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Die Gartenlaube (1864)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[673]
Der böse Nachbar
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Allmer seufzte. „Sagen Sie es immerhin, mein Fräulein,“ sprach er dann … „ja wohl, es ist ein kläglicher Wille, dieser Wille, den ich hatte, Ihnen zu gehorchen, Ihnen durch meine leidenschaftlichen Bewerbungen nicht lästig zu fallen, Ihnen Zeit zu lassen, sich über Ihre Gefühle klar zu werden, mir die Zeit, durch stille Ergebenheit Ihre Gunst zu erringen … die Leidenschaft ist stärker, die Leidenschaft, die mich während dieses Harrens, während dieser furchtbaren Ungewißheit verzehrt, martert, auf eine unsägliche Folter spannt, die mich tödtet … Eugenie, seien Sie barmherzig … jetzt, wo ich in einen Kampf, in eine Gefahr um Ihretwillen gehen will, nur um den Verdruß zu rächen, der Ihnen angethan wurde – jetzt sprechen Sie endlich ein Ja, das diesen Zustand in ein grenzenloses Glück verkehrt, oder ein Nein, das mich zur Raserei treibt, das mich fähig macht, zu tödten und zu vernichten, die Welt in Flammen zu setzen, das entsetzlich, ganz entsetzlich wäre …“

Allmer sprach diese Worte mit einer Heftigkeit, mit einer Gluth aus, die nur allzu deutlich von der furchtbaren Leidenschaft zeugte, der dieser Mann sich hingegeben fühlte und die seinem Willen in der That vollständig sich dienstbar gemacht zu haben schien.

„O mein Gott!“ sagte Eugenie tief erschrocken und vollständig darauf verzichtend, die Zeichen dieses Erschrockenseins durch ihre Selbstbeherrschung zu unterdrücken … „wie darf ich denn zu einem Manne sprechen, der sich so von seiner Leidenschaft bewältigen läßt, der mich zwingen will, der meinen Willen durch Schrecken zu unterjochen sucht … Sie sind fürchterlich!“

Eugenie war todtenblaß geworden, sie hatte ihre Arbeit fallen lassen und sah Allmer mit weit aufgerissenen Augen, in denen sich eine wirkliche Seelenangst spiegelte, an.

„Haben Sie Erbarmen mit mir,“ fuhr Allmer fort, „und verdammen Sie diese Leidenschaft nicht … Sie, Sie haben sie erweckt, und was sie stachelt, das ist ein Gedanke, der mich nicht verläßt, der mich rasend macht. Ich glaube, daß Sie mir Ihre Hand geben, daß Sie ohne Widerstreben die Meine werden würden, wenn nicht das Einzige zwischen uns stände, das ganz allein, daß ich ein Bürgerlicher bin, ein Mann ohne Namen und Titel, daß ich mir meine Stellung, mein Vermögen nicht habe schenken, vermachen, vererben lassen, sondern daß ich durch eigene Anstrengung, durch Arbeit und Mühe es errungen habe … Ihr denkt ja so, Ihr Alle, Sclaven des unsinnigsten Vorurtheils, die Ihr seid, und daß Sie, Sie Eugenie, die ich liebe, die ich anbete, so denken, daß auch Ihr Verstand von diesem Wahnsinn umnebelt ist und daß darunter all mein Lebensglück zu Grunde gehen soll – das eben, die Verzweiflung darüber ist es, was mich so leidenschaftlich macht!“

„Sie kennen mich genug, ich habe Ihnen auch gesagt, daß Sie sich darüber täuschen, daß ich solche Vorurtheile nicht hege, daß ich vollaus den Muth und die männliche Kraft anerkenne, mit der Sie Ihr Schicksal sich selbst gegründet haben.“

„Nun, dann begreife ich nicht, Eugenie, weshalb Sie mich meiner Folter überlassen; Sie wissen, daß ich mit Ihrem Vater geredet habe, daß er nicht wider meine Wünsche ist, daß er das Verhältniß zu Ihrem Vetter nicht als Etwas betrachtet, was Ihren Neigungen ernstlich in den Weg treten kann.“

„Aber mein Gott, habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich frei, ganz frei meine Entschlüsse …“

Zu Eugeniens unaussprechlicher Erleichterung wurde sie hier unterbrochen; ihr Vater trat, aus dem Hause zurückkehrend, um die Thurmecke. Allmer wandte ihm sein hochgeröthetes Gesicht mit einem Ausdruck unverkennbaren Aergers zu, Eugenie aber sprang auf, raffte ihre Arbeit zusammen und eilte davon. Auf Allmer’s Lippen schwebte ein leiser, kaum unterdrückter Fluch, als er ihr mit flammendem Auge nachblickte.

„Da ist der Brief von Florens,“ sagte Herr von Schollbeck, „wollen Sie seine Besorgung übernehmen?“

„Ich will ihn Horst übersenden und meinen eigenen Absagebrief beilegen!“ versetzte Allmer und verabschiedete sich dann rasch von dem alten Herrn.




6.

Es war spät Abends geworden. Die Bewohner von Haus Schollbeck hatten sich zur Ruhe auf ihre Zimmer zurückgezogen. Aber vielleicht der alte Herr allein hatte sich wirklich zur Ruhe gelegt. Aus den Fenstern Eugeniens schimmerte das Licht der Lampe weit hinaus und beleuchtete das grüne Laubgezweige der nächsten Bäume, welche den Hintergrund von Haus Schollbeck bildeten. Die Zimmer Eugeniens lagen nach hinten hinaus; ihr Wohnzimmer hatte eine Glasthür, die auf einen Altan führte, der, an der einen Seite von dem vorspringenden alten Thurme abgeschnitten, mit leichtem Lattenwerk überbaut und mit Reben überkleidet war, so daß er eine allerliebste, in der Höhe des ersten Stockwerks angebrachte Veranda bildete.

Die Thür stand offen und ließ das Licht der großen Lampe [674] ungehindert hinausfallen und sich mit dem Schimmer des Mondes vermischen, der hell und voll am Nachthimmel schwebte und sein bläuliches Licht außen über die Veranda ergoß, während das gelblichere der Lampe sie innen erfüllte.

Eugenie ging unruhig bewegt in ihrem Zimmer umher. Bald trat sie auf die Schwelle der Glasthür und blickte sinnend in die Sommernacht hinaus; dann wandelte sie in ihrem Zimmer auf und ab, dann setzte sie sich an den runden Tisch in der Mitte und stützte die Stirn auf ihre Hand. Schwere und beängstigende Gedanken arbeiteten unter dieser Stirn und ließen ihre Brust unter rascheren Pulsschlägen wogen. Sie dachte an Allmer … sie suchte nach voller Klarheit über ihr Gefühl für diesen Mann, der seit einer Reihe von Monaten um sie warb; der es verstanden hatte, ihres Vaters stillschweigende Genehmigung für diese Bewerbung zu erlangen; der sich mehr als die Rechte eines Nachbars in ihrem Familienkreise errungen; der von dem Tage an, wo er des Alten Herz durch die Statue gewonnen, sich mit seinem Umgang, mit seinem Rath in Haus Schollbeck unentbehrlich gemacht; den sie wegen seiner männlichen Eigenschaften, seiner Energie, seiner Kenntnisse achtete; dessen gehaltenes Wesen sie anziehend gefunden und den sie zuletzt … lieben? nein, fürchten gelernt!

Fürchten … das war es; sie fürchtete ihn, seine Nähe hatte eine magische Gewalt für sie, die Luft wurde ihr schwer und drückend wie eine Gewitterluft, wenn er kam, und wenn sie seine Blicke auf sich gerichtet wußte, war es ihr, als ob sie diese Blicke fühlen könne wie eine beängstigende Last. Und niemals war sie sich über dies Gefühl bewußter geworden, als seit einigen Tagen, seit ihre Gedanken sich mit dem jungen Manne beschäftigt hatten, den sie im Schloß Falkenrieth gesehen, mit dem sie sich so viel beschäftigt hatten, dem sie mit lebhafter Sorge gefolgt waren auf seiner leichtsinnigen geldlosen Künstlerfahrt … und als Eugenie dann von der Ankunft Horst’s vernommen und ihr klar geworden, daß ihr Künstler von Falkenrieth und der junge Baron eine und dieselbe Person sei – wie theilnehmend hatte sie da an den armen, alleinstehenden, in ein verlassenes, verödetes Hans zurückkehrenden jungen Mann gedacht, den keine Seele, die ihm nahe stehe, umgab, kein freundlicher Gruß an der Schwelle seines Vaterhauses willkommen heiße, und wie sehr hatte sie verlangt, ihn wiederzusehen, um ihm sagen zu können, daß man in Schollbeck des neuen Nachbars sich freue, daß man so herzlich bereitwillig sei, ihm ein Asyl gegen die Vereinsamung zu bieten; wie hatte sie sich auf das neubelebende Element gefreut, welches in ihr ländlich stilles Dasein kommen werde! Und … für all diese freundliche Beschäftigung mit ihm – wie hatte dieser junge Mann sie belohnt? Wie ein böser Dämon mit lauter Feindschaft und Tücke; es war, als habe er nichts Eifrigeres zu thun gehabt, als alle drei Bewohner von Schollbeck an der empfindlichsten Seite zu verwunden und zu kränken – den Vater bedrohte er durch seine eigensinnigen Nachforschungen nach der Statue, die Allmer dem alten Herrn auf sein Andringen schon vor ein paar Jahren, freilich ohne besondere Befugniß, für eine ganz geringe Summe verkauft hatte und die seitdem des Vaters Augapfel geworden, die der alte von der Sammelwuth besessene Mann nicht zurückgeben konnte, ohne sein Herz dabei brechen zu fühlen; dann hatte Horst Eugenien gekränkt, indem er ihr Falkenrieth geraubt … es war Eugeniens heißester Wunsch, Falkenrieth zu besitzen, sie hatte das ganze Capital, welches sie selbst persönlich aus der Erbschaft ihrer Mutter besaß – zehntausend Thaler – dafür längst geboten und die sichere Hoffnung gehegt, daß, da kein anderer Käufer sich gemeldet, es ihr für diese Summe zugeschlagen würde! Und nun hatte dieser Horst nichts Eiligeres zu thun gehabt, als es ihr für immer und ewig zu entreißen, diese unvergleichliche Perle von einem kleinen Besitzthum, das sie längst als ihr gehörend in Gedanken in Besitz genommen. Und endlich diese letzte abscheuliche Grausamkeit, den armen harmlosen Vetter Florens, diesen unschuldigen Mann mit der Seele eines Kindes, auf Pistolen zu fordern … es war wahrhaft abscheulich. Eugenie war in tiefster Seele empört, sie zürnte diesem Horst nicht, nein, sie haßte, sie verabscheute ihn, und – dachte den ganzen Tag an ihn, vom Morgen bis in die Nacht; sie hätte Alles thun können, um sich an ihm zu rächen, ihn zu bestrafen – sie hätte Allmer ihre Hand reichen können, wenn sie gewußt, daß ihn das ärgere, stachele – aber ach, das, gerade das hätte ihn gewiß am wenigsten geärgert!

