es drüben aus, weiter rechts, wenn’s gefällig ist. Freilich liegen Grabsteine auf dem Fußboden, und darunter wird an Todtengebeinen kein Mangel sein; es war aber doch kein eigentlicher Begräbnißplatz, außer etwa zu besondern Ehren; es war der Capitelsaal, wo die geistlichen Herren Rath pflogen, bei hellem Tageslicht, das durch die großen, offenen Fenster zu ihnen hereingeschienen – denn hier, sehen Sie, ist nie ein Fensterrahmen befestigt gewesen. Allgemein bewundert man die Reihe der schönen Säulen, die das prächtige Sterngewölbe wie einen Sternenhimmel tragen.“

Zwischen Geißelkammer und Capitelsaal führt ein kleiner Gang in einen schönen, lichten, mit einem gerippten Tonnengewölbe überdeckten Corridor, aus welchem man links in die Prälatur, rechts in einen reizvollen Garten gelangt. Wir gingen rechts. Wie lieblich ist die Stelle! Mauern und Geländer mit blühenden, grünenden Rankengewächsen bedeckt, zur Seite ein frischer, plätschernder Brunnen, vor uns Blumenbeete, weiche Rasenplätze, fruchtbeschwerte Pflaumen-, Aepfel- und Birnenbäume, Wege und Wiesenplätze übersäet mit dem abgefallenen, überreifen Obst, das ungeachtet seiner Güte in seiner Ueberfülle dem Verderben Preis gegeben war. Dazu nun ein überraschend malerischer Anblick der Ostseite der Kirche, der Prälatur zur Rechten und eines alten halbverfallenen Thurmes zur Linken. Wie ist es hier so heimlich und gemüthlich! Das mochten auch Andere außer uns empfunden haben; denn hier und da im Grase saßen Gäste, die sich’s wohl sein ließen im lichten Sonnenschatten, im Genuß des behaglichsten Daseins.

„Endlich,“ sagte ich, „sind wir zur Stelle, an unserem eigentlichen Reiseziel! Es ist nicht so gemüthlich und harmlos, wie es augenblicklich den Anschein hat, bei diesem Segen Gottes über und um uns und bei der allgemeinen Lebenslust in uns. Nehmen Sie Platz, meine Damen, aber auch allen Muth zusammen, dessen Sie fähig sind; denn wir haben es hier mit größeren Ereignissen zu thun, als mit der Jagd auf die schwarze, schwanzlose Katze in der Prälatenkutsche! Ist’s nicht so, vortrefflicher Schließer dieses geheimnißvollen Thurmes? Sagen Sie uns, was ist’s mit diesem Thurme und welche Geschichte spielt hier?“

Während ich mein Skizzenbuch zur Hand nahm, um das in der That sehr malerische Bild vor mir wenigstens in allgemeinen Zügen für die Erinnerung fest zu halten, begann unser kundiger Führer: „Eine grauliche Geschichte, mein Herr! ja, eine sehr grauliche Geschichte hat hier gespielt! Gottlob, daß die Zeiten vorüber sind, wo sie spielen konnte! Wie die Schrift sagt: ‚Er geht herum wie ein brüllender Löwe,‘ ich meine den † † † mit Schwanz und Pferdefuß, und wie er zum Dr. Martin Luther selig gekommen, der ihm aber das Tintenfaß an den Kopf geworfen, so ist er hier auch in diesen Thurm gekommen, zu dem Dr. Faust von Knittlingen, unseligen Angedenkens, der ihm leider das Tintenfaß nicht an den Kopf geworfen, sondern seine Seele verschrieben hat, und zwar mit seinem eignen Blute statt der Tinte, dafür, daß ihm der Böse von Allem Wissenschaft gegeben hat, was auf der Erde und in der Erde ist – von dem, was über der Erde ist, im Himmelreich, hat er nichts zu wissen begehrt – und daß er sich wünschen könnte auf Erden, wohin und was er wollte, so sollte es ihm werden, dreißig Jahre lang. Nach Ablauf aber dieser Frist gehöre ihm, dem † † †, die Seele des Doctors. Nun war zu der Zeit der Prälat Entenfuß Abt von Maulbronn, auch aus Knittlingen gebürtig und ein Jugendfreund des Doctor Faust. Er hat ihn öfters zu sich eingeladen – gewiß ohne seine geheime Verbindung zu kennen – und wenn dann Faust zum Besuch kam, wurde er in diesen Thurm einquartiert, der ehedem ganz hübsche Zimmer hatte und von da an bis zur Stunde der Doctor-Faust-Thurm genannt worden ist. Hier hat er, so oft er da war, sein höllisch Spiel getrieben, die schwarze Kunst, und hat das Vieh im Stall, die Tauben auf dem Dach, die Trauben am Rebstock verhext, daß sie die Pestilenz bekommen und abgestorben sind, wie das Laub im Spätherbst. Er hatte immer einen schwarzen Pudel bei sich, den er Mephisto rief, mit feurigen Augen und rother Zunge. War er mit ihm allein im Thurm, dann zog der Pudel seinen schwarzen Pelz aus und stand in seiner höllischen Gestalt neben ihm und half ihm beim Goldmachen und anderen Hexenkünsten. Mehr als ein Mal hat man ihn in einem weiten Mantel zum Fenster hinaus in die weite Luft fliegen sehen, obwohl der Abt Entenfuß um seines eigenen Rufes willen all diesen Geschichten keinen Glauben hat schenken wollen. Und doch haben ihn ganz zuverlässige Leute auch in Venedig vom Marcusthurm frei fortfliegen sehen! Nun, der Krug geht so lange zu Wasser, bis – die dreißig Jahre um sind, und dann hat auch der Abt Entenfuß daran glauben müssen!

Und einstmals – es ist spät im November gewesen und wüstes Wetter dazu – ist Doctor Faust wieder zum Besuch in Maulbronn und hat im Thurm sein Wesen gehabt, und der Herr Abt ist bei ihm gewesen ohne Arg, und wie er ihm gute Nacht sagt, um nach der Prälatur zurück zu gehen, sagt Doctor Faust zu ihm: ‚Höre, Freund Entenfuß, erschrick nicht, wenn Du’s heut Nacht hier im Thurm poltern und lärmen hörst, mein Hund ist den ganzen Tag über schon so ungebehrdig gewesen, daß ich fürchte, ich bekomme später noch Händel mit ihm.‘ Richtig! nach Mitternacht hört der Abt ein fürchterliches Poltern im Thurm, mit Ach und Krach, als wie bei einer blutigen Rauferei, und wäre wohl hinüber gegangen, um nachzusehen, hätte ihm der Doctor nicht voraus die Andeutung gegeben. Als aber am andern Morgen der Doctor nicht wie gewöhnt zum Frühstück kommt, geht der Abt in den Thurm und sieht mit Schrecken die gräuliche Bescheerung. Stühle und Tische liegen halb zerbrochen am Boden, zerfetzte Bücher dazwischen, die Lampe in Stücken, Gläser, Büchsen in Scherben unter Todtenschädeln und Thiergerippen – ein gräulicher Anblick! Im Kamin noch ein paar glimmende Kohlen und darauf der halbversengte Pelz des schwarzen Pudels; Blutflecken an der Wand neben dem Kamin – man sieht sie noch heutigen Tags – vom Doctor keine Spur! Er hatte mit dem † † † auf Tod und Leben gerungen. Der aber war mit ihm durch den Kamin nach einem andern Feuer abgezogen!“

Wir mußten nun der herannahenden Stunde unserer Rückreise denken, beschenkten und verabschiedeten daher unsern kenntnißvollen Führer und gingen nach dem Wirthshaus, wo wir erfahren sollten, daß man auch neben dem Kloster noch verstehe zu leben und leben zu lassen.

„Was ist aber jetzt aus der alten Abtei geworden? Vielleicht können Sie uns davon berichten,“ wandte ich mich an den Wirth, der den Tisch ordnete und intelligent genug aussah, um auf die Frage Rede zu stehen.

„Sind Sie nicht mit unserm Herrn Ephorus Bäumlein bekannt? Der hätte Ihnen sehr gründliche Belehrung geben können; er hat auch eine sehr gelehrte Schrift über das Kloster herausgegeben. Ich habe sie gelesen und mir Einiges daraus gemerkt. Weiß nicht, ob es Ihnen genügen wird. So viel ich mich erinnere, haben sich in alten Zeiten mehrere große Herren, ich glaube der Pfalzgraf bei Rhein und der Herzog von Würtemberg um die Ehre gestritten, das Kloster zu beschirmen. Schließlich hat der Kaiser Maximilian den Herzog Ulrich von Würtemberg als Schirmherrn von Maulbronn eingesetzt. Dieser war der Lehre Luther’s zugethan und hat sich viel Mühe gegeben, die Reformation im Kloster einzuführen. Das ist ihm aber nicht gelungen, und erst unter seinem Nachfolger, Herzog Christoph, ist der erste protestantische Abt, Prälat Valentin Wanner, im Jahre 1550 eingesetzt und die Klosterschule nach evangelischer Ordnung gegründet worden. – Im dreißigjährigen Krieg, der auch an manchem Steine im Klostergebäu gerüttelt, bekamen die Katholischen zeitenweis die Oberhand und die Maulbronner ihre alten Klosterbrüder wieder zu sehen. Es war aber doch nur Märzenschnee und ist bald wieder zerflossen. Nach dem westphälischen Frieden ist Maulbronn wieder protestantische Klosterschule geworden und geblieben.

Die jungen Leute, die man durch eine Art Mönchskutte auf gesetzten Wegen zu halten gesucht, haben sich aber die tollsten und schlechtesten Streiche zu Schulden kommen lassen und eine Ehre [760] darin gesehen, die Klostergesetze zu übertreten; die alten Leute, Professoren und Prälaten, sind in ihrer Würde halb erstickt, oder haben sich durch Thorheiten lächerlich gemacht, wie der Professor Mayer, den mein Vater noch gekannt hat, mit dem, zum Entsetzen seiner gestrengen Ehehälfte und zum lauten Halloh der Klosterjugend, eines Tages sein Gaul – er ritt gern spazieren – im Schritt durch- und nach Hause ging, trotz alles Rufens, Schreiens und Protestirens des gelehrten Reiters.

Sie können sich eine Vorstellung von diesem Professor Mayer und dem Ansehen machen, in welchem er bei der Jugend stehen mußte, wenn ich Ihnen die Geschichte erzähle, die in Maulbronn noch heute nicht vergessen ist. Das war im Jahre 1796, als die Franzosen unter Desaix in die Gegend kamen, und zwar nicht als willkommene Gäste. Professor Mayer hatte einen schönen Vorrath von Schinken und Würsten im Schlot hängen und, um seine Schätze zu retten, bereits die Leiter auf den Heerd gestellt und capitulirte nur noch mit seiner Gattin, die sich entschieden dieser ungastlichen Maßregel widersetzte, um Uebergabe des Schlüssels zur Speisekammer, als er plötzlich die französischen Chasseurs im Hofe sah und, im kattunenen Schlafrock und mit der Zipfelmütze wie er war, auf die Leiter in den Schlot emporstieg, um mit den Schinken und Würsten nun zunächst sich zu retten. Aber schon waren die Chasseurs in der Küche, sahen die Leiter, fingen an daran zu rütteln und frugen: ,Was ist das’? Und Thereschen, die Frau Professorin, gab sogleich Bescheid: ,Es ist mein Mann so eben hinaufgestiegen, um für die Herren Franzosen eine kleine Collation von Schinken und Wurst herabzuholen.’ Und der Herr Professor mußte nun mit möglichst guter Miene selbst seine kostbaren Schätze den Räubern mit der Bitte, fürlieb zu nehmen, ausliefern, worauf sie ihn wie im Triumph auf ihren Armen in sein Studirzimmer trugen und in seinen Armstuhl unter Lachen und Danksagungen niedersetzten und mit den geräucherten Schätzen von dannen ritten.

Neben solchen Schöppenstädter Lächerlichkeiten herrschte aber im Kloster eine gewaltige Vornehmheit. Ein Luxus ist an der Tagesordnung gewesen, wie bei Grafen und Fürsten, und so zahlreich war die Dienerschaft, daß Einer hätte der Schleppträger des Andern werden müssen, nur um eine Beschäftigung zu haben. Da gab es einen Klosterchirurgus, der zugleich Famulus war, und einen Unterfamulus, den Gegen- oder Küchenschreiber, den Speisemeister sammt Köchin und Magd, den Küfermeister, den Hausschneider, der zugleich Meßnerdienste besorgte, den Ueberreiter, den Klosterboten, den Thorwart, mehrere Nachtwächter, den Werkmeister, den Zimmermann, den Hof- und Weingartenmeister, den Gärtner, den Waldmeister nebst dem Waldknecht, den Todtengräber und Gott weiß was noch sonst für Gesinde.

Jetzt ist aus der Klosterschule ein theologisches Seminar geworden, in welchem tüchtige junge Leute gebildet werden, die, nachdem sie vorher die Seminarien von Blaubeuren und Urach besucht, hierher kommen, von hier nach Schönthal und dann auf die Universität Tübingen gehen. – Aber die Herrschaften werden Appetit haben. Friedrich, die Suppe!“




Das Ackerkreuz.
Ein Nachtstück aus dem patriarchalischen Staat.
Deutschland zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. – Der Hofstaat ist der Staat. – Ein deutscher „Ober-Admiral“. – Das Werbesystem. – Goethe und „das schamvolle Geschäft“. – Holländische Offerte. – Preis der „fehlenden Mannschaft“. – Der „Römhilder Krieg“. – Die dänischen Werber in Hildburghausen. – Andreas Korneffer. – Der Grenadier des herzoglichen Landregiments. – Das Ende des Werbeofficiers. – Die Fürsten des patriarchalischen Staats. – Der Hildburghäuser Hof. – Die Unterthanen. – Das Ackerkreuz.

„Mancher, der die Straße von Hildburghausen nach Heldburg zog, wird zunächst des Fahrwegs in der Streufdorfer Flur ein schlichtes, von Feldsteinen zusammengelegtes Kreuz gewahrt und sich gewundert haben, daß, wenn dies Kreuz heut von ihm oder Andern zerstört worden war, er es am andern oder dritten Tag immer wieder an derselben Stätte sorgfältig zusammengefügt fand; Mancher möchte das Kreuz für ein Zauberwerk oder ein Spiel des Muthwillens gehalten haben. Es ist aber – ein Denkmal der Liebe.“ Ja, alter ehrlicher Buchdrucker Elias Christoph Bauer, der Du dieses in dem Heimathverherrlichungsdrang, welcher dem Franken so arg anhängt, selber drucktest in einem Schriftchen, das Deinen Geburtsflecken „die alte Villa Streufdorf“ nebst dem hoch über ihm auf grüner Waldeshöhe thronenden alten Bergschloß Straufhain schilderte, und zwar schon vor vierzig Jahren, – Du hast Recht, jenes Ackerkreuz ist ein Denkmal der Liebe, aber es ist noch weit mehr, es ist ein Merkzeichen von des deutschen Volks tiefster innerer Erniedrigung, von der Zeit seiner schmachvollsten Rechtlosigkeit. An dieser Stätte ist unschuldig Blut geflossen, hier hat die Mörderkugel des Schergen der Gewalt einen Jüngling niedergestreckt, der von der eigenen Landesherrschaft an fremde Werber verkauft worden war.

Um durch das Mitleid mit einem Unglücklichen uns nicht zu einem zu harten Urtheil über die gewaltthätigen Menschen jener Zeit, anstatt über diese Zeit selbst, verführen zu lassen, müssen wir diese und das Werbesystem, das zunächst jene Unthat verschuldet hat, etwas näher betrachten.

Vor Allem müssen wir das Jahr derselben nennen, es ist 1730; das allein erklärt unseren geschichtskundigen Lesern schon Vieles. Die deutsche Geschichte kann, trotzdem daß Deutschland an Mißgeschick in allen Jahrhunderten reich ist, keinen jämmerlicheren Zeitraum ausweisen, als den vom Ende des dreißigjährigen Kriege bis zum Anfang der französischen Revolution, der ersten Erlösungsregung aller europäischen Völker gegen den bis dahin unerschütterlichen Fürstenalpdruck. Wir müssen uns auf den Standpunkt der Menschheit vor dieser allgemeinen Geistesreinigung zurückversetzen, um auch die fürstlichen Missethäter durch unser Urtheil nicht schwerer zu strafen, als ihre eigene Schuld war.

Wir geben unseren Lesern eine Probe aus dem deutschen Geschichtswerke des Patrioten und Märtyrers Wirth, das ihnen in der vorigen Nummer der Gartenlaube empfohlen wurde, wenn wir seine Schilderung jener Zeit hier folgen lassen. Er sagt über die inneren Zustände Deutschlands zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts: „Während die Ohnmacht des Reichs gegen außen fortwährend zunahm, äußerten sich die Folgen des westphälischen Friedens auch im Innern stets deutlicher, indem die Bedrückung der unteren Stände stieg und die vielfachsten Uebel sich verbreiteten. Schon das Bewußtsein der (durch den westphälischen Frieden gewonnenen) Erhöhung ihrer Macht hatte die Fürsten zu größerem Aufwand bewogen; allein der Besitz der Macht selbst steigerte noch die Prachtliebe. Um die Oberst-Kämmerer, Marschälle, Ceremonienmeister, Küchenmeister u. s. w. (jedes der vielen deutschen Fürstenhöfe) sammelten sich Schaaren untergeordneter Diener, welche kleinen Heeren glichen, und da der Hof den Landesherrn bei Reisen gewöhnlich begleitete, so veranlaßte dies ungeheueren Aufwand. Bei der Eröffnung des Reichstages vom Jahre 1652 hatte schon die Zunahme des Luxus großes Aufsehen erregt, da selbst kleinere Fürsten mit einem Gefolge von dreihundert Personen erschienen und zugleich in Kleidern, wie in Equipagen, ungewöhnliche Pracht zeigten. Im achtzehnten Jahrhundert stieg dagegen der Aufwand noch höher, indem die Fürsten häufig nach Paris zu reisen pflegten und von dort neue Arten von Verschwendung zurückbrachten. Die Hofleute strengten ihren Witz an, immer neue Ergötzlichkeiten für den Herrn zu erfinden, die Tafel ward mit überschwänglichen Genüssen ausgestattet, die Jagd mit verheerendem Luxus getrieben, das Hofleben zu einer ununterbrochenen Reihe von Festen erhoben. Nicht blos die weltlichen, sondern auch die geistlichen Fürsten wetteiferten in der Schaustellung der Pracht, welche sich gleichmäßig auf den Marstall, den Garten, die Jagd und die Hofmusik ausdehnte. Am württembergischen Hof unterhielt man allein eine Kapelle von sechzig Musikanten (für jene Zeit außerordentlich viel), und am baierischen ganze Heere von Pferden und Hunden. Auf der Tafel des Fürstbischofs von Bamberg und Würzburg wurden täglich sechsundfünfzig Gerichte aufgesetzt, und der Herzog von Braunschweig stellte blos zum Mästen von Kapaunen besondere [761] Hofdiener an, die sogenannten Kapaunenstopfer. Zur Erhöhung der Pracht gewöhnte man sich endlich an überaus feierliche Hof-Etiquette, welche den Landesherrn noch mehr von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden und als ein Wesen besonderer Gattung darstellen sollte. Alles geschah nun mit Feierlichkeit, und der Mittagstisch war so sehr von Gepränge begleitet, daß es eine Kunst wurde, das dabei übliche Ceremoniel zu erlernen. Während der Bischof von Bamberg und Würzburg dreißig Kammerherrn unterhielt, stieg die Zahl der Kämmerer bei dem Erzbischof von Köln sogar auf einhundertundfünfzig, und an diese schloß sich erst ein Heer von Hof-Cavalieren an, welche bei Festlichkeiten förmliche Spaliere bildeten.“

Soweit Wirth. In dieser Vergöttlichung der fürstlichen Menschen durch das adlige Hofschranzenthum liegt die einzige Entschuldigung für jene selbst. Sie waren der Staat, und was sich um sie herum drängte, zählte sich mit zum Staat, der sich in der That auf den Hofstaat beschränkte, zu dessen Füßen die übrige Einwohnermasse, das sogenannte Volk, als pflichtschuldiger Arbeiter für jenen lag.

Zum Hofstaat gehörte, namentlich in den kleineren Ländern, auch eine stattliche Truppenmacht: sie gab dem Fürstenthrone erst das rechte Fundament. Da hielt zum Beispiel der Herzog des kleinen Braunschweig nicht weniger als zweiundzwanzig Regimenter Fußgänger und dreizehn Regimenter Reiter, Kursachsen eine Armee von 25–30,000, Würtemberg von 14,000, Hannover sogar von 20,000 Mann, und Pfalzbaiern theilte seine 18,000 Mann in dreißig Regimenter mit soviel Officieren, daß sie den vierten Theil der Armee ausmachten; für seine drei kleinen Wachtschiffe auf dem Rhein besoldete es einen „Ober-Admiral“!

Dieses kostbare Spielzeug der fürstlichen Prunksucht wurde durch Werben aufgebracht, solange die Fürsten es noch für vortheilhaft hielten, die eigene fleißige und arbeitende Mannschaft im Lande zu schonen, oder so lange das Vermiethen und Verkaufen von Truppen noch nicht als eine der einträglichsten fürstlichen Erwerbsquellen entdeckt worden war. Als erst diese hohe Speculation begonnen hatte, warb und hob man zugleich im eigenen Lande aus, rein nach Passion oder je nachdem das Angebot auf die Waare lautete.

Das Werbesystem schmeichelte sich allerdings dadurch ein, daß es im eigenen Lande den Bauer am Pflug, den Handwerker in der Werkstatt erhielt und daß dafür die große Menge der Herumlungerer, denen durch den dreißigjährigen Krieg der Krieg selbst ein Nahrungszweig geworden war, unter den Fahnen für die bürgerliche Gesellschaft unschädlich wurde. Man machte freilich erst später die Erfahrung, wie nach jedem Krieg durch die Entlassung der überflüssigen Soldateska eine wahre Landplage von Gesindel sich über das Reich ausbreitete. – Die Werbung selbst, zu welcher jeder Reichsfürst das Recht hatte, wurde durch Werbeofficiere ausgeführt, die mit einem Werbepatent und mit Werbegeldern versehen sein mußten und einen bestimmten Werbeplatz und Werbedistrict angewiesen erhielten, und sie war entweder eine öffentliche und ganz legale, oder eine heimliche, mit List und Gewalt verbundene. In ersterem Fall zog der Werbeofficier von seinem Quartier aus, wo er seine Fahne ausgesteckt hatte, mit einem Trommler, Pfeifer oder Trompeter durch den Ort und von Ort zu Ort in seinem Werbebezirk, forderte zum Eintritt in seine Truppe auf, und selten verfehlte er seinen Zweck. Der Faulheit und Liederlichkeit, sagt Karl Biedermann in seinem „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert“, boten diese Werbeptätze eine willkommene Zufluchtsstätte. Verbrecher fanden hier nicht selten Schutz vor der Gerechtigkeit und waren froh, um diesen Preis einem härtern Schicksal zu entrinnen. Entlaufene Mönche suchten unter der Fahne des protestantischen Königs von Preußen der strafenden Hand ihrer Kirche zu entgehen. Vagabunden wurden von Polizeiwegen, ungerathene Söhne von den eigenen Eltern oder Vormündern „zur Correction“ unter die Soldaten gesteckt. Bankerotte Kaufleute, erwerbs- und aussichtslose Gelehrte ergriffen, um ihr Leben zu fristen, aus Verzweiflung die Muskete. Kam jedoch auf diesen und ähnlichen Wegen die erforderliche Anzahl von Soldaten nicht zusammen, so gebrauchten die Werber ungescheut alle Mittel der List, der Täuschung, selbst der Gewalt, um die Lücken auszufüllen. Bekamen sie doch eine bestimmte Prämie für jeden Mann, den sie den Fahnen zuführten! Da wurden betrügerische Vorspiegelungen gemacht, die man niemals zu halten gesonnen war, Verlegenheiten benutzt, in welche man oft selbst die unglücklichen Schlachtopfer hatte stürzen helfen; auch berauschende Getränke sparte man nicht, und mancher junge Mann fand sich, nüchtern geworden, zu seinem Schrecken, in den bunten Rock gekleidet, den man im Taumel des Rausches ihm aufgeschwatzt.

Wie annehmlich nun dieses Werbesystem für die Fürsten insgemein erscheint, so konnte es doch für die kleinen den großmächtigen, also schon damals Preußen und dem Kaiser gegenüber, zur Ursache großer Verlegenheiten werden. Eine solche, in welcher wir Goethe, den Minister, noch vor der französischen Revolution sich winden sehen, dürfen wir unsern Lesern nicht vorenthalten.

Friedrich der Große drang im Winter von 1778 auf 1779 darauf, daß der Herzog von Weimar ihm die Werbung in seinem Lande gestatte, und beauftragte den preuß. General Möllendorf mit der Leitung dieser Angelegenheit. Goethe berichtet darüber an Carl August: „Gesetzt, man fügt sich dem Begehren des Königs, so kann es entweder geschehen, wenn man ihm die Werbung erlaubt, oder mit dem General Möllendorf auf eine gewisse Anzahl abzugebender Mannschaft übereinkommt und auch diese entweder durch die Preußen ausnehmen läßt oder sie selbst ausnimmt und sie ihm überliefert. Erwählt man das Erste, so werden diese gefährlichen Leute sich festsetzen und überall Wurzel fassen; sie werden auf alle Weise die beste junge Mannschaft an sich zu ziehen suchen; sie werden mit List und Gewalt eine große Anzahl wegnehmen; sie werden’s an nichts fehlen lasten, selbst die Soldaten Ew. Durchlaucht untreu zu machen.