Sie stand wieder auf; sie trat auf die Schwelle der Glasthür und dann unter die Veranda, und hier lehnte sie sich auf das Geländer und sah in den dunklen Park hinaus. Nach einer Weile wurde Eugenie in ihren Gedanken durch ein Geräusch unterbrochen, das sie unten zu vernehmen glaubte; es war wie ein leiser Schritt und das Knicken eines Zweiges im Gesträuch. Gleich darauf war Alles wieder still.

Aber nein, nur eine kleine Pause hindurch, während welcher sich Eugenie beruhigt gesagt hatte, daß irgend ein Thier, ein Nachtvogel das Geräusch gemacht, war es still, dann tönte der leise Schritt wieder … er kam näher und näher, wurde lauter und fester… Eugenie blickte ängstlich gespannt in das Dunkel der Gebüsche hinunter – eine Gestalt löste sich aus dem Schatten los, es war ein Mann, der geraden Wegs und eilig auf Eugeniens Veranda zuschritt … nun stehen blieb und sich umsah … nun näher kam und Eugenie endlich den Ausruf entlockte: „Florens, bist Du es? Was treibst Du so spät da?“

„Ich bin’s, Eugenie – darf ich zu Dir heraufkommen? Ich möchte Dir etwas sagen.“

„Du darfst kommen … ich will Dir öffnen!“

Sie ging in ihr Zimmer zurück und schloß die Thür wieder auf, die sie für die Nacht schon verriegelt hatte; dann ging sie, die offenstehende Thür, welche in ihr Schlafzimmer führte, anzuziehen. Nach kurzer Weile kam mit möglichst leisen Schritten Florens herein. Als er in den Lichtkreis der Lampe trat, nahm Eugenie wahr, daß er blaß und aufgeregt aussah.

„Was hast Du, Florens, was ist, daß Du so spät da unten umherschweifst?“

„Ich habe ihn gesehen … er stand …“

„Ihn … wen hast Du gesehen?“

„Wen anders, als Horst!“

„Horst?“

„Ja, ihn, soeben!“

„Das ist seltsam,“ fiel Eugenie eigenthümlich erregt von dieser Nachricht ein.

„Er stand wohl eine Viertelstunde und starrte nach Deiner Veranda hinauf. Du lehntest Dich über die Brüstung und blicktest so in derselben Richtung hinaus, daß man hätte darauf schwören können, Du sähest ihn wieder an!“

„Gott weiß, ich hatte keine Ahnung …“

„Ich glaub’ es; er stand ganz im Schatten. Ich weiß auch, weshalb er sich da umtrieb … ich habe ihn schon vor mehreren Stunden beobachtet; er war den Abend gegen Sonnenuntergang drüben auf dem andern Flußufer, auf der Höhe, wo Du die Rasenbank hast anlegen lassen; da saß er, Büchse und Waidtasche neben sich, aber in der Hand hielt er ein Taschenperspectiv und durch das blickte er unverwandt hierher.“

„Hierher, nach unserm Hause?“

„Nach unserm Hause, und in unserm Hause, gerade an der Westseite, ihm gegenüber, standen alle Fenster auf, daß die niedergehende Sonne voll und glänzend hineinschien … just in den Saal, worin Deines Vaters Sammlungen aufgestellt sind.“

„Du meinst doch nicht …“

„Er müßte blind gewesen sein, wenn er sie nicht gesehen hätte, und blind war er nicht, wahrhaftig nicht, und zudem hatte er ein Perspectiv, das er gar nicht vom Auge brachte!“

„O mein Gott,“ sagte Eugenie erschrocken, „dann hat er gewiß, ganz gewiß die Flora gesehen, und wir sind in seinen Augen auf’s Fürchterlichste bloßgestellt!“

„Das sind wir,“ sagte Florens seufzend.

„Das ist schrecklich!“

„Und schrecklich wird der Lärm sein, den dieser böse Mensch nun erheben wird,“ fuhr Florens fort, „er wird einen Scandal machen, der Allmer ruinirt und auf Deinen Vater das übelste Licht wirft!“

„Es ist ganz entsetzlich!“ rief Eugenie aus, vor Aufregung außer sich.

„Wenn nur Dein Vater an der unseligen Statue nicht so sehr hinge …“

„Dann sollte man sie in den Fluß schleudern, wo er am tiefsten ist.“

„In der That, ich gäbe viel darum, wenn sie da läge,“ sagte Florens.

„Aber wozu ist er jetzt eben in unserm Park so dicht an unserm Hause gewesen? … kannst Du Dir das deuten, Florens?“

[675] „O gewiß! Als die Sonne gesunken war und die Dämmerung eintrat, stand er auf, steckte das Perspectiv in die Waidtasche, warf die Büchse über und ging in den Wald hinein, wie um da zu bürschen – es ist ja jetzt sein Gehege, der Wald gehört schon zu Falkenrieth – und so verschwand er. Ich wollte es Euch sagen, aber ich besann mich, daß es besser sei, Deinen Vater nicht damit zu erschrecken, bis ich mit Dir gesprochen. Und nun vorhin ging ich aus, den Fluß aufwärts, weil ich da oben in der Wiese Asche ausgestreut habe, um die Aale zu fangen, wenn sie aus dem Wasser gehen und auf’s Land kommen; ich sitze da und gebe Acht, ob keines von den Thieren sich in den Mondschein herauswagt – da seh’ ich ihn von oben her den Fußpfad, der durch die Wiesen läuft, daherkommen, er muß über die obere Brücke gegangen sein, und so stehe ich auf und gehe ihm leise im Schatten der Gebüsche nach. Er schreitet langsam schlendernd vor mir her, bis er in der Nähe des Hauses ist; da blickt er sich um, geht eine Weile hin und her, wie ungewiß, wie etwas suchend; endlich geht er an der westlichen Wand entlang, blickt zu den Fenstern auf, kommt dann zur hintern Fronte zurück und schleicht da in den Schatten der Gebüsche, wo er regungslos stehen bleibt und zu Dir – Du warst unterdeß auf die Veranda herausgetreten – hinaufstarrt.“

„Seltsam … und wohin wandte er sich dann?“ fragte Eugenie ängstlich ausathmend.

„Dann verschwand er nach der Brücke zu …“

„Und Du hast eine Ahnung, was er gewollt, einen Schlüssel dazu?“

„Gewiß … er hat irgend einen schlimmen Anschlag vor … er hat die Lage des Hauses ausspionirt … er will mit Gewalt seine Flora zurückholen … vielleicht hat er gehofft, auf irgend Jemanden von unseren Leuten zu stoßen, ihn ausholen, bestechen zu können … solch’ ein böser Mensch rastet und ruht ja nicht … und ein böser Mensch, der gar Recht hat oder Recht zu haben glaubt …“

„In der That,“ sagte Eugenie, im höchsten Grad bewegt, „und dem muß ein Ende gemacht werden, er darf, nein, er darf nicht Recht zu haben glauben wider uns; der Gedanke ist mehr, als ich ertragen kann!“

Sie warf sich in ihren Sessel und stützte die Stirn in die Hand.

„Eugenie,“ sagte nach einer Pause schüchtern Florens von Ambotten.

„Was willst Du sagen?“ fragte sie in zerstreutem Tone, ohne ihre Stellung zu ändern.

„Wenn Du mit Allmer redetest … wenn Du … Allmer hat ja so viel Einfluß, so viel Macht über Dich …“

„Macht? Allmer Macht über mich?“ rief Eugenie auffahrend aus … „und das hast Du – Du bemerkt, Florens?“

Sie war auf’s Schwerste betroffen von diesen Worten des Vetters. Also übte in der That schon, jener Mann, den sie fürchtete, eine „Macht“ über sie aus, eine so große, daß es sogar dem harmlosen Vetter sichtbar geworden?