Will man mit dem General Möllendorf auf eine gewisse Anzahl übereinkommen und ihnen etwa selbst überlassen, die junge Mannschaft mit gewissen zu fertigenden Verzeichnissen aus den Aemtern auszuheben, so kann man nicht versichert sein, daß es dabei bleiben wird. Ein und der Andere, der es merkt, wird austreten, sie werden statt dessen nach Andern greifen, es werden Händel entstehen, und sie werden davon Anlaß nehmen, was man mit ihnen ausgemacht hat, zu überschreiten.

Will man endlich sich entschließen, eine Auswahl selbst zu machen, und ihnen die Leute ausliefern: so ist darin wohl für das Ganze das geringste Uebel, aber es bleibt doch auch dieses ein unangenehmes, verhaßtes und schamvolles Geschäft. – – Diese mit Gewalt in fremde Hände gegebenen Leute werden desertiren etc., die Preußen werden sie wiederfordern etc.“ – Dazu noch die Bedenken, daß für die so wider Willen Preußen gestattete Werbung ohne Zweifel ,der kaiserliche Hof’ dem fürstlichen Haus manches Unangenehme fühlen lassen werde.“[1]

Und dennoch scheint man zu letzteren Auskunftsmittel geschritten zu sein, denn ein Brief Goethe’s (die obige Notiz steht in dem Briefwechsel des Großherzogs Carl August mit Goethe) aus Buttstedt vom 8. März 1779 beginnt: „Indeß die Pursche gemessen und besichtigt werden, will ich Ihnen ein Paar Worte schreiben.“

So etwas war noch unter Carl August und Goethe in jenen Zeiten vor der französischen Revolution möglich, nur daß Beide darin ein schamvolles Geschäft erkannten, während es den meisten Fürsten als ein landesherrliches und dazu ein sehr einträgliches Recht galt.

An dieses Recht, andere deutsche Mächte im eigenen Lande werben zu lassen, schloß sich das noch entsetzlichere, das zuerst durch Seume’s Schicksal und Donnerworte in seiner ganzen Scheußlichkeit dargestellt worden ist: schlagfertig ausgerüstete Truppen, einerlei ob geworbene, gestohlene oder aus den eigenen Landeskindern gepreßte, an auswärtige Staaten zu vermiethen oder zu verkaufen. Auch dafür liefert obiger Briefwechsel uns eine werthvolle Notiz in einer „holländischen Offerte“ an Weimar, deren Hauptbedingungen lauten: „Es werden für jeden Mann jährlich fünfzig Thaler in Ducaten à 25/6 Rthlr. an Subsidien bezahlt. Im Fall die Hülfstruppen nicht gebraucht, werden die Subsidien dennoch auf ein halbes Jahr bezahlt. Nach geendigtem Kriege werden die Subsidien noch auf drei Monate bezahlt. Was bei Zurückgabe der Mannschaft fehlt, wird vergütet, als: für einen Reiter und Pferd dreihundert holländische Gulden, für einen Infanteristen einhundert Gulden.“

So hoch belief sich der Preis des Menschenfleisches, wenn der betreffende Inhaber desselben „den Heldentod“ fand. Die Engländer zahlten für, jeden todten Hessenkopf sogar zwanzig Pfund [762] Sterling. Daher die Entrüstung jenes Prinzen von Hessen-Cassel, der an den Befehlshaber seiner Truppen in Amerika schrieb: „Erinnern Sie daran, daß von den dreihundert Spartanern, welche den Paß bei Thermopylä vertheidigten, nicht einer zurückkam. Ich wäre glücklich, wenn ich dasselbe von meinen braven Hessen sagen könnte. Sagen Sie dem Herrn Major Minderst, daß ich außerordentlich unzufrieden bin mit seinem Benehmen, weil er die dreihundert Mann gerettet habe, welche von Trenton entflohen. Während des ganzen Feldzugs sind nicht zehn von seinen Leuten gefallen.“ Vergl. S. 295 dieses Bandes.

Noch mehr Reichsbeschlüsse zwangen sogar Reichsstände, ihre geworbenen Truppen an das Ausland abzugeben, wie dies z. B. bei dem sogenannten Römhilder Krieg der Fall. Das Herzogthum Sachsen-Römhild war 1710 mit seinem ersten Fürsten, Heinrich (einem Sohn Ernst’s des Frommen), ausgestorben. Sofort schickte Sachsen-Meiningen geworbene Truppen in das Ländchen, um es in Besitz zu nehmen. Aber pochend auf dieselben Erbansprüche rückte man von Hildburghausen mit vierhundert Mann auf denselben Boden ein. Von nennenswerthen Heldenthaten wird zwar Nichts berichtet, dagegen rief dieser Erbstreit nicht weniger als einhundertundfünfzig Druckschriften, zweihundertundsechs kaiserliche Conclusa und zweiundsiebenzig Recesse in’s Leben, die endlich einen (uns jetzt gleichgültigen) Vergleich herbeiführten, in Folge dessen nach Reichsbeschluß der eine Theil seine geworbenen Truppen in dänische, der andere die seinen in polnische Dienste abgeben mußte. – Nach solchen Thatsachen wundern wir uns nicht mehr: „daß man sogar ausländischen Mächten Werbungen im Reich gestattete und diese Erlaubniß auch dann nicht immer zurücknahm, wenn zwischen einer solchen Macht und dem Reiche selbst ein Conflict drohte“. Es gehört dies, sagt K. Biedermann (a. a. O.) mit Recht, zu jenen Ungeheuerlichkeiten, welche nur bei einem Zustande gänzlicher innerer Auflösung, wie ihn das deutsche Reich damals schon darstellte, möglich waren. – Und so war auch die Zeit, und so waren die Zustände, welche die armen Menschen, denen man mit den Menschenrechten nicht auch das menschliche Fühlen rauben konnte, zur Legung unseres Ackerkreuzes zwangen.

Im Frühjahre von 1730 kamen dänische Werber in’s Hildburghäuser Land. Der Werbeofficier schlug in der Haupt- und Residenzstadt Hildburghausen sein Quartier auf; sein Werbebezirk scheint sich über das ganze Herzogthum erstreckt und seine wohlgefüllte Casse ihm ungewöhnliche Vergünstigungen verschafft zu haben. Wenn nämlich bisher wohl ganze Truppenkörper verkauft worden sind und wenn die Werbeofficiere für die Erlaubniß der Werbung im Ganzen oder für jeden einzelnen angeworbenen Mann an die Casse des Landesherrn eine gewisse Summe zu entrichten hatten, so scheint in dem vorliegenden Fall dieser dänische Werbeofficier sich ein Eigenthumsrecht an die von ihm begehrten Personen durch Erkaufung derselben von der Landesbehörde erworben zu haben.

In Streufdorf, einem stattlichen Marktflecken an der Straße zwischen Hildburghausen und Heldburg, war das begehrliche Auge der Werber auf einen Bauernburschen gefallen, der vor allen anderen sich durch schöne schlanke Gestalt auszeichnete. Es war dies der Sohn einer wohlhabenden angesessenen Familie des Orts und hieß Andreas Korneffer. Ein solcher Bursche würde schon an sich den gewöhnlichen Anerbietungen und Kunstgriffen der Werber unerreichbar gewesen sein, auch wenn derselbe nicht in Margaretha Barbara Eichhorn, der schönen Tochter eines angesehenen Ortsnachbarn, eine geliebte Braut gehabt hätte. Alle gewöhnlichen Anschläge der Werber waren vergeblich, aber das Geld hat eine gewaltige Macht. Wir lesen in des alten Buchdrucker Bauer’s Schriftchen, daß der junge Korneffer an den Werbeofficier verkauft worden sei, und in der That marschirte am 27. April ein Grenadier des herzoglichen Landregiments von Hildburghausen ab, um den Verkauften zu ergreifen und ihn den Werbern zu überliefern. Man hatte mit dieser Vollmacht einen Menschen betraut, der wegen seiner Verwegenheit berüchtigt war und dessen Name mit dieser Geschichte fortlebt; er heißt Johann Faber.

Ohne Ahnung von der Gewaltthat, zu deren Opfer er ausersehen war, hantirte Andreas Korneffer am selben Tag vom frühen Morgen an fleißig den Pflug auf einem Acker, der hinter der Meierei an dem Wege nach Seidingstadt lag, dem nächsten Dorfe nach Heldburg hin, und wo unfern zur Linken sich die schönen bewaldeten Hügel erheben, die zum hohen Straufhain aussteigen, ein reizendes Fleckchen von Gottes Erde.

Es muß nicht möglich gewesen sein, den armen Jüngling vor der Gefahr zu warnen, die ihm drohte, denn plötzlich sieht er den Grenadier Faber in voller Armatur auf sich zueilen. Ein Gedanke an das, was seiner harre, mochte ihn durchfahren; er ließ Pflug und Peitsche und floh, um den nahen Wald zu erreichen und die Berge, hinter denen er sich retten konnte. Aber nur wenige Schritte waren es, er hatte seinen eigenen Acker kaum verlassen, da brach er blutend zusammen, die Kugel des Verfolgers hatte ihn erreicht und niedergestreckt.

Die Unthat war geschehen; als ein Verbrechen ist sie weder angesehen noch bestraft worden. Der Grenadier Faber hatte seine Ordre erfüllt, und wenn die tödtende Kugel nicht mit in seiner Ordre stand, so waren die Kriegsartikel nicht in Verlegenheit, einen rettenden Paragraphen für ihn zu finden. Die Klage der Eltern fand keine Gerichtsstätte, und wenn auch der Himmel sein Strafgericht ergehen ließ, und zwar vielleicht am Unschuldigsten, an dem Werbeofficier, der später in Hildburghausen einem qualvollen Selbstmord erlag, so blieb den Eltern doch Nichts, als des Sohnes blutiger Leichnam und sein Grab.

So erging es in diesem patriarchalischen Staat. Und doch waren die Fürsten von Hildburghausen nicht schlimmer als ihre ebenbürtigen Zeitgenossen, ja, der Herzog Ernst Friedrich der Zweite, welcher damals regierte, war ein an Körper und Geist kranker Mann, für den seine vortreffliche Gemahlin ein vernünftiges und mildes Regiment führte. Aber Geld brauchte man freilich allezeit, denn der Vater des Herzogs, Ernst Friedrich der Erste, war ein arger Verschwender gewesen. Seine hochfürstlichen Passionen, Bauten, glanzvolle Hofhaltung, Jagden, Soldaten, Processe, verschlangen ungeheure Summen und häuften Schulden auf Schulden. Sie lebten wie die unmündigen Kinder, wie immer in den Flegeljahren, die Fürsten jener Zeit, bald im Heldenharnisch und die Krone auf dem Haupte bereit, sich von ihrem Schranzenvolke anbeten zu lassen, bald wieder der menschlichsten Gutmüthigkeit zugänglich. Da sehen wir denselben glanzsüchtigen stolzen Ernst Friedrich den Ersten von Heldburg her den Hildburghäuser Stadtberg hinauffahren. Ein Gewitter kommt. Der Herzog ruft dem alten Kutscher zu: „Andres, fahr’ auf!“ Andres bleibt im selben Schritt. Zum zweiten Mal fährt das Fenster auf: „Kerl. fahr’ zu!“ Es bleibt beim Alten. Zum dritten Mal: „Verdammter Kerl, so hau’ die Pferde, daß sie stürzen! Es donnert ja schon!“ Da wendet sich Andres halb auf seinem Sitze um und schreit den Herzog an: „Durchlaucht, Ihr habt wohl der Pferd’ zu viel’?“ Das Fenster fährt zu, Andres bleibt im Schritt; aber das Gewitter und die Ungnade ziehen miteinander vorüber. – Und derselbe Fürst konnte durch seine Jagdwuth unsäglichen Schaden und viel Drangsal über seine Unterthanen verhängen, er konnte hart und grausam sein, wo der Satz in Gefahr kam, daß diese Unterthanen einzig nur der Fürsten wegen da seien. Dieser fürstliche Wahn erfüllte auch bessere Häupter, und darum wundern wir uns nicht, wenn von diesem Hildburghäuser Hofe den Eltern des armen hingemordeten Jünglings auch die letzte Gunst versagt wurde, die ihnen Balsam auf ihre wunden Herzen gewesen wäre, die Gunst, einen Denkstein an der Stätte errichten zu dürfen, wo ihr Andreas sein junges Leben ausgehaucht.

Auch dies wurde versagt. Es durfte kein Denkmal erhöht werden, um die Schandthat todtzuschweigen. Aber das einfache Gefühl der treuen Volksherzen siegte über das Verbot und machte seine Absicht zu Schanden. Als die letzte Bitte versagt war, gingen Andreas Korneffer’s Braut und Schwester zu jener blutigen Stätte und legten auf dem Boden aus Steinen des Feldes das Kreuz, das heute, nach mehr als hundertundvierunddreißig Jahren noch auf derselben Stelle liegt.