„Nun ja, das ist doch wohl zu merken,“ erwiderte Florens, „er blickt ja immer nur auf Dich, und wenn er spricht, so ist Niemand, der so gespannt auf das, was er sagt, lauscht, als Du, und …“

„Sprich weiter!“

„Und so mein’ ich, müßtest auch Du etwas über ihn vermögen … Du müßtest ihn zu dem bringen können, was die einzige ehrliche Art und Weise ist, aus dieser Sache zu kommen. Du müßtest ihn dazu bringen, daß er offen zu Horst spricht: ,Vor Jahren, als ich nicht daran dachte, daß Sie Ihre Herrschaft jemals überantwortet erhalten würden, habe ich das Kunstkleinod, auf welches Sie so großen Werth legen, verkauft. Herr von Schollbeck wünschte es zu besitzen und bot eine Summe dafür, welche ich annahm, weil ich es im Interesse des Guts, das ich zu verwalten hatte, geboten hielt, sie anzunehmen. Die Summe hat dazu gedient, die Lage Ihrer verschuldeten Herrschaft zu verbessern. Sind Sie nun unzufrieden mit dem Geschehenen, so bieten Sie in friedlicher Weise Herrn von Schollbeck den Ersatz der Summe an, und als Ehrenmann wird er sich nicht weigern, Ihnen die Statue zurückzusenden!‘ “

„Wird Allmer das thun? Er war nicht befugt ohne Einwilligung der Gerichtsbehörde zu verkaufen.“

„Er muß also selbst wünschen, auf friedliche Weise aus dem Handel zu kommen!“

„Wenn er das wünschte, hätte er nicht gleich bei der ersten Frage Horst’s nach der Statue so gesprochen?“

Florens zuckte die Achseln.

„Ich kann mir denken, weshalb er es nicht that; er wollte Deinen Vater nicht um seinen Schatz bringen, er wollte vor allen Dingen sich die Gunst und Gnade Deines Vaters erhalten, und weshalb er das will, das,“ setzte Florens mit einem fast bitteren Tone hinzu, „ist mir nicht räthselhaft!“

Eugenie sah ihm groß und voll in’s Gesicht.

„Du hast Recht,“ sagte sie plötzlich bewegt und zornig aufspringend, „und gerade deshalb rede mir nie mehr davon, daß ich mich mit einer Bitte an diesen Allmer wenden soll … nie … niemals!“

„Und sollen wir es denn ruhig darauf ankommen lassen, was dieser Horst wider uns beginnt? Gerichtliche Verfolgungen, die Schmach gezwungen zu werden … das Gespötte der Welt … ich glaube, Dein Vater mit seinem reizbaren Ehrgefühle überlebte es nicht.“

„O mein Gott!“ rief händeringend Eugenie aus, deren Verzweiflung noch gemehrt wurde durch den Gedanken, daß er, er, dieser Horst, jetzt einen innerlichen Triumph über sie Alle hege, sie fühlte sich in einer ganz trostlosen Lage … Allmer um etwas bitten, mit ihm gemeinschaftlich handeln, nein, nimmermehr! und dem bösen Nachbar sein Recht lassen – der Gedanke war gleich fürchterlich!




7.

Sehen wir uns jetzt nach unserem jungen Freunde, nach dem bösen Nachbar um, der Nachts die Häuser seiner Feinde umschleicht, um sie zu verderben.

Horst war in einer schwer zu beschreibenden Stimmung. Die zornige Gereiztheit, in welcher er sich befunden, als er den Brief an Florens von Ambotten geschrieben, war verschwunden. Statt Andere anzuklagen, klagte er jetzt nur noch sich an. Diese Wandlung war durch nichts Anderes hervorgebracht, als durch einen Brief Allmer’s, den er am Nachmittage dieses Tages erhalten und worin Allmer ihm zweierlei Mittheilungen machte: zuerst die, daß er, Allmer, die Verwaltung seiner Herrschaft weiterzuführen nicht beabsichtige und das Verhältniß von dem Tage an, an welchem die gerichtliche Uebergabe und Rechnungablage erfolgt sei, als gelöst betrachte; sodann, daß er die von Florens von Ambotten gewünschte Genugthuung an dessen Statt zu geben bereit sei. Horst ließ das Blatt vor Ueberraschung aus den Händen fallen.

„Nun erhältst du auch von dem einen Absagebrief!“ sagte er sich. „Bist du unter einem bösen Bann hier! Oder hast du selbst verschuldet, daß du jetzt so jammervoll verlassen und rathlos allein dastehst? Zum Verzweifeln rathlos! Was beginnen ohne diesen Allmer? Alle Welt nennt ihn einen Menschen von seltener Tüchtigkeit. Alle Welt sagt, du habest die größte Verpflichtung gegen ihn für das, was er an deinem Eigenthum gethan, für das, was er in den wenigen Jahren geleistet! Und nun kündigt er dir an, daß er nichts mehr mit dir zu schaffen haben[WS 1] wolle! Welche Gründe hat der Mann? Bist du ein thörichter, unverträglicher Mensch, mit dem nicht zu hausen ist? Zu rasch und vorschnell haben dich deine Freunde immer genannt! Du mußt ihn dadurch verletzt haben, du mußt ihm zu sehr den Herrn und Gebieter gezeigt … er muß keinen Charakter in dir erkannt haben, mit dem er länger Hand in Hand gehen mag!“

Horst nahm zerknirscht eine wahre Gewissensprüfung mit sich vor. Es fiel ihm jetzt schwer seine Forderung an Florens auf’s Herz; das, ja, das ganz gewiß, war eine nicht zu rechtfertigende Voreiligkeit, eine Handlung der Hitze gewesen, die sich nicht entschuldigen ließ. Mit der Pistole in der Hand zurückkommen, wenn unser Besuch abgewiesen wird, es war thöricht, kindisch. Horst ärgerte sich jetzt gründlich über diese Unbesonnenheit, und weniger darüber, weil sie seine Stellung in seiner neuen Heimath gründlich verschlechtern mußte, als weil er ihr, ihr, die bei allem diesem der Mittelpunkt seiner Gedanken blieb, dadurch absurd vorkommen mußte, oder gar gehässig, oder vollends lächerlich! Und dies wurmte ihn so fürchterlich, daß er hätte darüber weinen können, wie sich seiner denn überhaupt bald eine Stimmung so tragischer Art bemächtigte, wie er sie nie empfunden. Er kam sich so allein, so verlassen, so von Allen zurückgestoßen vor, daß er etwas wie ein vollständiges Mitleid mit sich selber empfand. Die Zimmer, das [676] Haus, in welchem er sich befand, wurden ihm mit ihrer todten Oede so unheimlich, so unaussprechlich drückend, daß er es nicht in ihnen aushielt. Er machte Pläne, durchzugehen, sich zu flüchten aus dieser Welt, die ihn zurückwies, seine Herrschaft dem Zufalle zu überlassen, sie zu Grunde gehen zu lassen, wenn sie zu Grunde gehen wollte, nur um fortzukommen! Und dann … dann hielt ihn doch etwas hier; dann war doch etwas da, was ihn fesselte an diese stille, für ihn so freundlose Gegend … etwas, das er selber sich nicht nannte und das ihn doch zog, in die Wälder hinauszuschweifen, durch seine Wälder und zuletzt durch den Wald, der zu Falkenrieth gehörte.

So war er an die Stelle über dem Flusse, wo Eugenie die Rasenbank anlegen lassen, wo man Haus Schollbeck nur ein paar Büchsenschüsse entfernt unter sich daliegen sah, gekommen. Er hatte sich da niedergelassen, hatte das Haus, die Gärten mit seinem Perspectiv überschaut und hatte geharrt, ob er nicht Eugenie vielleicht erscheinen sehe… er hätte sie so gern einmal noch gesehen, ehe er sich zum Scheiden rüste! Und dann war es dunkel geworden, ohne daß er sie gesehen, und er hatte sich wieder in die Wälder verloren mit dem schmerzlichen Gefühl einer verlorenen Hoffnung, eines zusammengebrochenen Lebensplans. Ein lasciate ogni speranza stand in seiner Seele … und doch war die Hoffnung so schön gewesen, dies Mädchen so bezaubernd, und daß man so feindlich ihn zurückwies, hatte das Verlangen nach ihr, das schon durch seine Einsamkeit so genährt worden, so unermeßlich gesteigert!

Er hatte sich wieder in die Wälder verloren, und ohne sich um Bürsch und Wild zu kümmern, hatte er ein entlegenes Forsthaus erreicht, und sein Förster hatte sich nicht nehmen lassen, ihm eine Abendmahlzeit aufzutragen, von der er nichts genoß. Und dann war er heimgekehrt, ohne die Begleitung des Försters anzunehmen, den nächsten Weg, durch das Flußthal, durch die Wiesenniederungen, durch die Grundstücke, die zu Haus Schollbeck gehörten, und so war er in den Park dicht am Hause gerathen, und im Schatten der Parkgebüsche, als er betroffen und scheu einen Ausweg gesucht, der ihn weiter führe, ohne ihn von Augen erblicken zu lassen, die in Haus Schollbeck noch wach sein konnten, im Schatten der Parkgebüsche umherirrend, hatte er Eugenie erblickt, zuerst auf-[WS 2] und abschreitend in ihrem Zimmer, an den erleuchteten Fenstern vorüber; dann ihre ganze schlanke, reizende Gestalt, wie sie an die Brüstung ihrer Veranda trat, und die Lampe im Innern des Hauses und der helle Vollmond draußen wetteiferten, sie mit einem eigenthümlichen Lichte zu übergießen, in welchem sie zehnmal hinreißender, verführerischer erschien. Und dann, nach langem Hinüberstarren, war er wie aus einem wachen Traume auffahrend geflohen, viel, viel Schmerz und Verzweiflung in der Seele! Und am andern Tage, in den Morgenstunden nach einer unruhigen, langsam hinschleichenden Nacht, hatte er seine Auswanderungspläne wieder aufgenommen. Er wollte fort. Ja, er hatte es beschlossen. Er war es sich schuldig. Es litt ihn nicht hier. Er wollte nicht verkommen in der Einsamkeit, lächerlich in seinen eigenen Augen, zehrend an einem unseligen Gedanken, über dem er, das fühlte er lebendig, zum Thoren, zum Wahnwitzigen werden konnte!

(Fortsetzung folgt.)




Der Meister und der Jünger.
Erinnerung von J. C. Lobe.

Wer Du auch sein magst, lieber Leser, soviel weiß ich von Dir – es wohnen Erinnerungen in Deiner Seele, an geliebte Personen, an freudige Ereignisse, die, wenn irgend ein Anlaß sie in spätern Jahren Dir wieder auffrischt, Dich mit jener Art von Glück durchwehen, das, aus Wehmuth und Sehnsucht gewebt, dem Heimweh zu vergleichen ist. Ein solches Gefühl und solche Erinnerungen ergriffen mich, als ich unlängst das vortreffliche Portrait Carl Maria v. Weber’s erblickte, das den kürzlich erschienenen ersten Band der Biographie schmückt, mit welcher ein geistvoller Sohn dem großen Vater ein würdiges Denkmal setzt. Ich habe ihn noch gesehen von Angesicht zu Angesicht, den schon so lange dahingeschiedenen großen Tonmeister, ich habe ihn noch spielen hören, ja, einige Jahre vor seinem Tode das Glück genossen, ihn besuchen und sprechen zu dürfen. Auch einen Brief von ihm besaß ich einst. Den haben aber die gottvergessenen Autographensammler meiner Gutmüthigkeit längst, fast zeilenweise, abgeschwatzt und den Schluß desselben mit der Unterschrift zuletzt gestohlen. Wer theilt nicht gern mit, was ihm in seinem Leben vorzüglich theuer und wichtig erschienen ist? Zu den theuersten und wichtigsten Erinnerungen meines Lebens aber gehören mir die an Carl Maria von Weber.

Es war Ende Januars des Jahres 1812, als Weber mit seinem Freunde, dem berühmten Clarinettisten Bärmann, nach Weimar kam, um, von gewichtiger Seite empfohlen, am Hofe Karl August’s ein Concert zu geben. Beide Künstler wurden von der Großfürstin Maria Paulowna mit der ihr eigenen fesselnden Huld empfangen und brachten bei anmuthigster Unterhaltung und Musik, zwanglos wie im Familienkreise, mehrere Abende bei ihr zu. An einem dieser Abende, als Weber gerade mit Bärmann die für den letztern componirte Variation über ein Thema aus „Sylvana“ spielte, stand an der äußern halb geöffneten Thür des großfürstlichen Gemachs ein junger Mann von etwa achtzehn Jahren und lauschte in trunkenem Entzücken der Composition und dem Spiel der genannten Musiker.

Der junge Mann war der noch heute in Weimar lebende ausgezeichnete Orgelspieler Professor Töpfer, welchen die Großfürstin vom damaligen Capellmeister Müller ausbilden ließ. Töpfer besuchte am andern Tage ein anderer Kunstjünger, der Schreiber dieser Zeilen, und wie ward er von diesem wegen des gestrigen Hochgenusses beneidet, den zu schildern er keine Worte hatte! Weber’s Compositionen wichen ja ab von Allem, was wir von unsern sonstigen Tonmeistern kannten, sie erinnerten weder an Haydn, noch Mozart, noch Beethoven und waren doch in einem so überaus effectvollen, von den lieblichsten Melodien durchwebten Style gehalten.

Monate vergingen inzwischen. „Was ist das?“ rief mir Töpfer mit freudefunkelnden Augen entgegen, als ich im Herbste desselben Jahres wieder in das Stüblein meines Genossen eintrat und auf dessen Pianofortepulte ein in Saffian gebundenes ziemlich dickleibiges Notenheft liegen sah.

„Eine Sonate von C. M. von Weber.“

Die Großfürstin hatte Weber dringend um seine Sonate in C dur gebeten, die dieser denn auch im September nach Weimar sandte. Wie aber kam das Exemplar der Fürstin so bald in die Hände des armen Musiklehrers? Maria Paulowna hatte es dem Capellmeister, wahrscheinlich um sein Urtheil darüber zu vernehmen, zur Ansicht mit nach Hause gegeben, und von diesem war es dem Schüler auf dessen dringende Bitte auf kurze Zeit überlassen worden. Töpfer hatte die Sonate, als ich zu ihm kam, schon vollständig in seinen Fingern. Daß er mir sie gleich vorspielen mußte, versteht sich. Ach, das Leben, wie schön war es doch in dieser Periode des jugendlichen Kunstenthusiasmus! Wie schwelgten wir in dieser neuen eigenthümlichen Tonidee, die, wie man in späteren kühlern und kritischer gebildeten Jahren wohl erkannte, in ihrem architektonischen Bau der einheitlicheren Form der Beethovenschen Sonaten zwar nicht entsprach, aber durch ihre deutliche und ungemein energische Gefühlssprache uns fesselte und einer unserer bevorzugtesten Lieblinge ward. Von diesem Augenblick an trat Weber in die erste Reihe unserer Tongötter ein, und er ist es geblieben bis auf den heutigen Tag und wird es bleiben bis zu unserem letzten. Ich glaube nicht, daß uns eine seiner Noten, die überhaupt in die Öffentlichkeit gelangt, unbekannt und ungenossen geblieben ist. Aber diese Sonate, die noch ungedruckt war, wieder aus den Händen geben? Uns nach kaum gewonnener Bekanntschaft schon wieder losreißen von dem Meisterwerke? Das war unmöglich, das hätte uns in’s Herz geschnitten, unser Leben auf’s Bitterste vergällt! Ohne Zaudern, ohne die geringste moralische Regung zu empfinden, wurde ein Verbrechen, ein Diebstahl beschlossen und ausgeführt – die Sonate wurde zum Theil unter dem langen Deckmantel der Nacht abgeschrieben. Doch betrachteten und hegten wir die

[677]

Carl Maria von Weber’s letzte Augenblicke.
Nach dem Originalgemälde von De Keyser auf Holz gezeichnet von Adolph Neumann.

[678] Copie natürlich wie einen heiligen Schatz, an dem wir uns heimlich labten, dem aber kein anderes menschliches Auge und Ohr nahen durften. –

Endlich sollte auch mir der heiße Wunsch erfüllt werden, den geliebten Meister wirklich zu sehen und spielen zu hören. Ein Hofconcert wurde angesagt, in der sogenannten langen Galerie des Schlosses. Als ich erfuhr, daß er spielen werde, bekam ich das Fieber, das Freudenfieber nämlich der Erwartung. Alle Leser kennen jenen wunderbaren Zustand der äußersten Spannung, wenn man in jedem nächsten Moment den Anblick einer hochberühmten Person zum ersten Male erwäget. Als ich ihn nun aber endlich hereintreten oder vielmehr, wenn auch nicht sehr merklich, hereinhinken sah in den Saal, fühlte ich, wie ein leises Weh sich aus mein Herz legte. Er war mir wohl als ein kleiner Mann geschildert worden, aber eine so schmächtige, so gebrechlich scheinende Gestalt mit den auffallend langen Armen, einem kürzeren und einem längeren Bein hatte ich doch nicht erwartet. Dazu das schmale, längliche, bleiche Angesicht, die eingefallenen Schläfe, gegen die eine ziemlich lange Nase etwas zu sehr hervortrat! Der Ausdruck in seinen Gesichtszügen war dagegen unverkennbar edel, geistvoll und wahrhaft vornehm. „Ach, diesem hohen Genius ist in seinem zarten irdischen Körper gleich Mozart kein langes Verweilen und Schaffen auf dieser rauhen Erde beschieden!“ Das war mein erster trauriger Gedanke beim Anblick des geliebten Meisters.

Ich wirkte in der Capelle mit. Ein Wort an den Meister zu richten, wäre mir jungem schüchternen Manne ebenso undenkbar gewesen, wie an den größten Monarchen. Aus den Augen aber ließ ich ihn den ganzen Abend nicht, wo ich sie nicht unmittelbar auf die Noten zu richten hatte. Ja, auch da selbst raffte ich mit einem raschen Ueberblick eine ganze Linie voller Noten auf und schoß mit meinen Augen während ihrer Ausführung aus dem Gedächtniß auf den Meister. So schlich ich ihm auch nach, als er vor Beginn des Es-dur Concerts durch die Notenpulte sich zu dem ersten Trompeter wand, Pfeiffer hieß der Mensch, um diesen auf eine Stelle aufmerksam zu machen, die er so und so vorzutragen nicht vergessen möge. Da antwortete ihm dieser rohe Mann, der ab und zu der Flasche mehr als gebührlich zusprach: „Das werde ich schon machen, ohne daß ich es erst von Ihnen zu lernen brauche.“

Der Meister sah ihn einen Augenblick verwundert an und ging dann, ohne ein Wort zu erwidern. Mir aber fuhr diese ungeschlachte Rede wie ein Blitz in’s Pulverfaß, und die Explosion war unaushaltbar. Kochend vor Wuth platzte ich heraus: „Sie Grobian sind nicht werth, einem solchen Manne die Schuhriemen aufzulösen, und sind ein wahrer Schandfleck unserer Capelle.“ Freilich mußte ich auf dem eiligen Abzug an mein Pult einen nachgeschickten „dummen Jungen“ mitnehmen, aber ich hatte doch dem geliebten Meister Satisfaction verschafft und hätte allenfalls für diese Freude auch eine Ohrfeige noch hingenommen.

Weber spielte an diesem Abend sein Es-dur Concert, Variationen und gab zum Schluß auf Verlangen der Großfürstin eine freie Phantasie. Ueber sein Spiel, seine Composition und Improvisation noch etwas zu sagen, was nicht schon bekannt und namentlich in seiner Biographie mehrfach ausgesprochen wäre, ist nicht wohl möglich. Seine Fertigkeit als Virtuos, obwohl damals auf der Höhe seiner Zeit stehend, ist seitdem übertroffen worden, niemals aber sind es seine geistreichen Combinationen und die Eigenthümlichkeit seiner Gedanken in seinen Phantasien. Es war eben die Weber’sche Seele, die ihren ganzen Gefühls- und Gedankenreichthum in noch nie gehörte Tonbilder ausströmte.