Die Nachkommen jener Familie Korneffer leben noch in Streufdorf, und in ihnen lebt es als eine stille heilige Pflicht fort, das Ackerkreuz zu wahren. Aber wenn selbst kein Glied der Familie mehr übrig wäre, – dieses Kreuz müßte erhalten werden. War es einst ein Liebeszeichen, ein stilles, am Boden verborgenes, das nur zu vertrauten Herzen sprechen konnte, so reden jetzt diese Steine zu jedem Deutschen und erzählen ihm die Geschichte von den wiedereroberten Menschenrechten. Da liegt es am Ackerrand, wie einst das deutsche Volk am Boden lag, doch über ihm schwebt der unbezwingliche Geist der Nation: ihm, seinen Kämpfen, seinen Siegen sei dies Denkmal geweiht für alle Zeiten!

Friedrich Hofmann.
[763]
Dorfanlage und Hausbau in Deutschland.
Von Wilhelm Jungermann.
Die Dorfanlage als geschichtliche Urkunde. – Dr. Landau in Kassel. – Der fränkische, der sächsische und der thüringisch-slavische Bauernhof. – Die Hufeisenform der thüringischen und lausitzer Dörfer. – Die Inschriften, Sinnsprüche und Rebus am fränkischen Hause. – Die Utlucht und die Dehle des altsächsischen Hauses. – Gemüthliche Behaglichkeit desselben.

Wie wir heutzutage andere Augen bekommen haben für uns selbst und unsere Rechte und Aufgaben im Leben, so haben wir auch das Leben der früheren Zeiten mit anderen Augen ansehen lernen. Mit dieser veränderten Anschauung aber über die Aufgaben der Geschichtschreibung ist nun auch die Art und Weise der Forschung eine ganz andere und gar Manches als werthvolle Quelle erkannt worden, woran wir früher gleichgültig vorüber gegangen sind. So wäre es wohl noch vor zwanzig Jahren Niemand eingefallen, die Anlage unserer Dörfer und den Bau unserer Häuser als Mittel zur Erkenntniß für Dinge und Zustände anzusehen, die auf weit über tausend Jahre in unsere frühere Geschichte hinabreichen, ja die einzigen sicheren Urkunden für die wichtige und interessante Frage sind, wie es in der vorgeschichtlichen Zeit im deutschen Lande ausgesehen und was wir eigentlich als ursprünglich deutsches Land zu betrachten haben.

Der Mann, der zuerst auf diesen Gedanken gekommen, ist in der gelehrten Welt bereits wohlbekannt; er verdient es aber auch um seines treuen Fleißes und seiner naturwüchsigen und echt volksthümlichen Forschungsweise willen, daß auch die weiteren Volkskreise von ihm und seinen Arbeiten Kenntniß erhalten. Es ist der Archivrath Dr. Georg Landau zu Kassel. Landau, der sich vielfach mit unserer ältesten Geschichte und deren dürftigen und unzureichenden Quellen beschäftigt hat, über dem Schweinsleder und Pergament aber das helle Auge für die Dinge des wirklichen Lebens nicht verlor, gewann nach und nach die Ueberzeugung, daß Häuser und Dörfer es wohl in Deutschland so lange gegeben haben müsse, als unser Volk überhaupt Ackerbau betrieben und feste Wohnsitze gehabt, daß ferner auch die Art und Weise, wie unsere Dörfer angelegt, unsere Feldfluren aufgetheilt und unsere Bauernhäuser gebaut und eingerichtet worden, jedenfalls Einrichtungen von einer solchen Zähigkeit und unverwüstlichen Dauer seien, daß von ihnen aus vielleicht ein sicherer Rückschluß auf die ältesten Zustände unseres Volkes möglich erscheine. Weitere Nachforschungen ergaben denn auch wirklich für den Theil von Deutschland, wo sie zunächst angestellt wurden, eine so überraschende Stetigkeit und Gleichmäßigkeit in allen diesen Dingen, daß der Versuch, auf diesem Wege weiter vorzudringen, in jedem Fall als lohnend erscheinen mußte. Mit diesen Ergebnissen trat Landau – ich glaube es war im Jahre 1855 oder 1856 – vor die Hauptversammlung des Vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsforscher und sprach denselben um seine Unterstützung für die Ausführung derartiger Forschungen durch ganz Deutschland an. Der Verein ging auch bereitwillig auf diesen Vorschlag ein; es nahm sich jedoch auch König Johann von Sachsen der Sache an, und später bewilligte auch die preußische Regierung eine entsprechende Geldsumme zur Förderung dieses Zweckes. So wurde Landau in den Stand gesetzt, zunächst die Dörfer und Häuser in beiden Hessen, Nassau und baierisch Franken zu untersuchen, denn diese Art von Studien muß nicht blos mit den Augen, sondern auch mit den Beinen abgemacht werden. Eine zweite Reise führte ihn nach Westphalen und in das alte Sachsenland, eine dritte nach Thüringen, in die Lausitz, nach Schlesien und bis nach Polen. Seitdem haben die Untersuchungen geruht, weil der Alterthumsverein keine Mittel mehr hatte und auch sonst Niemand sich bereit fand, die nöthigen Mittel herzugeben. Noch aber stehen die Forschungen in einem großen Theile von Deutschland zurück: die Rheinlande fehlen noch, Baiern, Baden, Württemberg und die norddeutschen Länder sind noch nicht besucht, und ein Abschluß der ganzen wichtigen und mühevollen Arbeit ist daher vor Beendigung dieser Forschungen nicht möglich.

Und nun zur Sache selbst.

Vor Allem sei darauf aufmerksam gemacht, daß wir es hier nicht mit der Anlage der Städte und dem Bau der städtischen Häuser, sondern nur mit den Dorfanlagen und den Bauernhäusern zu thun haben. So wichtig die Entwickelung des städtischen Eigenthums für viele geschichtliche Fragen ist, so entscheiden doch die städtischen Bauten nichts für die hier in Beracht kommenden Verhältnisse, weil die ältesten Deutschen nicht in Städten, sondern nur in Dörfern oder etwa in Einzelhöfen gewohnt haben. Nach dem Charakter der Dorfanlage und dem bäuerlichen Hausbau aber hat Landau bis jetzt drei scharf gesonderte Gruppen unterschieden: den fränkischen Bauernhof in beiden Hessen, Nassau, dem fränkischen Baiern und bis zum Neckar; den sächsischen Bauernhof im alten Sachsenland (Westphalen, Engern und Ostphalen) und den thüringisch-slavischen Bauernhof an der Nordgrenze von Kurhessen, in Thüringen und in der Lausitz bis zum Queis. Daneben steht dann noch mit einem anscheinend dem altsächsischen Bauernhause ganz gleichen Hausbau der räthselhafte westphälische Einzelhof in dem Lande nordwärts von der Lippe. Dieser westphälische Einzelhof, der sich sonst nirgends weder in Franken, noch im alten Sachsenland, noch in Thüringen und in der Lausitz findet, der scharf abhebend von der Lippe nur in dem Lande nördlich von diesem Flusse vorkommt, wird uns weiter unten noch ausführlicher beschäftigen. Hier genüge nur die kurze Bemerkung, daß dieser Einzelhof – wie ja schon der Name erkennen läßt – den geraden Gegensatz zu der Dorfanlage bildet. In der Dorfanlage aber unterscheiden sich die echt deutschen Dörfer in Franken und im alten Sachsenland in keiner Weise von einander, wohl aber bilden sie einen sehr ausfallenden Gegensatz zu der Anlage der – nach dem Urtheil Landau’s wenigstens – ursprünglich nicht deutschen, sondern slavischen Dörfer in Thüringen und in der Lausitz.

Grundriß des thüringischen Dorfes Müncherode bei Jena.

Die echt deutschen Dörfer nämlich haben eine doppelte Art der Anlage. Die älteste Form ist diejenige, bei welcher das Dorf als eine Gruppe von Höfen sich darstellt, in der eine bestimmte Ordnung nach Gassen nicht erkennbar oder, wo diese dennoch sich zeigt, erst durch spätere Anbauten gebildet worden ist. Mit dieser Dorfform ist sodann regelmäßig auch diejenige Flurordnung verbunden, in welcher die Hufe aus einzelnen Ackerstücken besteht, die je nach der Beschaffenheit des Bodens (Gewanne) in der ganzen Feldflur zerstreut liegen. Eine jüngere Dorfform zeigen diejenigen Dörfer, welche entweder in einer oder mehreren Gassen angelegt sind, oder auch als eine lang sich hinziehende Reihe zerstreuter Höfe erscheinen, während in beiden Fällen die Hufen dieser Dörfer in der Regel ein zusammenhängendes Stück bilden. Dörfer mit solchen zerstreut liegenden Höfen finden sich hauptsächlich im Gebirge (Oberbaiern) und in den Marschen Norddeutschlands. Im Gegensatz zu dieser deutschen Dorfanlage haben nun die slavischen Dörfer in Thüringen und in der Lausitz eine bald mehr bald minder scharf ausgeprägte runde, hufeisenähnliche Form. Die einzelnen Hofreithen nämlich schließen sich fest an einander und die Einfahrten der Höfe gehen sämmtlich auf den inneren offenen Raum [764] des Dorfes aus, und das ganze Dorf hat in Folge dessen nur einen Zugang von außen. Der innere offene Raum des Dorfes, der Anger, ist meist mit Gras bewachsen und in der Mitte desselben befindet sich in der Regel ein kleiner, von Weiden etc. beschatteter Teich, zuweilen jedoch auch die Dorfkirche. Hinter den Häusern liegen die Gärten, und da diese sich wie die Hofreithen fest an einander schließen, so bilden auch diese eine mehr oder minder runde Form und, von ihren Hecken umgeben, vielfach einen das ganze Dorf umschließenden, undurchdringlichen Hag. Um diese Hecken herum lief sodann – wenigstens in alter Zeit – noch ein jetzt fast überall zugeworfener Graben von nicht unbeträchtlicher Breite und Tiefe, der in Verbindung mit dem Umstande, daß das Dorf nur einen Zugang von außen hatte, die Vertheidigung gegen äußere Feinde ziemlich leicht machte.

Die vorstehende Zeichnung ist der Grundriß des Dorfes Müncherode bei Jena. Die schwarz gehaltenen Stellen bezeichnen die Wohngebäude; die Wirtschaftsgebäude sind durch eine schieflinige Schraffur angegeben; die wagerechten Striche gelten dem Hofraum; die mit W bezeichneten Stellen und das Kreuz im Innern des Dorfes deuten die kleinen Weiher und die Kirche an; die abgetheilten Parcellen sind die Gärten. Wir erkennen aus dieser Zeichnung noch sehr deutlich die runde Hufeisenform der Dorfanlage, dagegen sehen wir, daß auf der Südseite sich ein zweiter Zugang zum Dorf gebildet hat; dies ist vielfach auch anderwärts,

Altsächsisches Haus in Kohlenstädt in Hessen.

theils durch die heutige stärkere Bevölkerung und die höhere Entwickelung der Landwirtschaft, theils auch unter dem Einfluß der Staatsbehörden mit Rücksicht auf die große Feuergefährlichkeit eines einzigen Zuganges nothwendig geworden. Ueberhaupt aber muß bemerkt werden, daß diese runde Form der Dorfanlage in Thüringen nur die Regel bildet, welche Ausnahmen, namentlich deutsche Coloniedörfer, nicht ausschließt. Thatsache aber ist, daß in Thüringen und jenseit der Saale und Elbe bis nach Schlesien hin noch heute die eben beschriebene, mehr oder weniger runde, eigenthümliche Dorfanlage herrscht und daß sich diese Dorfform niemals und nirgends in den ursprünglich deutschen Ländern, im alten Franken- und Sachsenland, vorfindet.

Gehen wir nun zu dem Hausbau über. Der Bauernhof im alten Frankenland, d. h. also in dem Land von der altsassischen Grenze – wir werden später sehen, wo diese hinläuft – rechts des Rheins bis nach Schwaben hin, hat durchweg folgende Eigentümlichkeiten: Haus und Scheune sind, mit alleiniger Ausnahme der Grundmauer, stets von Holz; beide sind, wenn auch oft verbunden, immer zwei selbstständige Gebäude; das Haus ist stets zweistöckig, hat im Erdgeschoß Stallungen und seinen Eingang stets auf der langen Seite. Im Uebrigen zeigen die Häuser wohl manche Verschiedenheiten, in diesen Punkten aber stimmen sie alle überein. Jeder größere Bauernhof bildet in der Regel ein ziemlich geräumiges Viereck.

Eine Eigentümlichkeit des fränkischen Hauses ist sodann noch die, daß die äußeren, mit weißer Kalkfarbe angestrichenen Wände des Wohnhauses und der Scheuer vielfach bald mit gemalten Blumen, Reitern und sonstigen Figuren, bald mit ernsten und scherzhaften Sprüchen, bald in beiden Weisen verziert sind. Sprüche dieser Art sind z. B.:

An Gottes reichem mildem Segen
Ist aller Menschen Thun gelegen;

oder:

Unse Mäd, di Ann,
Die hätt so gern en Mann.
Wetzt ü Nimäds, den se neme kann?