Auch seine Oper „Sylvana“, die mit Unrecht nur auf wenigen Bühnen gegeben worden, kam in Weimar zur Aufführung. Wie aber überall ein böser Stern über dieser Schöpfung gewaltet, so auch bei uns. Die interessanteste Partie darin ist bekanntlich die der Sylvana selbst, die nicht singt und nicht spricht, sondern nur durch Mimik, Gesten und Tanz zu wirken hat. Die Darstellung dieses jungen, reizend lieblichen Wesens übernahm aber die damals schon alternde, kleine, kugelrunde Frau von Heygendorf, die, obwohl eine ausgezeichnete Sängerin und Schauspielerin, doch zu dieser Rolle durchaus nicht paßte. Ich mag dem Andenken der sonst so ausgezeichneten Frau zu Liebe den ungünstigen Eindruck ihrer Erscheinung in dieser Rolle auf das Publicum und damit auch auf die ganze Oper nicht ausmalen. Genug, als sie zu tanzen anfing, war an eine Wirkung der Musik nicht mehr zu denken, und so wurde das Werk bei Seite gelegt. Erreicht es aber auch die andern Opern Weber’s nicht, so enthält es doch schon so viele eigenthümliche Schönheiten, daß es, in unserer Zeit mit den geeigneten Darstellern wieder auf die Bühne gebracht, sicher wenigstens bei den gebildeteren Musikfreunden ein höheres Wohlgefallen erregen würde, als viele der neufranzösischen und neuitalienischen Klingeleien. –

Weber’s spätere Werke hatten die volle Strahlenkrone des Ruhms auf des Meisters Haupt gelegt, aber mehr und mehr kränkelte er. Aus dem Bade hoffte er Stärkung und erneute Kraft schöpfen zu können. Auf seiner Reise dahin kam er durch Weimar und mußte, erschöpft, einige Tage im Gasthof „zum Erbprinzen“ verweilen. Hier nun war mir das Glück vergönnt, ihn besuchen zu dürfen. Als ich in sein Zimmer trat, lag er krank im Bett, zugedeckt bis an’s Kinn, nur das bleiche liebe Angesicht war sichtbar! Ich wollte mich, über meinen ungelegenen Besuch erschreckend, augenblicklich wieder entfernen, er lud mich aber freundlich ein, auf einem Stuhl an seinem Bett Platz zu nehmen. Die Unterhaltung, deren er mich würdigte, gab mir eine der glücklichsten Stunden meines Lebens.

Die Idee eines geistig reichen und kräftigen Menschen verleiht ihm so natürlich auch einen entsprechenden Leib dazu. Geistig kräftige, energische Gebilde, möchte man meinen, könnten nur aus einem körperlich kräftigen, energischen Organismus hervorgetrieben werden. Wem vermöchte man einzureden, die himmelstürmenden Titanen hätten kleine, schwächliche Gestalten gehabt? Die Erfahrung lehrt uns indessen, daß innere und äußere Kraft zwei von einander unabhängige Wesen sein müssen und nicht selten in umgekehrtem Verhältniß stehen. Der körperliche Riese Spohr vermochte nur zarte, weiche, elegische Tongebilde zu spinnen und offenbarte seine Schwäche, so oft er sich kraft- und schwungvoll zeigen wollte; das schwächliche kleine Männchen Carl Maria, das hier vor mir lag, ein Kind an Gestalt im Vergleich zu jenem, sprühte Feuer- und Flammengedanken aus sich heraus, wenn sein Object sie verlangte, und führte Cyklopenschläge auf das Herz der Hörer. Mit der Anstrengung seines ganzen Lebens hätte Spohr den hinreißenden, kraft- und schwungvollen Feuerstrom des Freischütz-Ouvertürenschlusses nicht zu schaffen vermocht.

Euryanthe war zu jener Zeit noch nicht bei uns aufgeführt worden, Oberon noch nicht componirt. Den „Freischütz“ aber hatte ich so oft gehört und die Partitur so unablässig durchstudirt, daß ich die Musik vollständig im Kopfe hatte und sie allenfalls aus dem Gedächtniß hätte niederschreiben können. Nun drängte es mich, Alles, was mir darüber an Bemerkungen und Fragen im Sinne lag, dem Meister mitzutheilen, um durch seine Bestätigung oder Berichtigung meine Einsichten zu vermehren und abzuklären. Zögernd, schüchtern wagte ich mich anfangs hervor mit meinen Gedanken, als er aber geduldig zuhörte, liebevoll meine Fragen beantwortete, wurde ich nach und nach muthiger, und ein interessanter Punkt nach dem andern wurde durchsprochen: über den Totalton in der Oper und speciell im Freischütz, über das bewußte Schaffen des Künstlers, über Nachahmung der Meister, über Instrumentation und vieles Andere noch, wie ich es in den Fliegenden Blättern für Musik bekannt gemacht habe und deshalb hier übergehen muß.

Ich erzählte ihm von den so überaus glücklichen Momenten, die seine Erscheinung schon unserer Jugend bereitet, von dem entzückten Lauschen des jungen Mannes an der Thür des großfürstlichen Zimmers, von der gestohlenen Sonate etc., und der Enthusiasmus, in welchen ich dabei unwillkürlich gerieth, schien ihn sehr zu erfreuen, ja, eine besondere Wirkung auf ihn zu machen. Mit einem eigenthümlichen Ausdruck, den ich als ein Gemisch von Erhebung und Erbitterung bezeichnen möchte, rief er aus: „Ja, wenn ich das damals gewußt hätte! Eine solche Wirkung meiner Arbeiten auf jugendliche, unbefangene, verwandte Musikgemüther hätte mich über manche trübe Stunde jener Zeit trösten und hinwegheben können, zuerst über meine eigenen peinigenden Zweifel an meinem Talent!“ In der Biographie fand ich später, daß diese Aeußerung des Meisters keine Redensart, sondern in seinem Charakter begründet gewesen ist. Am 1. November 1812 schrieb er ja an einen Freund: „Ich bin ohnedies immer so gewissenhaft und auf der Folter, wenn ich arbeite. Oft verzweifle ich an mir selbst und meinem Genius und glaube mich zu schwach, ein Werk nach der Größe meiner Ansicht, meines Wunsches vollenden zu können.“ Während unsers Gesprächs wurde Weber’s Stimmung sichtlich [679] angeregter. „Was ist denn der Lohn des Künstlers,“ fuhr er fort und legte seine Hand theilnehmend auf die meinige, „der es ernst meint, für alle seine Anstrengungen? Sind es die Collegen, die ihn als ebenbürtigen Genius mit ungeheuchelter Achtung und Freundschaft aufnehmen? In’s Angesicht, ja; hinter seinem Rücken zucken sie erhaben mitleidig die Achseln über seine Einbildung, sich auch als einen Maler fühlen zu wollen, da er doch nicht gerade so componirt wie sie. Ist es die Kritik, die ihm Gerechtigkeit widerfahren läßt? Die Journale zeigen’s. Entweder Erhebungen seiner Freunde, die, selbst im Falle daß sie reine Wahrheit redeten, dem Künstler keine Freude machen können, weil er aus der Quelle der Freundschaft keine reine Wahrheit schöpfen kann, oder Herabsetzungen des Neides und feindseliger Coterie. Sind es die öffentlichen Ehrenbezeigungen, die Applaudissements, zugeworfenen Kränze, Dacapos, zwei-, dreimaligen Hervorrufe unmittelbar hintereinander? Sie können dem echten Künstler keine Genugthuung bereiten, denn dieselben Ehren, die heute ihm, werden morgen dem gewöhnlichsten Talente entgegengebracht, wenn es nur das ‚Klappern‘ geschickt auszuüben versteht. Was bleibt also, frage ich, nach all dem problematischen Zeug einem Künstler für seine treue Hingabe an die Kunst übrig?“

„Der an der halbgeöffneten Thür, im tiefsten Innern ergriffene, den hohen Genius voll begreifende, begeisterte arme Jüngling,“ fiel ich ein, „ferner derjenige, welcher jetzt das Glück hat, an Ihrer Seite sitzen zu dürfen, und übrigens – Millionen guter, treuer, unbefangener Menschenherzen, denen Sie durch Ihre Schöpfungen so viele Stunden reinsten Glücks geschenkt und die Ihnen dafür danken, Sie lieben und verehren.“ – Meine warme Rede that dem kranken Meister sichtlich wohl. Er sah, daß sie aus einer unmittelbaren wahren Empfindung floß.

„Es macht mir immer Freude,“ sagte er freundlich, „mich mit jungen Männern zu unterhalten, die ein ernstes und redliches Streben in ihrer Kunst bekunden. Führt Sie Ihr Lebensweg einmal nach Dresden, so werden Sie nicht an meiner Wohnung vorübergehen, und Sie sollen wohl aufgenommen werden.“

Er reichte mir die Hand. Ich zog sie, trotz seines Sträubens, an meine Lippen und drückte mehrere heiße Küsse darauf. Dann entfernte ich mich rasch. Ich habe ihn seitdem nicht wiedergesehen.

Das eingefallene Angesicht, mit jener kränklichen Blässe überzogen, die mir schon wie ein Widerschein des immer näher schwebenden Todesengels traurig ahnungsvoll das Herz beengte, ließ die Hoffnung auf eine längere Lebensdauer des Meisters nicht aufkommen. Jenes schreckliche Uebel, das kein Erbarmen kennt und aller Hoffnung spottet, die Lungensucht, hatte ihr Zerstörungswerk längst in ihm begonnen. Dennoch nahm er den Auftrag des Covent-Garden-Theaters zur Composition des „Oberon“ an. Mehr als die Ehre, deren er seit dem Freischütz zur Genüge genossen, mehr als der schöpferische Drang nach einem neuen Werke, den ihm der Musiksinn des englischen Publicums schwerlich in hohem Maße erregen konnte, mochte ihn diesmal die heiße Liebe zu den Seinen, für die er eine reiche Ernte zu halten und ihre Existenz dadurch nach seinem Tode zu sichern hoffte, antreiben zu langer Reise im Winter, über’s Meer, und mit der Last einer erst halbvollendeten Partitur. Die Anstrengungen, die ihn in London empfingen, die Direction der Concerte, des „Freischütz“ und „Oberon“, das Probehalten, Componiren, die Gesellschaft der Freunde und derer, die den berühmten Künstler bei sich gesehen haben wollten, die Nebel und Dämpfe Londons – das Alles mußte die schwindende Lebenskraft vollends verzehren.