Selbst Rebus-Räthsel kommen oft vor. Auch am sächsischen Hause finden sich solche Inschriften, doch sind sie nicht auf die Balken gemalt, sondern in dieselben eingeschnitten und lauten gewöhnlich: „N. N. und seine Ehefrau haben Gott vertraut und dieses Haus gebaut“. Figuren werden dagegen zur Verzierung des sächsischen Hauses nicht angebracht, eigenthümlich aber sind dem Sachsenhaus die über einander sich kreuzenden obersten Dachsparren an den Giebelwänden, deren Spitzen fast stets zu Pferdeköpfen ausgeschnitzt sind. Das thüringische Haus hat weder Inschriften, noch Figuren, noch Pferdeköpfe.

Wesentlich verschieden von Haus und Hof des fränkischen Bauern ist Haus und Hof des altsächsischen Bauern, und zwar ist diese Verschiedenheit so in die Augen fallend, daß sie sich in die paar Worte zusammendrängen läßt: der sächsische Bauernhof vereinigt Alles unter einem Dach: Haus, Scheune und Stallung. Aus dieser Grundverschiedenheit ergeben sich nun noch folgende Einzelverschiedenheiten: das sächsische Haus hat stets nur ein Erdgeschoß und die Höhe desselben bis zum Dachstuhl mißt kaum zehn

Innere Einrichtung des altsächsischen Bauernhauses.

bis zwölf Fuß, darüber aber erhebt sich ein gewaltiges Strohdach, welches blos auf den äußeren Wänden ruht und nur Querbalken, nicht auch aufrechtstehende Säulen hat; das sächsische Haus geht zwar ferner, ebenso wie das fränkische, mit der schmalen (Giebel) Seite auf die Straße und mit der langen Seite auf den Hof, allein die Wohnung liegt nicht, wie bei dem fränkischen Hause, in dieser nach der Straße hin gekehrten Giebelseite, sondern in der gerade entgegengesetzten Rückseite, während die Giebelwand nur den Haupteingang, ein gewaltiges Thor, enthält. Außer diesem Thor erblickt man daher von der Straße aus nur etwa noch einige Stallthüren und Fensterluken, und das Ganze macht also, im Gegensatz zu dem freundlichen fränkischen Hause, einen überaus öden, unwirthlichen, abgeschlossenen Eindruck. Unsere zweite Zeichnung wird hiervon ein entsprechendes Bild geben; sie ist von einem Hause in Kohlenstädt, einem der ältesten Häuser der kurhessischen Grafschaft Schaumburg, aufgenommen, das freilich inzwischen einem neuen Gebäude hat weichen müssen. Die innere Einrichtung wird dagegen die dritte Zeichnung veranschaulichen.

Auf derselben bezeichnet 13 den Vorschoppen (die sogenannte Utlucht), 5 den Gänsestall, 12 den Pferdestall, 4 den Kälberstall, 11 den Hackstall (die Häckselkammer), der zugleich als Schlafkammer der Knechte dient (im fränkischen Bauernhaus schläft der Knecht stets im Pferdestall selbst), 3 den Kuhstall, 10 den Fohlenstall, 9 den Gemüsekeller, 8 die Mägdekammer, 7 die Kammer des Leibzüchters, 2 die Kammer des Hausherrn und der Hausfrau, 1 die Wohnstube derselben, 15 den Feuerheerd und die Küche, 14 endlich die Dehle, d. h. den vom Thor bis zur anderen Giebelwand offenen Raum, auf dem gedroschen wird und dessen Boden deshalb meist aus gestampftem Lehm, nicht selten aber auch aus Steinpflaster besteht. Diese Dehle ist ein ganz charakteristischer Bestandtheil des sächsischen Hauses. Sie ist in der Regel so breit, daß ein mit vier Pferden bespannter Erntewagen bequem darin einfahren kann (im vorliegenden [765] Falle sechszehn Fuß breit), auf ihr oder von ihr aus bewegt sich das Treiben des ganzen Hauses. Die sämmtlichen Ställe sind gegen die Dehle hin offen, so daß das Vieh seine Köpfe auf sie herausstreckt und von hier aus gefüttert wird; auf der Dehle wird der Flachs zubereitet, auf ihr treiben sich Hühner und Tauben, Gänse und Enten umher, um ihr Futter zu suchen und zu finden, auf ihr bewegt sich auch vorzugsweise die Kinderwelt des Hauses. Die Dehle ist sodann in entsprechender Höhe durch starke Eichenbohlen vom Dachraum abgeschieden, und auf diesem Raum, dem sogenannten Balken, wird das noch nicht gedroschene Getreide aufbewahrt. Die Räume über den Ställen und Kammern dagegen, rechts und links von der Dehle, sind ebenfalls durch Eichenbohlen vom Dachraum abgeschieden. Es sind dies die Böhnen, auf denen, je über den entsprechenden Ställen, das Viehfutter und außerdem das Obst, das Mehl, die Victualien und das gedroschene Getreide untergebracht wird. Zu diesen Böhnen sowohl, als zu dem Raum über der Dehle führen aber keine Treppen, sondern einfache Leitern. Nur der über dem Heerd befindliche Raum ist ganz offen. Es ist zwar daselbst aus Bretern ein Rauchfang angebracht, ein Schornstein aber fehlt. Der Rauch durchzieht das ganze Haus und sucht sich seinen Ausweg, wo er ihn eben findet.

Das soeben beschriebene Haus bildet, geräumig wie es ist und sein muß, den Hauptbestandtheil des altsächsischen Bauernhofs. Ein rechter sächsischer Bauernhof aber umfaßt mit dem Haus immerhin eine Fläche von mindestens zwei Morgen und bildet gewöhnlich ein längliches, von einem Zaune umfriedigtes und durch ein breites Thor (das Heck) verschlossenes Viereck, das sehr häufig von einem Kranze alter Eichen und anderer Waldbäume umschlossen wird.

So unvortheilhaft das finstere Aeußere des sächsischen Bauernhauses gegen das fränkische Haus absticht, ein so sinniges, patriarchalisches Familienleben gestattet doch dasselbe. Je abgeschlossener nach außen das Hauswesen des sächsischen Bauern auftritt, um so inniger verbunden zeigt sich dasselbe in seiner inneren Einrichtung. Vieh und Menschen, Herr und Knecht, Frau und Magd, Kind und Kegel – das Alles ist nur ein Ganzes und bewegt sich unter einem und demselben Dach, fast auf einem und demselben Raum. Wie der Hausherr zu jeder Zeit das Treiben der Knechte, so kann die Hausfrau auch in jedem Augenblick das Treiben der Mägde, die Pflege des Viehes übersehen. Der Theil des Hauses aber, an dem die Hausfrau die meiste Zeit des Tages, jahraus jahrein sich aufhält, ist der Heerd. Am westphälischen Haus versteht man erst den Sinn des Wortes: „sich einen eigenen Heerd gründen“. Hier brennt fast den ganzen Tag ein lustiges Feuer, hier wird das Mittag- und Abendbrod verzehrt, hier sitzt die Hausfrau hinter dem Spinnrad und betrachtet und übersieht Alles, was im Hause vorgeht. Namentlich aber ist dies in den Häusern der Fall, wo die Wohnstube nicht längs der Dehle liegt, sondern die der Utlucht entgegengesetzte Seite des Hauses abschließt, der Heerd also, der unmittelbar vor der Wohnstube gelegen ist, fast den Mittelpunkt des ganzen Hauses bildet.

Fragen wir nun nach dem Gebiet, in dem dieses sächsische, jedoch in manchen Gegenden bereits stark modificirte Bauernhaus sich vorfindet, so dürfen wir wohl annehmen, daß es ursprünglich in dem ganzen alten Sachsenlande verbreitet gewesen ist, also in dem Gebiet der alten Westphalen, Engern und Ostphalen, nämlich in den Ländern südlich von der Lippe bis zur Weser und von der Weser bis zum Harz. Die heutige Ausdehnung dieser Bauweise entspricht dagegen nicht mehr diesen Grenzen des alten Sachsenlandes. Gänzlich verwischt ist dieselbe namentlich im Osten, wo vom sächsischen Thüringen her der thüringische Hausbau seit ein paar Jahrhunderten – wir wissen nicht aus welchen Gründen – übergegriffen hat und zwar von den Ufern der untern Werra her bis zur Ostseite des Solling, ja bis zum Harz, so daß erst bei Elze und Hildesheim sich der sächsische Bau wiederfindet. Dagegen scheint der sächsische Bau in das Land nördlich der Lippe, wo der Einzelhof herrscht, bis an die Grenze Ostfrieslands sich ausgedehnt zu haben. Die Grenzen im Westen nach dem Rhein hin sind noch nicht festgestellt, wohl aber ist dies geschehen in der Richtung nach Süden, also nach dem Gebiet des fränkischen Stammes, und zwar geht hier die Scheide haarscharf auf der Grenze der beiden großen Volksstämme her, so daß wir z. B. im nördlichen Theil von Kurhessen und in Waldeck schon die dicht bei einander liegenden Dörfer mit fränkischem und sächsischem Bau genau erkennen.

(Schluß folgt.)




Der Ueberfall bei Zwickau.
Nach den Mittheilungen eines alten Freiwilligen.
Von G. Ladendorff.

Am 28. Mai des Völkerfrühlingsjahres 1813, wo aus den tief auf Deutschland herabhängenden Wetterwolken plötzlich die Gedankenblitze Freiheit und Vaterland den Sturmgeist entzündeten, der die Erhebung und bürgerliche Selbstthätigkeit des preußischen Volkes hervorrief, lagerte in einem prächtigen Laubwalde zwischen Reichenbach und Schneeberg in Sachsen eine achtzig Mann starke Abtheilung freiwilliger Jäger und zwölf Husaren, die der preußische Rittmeister von Colomb vom brandenburgischen Husarenregiment befehligte.

Dieser unternehmende, gewandte und glückliche Parteigänger, der den gehobenen Pulsschlag der Zeit erkannte und der deutsch-patriotischen Gesinnung des sächsischen Bruderstammes vertraute, hatte die kleine ausgewählte Schaar aus dem Lager von Meißen über die Elbe, längs der böhmischen Grenze nach dem Voigtlande geführt, um hier, im Rücken der französischen Armee, seinen Thatendurst und Napoleonhaß im Blute des Feindes zu kühlen.

Es war damals eine Zeit der Angst und Besorgniß. Die bei Lützen und Bautzen geschlagene Armee der Preußen und Russen war auf das rechte Ufer der Elbe zurückgegangen und sollte über die Oder geführt werden, nach deren Ufer an mehreren Punkten bereits die Pontonbrücken vorausgeschickt waren. Die Russen ließen deutlich die Absicht durchblicken, Schlesien aufzugeben und sich nach Polen zrückzuziehen, wohin die preußische Armee ihnen folgen sollte. Wenn diese Absicht zur Ausführung kam, war Preußen verloren. Die verbündete Armee hätte die aufgegebenen Gebiete, welche sie ja nicht einmal zu vertheidigen wagte, niemals wieder zurückerobert, die Erhebung des preußischen Volkes verblutete unter der Adlerkralle des fränkischen Kaisers und Deutschland war eine sichere Beute des glücklichen Corsen.

Dazu hatte man Verhandlungen wegen eines Waffenstillstandes eingeleitet, die das ganze Land in die größte Aufregung versetzten, weil man glaubte, daß daraus ein fauler, für Preußen schimpflicher Frieden hervorgehen würde. Blücher, den die Umgebung seines Kriegsherrn einen „betrunkenen Tollkopf“ und „blinden Dreinstürmer“ schelten durfte, und die thatkräftigen Männer seines Generalstabes paralysirten zum Glück die Anstrengungen, womit die Schwachköpfe im Hauptquartier die Friedenspolitik des flachen, pfiffigen, undeutschen Metternich unterstützten, und das Feldgeschrei der Nation: „Sieg oder Tod! Freiheit oder Untergang!“ besiegte die Bedenklichkeiten, welche man der Fortführung des Krieges entgegensetzte.

Auch der Rittmeister von Colomb gehörte zu jenen Männern der That, des Wagnisses auf Leben und Tod, die in den Zelten der Armee den mächtigen Ideenstrom wach erhielten, der so thatkräftig durch das Land rauschte. Er hatte erkannt, daß die Ketten der Fremdherrschaft nur durch die selbstthätige Kraft der Nation gesprengt werden konnten, und darum unterstützte und beförderte er die Erhebung der todesmuthigen Jugend und war eifrig bemüht, daß die Hitze des Freiheitsenthusiasmus, welche den in prudelwitzischen Subordinationsideen befangenen Officieren der alten Schule oft unbequem wurde, bei den ihm untergebenen Freiwilligen nicht unter dem Kühlapparat einer capriciösen Dressur verdampfte. Er behandelte die Schwadron freiwilliger Jäger, welche er führte, mit einer cameradschaftlichen Vertraulichkeit, die ihm alle Herzen gewann und seinen Befehlen die rücksichtsloseste und freudigste Ausführung sicherte.