Nur ein Gedanke lebte in seiner Seele, der Gedanke an das Wiedersehen seiner Lieben, nur ein Gefühl regte sich noch in seinem Gemüth – das Heimweh! Er hatte versprochen über Paris zurückzukehren, wo ihn neue Aufträge erwarteten, er gab sie auf; man wünschte ihn in London länger zu behalten, er kürzte den Aufenthalt nach Möglichkeit ab, die Tage, die Stunden zählte er ununterbrochen bis zu dem Augenblick, wo er den Reisewagen besteigen könne. Aber dies heißersehnte Glück des Wiedersehens war dem versagt, der Anderen so viel glückliche Lebensstunden geschenkt hatte. Am 4. Juni Abends befand er sich noch in Gesellschaft seiner Freunde. Er verließ sie mit dem Ausdruck des Gedankens, der allein noch seine Seele einnahm: „Wieder einen Tag dem Wiedersehen näher!“ Allein begab er sich in sein Zimmer, im Hause seines edlen Freundes, Sir George Smart, bei dem er wohnte. Was sich von da an mit dem Meister begeben, weiß Niemand. Er wurde am nächsten Tage, den 5. Juni, nicht sichtbar, die Thür war und blieb verschlossen. Als die Freunde, davon benachrichtigt, herbei kamen, lauschten und seinen Namen riefen, erfolgte keine Antwort. Nun erbrach man spät am Tage sein Zimmer. Da lag der Meister, wie ruhig schlummernd, todt im Bett. Obwohl die Katastrophe nahe geschienen, hatte sie doch Niemand so schnell erwartet! Wenn in dem Gedanken „ein schöner Tod“ Trost für den Verlust unserer Lieben liegen kann, so konnte man ihn hier finden. C. M. v. Weber hat allem menschlichen Ermessen nach einen schönen Tod gehabt. So hoffnungslos sein Zustand in den Augen aller seiner Freunde war, den Lungensüchtigen selbst verläßt die Hoffnung auf Genesung nicht; ja, die meisten wenigstens sollen sich, je näher der Auflösung, desto näher der Genesung wähnen. Jedenfalls zeigt die letzte Aeußerung Webers an jenem Abende, als er die Gesellschaft verließ: „Wieder einen Tag dem Wiedersehen nahe,“ daß er den vollen Glauben daran in sich hegte.

Mit dem Gedanken an Frau und Kind in der schönen lieben deutschen Heimath ist der Meister aller Wahrscheinlichkeit nach hinüber geschlummert.

Was man dem Künstler an Ehren anthut, wenn er seine irdische Bahn durchwandelt hat, darüber will ich kein Wort weiter verlieren. Schiller mußte aus Stuttgart fliehen, weil er nicht aufhören wollte zu dichten, später setzten sie ihm in Stuttgart eine Statue, weil er zu dichten nicht aufgehört hatte. Eine Huldigung aber, die ein großer Künstler in einem andern Kunstgebiete, der Malerei, unserem großen Tondichter gebracht, hat mich tief gerührt, eine Huldigung, welche das obige Bild geschaffen, und mit der Geschichte derselben, wie sie uns der talentreiche Sohn, Max von Weber, gütigst mitgetheilt, will ich meinen kleinen Artikel schließen.

„Das obige Bild,“ schreibt der Sohn an den Herausgeber der Gartenlaube, „ist von einem der größten jetzt lebenden belgischen Maler, dem Director der königlichen Akademie zu Antwerpen, de Keyser, der ein warmer Freund der Musik meines Vaters war. Vor einer Reihe von Jahren sandte dieser berühmte Künstler ein Bild zur Dresdner Ausstellung, das ein reines Phantasiestück war und das er „den letzten Augenblick Carl Maria v. Weber’s“ nannte. Der Gedanke war an das verlöschende Licht auf dem Piano und den hereinbrechenden Morgen geknüpft, der das Gesicht des sterbenden Meisters beleuchtet. An ein historisches Factum war er nicht gebunden. Das Bild war nichts Anderes, als eine lebensgroße Darstellung desselben Bildes, das Sie Ihren Lesern in der heutigen Nummer vorlegen. Von Portraitähnlichkeit war in jenem großen Bilde keine Rede. Nichtsdestoweniger interessirte mich das herrlich gemalte Werk, und ich schrieb an den Meister, den ich von meinem Aufenthalte in Belgien her schon kannte, und bat ihn um die Erlaubniß, eine Photographie des Bildes nehmen zu dürfen, wobei ich ihm jedoch bemerkte, wie sehr ich bedaure, daß sein schönes Bild durchaus keinen Anklang von Portraitähnlichkeit habe. De Keyser antwortete mir sofort, daß er mich bitte, keine Photographie von dem Bilde nehmen zu lassen, das seine ganze Wirkung der Farbe verdanke, und ersuchte mich schließlich um Sendung von Portraits, da er sein Bild darnach zu ändern beabsichtige. Ich schickte ihm die besten Stiche und einen Abguß der Leichenmaske. Jahr und Tag hörte ich nun nichts weiter von der Sache, als eines Tages das Gemälde, das hier die Gartenlaube nachbildet, an mich ankam mit der Frage de Keyser’s: ob es nun ähnlich sei? In der That ist es dem großen Meister gelungen, nach dem ihm gesendeten Material das ähnlichste Portrait meines Vaters zu schaffen, das existirt! Freudig schrieb ich ihm dies und erhielt umgehend den liebenswürdigsten Brief mit der Bitte, das Bild als Andenken an ihn zu behalten!“

Möge dem liederreichen Deutschland bald wieder ein Meister erstehen, in dessen Tonschöpfungen das deutsche Gemüth, die deutsche Herzensinnigkeit einen so vollen Ausdruck findet, wie in den unsterblichen Melodien unsers großen Carl Maria v. Weber.



[680]
Ein leeres Grab und ein Mann ohne Namen.
Palastmysterium aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Am 11. August 1853 erwachten die Bewohner des Städtchens Villefranche, welches am Ufer der Rhone ungefähr vier Meilen von Lyon entfernt liegt, in einer eigenthümlich neugierigen Spannung. Zwei Tage zuvor hatte die Gräfin von A***, die Stammhalterin einer der ältesten und reichsten Legitimistenfamilien des Lyonnais, ihre Equipage nach dem Bahnhofe gesandt und war trotz des spitzigen Steinpflasters und ihrer siebenzig Jahre am Arme ihres einzigen Sohnes, des Grafen Maurice, dem Wagen zu Fuße gefolgt. Bei der Ankunft des Zuges hatte der Graf sich einem Waggon genähert und, den Hut in der Hand, einen noch rüstig aussehenden alten Mann begrüßt, dessen einfache Kleidung gegen sein schneeweißes Batistjabot merklich abstach.

Der Fremde hatte lächelnd den Gruß des Grafen erwidert und mit ihm den Perron verlassen, aber – und alle Welt bemerkte es mit Erstaunen – der Graf war ihm mit entblößtem Haupte gefolgt. Im Wartesaal harrte die Gräfin, und die Reisenden konnten hier eine jener Verbeugungen des vorigen Jahrhunderts bewundern, die man in unsern Tagen belächelt, sollte man sie einmal auf der Bühne sehen. Der Fremde stieg in den ihn erwartenden Wagen, und man sah, daß er die Gräfin einlud, mit ihrem Sohne darin Platz zu nehmen, was Beide unter mehrmaliger Verbeugung auch thaten.

Der Wagen der Gräfin von A*** war schon lange in ihrem Schlosse Vaulx-Renard angekommen, als das Gespräch der guten Kleinstädter noch fortdauerte und tausende von Hypothesen die Persönlichkeit des räthselhaften Fremden aufgestellt wurden. Am nächsten Morgen steigerte sich die Spannung noch mehr, denn ein Bote hatte den Dr. V. eiligst auf’s Schloß beschieden, und dieser war eine Stunde später nach Villefranche zurückgekehrt und hatte erzählt, daß der Fremde in der vergangenen Nacht am Schlagflusse gestorben sei.

Den ganzen Tag über fuhren Diener des Schlosses nach Lyon und kehrten einige Stunden später zurück; gegen Abend kamen zwei Särge, ein hölzerner und ein bleierner, an, in Begleitung eines mehr als achtzigjährigen Priesters, der sich sogleich zum Parochialpfarrer begab und diesen mit auf das Schloß nahm. – Der letzte Zug, der um 18 Uhr 45 Minuten von Paris eintrifft, brachte einige zwanzig – fast nur alte – Herren mit, die sich direct auf’s Schloß begaben und unter denen man Herzöge und Fürsten zu erkennen glaubte.

Am 12. um 10 Uhr setzte sich ein Trauerzug von der Kapelle des Schlosses aus in Bewegung. Einige fünfzig Personen folgten zu Fuße, den greisen Priester an der Spitze. Aus dem Kirchhof von Villefranche angekommen, fand man ein frisch aufgeworfenes Grab. Der Priester sprach die üblichen Gebete – der Sarg wurde in die Erde gesenkt, und die Begleiter, größtentheils Fremde, verließen mit dem nächsten Zuge Villefranche.

Acht Tage später kam ein Leichenstein aus Paris an, der bei Nacht auf das Grab gesetzt wurde und auf dem die erstaunten Besucher des Kirchhofes lasen:

Hier ruht
Louis Charles von Frankreich,
geboren in Versailles
den 27sten März 1785,
gestorben im Schlosse Vaulx-Renard
den 10ten August 1853.