Es war ein angenehmer Maitag, als Colomb nach einem anstrengenden Marsche seinem kleinen Detachement eine kurze Rast in dem Gehölz von Reichenbach gönnte. Langsam graute der Abend [766] herauf. Die auf den Ackerfeldern beschäftigten Landleute eilten nach vollendeter Arbeit ihren Wohnungen zu, die Heerden zogen heimwärts, der Vogelgesang verstummte nach und nach, und still und immer stiller wurde es auf der Feldflur.

Dagegen entfaltete sich in dieser Stunde in den grünen Gehegen des mit Vedetten umstellten Reichenbacher Waldes ein heiteres Treiben, ein frisches, fröhliches Leben. Auf einem von alten Buchen und Eichen umschlossenen freien Platze brannte ein mächtiges Feuer, das grell die bunte Scenerie beleuchtete, die den Wald belebte. An der einen Seite des geräumigen Platzes standen die Pferde des Detachements, lebhafte und kräftige Thiere, die ihre Rationen aus den vorgebundenen Freßbeuteln mit dem besten Appetit verzehrten. Hinter ihnen lag das Sattel- und Zaumzeug in einer wohleingerichteten Linie, in einer zweiten Reihe glänzten die Waffen der Reiter, die, mit Ausnahme der Stall- und Lagerwache, ungebunden in den dunklen Laubgängen umherschwärmten. Das lebhaft brennende Feuer war von allen Seiten mit den verschiedenartigsten Kochapparaten umstellt, mit Feldkesseln, Töpfen, Kasserolen, Pfannen und Bratspießen soldatischer Erfindung, was zu der Vermuthung führte, daß in dem Bivouak ein substanzieller Comfort herrschte, der selbst dem verwöhntesten Gaumen Befriedigung versprach.

Diese Vermuthung war vollständig begründet. Die kühnen Freiwilligen hatten nämlich vor einigen Tagen bei Roda im Altenburgischen einen reich beladenen würtembergischen Wagenzug weggenommen, der mit Bekleidungsstücken und Victualien befrachtet war. Da wurden nun die verschiedensten Gerichte: Setzeier, Pfannkuchen, Beefsteaks oder Hammelsrippchen unter dem Beirath der schönen Damen bereitet, die aus der ganzen Umgegend in das Bivouak gekommen waren, um den preußischen Weglagerern ihre Sympathien zu bezeugen. Der Jubel war grenzenlos, der Widernapoleonismus der braven Bevölkerung machte sich in den kühnsten Demonstrationen Luft, obgleich der Rittmeister die freudig erregten Leute darauf aufmerksam machte, daß sie sich dadurch den übelsten Folgen aussetzten. Das Bivouak verwandelte sich in ein Lustlager, es wurde getrunken, gesungen, getanzt, und die kecken Jäger bedienten die Damen mit der ritterlichsten Courtoisie.

Eine kleine Gesellschaft musikalischer Dilettanten, an welchen Sachsen so reich ist, improvisirte unter einer Gruppe alter Föhren ein Concert. Zwei Mandolinen, eine Violine und eine Flöte führten zunächst einige Tanzstücke aus. Nachdem dies geschehen, erhob ein junges Mädchen ihre Stimme; sie sang zur Mandoline ein patriotisches Lied. Die Augen der Umstehenden begannen zu funkeln, Feldmützen und Hüte flogen in die Luft. Die Sängerin schwieg. Ein rasender Applaus erschütterte den Wald, ein Donner der Begeisterung, ein jubelnder Dank für das Arndt’sche Sturm- und Freiheitslied, welches die deutsche Jungfrau mit glockenreiner Stimme und richtiger Betonung vorgetragen hatte.

An einer anderen Stelle lagerte eine Gruppe Jäger, die unter studentischen Formen dem Bacchus so manche Libation darbrachten. Ein mächtiges mit Frankenwein gefülltes Trinkhorn kreiste fleißig in der lustigen Runde und wurde, wenn es geleert war, aus einem Fäßchen gefüllt, das die umsichtige Marketenderin des Detachements aus Neustadt an der Orla mitgeführt hatte.

Der Oberjäger von Heuthausen, ein junger Mann mit offnen, kecken Zügen, der die Pandekten mit der Kugelbüchse vertauscht hatte, richtete sich aus seiner liegenden Stellung auf, und das volle Trinkhorn schwingend, rief er mit einer Stimme, die wie tönend Erz erklang: „Cameraden, ich trinke in diesem Wein auf den Tod und das Verderben jener diplomatischen Ischariothe, welche die Erhebung des deutschen Volkes paralysiren, den Freiheitskampf in die ausgefahrenen Geleise eines nüchternen Cabinetkrieges hinüberleiten, die freiheitlichen Blüthen von den Bäumen schlagen möchten, bevor sie zu Früchten werden können. Pereant die uniformirten und nichtuniformirten Metterniche des preußischen Hauptquartiers!“

Pereant!“ schallte es weit über den Platz hinaus; das Trinkhorn machte die Runde und wurde bis auf die Nagelprobe geleert.

Der Jäger Föring, der von dem Comptoirstuhl auf den Rücken eines Husarenpferdes gestiegen war, schlank und leicht gebaut, sein Haar hell, seine Augen blau und tief, ließ das Trinkhorn von Neuem füllen. Der kaum siebenzehnjährige Jüngling besaß die volle Neigung seiner Cameraden; immer guten Muthes war er stets Hahn im Korbe. Er hob das randvolle Trinkhorn gegen den abendlichen Himmel und mit dem musikalischen Accent seiner Heimath Schlesien rief er: „Es leben die Männer der That, die Kraftgenies in den Reihen der schlesischen Armee! Hoch Scharnhorst, Gneisenau und Boyen, und drei Mal Hoch Blücher, der Roland der Schlachten!“

Ein kräftiges Hurrah tönte durch den Wald und fand einen hundertfachen Widerhall in der enthusiastischen Beistimmung, womit es von den auf dem Platz zerstreuten Jägern und ihren Gästen aufgenommen wurde. In diesem Augenblick trat der Rittmeister in den Kreis der begeisterten Zecher. Jugendkräftig wie ein Achill, blickte er mit einem Gesicht voll freundlichen Wohlwollens auf die jüngern Cameraden, die sich achtungsvoll erhoben hatten und ihrem Commandeur in militärischer Haltung gegenüberstanden.

„Auch das haben die Herren mit den homerischen Helden gemein, daß sie sich nach dem Kampfe bei dem lecker bereiteten Mahle versammeln,“ sagte er lächelnd, indem er auf einen gebratenen Kapaun zeigte, den die flinke Marketenderin soeben servirte.

„Es ist leicht ein Tapferer zu sein,“ entgegnete Heuthausen, „wenn man einen Führer hat, wie ihn uns das Glück bescheert.“

„Lassen wir die Complimente,“ unterbrach ihn der Rittmeister, „und machen wir’s uns bequem. Nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein, meine Herren, und erlauben Sie mir, daß ich mich in Ihre fröhliche Runde einreihen darf.“

Sich behaglich auf den weichen Rasen hinstreckend, setzte er freundlich hinzu: „Föring wird so gütig sein, den Kapaun zu tranchiren. Er weiß ja sonst so prächtig mit den Gallischen Henningen umzugehen, daß es ihm nicht schwer werden wird, mit diesem vaterländischen fertig zu werden.“

Der Kapaun und einige appetitliche Beigaben wurden ohne jedes Ceremoniel verzehrt. Der reichlich dargereichte Wein würzte das Mahl und regte die bereits gehobene Stimmung noch mehr an.

Der Rittmeister ergriff das Trinkhorn, hielt es hoch empor und rief: „Ich trinke auf das Wohl der todesmuthigen preußischen Jugend, die in freier Selbstbestimmung und mit dem Jubelruf: Krieg, Krieg für Freiheit und Vaterland! unter die Fahnen eilte. Geloben wir tödtlichen Haß dem Franzosenthum und seinem despotischen Gewalthaber. Dieser Haß muß der Brennpunkt werden, in dem alle die zerstreuten Flämmchen sich zusammenfinden, die der heilige Sturm, der durch das Land geht, ausstrahlt. Hoch das thatkräftige Preußen und seine nach Kampf und Sieg lechzende todesmuthige Jugend!“

Der Enthusiasmus, den diese Worte entzündeten, machte sich in Toasten Luft, welche erkennen ließen, wie heiß diese Jünglinge das Vaterland liebten, wie tief sie den Unterdrücker der deutschen Nation haßten. Die edelsten Gelübde, begeistert gethan und schön erfüllt, wurden laut ausgesprochen, denn noch war die Zeit nicht da, welche, was in diesen Völkerfrühlingstagen eine Tugend war, zum Verbrechen stempelte und die deutschen Jünglinge wie Verbrecher hetzte, weil sie die freiheitliche und nationale Entwicklung zeitigen wollten, für welche sie gekämpft und geblutet hatten.

Ruhig ließ der Rittmeister das Feuer, welches er selbst angefacht hatte, ausbrennen; als man aber ein Lebehoch auf sein Wohl mit sinnigen und tief empfundenen Worten ausbrachte, unterbrach er den Redner, und während ein wunderlicher Ausdruck, aus Humor und Gereiztheit gemischt, durch seine Züge ging, sagte er: „Wissen Sie schon, meine Herren, daß die Majestät in Kassel im westphälischen Moniteur auf mich, weil ich in Ostfriesland geboren bin, als einen davongelaufenen ,Brigand‘ fahnden läßt?“

„Mag er kommen, dieser Komödiant im Purpurmantel, dies Zerrbild eines deutschen Königs, und Sie aus unserer Mitte wegholen!“ entgegnete Föring, während sich seine Rechte unwillkürlich um den Griff seines Säbels legte. „Wenn er und seine Schergen, die um ihn herumkriechen, um seinen Speichel zu lecken und sich von ihm mit Füßen treten zu lassen, dazu aber nicht den Muth haben, so möchten wir schon entschlossen sein, der grotesken Majestät in Kassel eine Visite abzustatten. Die Artigkeit, womit er Sie, Herr Rittmeister, behandelt, macht es uns zur Pflicht, ihn nicht zu lange warten zu lassen.“

„Ein Zug nach Kassel gehört nicht zu den Unmöglichkeiten,“ erwiderte der Rittmeister. „Ich würde mich nicht lange besinnen, denselben in Ausführung zu bringen, wenn ich bei den Hessen dieselbe deutsch-patriotische Gesinnung voraussetzen dürfte, welche die brave thüringische Bevölkerung uns entgegenbringt. Darüber muß ich mich erst orientiren; doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

[767] In diesem Augenblick schmetterte die Retraite in lang gezogenen Tönen durch den Wald und mahnte die Besucher des Bivouaks an die Rückkehr nach der Heimath. Man verabschiedete sich mit Herzlichkeit, wobei manches schöne Auge feucht wurde, weil neben der allgemeinen Theilnahme, die man dem von tausend Gefahren bedrohten Detachement schenkte, mancher Jäger noch ein besonderes Interesse erregt hatte.

Bald darauf verstummte auch das fröhliche Treiben, welches das Bivouak belebt hatte. Die durch einen anstrengenden Marsch ermüdeten Jäger warfen sich, in ihre Mantel gehüllt, an das Feuer und überließen sich der Ruhe. Der Rittmeister zog sich in eine Strauchhütte zurück, die er mit den beiden Officieren der Abtheilung, den Lieutenants von Katte und Eckart, theilte. Auf den weichen Pferdedecken, die den Rasen bedeckten, verfiel er bald in einen tiefen Schlaf.

Mehrere Stunden vergingen in der vollständigsten Ruhe. Um Mitternacht wurde der Rittmeister aber von dem Oberjäger, der die Lagerwache befehligte, geweckt. Eine Patrouille hatte einen Menschen eingebracht, der sich bei den Vedetten mit der Bitte gemeldet, ihn sogleich zum Commandeur zu führen. Er wollte demselben eine höchst dringliche und unaufschiebbare Mittheilung zu machen haben. Der Gefangene war noch sehr jung und kaum dem Knabenalter entwachsen. Leicht und beinahe zart gebaut, konnte er für ein verkleidetes Mädchen gehalten werden, wenn nicht der blonde Flaum auf seiner Oberlippe sein Geschlecht verrathen hätte. Er war gut beritten und mit einem Husarensäbel und zwei Reiterpistolen bewaffnet. Die Patrouille hatte ihn entwaffnet und an die Lagerwache abgegeben, die den Vorfall zur Kenntniß des Rittmeisters brachte.

Dieser schüttelte den Schlaf von sich ab und trat, ohne daß sich in seinem Gesicht irgend eine Verdrießlichkeit über die unangenehme Störung bemerkbar machte, vor die Hütte, wo der Jüngling, roth übergossen von dem Schein des sorgfältig unterhaltenen Feuers, zwischen zwei Jägern stand, die ihn mit aufgenommenem Gewehr bewachten.

„Ich bin der Commandeur dieses Detachements, Sie wünschen mich zu sprechen? Was haben Sie vorzubringen?“ fragte der Rittmeister in seiner kurzen Redeweise, während seine Augen prüfend über die Gestalt des jungen Mannes flogen und sich zuletzt auf dessen Gesicht festbohrten.

„Ich wünsche Ihnen eine Mittheilung zu machen,“ entgegnete dieser ohne jede Verlegenheit, „die den Herren Preußen eine gewünschte Gelegenheit bieten wird, den Franzosen eine empfindliche Schlappe beizubringen?’

„Wie heißen Sie und was sind Sie?“

„Ich heiße Bömann und arbeitete bis heute in dem Bureau des Bürgermeisters von Zwickau, Hofrath Ferber. Der Haß gegen Napoleon, der in den Herzen aller deutschen Patrioten brennt, führt mich in Ihr Bivouak und erweckte in mir das unabweisbare Verlangen, Theil zu haben an der Befreiung Deutschlands von der schmach- und jammervollen fränkischen Zwingherrschaft.“

„Sie wollten mir eine Mittheilung machen,“ unterbrach ihn der Rittmeister, „aus der den Franzosen Nachtheile erwachsen könnten; ich bitte Sie, dieselbe ohne Umschweif abzugeben, dabei aber wohl zu bedenken, daß Sie für die Richtigkeit Ihrer Eröffnungen mit Ihrem Leben einstehen müssen.“

„Ich kenne die Verantwortlichkeit, der ich mich aussetze,“ entgegnete Bömann mit einem leichten Lächeln, „befinde mich aber in der glücklichen Lage, dieselbe nicht fürchten zu dürfen. Kann ich meine Auslassungen in Gegenwart der Wache abgeben?“

„Sprechen Sie ohne Furcht; in den Reihen meiner braven Freiwilligen giebt es keine Verräther.“

Nach einem kurzen Nachdenken hob Bömann an: „In Zwickau übernachtet heute ein französischer Artillerie-Train, der mit Anbruch des Tages über Chemnitz nach Dresden zur großen Armee marschiren wird. Ich bin überzeugt, daß sich derselbe in den Defileen der nach Chemnitz führenden Straße überfallen und wegnehmen läßt.“

„Aus wie viel Fahrzeugen besteht der Train, und wie stark ist die Bedeckung, die ihn begleitet?“ fragte der Rittmeister, indem eine lebhafte Bewegung durch seine Züge ging.

„Der Zug besteht aus vierundzwanzig funkelnagelneuen Geschützen und achtundvierzig Munitionswagen und Fahrzeugen,“ antwortete Bömann. Die Bedeckung zählt 360 Infanteristen und 120 Cavalleristen und wird von dem Capitain Bizot und sechs französischen Officieren befehligt.“

„Aus welcher Quelle, junger Herr, schöpfen Sie diese genauen Zahlen?“

„Aus den Listen der Franzosen, Herr Rittmeister, die mir vorlagen, als ich gestern für dieselben die Quartierzettel schrieb.“

„Dann sind Ihre Angaben freilich nicht zu bezweifeln. Sie meinen also, daß wir in den Hohlpässen der Chemnitzer Straße unbemerkt an die Franzosen herankommen können?“

„Es ist dies keinem Zweifel unterworfen, wenn man die Vortheile, welche die Gegend zwischen Zwickau und Chemnitz für einen Ueberfall darbietet, wahrzunehmen weiß.“

„Kennen Sie die Gegend?“

„Ich bin in Zwickau geboren, und es giebt in der ganzen Umgegend keine Terrainfalte, die mir unbekannt wäre.“

„Prächtig!“ rief der Rittmeister, indem er sich vergnügt die Hände rieb. „Ich werde den Zug unternehmen, Sie sollen uns führen; ich vertraue Ihnen vollständig.“

„Ich werde dies Vertrauen zu verdienen wissen,“ versetzte Bömann, während ein Zug freudigen Stolzes über sein Gesicht glitt. „Ich habe Ihnen aber noch mitzutheilen, daß der französische Commandant durch den Hofrath Ferber von der Nähe der preußischen Streifpartei in Kenntniß gesetzt worden ist.“

„Verdammt!“ fluchte der Rittmeister unwillkürlich. „Wie nahm der Franzose diese Mittheilung des deutschen Hofraths auf?“

„Sie schien ihn wenig zu berühren,“ erwiderte Bömann. ,Das macht mir keine Sorge!’ äußerte er. ,Wenn die Briganden sich blicken lassen sollten, so werde ich sie von meinen Leuten mit dem Säbel in der Scheide einfangen und den der Schule entlaufenen Buben die Ruthe geben lassen. Einen Schuß Pulver sind solche Burschen nicht werth.’“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der Herr Commandant. In dem lärmenden, meist von Arbeitern bewohnten Pariser Stadtviertel Popincourt, wo Hammer und Ambos gewaltig in Bewegung gesetzt werden, erblickt man am Ende eines schmalen, düstern Durchganges, der in einen großen Garten ausmündet, ein kleines, altes Haus aus dem vorigen Jahrhundert. Dieses Haus, das ehemals der berühmten und galanten Tänzerin Duthé angehört hat, wird heute von einen, alten, braven Soldaten, einem Officier der Ehrenlegion, bewohnt.

Dieser alte Officier, der Herr Commandant, wie die Nachbarn ihn nennen, ist ein höchst sonderbarer Kauz, ein Original, wie man deren heutzutage nur selten noch findet. Er hat weder Kind noch Kegel, und um der traurigen Vereinsamung, mit welcher die Vorsehung ihn heimgesucht hat, einigermaßen abzuhelfen, ist er auf den sonderbaren Einfall gerathen, sich mit sämmtlichen herumirrenden Hunden zu umgeben, die der Zufall auf seinen Weg führte. Sowie er eines dieser armen, magern, ausgehungerten Thiere ansichtig wird, nimmt er es auf, pflegt es, giebt ihm zu fressen und erringt sich sehr bald sein Vertrauen und seine Freundschaft. Von diesem Augenblicke an ist das Schicksal des Vierfüßlers gesichert, er wird als Hausgenosse betrachtet, gehört zur Familie, hat Wohnung und Kost bis an’s Ende seiner Tage und kann somit getrost der Zukunft entgegenblicken.

Die Erscheinung des alten Commandanten hat etwas höchst Eigenthümliches und Charakteristisches. Er ist ein langer, hagerer Mann; sein starker, grauer Schnurrbart verleiht seinem scharf ausgeprägten Gesicht einen noch markigeren Ausdruck; seine spärlichen, schlohweißen Haare sind sorgfältig über die Schläfe gebürstet; er trägt einen langen, eng anliegenden blauen Ueberrock, der bis an den Hals zugeknöpft ist, und in der rechten Hand schwingt er ein spanisches Rohr, das die Stelle des Säbels vertritt, den er einst mit Ehren geführt hat. So schreitet er dahin, immer reinlich und nett, geschniegelt und gebügelt, umgeben von seiner Schwadron keuchender und hinkender Hunde, und kümmert sich weder um das laute Gelächter der Straßenbuben, denen sein Erscheinen ein Fest ist, noch um das Geflüster der erstaunten Spaziergänger.

Des Morgens, Punkt fünf Uhr im Sommer und Punkt sechs Uhr während des Winters, schlägt der Commandant die Reveille und mustert seine Truppe, die aus vierzig Hunden besteht, in allen Größen und allen Farben, und von denen der eine immer häßlicher ist, als der andere. Nach beendeter Musterung stellt sich die Schwadron in zwei Gliedern auf und wird vom Commandanten an den benachbarten Canal geführt, wo die tägliche Morgenwaschung vorgenommen wird. Die beiden ältesten Hunde galoppiren an der Spitze und springen zuerst in’s Wasser, um den Uebrigen ein gutes Beispiel zu geben; etwaige Widerspenstige oder Wasserscheue werden vom Commandanten eigenhändig in die reinigenden Fluthen geschleudert. Der Befehl besagt, daß dreimal nach einem Stück Holz geschwommen werden [768] muß; nach dem dritten Male apportirt der älteste Hund das corpus delicti, und diese Handlung, die stets mit großer Präcision ausgeführt wird, bildet den Schluß des allgemeinen Bades. Hierauf begiebt sich die Truppe nach dem Exercirplatze, der außerhalb der Barrière gelegen ist, und es lohnt sich wahrlich der Mühe, ihr dahin zu folgen. Ich glaube, daß selbst auf den berühmtesten Affen- oder Hundetheatern jener Grad von Dressur und Gewandtheit niemals erreicht worden ist, den der Commandant seinen Untergebenen beizubringen verstanden hat. Seine Hunde manövriren wie eine Schwadron Husaren; sie formiren sich in Pelotons und in Divisionen, führen Angriffe aus, rücken vor, ziehen sich zurück, galoppiren, traben, gehen im Schritt, bleiben stehen etc. und alles dies mit der größten Präcision und genau nach dem Commando. Der Commandant leitet die Uebungen mit dem höchsten Ernst und mit unerschütterlicher Ruhe; er lobt, tadelt, eifert an, muntert auf. „Bravo, Caro!“ ruft er z. B., „das war sehr gut gemacht!“ oder „Cartouche, wenn du mir noch einmal aus der Richtung kommst, so wirst du bestraft!“ oder „das war ein schlechter Angriff, sehr schlecht! wir müssen das Manoeuvre noch einmal machen und ich bitte mir aus, daß Ihr Euch besser zusammennehmt!“ So wird weiter manövrirt, bis Alles zur vollkommenen Zufriedenheit des Commandanten ausgeführt ist. Nach beendeter Uebung werden diejenigen Hunde, die sich besonders ungeschickt gezeigt und zu wiederholtem Tadel Veranlassung gegeben haben, bestraft. Die Strafe besteht darin, daß die Inculpaten mit den beiden Hinterpfoten in die Luft und gegen eine Mauer angestemmt aufgestellt werden und eine kürzere oder längere Zeit, nach Maßgabe ihres Vergehens, in dieser höchst unbehaglichen Lage verharren müssen. Zwei alte Pudel, Bataillon und Musketon, werden als Schildwachen bei den Sträflingen aufgestellt und haben streng darauf zu sehen, daß die verhängten Strafen richtig ausgehalten werden. Das ganze Exercitium, inclusive der Strafzeit, dauert in der Regel mindestens zwei bis drei Stunden; hierauf marschirt die Schwadron in der größten Ordnung in ihr Quartier zurück, wo alsbald ein angemessenes Frühstück aufgetragen und, wie sich leicht denken läßt, mit sehr gesundem Appetit verzehrt wird.

Nach dem Frühstück begeben sich sämmtliche Hunde in den Garten und dürfen nach Belieben ihren verschiedeuen kleinen Geschäften oder Zerstreuungen nachgehen. Diese Ruhezeit dauert bis Nachmittags zwei Uhr, das heißt bis eine Stunde vor dem Mittagsessen, und dann wieder bis fünf Uhr, also eine Stunde vor dem Abendbrod, wo regelmäßig die Uebungen wieder beginnen, die demnach täglich drei Mal vorgenommen werden. Indessen verläßt die Truppe ihr Quartier alle Tage nur ein Mal, weil die Nachbarn sich beklagt und schändlicher Weise behauptet haben, daß der allzu häufige Vorbeimarsch dieses Hunde-Regimentes ihre Frauen und Kinder beunruhige und erschrecke. Der Polizeicommissär des Stadtviertels hatte demnach für gut befunden, die militärischen Promenaden des Herrn Commandanten auf das Minimum zu reduciren. Diese Maßregel war aber den garstigen Nachbarn noch keinesweges genügend gewesen, so daß auf ihre erneute Klage der Polizeicommissär sich endlich veranlaßt gesehen hatte, den Herrn Commandanten zu sich entbieten zu lassen und ihm zu eröffnen, daß, wenn er sich nicht freiwillig dazu verstehen wolle, einen Theil seiner Schwadron zu entlassen, die Auflösung des ganzen Corps von Polizeiwegen erfolgen werde.

Auf diese kategorische Erklärung, die ihn an seiner empfindlichsten Stelle und zwar sehr schmerzlich berührte, erwiderte der alte Soldat nach einigem Bedenken mit bewegter Stimme: „Herr Commissär, ich habe meinem Vaterlande vierzig Jahre hindurch treu gedient; habe die letzten Feldzüge des ersten Kaiserreiches mitgemacht, sodann in Algier gefochten und mich überall ehrenvoll betragen –“ hier warf er einen stolzen Blick auf das Kreuz der Ehrenlegion an seiner Brust und fuhr dann fort, indem seine Stimme einen immer weicheren Ausdruck annahm: „meine besten Freunde, das heißt Alles was ich liebte und was mich wieder liebte, habe ich auf den Schlachtfeldern verloren, so daß ich nun auf meine alten Tage ganz einsam und verlassen in der Welt dastehe; ich habe nur noch meine Hunde, und wenn Sie mir diese armen Thiere wegnehmen, so rauben Sie mir den einzigen Trost, der mir noch bleibt!“

Als der Herr Commandant seine Rede geendet hatte, gab ihm der Polizeicommissär keine Antwort, und die Schreiber, die in seiner Kanzlei beschäftigt sind, erzählen, daß ihrem Chef in jenem Augenblicke vermuthlich eine Mücke in’s Auge geflogen sei, so daß er sich die Augen mehrmals habe wischen müssen. Um jedoch etwas zu thun, habe er dem Herrn Commandanten die Hand gedrückt, worauf dieser die Kanzlei wieder verlassen habe. Seit jener Stunde ist die Hundefrage als erledigt betrachtet und der alte Soldat in seinen Lieblingsneigungen nie wieder behelligt worden.