Jetzt erst begannen die Bewohner des Städtchens zu begreifen, welch einen hohen Gast das Schloß eine Nacht hindurch beherbergt hatte, und das Räthsel schien vollständig gelöst, als sie in den Pariser Zeitungen die Nekrologe über den sogenannten „Baron von Richemont“ lasen, dessen eifrige und zahlreiche Anhänger ihn für den aus dem Gefängnisse des Temple entsprungenen Ludwig den Siebzehnten hielten.

Das Schicksal schien sich verschworen zu haben, der Einbildungskraft jener guten Leute mehr und mehr Nahrung zu geben. Im Jahre 1857 bereiste ein Mitarbeiter des ultraclericalen und legitimistischen Blattes „Le Monde“ jene Gegend, und als er zufälliger Weise die obengenannte Grabschrift las, schickte er eine überaus entrüstete Correspondenz an sein Journal, in der er, den Cultus vergessend, welchen jedes Grab verdient, die Regierung, die „solche Entweihung der vaterländischen Geschichte duldete“, auf das Heftigste angriff.

Gewöhnlich giebt die Napoleonische Regierung sehr wenig auf Ermahnungen, die ihr von legitimistischer Seite zukommen. Dieses Mal jedoch – wir wissen nicht, aus welchen Gründen – schien sie die Sache sehr ernst zu nehmen, denn am 12. November kam der Präfect des Rhonedepartements, der kürzlich verstorbene Senator Vaïsse, in Begleitung seines Generalsecretärs, des Untersuchungsrichters und einiger Gensd’armerie-Officiere, in Villefranche an und begab sich, nachdem er den Bürgermeister und den Parochialpfarrer zu sich hatte bescheiden lassen, von einer großen Menschenmenge gefolgt, auf den Kirchhof, wo er durch einige Arbeiter den Grabstein umreißen und an dessen Stelle ein in der Eile verfertigtes hölzernes Kreuz aufstellen ließ.

Im Augenblicke, wo er den Kirchhof verlassen wollte, überbrachte man ihm eine telegraphische Depesche, die er mehrere Male überlas; dann kehrte er zu dem Grabeshügel zurück und befahl den Todtengräbern das Grab zu öffnen. – Man denke sich das Erstaunen der Umstehenden! – Während der Arbeit unterhielt sich der Präfect leise mit seinem Generalsecretär, dem er die erhaltene Depesche zeigte und der, nachdem er sie gelesen, dieselbe mit einem ungläubigen Lächeln seinem Vorgesetzten wieder überreichte.

Als die Todtengräber bis zum Sarge gegraben hatten, hielten sie inne und erwarteten neue Befehle des Präfecten. Er hieß sie fortfahren und den Deckel des Sarges lüften. Sie gehorchten, und da das Holz von der Feuchtigkeit des Bodens sehr angegriffen war, so war in einem Augenblicke der Befehl vollzogen. Als der Deckel gehoben war, fand man einen zweiten Sarg von Blei. Der Präfect befahl auch diesen zu öffnen. Hunderte von Augen spähten begierig – der Deckel des bleiernen Sarges fiel …

Ein Schrei des Erstaunens entfuhr allen Umstehenden. – Der Sarg war leer! – –

Kein französisches Journal erwähnte dieses Vorfalles, nur in ausländischen Zeitungen wurde er besprochen. –

Vielleicht werden die ernsten Leser dieses Blattes uns mit jenen Schriftstellern verwechseln, welche der Geschichte einen Rahmen geben und es für nothwendig halten, die nackten Facten durch ihre Phantasie zu beleuchten. Wir fühlen uns veranlaßt, jeglichen Vorwurf dieser Art zurückzuweisen. Wie unglaublich das Nachfolgende dem Leser auch erscheinen möge, er darf fest überzeugt sein, daß die regste Phantasie, die überschwenglichste Einbildungskraft nicht im Stande sind, mit der Wirklichkeit zu rivalisiren, wenn die letzte sich einmal die Mühe giebt, dem Leben gewisser Menschen einen außergewöhnlichen Stempel aufzudrücken. Nebenbei machen wir den Leser noch darauf aufmerksam, daß alle Actenstücke, die wir citiren oder andeuten werden, bei Herrn J. Savigny, Advocaten am kaiserlichen Cassationshof in Paris, deponirt sind. –

Der Glaube an die Errettung aus der Gefangenschaft im Temple und an die spätere Existenz des unglücklichen Sohnes Ludwig des Sechzehnten ist in alle Classen der französischen Gesellschaft gedrungen, bei Einigen im Stadium des Zweifels geblieben, bei Anderen jedoch zur festen, unerschütterlichen Ueberzeugung geworden, und diese allgemeine Tendenz, den Tod des Dauphin nicht als eine unumstößliche Thatsache anzusehen, schaffte den verschiedenen Prätendenten, die nach dem Falle Napoleon’s ihre Identität mit dem verschwundenen Prinzen geltend zu machen suchten, viele Parteigänger.

Einige durch Zufall aufgefundene Actenstücke wurden dem zweifelnden Theile des Publicums als Basis des Glaubens an die Existenz des Dauphin oder vielmehr des rechtmäßigen Königs Ludwig’s des Siebenzehnten hingestellt, und so wurde die Regierung der Restauration selbst gezwungen, Maßregeln dagegen zu treffen.

Das erste Schriftstück, welches das Publicum in Erstaunen setzte, war der von den Aerzten am 12. Juni 1795 (vier Tage nach dem Tode) ausgestellte Todtenschein, in welchem die Doctoren Pelletan und Dumangin erklärten, daß man ihnen den Cadaver eines Knaben gezeigt und „ihnen gesagt hätte“, es sei der des Sohnes des verstorbenen Louis Capet (Ludwig XVI.).

Die Art und Weise der Redaction dieses Attestes erregte Erstaunen, [681] da es in seinen Ausdrücken von der gewöhnlichen Form solcher Schriftstücke abwich. Es wäre dies jedoch vielleicht unbemerkt vorübergegangen, wenn man nicht ein vom 14. Juni (26. Prairial) datirtes Decret des Convents gefunden hätte, das allen Behörden den Befehl gab, „den jungen Capet nach allen Richtungen hin zu verfolgen.“

Die Prätendenten stützten sich hauptsächlich auf diese beiden Actenstücke und suchten, von ihnen ausgehend, ihre Identität zu beweisen.

Nur drei Personen haben öffentlich und gerichtlich ihre Ansprüche geltend gemacht:

1. Mathurin Bruneau, Holzschuhmacher aus Vezins, Departement Maine et Loire,
2. Carl Wilh. Naundorff, Uhrmacher, gebürtig aus der Niederlausitz, wohnhaft in Spandau,
3. der sogenannte Baron von Richemont, mit dem dieser Artikel sich speciell beschäftigen wird.

Mathurin Bruneau trat am Ende des Jahres 1815 auf, und bald darauf hatte die Polizei sein ganzes vergangenes Leben von dem Tage seiner Geburt bis zum Augenblicke seiner Verhaftung aufgespürt. Seine kurze königliche Würde endete mit einer Verurtheilung zu sieben Jahren Zuchthaus wegen Betrugs, und Béranger setzte der Beschämung der Anhänger des sogenannten Prinzen von Navarra die Krone auf mit seinem bekannten Liede: „prince, faites-nous des sabots etc.“ (Prinz, mache uns Holzschuhe.)

Kaum hatte Naundorff sich in Frankreich gezeigt, kaum hatte er dort einige Anhänger gefunden, als die französische Regierung in Deutschland Nachforschungen über ihn anstellte und von der preußischen Regierung die vollständigsten Beweise erlangte, daß Carl Wilhelm Naundorff ein aus einer polnisch-jüdischen Familie entsprungener gemeiner Abenteurer sei, der, nachdem er zehn Jahre in Spandau bei Berlin als Uhrmacher gelebt und nebenbei Wucher (?) getrieben hätte, nach Brandenburg gezogen war.

Der Baron von Richemont jedoch, der dritte der Prätendenten, hat der französischen Regierung die Herausforderung hingeworfen, ihm zu beweisen, daß er nicht der sei, für den er sich ausgebe, und trotz aller dazu angewandten Mittel (der Leser wird einsehen, daß während beinahe eines halben Jahrhunderts es einer Regierung wie der französischen hätte leicht werden müssen, irgend einen entschiedenen Beweis der lügnerischen Anmaßung dieses Menschen, hätte eine solche existirt, zu finden) gelang es fünf in ihren Principien ganz entgegengesetzten Regierungen nicht, die Frage des Publicums: „Wenn der Baron von Richemont nicht Ludwig der Siebenzehnte ist, wer ist er?“ – zu beantworten. –

Einhundertsiebenzehn Actenstücke liegen uns vor, und unter den vielen Namen, welche die Prätentionen des Baron von Richemont bekräftigen, machen sich einige bemerklich, denen jeder Mensch einen unbedingten Glauben schenken muß.

Der Dauphin soll am 19. Januar von den Herren von Frotté und Ojardias, Emissären des Prinzen von Condé, in einem Pferde von Pappe verborgen, aus dem Temple entführt worden sein. Die berüchtigte Familie des Schusters Simon war durch Geld bewogen, sich dieser Entführung nicht zu widersetzen. Ein taubstummes Kind, das, von einer skrophulösen Krankheit befallen, am Rande des Grabes stand, der Sohn eines Baron von Tardif, ward statt des Dauphins in den Temple gebracht. Die Entführung wurde dadurch erleichtert, daß am selben Tage Simon seine Entlassung nahm und der einige Stunden später eingesetzte neue Wärter das Kind nicht persönlich kannte.