Ursprünglich bestand das Corps des Commandanten nur aus zehn, höchstens zwölf Hunden; mit der Zeit hat sich aber dieses Contingent natürlich ganz bedeutend vermehrt. Jedoch der Commandant, dieser tapfere Soldat, der den Tod so oft in der Nähe gesehen, Kanonendonner und Schlachtenrufe gehört und vor den ärgsten Gefahren nicht gezittert hat – dieser alte tapfere Soldat hatte nicht das Herz auch nur einen einzigen von den jungen Sprößlingen seiner großen Hundefamilie umzubringen. Er behält sie alle, und wenn der liebe Gott den alten Mann noch einige Jahre leben läßt, so wird dieser schließlich buchstäblich von einem ganzen Regimente von Hunden umgeben sein. Schon jetzt reicht seine kleine Pension kaum hin, um den Unterhalt der Hundeschwadron zu bestreiten, und ich frage mich zuweilen nicht ohne Besorgniß, wie der Commandant es anfangen wird, um die fernern jungen Rekruten seines Corps auch noch zu ernähren.




Endlich wieder ein komischer deutscher Roman! Ferdinand Stolle, der bekannte Gründer des „Dorfbarbier“, der Verfasser zahlreicher gern gelesener Erzählungen und Romane, der jetzige Hauptrepräsentant des gemüthlichen deutschen Humors, wird uns, nach langer Rast, demnächst wieder mit einem komischen Romane erfreuen, den wir nur zu nennen brauchen, um ihn, im Voraus ein allgemeines Interesse zu sichern. „Die deutschen Pickwickier auf Reisen“, so heißt dieses neueste Erzeugniß von Stolle’s heiterer Muse, ein Buch voll der köstlichsten komischen Situationen, welches sich, obschon eine durchaus selbstständige Composition, würdig anschließt an die in vielen Auflagen erschienenen „Deutschen Pickwickier“ des nämlichen Verfassers, die gelungenste seiner Schriften, und gerade zur rechten Zeit kommt, um manchen langen Winterabend behaglich auszufüllen.
E. K. 




Erklärung. Von der herzoglich nassauischen Polizeidirection zu Wiesbaden ging uns die nachstehende Erklärung zu, der wir laut Preßgesetz die Aufnahme in die Spalten unsers Blattes nicht versagen dürfen:

In der Nr. 33 und 35 der Gartenlaube befindet sich ein „Deutscher Menschenhandel der Neuzeit“ überschriebener Artikel „aus der Mappe eines Wiesbadener Curgastes“ (?), worin erzählt wird, daß jährlich eine große Anzahl Deutscher das Ausland überschwemmen und sich dort zu den niedrigsten Verrichtungen herabließen, daß insbesondere aber aus verschiedenen nassauischen und hessischen Orten jährlich eine beträchtliche Anzahl Kinder ausgeführt würden, um unter dem Vorwande den Hausirens und Musicirens zur Prostitution benutzt zu werden.

Der Artikel wendet sich dann speciell gegen Nassau und behauptet, daß die nassauische Regierung diesem Unwesen nicht entgegentrete.

Im Jahre 1860 habe der verstorbene Medicinalrath Dr. Zais aus Wiesbaden in der nassauischen Kammer beantragt, daß die Regierung, da die bisherigen polizeilichen Maßregeln gegen das Verdingen von Kindern an Subjecte, welche dieselben in fremde Länder ausführten, um sie dort zu mißbrauchen, erfolglos gewesen seien, strengere Maßregeln gegen diesen Unfug ergreifen, namentlich die Verdingungsverträge für ungültig erklären und die Verdinger sowohl, wie die verdingenden Menschenhändler mit angemessenen Strafen belegen solle. Es wird behauptet, die Kammer habe diesem Antrage wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und dann fortgefahren: „Die Wirkungen dieses Kammerbeschlusses (motivirte Tagesordnung) waren unschwer vorauszusehen. Die Regierung that das Nämliche wie bisher, d. h. Nichts.“ – Der genannte Artikel ist im Auszug in andere Blätter, wie z. B. die Wiener Presse, Augsburger Allgemeine Zeitung. Kölnische Zeitung, übergegangen und zu weiteren Ausfällen gegen die nassauische Regierung benutzt worden. Wir waren in der Lage, nun über die Verhältnisse speciell zu informiren, und geben hiermit das Resultat unserer Erhebungen. Wir haben erfahren, daß es allerdings vorgekommen ist, daß unerwachsene Personen aus Nassau von ihren Eltern sowohl, wie anderen Unternehmern in’s Ausland geführt und dort mißbraucht worden sind. Wir haben aber auch weiter erfahren, daß die nassauische Regierung diesem Gegenstand fortwährend ihre Aufmerksamkeit zuwendet und im Laufe der Zeit die verschiedensten Maßregeln durch Weisungen an die inländischen Behörden sowohl, wie an ihre Vertreter im Ausland und durch Vernehmen mit auswärtigen Behörden getroffen hat, um die Wiederholung solcher Fälle zu verhindern. Es besteht das Gesetz, daß schulpflichtige Kinder unter keinen Umständen der Schule entzogen werden dürfen, bei Vermeidung ansehnlicher Strafen für die Eltern oder Vormünder. Es besteht schon seit Jahren die Bestimmung, daß nur den Eltern für der Schule entlassene Knaben Legitimationspapiere zum Zweck des Hausirens oder Musicirens im Auslande ausgefertigt werden dürfen, daß aber ledige Mädchen zu dem angegebenen Zwecke überhaupt, sogar von ihren Eltern nicht in das Ausland mitgenommen werden dürfen. Weiter ist bestimmt, daß solchen Eltern, gegen welche der Verdacht vorliegt, daß sie ihre Söhne zu unerlaubtem Erwerb im Auslande verwenden, auch das Mitnehmen der Söhne durch Verweigerung der Pässe für dieselben verwehrt werden soll. Selbst hausirende Handelspersonen haben nur einen erwachsenen Sohn in’s Ausland mitnehmen dürfen.

Die Wachsamkeit auf Ausländer, welche etwa Knaben und Mädchen zur angeblichen Hülfe beim Handel anwerben wollten, ist wiederholt eingeschärft und endlich ist durch den §. 9 des unterm 25. September 1862 erlassenen Gesetzes über den Hausirhandel und die hausirend betriebenen Gewerbe wörtlich Folgendes verordnet worden: „Derjenige, welcher fremde Kinder unter achtzehn Jahren ohne vorherige amtliche Erlaubniß anwirbt oder mitführt, um sie bei dem Hausirhandel, den hausirend betriebenen Gewerben oder zu solchen Schaustellungen, künstlerischen Vorstellungen, Musiciren, Orgelspielen und dergleichen, welche zu den öffentlichen Lustbarkeiten des niederen Grades gerechnet werden, in außerdeutschen Staaten zu verwenden, wird, sofern nicht ein höher zu bestrafendes Vergehen vorliegt, bestraft mit Geldstrafe von fünfzig bis hundert Gulden oder Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu drei Monaten Correctionshaus. Derjenige, welcher fremde Kinder unter achtzehn Jahren ohne besondere amtliche Erlaubniß zu den erwähnten Schaustellungen im Inlande oder anderen deutschen Staaten verwendet, wird, sofern nicht ein höher zu bestrafendes Vergehen vorliegt, bestraft mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu vier Wochen. Gleiche Strafe trifft Eltern und Pflegeeltern, welche ihre Kinder unter achtzehn Jahren Dritten zu dem gedachten Zwecke überlassen.“ – Die Behauptung, daß die nassauische Regierung in der Sache weder in früherer noch in neuerer Zeit etwas gethan habe, ist hiernach einfach unwahr. Ebenso ist unwahr, daß „jährlich Tausende von der halben Million Einwohner Nassaus, Männer, Weiber und Kinder, ausgesendet würden, um in der Fremde ein elendes Dasein zu fristen und zugleich den deutschen Namen zu schänden.“ Die gewerblichen Zustände Nassaus sind der Art, daß überall ausreichender Arbeitsverdienst zu finden ist, die Taglöhne stehen überall hoch, wohl aber ist vielfach derartiger Mangel an Arbeitskräften, daß jährlich tausende von Ausländern in das Herzogthum kommen und als Taglöhner reichlichen Erwerb finden. Das Mitnehmen unerwachsener Personen auf den Handel ist nach wiederholten sorgfältigen Erhebungen der Regierung nicht von bedeutender Ausdehnung gewesen. Was von Mißbräuchen dieser Art in neuerer Zeit vorgekommen, beschränkt sich auf vereinzelte Fälle. In den sterilen Gegenden, z. B. des hinteren Taunus, war allerdings in früherer Zeit große Armuth; die Regierung ist aber nicht blos durch polizeiliche Maßregeln den hier vorgekommenen Mißbräuchen entgegengetreten, sie hat auch durch Anregung und Unterstützung passender Industriezweige, z. B. der Drahtflechterei und von Baumwollenarbeiten, dahin gewirkt, daß nunmehr der Wohlstand in jenen Gegenden aufblüht. Was aber das Hausiren erwachsener selbstständiger Personen anlangt, so ist es bekannt, daß die vorzüglichen Thonwaren Nassaus bis in entfernte Gegenden verführt werden und daß deren Verschleiß naturgemäß und herkömmlich vielfach im Hausirhandel betrieben wird. Gleiche Industriezweige und gleiches Verfahren bestehen in vielen anderen Ländern. Auf einzeine solcher Händler mögen die Reisen in’s Ausland bezüglich der Moralität von nachtheiligem Einflusse sein. Dies kann jedoch keinen Grund abgeben, diesen Handel zu beschränken, und es verdient wohl der Erwägung, ob die Regierung eines Landes, in welchem volle Gewerbefreiheit und Freizügigkeit besteht, die Mittel hat, allen Consequenzen dieser persönlichen und gewerblichen Freiheit entgegen zu treten. Wohl aber sind die Behörden angewiesen, solchen Personen, von welchen anzunehmen ist, daß sie ihren Aufenthalt im Ausland zu Mißbräuchen benutzen, entweder keine Legitimationspapiere zu ertheilen, oder aber in die Papiere derselben das Ersuchen an die Behörden des Auslandes aufzunehmen, sie an der Grenze zurückzuweisen.

Was die entstellenden Angaben über die Verhandlungen in der nassauischen Kammer vom Jahre 1860 betrifft, so wollen wir, obwohl wir die gedruckten Protokolle hierüber eingesehen haben, hierauf nicht eingehen Es würde uns dies auf das Gebiet der Parteipolemik führen, welchem wir ferne stehen. Nur den auffallenden Umstand müssen wir noch hervorheben, daß nach des Verfassers Darstellung hauptsächlich nur nassauische Hausirer und Musikanten im Auslande zu finden sein sollen und daß der Gegenstand gerade jetzt vom Verfasser sowohl, wie in der Wiener Presse und Kölnischen Zeitung zu unwahren Vorwürfen gegen die nassauische Regierung benutzt wird, indem das, was nach dem Obigen als Wahres an der ganzen Schilderung verbleibt, sich nicht auf die Gegenwart, sondern auf eine seit Decennien hinter uns liegende Vergangenheit beschränkt. Wir wollen die Gründe dieses Verfahrens nicht untersuchen. Wir vindiciren der Presse nicht blos die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, Mißstände zur Sprache zu bringen, wir verlangen aber vor Allem Wahrheit und Unparteilichkeit. In letzterer Beziehung können wir nicht unterlassen, den Verfasser des Artikels schließlich noch darauf aufmerksam zu machen, daß durch einen eigenthümlichen Zufall gerade die Nummer der Gartenlaube, welche den ersten Theil seines Artikels bringt, noch einen andern Artikel enthält, überschrieben: „Die Sklaverei der Kinder in England“, welcher „die leibliche und geistige Noth der Kinder des freien Englands“ schildert, es aber nicht unternimmt, der Regierung dieses Landes hieraus einen Vorwurf zu machen, sich vielmehr mit den Worten zum Schlusse wendet: „Gegen gewohnheitsgemäße Gewissenlosigkeit kämpft das Gesetz selbst vergebens.“

Wiesbaden, 9. October 1864.
Die herzogliche Polizei-Direction. 

  1. In Hildburghausen wußte man sich damals einfacher zu helfen. Dort lagen zu gleicher Zeit preußische und österreichische Werber.