Den vorstehenden Zeilen kann wohl kein besseres Zeugniß beigelegt werden, als die Worte des General-Staatsanwaltes, der im Processe gegen Mathurin Bruneau sagte: „Was die Flucht des Dauphin aus dem Temple anbetrifft, so haben die Nachforschungen, die ich angestellt habe, mich zu der Ueberzeugung gebracht, daß sie unbestreitbar ist.“[1]

Der Aufenthalt des Herrn von Frotté in Paris war der Regierung gänzlich unbekannt, während Ojardias sich seit längerer Zeit bewacht wußte. Der Letztere benutzte diesen Umstand, und während der Herr von Frotté mit der äußersten Vorsicht den Dauphin nach der Vendée geleitete, reiste Ojardias öffentlich, von dem zehnjährigen Sohne des Herrn Morin de Guerivière begleitet, in einer vierspännigen eleganten Reisekutsche nach Puy.

Der Plan gelang vollständig; in Puy wurden beide arretirt, der Abgeordnete Chazel kam direct von Paris, um das Kind zu recognosciren, überzeugte sich aber nach einigen Tagen, daß es der Dauphin nicht sei, und befahl Beider Freilassung. Mittlerweile war Herr von Frotté schon mit seinem Schützlinge in der Vendée angelangt.

Welche Gründe den Prinzen von Condé bewogen, den Dauphin aus seiner Nähe zu entfernen, das kann hier nicht erläutert werden; aber wer den Charakter Ludwig des Achtzehnten genauer kennt, wird Condé vollständig beistimmen, das durch ein Wunder errettete Kind aus jenes Lager entfernt zu haben. Condé, der am besten wußte, welche Gefahr seinen königlichen Schützling bedrohte, nahm seine Zuflucht zu einem, man könnte sagen, romanhaften Mittel, welches aber ganz mit seinem chevaleresken Charakter in Einklang steht. Er veranstaltete eine geheime Zusammenkunft mit dem republikanischen Generale Kleber, seinem berühmten Gegner, und vertraute nicht allein diesem das ganze Geheimniß von der Flucht des Dauphin, sondern übergab das Kind selbst dem General, dessen Ehrenhaftigkeit er vollkommen vertraute.

Die königliche Waise wurde von Kleber für seinen Neffen ausgegeben, und als Bonaparte dem General befahl, ihm nach Aegypten zu folgen, wollte dieser das ihm anvertraute Pfand nicht in dem immer noch bewegten Frankreich zurücklassen, sondern nahm es mit sich. Der vierzehnjährige Knabe machte den ganzen Feldzug in Aegypten mit; als jedoch Bonaparte sich entschloß, nach Frankreich zurückzukehren und den Oberbefehl dem General Kleber zu übergeben, hielt dieser es für gerathener, sein Mündel einem Waffenbruder, der sich in Begleitung des Obergenerals einschiffte, anzuvertrauen. Er konnte Niemanden besser wählen als den braven General Dessaix, und dieser nahm gern und willig die Vormundschaft an.

Alle Welt kennt den glänzenden Sieg, den der aus den Wüsten Afrikas zurückkehrende Feldherr in der Ebene von Marengo errang; aber wenn Frankreich den 14. Juni 1800 sich als einen seiner glorreichsten Tage anrechnen kann, so ward dieser doch ein ewiger Trauertag im Leben des Dauphin – Dessaix fiel bei Marengo am Tage, wo Kleber in Cairo ermordet wurde! – Nach dem Tode seiner beiden Beschützer griff der fünfzehnjährige Knabe zu einem Mittel, welches schon dem Prinzen von Condé gelungen war – er suchte Schutz bei seinen Feinden. Im Jahre 1802 begab er sich nach Paris und entdeckte sich Lucian Bonaparte, dem Bruder des ersten Consuls. Dieser führte den jungen Prinzen bei seiner Schwägerin Josephine ein, welche sich lebhaft für ihn interessirte. Fouché, der mit in das Geheimniß gezogen ward, rieth auf schleunige Entfernung aus Frankreich und aus Europa. Der Rath wurde befolgt, und der junge Mann schiffte sich, reich mit Geldmitteln versehen, in Hâvre nach New-York ein. Während seines Aufenthaltes in Paris hatte er die Frau des berüchtigten Simon im Hospital aufgefunden und war von dieser auf der Stelle wiedererkannt worden!

Bis 1809 lebte er in Nordamerika und widmete diese Zeit hauptsächlich seiner so ganz vernachlässigten Ausbildung. Am Ende dieses Jahres begab er sich nach Brasilien, wo er von dem Infant-Regenten Don Juan mit königlichen Ehrenbezeigungen empfangen wurde. Den Bitten und Ermahnungen dieses Prinzen widerstehend, schiffte sich der Dauphin im Jahre 1810 nach Europa ein, wurde aber gleich beim Aussteigen aus dem Schiffe in Civita-vecchia verhaftet und nach Paris geführt. Glücklicherweise wurde er, ohne vorher verhört zu werden, alsbald dem Polizei-Minister vorgeführt, der ihn am folgenden Tage wieder nach Hâvre bringen ließ, von wo aus ein Schiff ihn von Neuem nach Brasilien trug. Hier genoß er abermals die Gunst des Infant-Regenten, welcher ihn fünf Jahre lang am Hofe behielt und ihn im Jahre 1812 mit der Pacification der Insel Goa beauftragte, die unter Anführung des Erzbischofs sich gegen die Regierung empört hatte. Der Prinz erreichte den günstigsten Erfolg seiner Mission und lebte am brasilianischen Hofe bis zum Jahre 1815, mit Ehren überhäuft. Nachdem er den Sturz Napoleon’s erfahren, schiffte er sich nach Europa ein, wo er die Restauration, zum zweiten Male von der heiligen Allianz eingesetzt, auf dem Throne Frankreichs in der Person Ludwig des Achtzehnten fand. Sein erster Schritt nach seiner Ankunft in Frankreich war natürlich, den Prinzen von Condé aufzusuchen, der ihn sogleich wiedererkannte und sich zunächst bemühte, eine Verständigung zwischen dem Prinzen und der regierenden königlichen Familie zu Stande zu bringen.

[682] In den ersten Tagen des Monat Mai 1816 wurde Ludwig der Siebenzehnte der Herzogin von Angoulême, seiner Schwester, im Beisein des Herzogs von Berry, des zukünftigen Thronfolgers, im Parke von Versailles vorgestellt.

Der Graf von Pons, damaliger Page des Grafen von Artois (des späteren Carl des Zehnten), befand sich mit drei anderen Pagen, den Herren von Curial, von Mentbrun und Baron d’Arjuson, in einer Seitenallee des Parkes, und einer von ihm unterzeichneten Declaration entnehmen wir, daß er folgende Worte deutlich gehört:

Die Herzogin: „Gehen Sie, gehen Sie, Sie sind schuld an allem Unglück unserer Familie.“

Der Unbekannte, die Hände ringend: „Ach, meine Schwester, meine Schwester!“

Eine andere von einem an demselben Tage in Trianon Wacht habenden Officiere abgegebene Erklärung berichtet, daß er die Herzogin und den Herzog von Angoulême im eifrigen Gespräche mit dem Herzoge von Berry begriffen gesehen und folgende Worte gehört hätte:

Der Herzog von Berry: „Aber ich bitte Sie, es ist Ihr Bruder.“

Die Herzogin: „Ich, ein Ungeheuer anerkennen, der das Todesurtheil meiner Mutter unterzeichnet hat?“

Wahrscheinlich dachte die Herzogin an jene himmelschreienden Angaben, die der Dauphin als achtjähriges Kind unter Drohungen und Mißhandlungen Simon’s unterschreiben mußte und die der Königin Marie Antoinette vor dem Gerichte in ungemein brutaler Weise vorgelesen wurden, worauf sie das bekannte „Ich appellire an alle Mütter!“ antwortete.

Jetzt begriff der Dauphin, daß Alles für ihn verloren war, daß er unmöglich gegen seine ganze Familie kämpfen konnte. Eine momentane Entmuthigung bemächtigte sich seiner; er, welcher so lange Jahre hindurch ein freies, unabhängiges Leben geführt hatte, fing an, sich zu fragen, ob ein königlicher Rang, ein Thron selbst das Opfer aller seiner Neigungen werth sei.

Von Neuem verließ er Frankreich, von seinem väterlichen Freunde, dem Prinzen von Condé, mit Allem reich ausgestattet, und nahm seine Residenz in Edinburg. Von hier aus sandte er am 1. Juni 1816 einen Protest an die europäischen Cabinete, in der er seine Rechte beanspruchte und feierlich gegen die Verträge von 1814 und 1815, die Frankreich zerstückelten und demüthigten, protestirte. Nachdem er darauf achtzehn Monate lang Asien und Afrika bereist hatte, wagte er sich wieder nach Europa, aber schon nach einigen Wochen ward er erkannt und auf Ansuchen des französischen Gesandten in Wien den 12. April 1818 in Mantua verhaftet und in das Gefängniß von Mailand abgeführt.

Sieben Jahre, sechs Monate und zwölf Tage verbrachte der unglückliche Prinz in den Kerkern der österreichischen Regierung. Unaufhörlich forderte er Richter, begehrte er wenigstens den Namen des ihm vorgeworfenen Verbrechens zu kennen, sieben Jahre Pein, Leiden, Verzweiflung waren die stumme Antwort auf sein unaufhörliches Fragen. Wer von unseren Lesern kennt nicht das Buch Silvio Pellico’s? Silvio Pellico bewohnte eine Zeit lang im Gefängnisse die Zelle neben der des Prinzen, und man kann nicht ohne inniges Interesse die Unterhaltungen der beiden Unglücklichen im Buche des italienischen Märtyrers lesen. Nach dem Tode Ludwig des Achtzehnten jedoch wurde der Prätendent mit vieler Aufmerksamkeit im Gefängnisse behandelt; mehrere Erzherzöge besuchten ihn daselbst, und am 25. Oetober 1825 im Augenblicke, wo er glaubte, daß er verurtheilt sei, sein Leben hier zu beschließen, öffneten sich die Thore des Gefängnisses und wurde ihm die Freiheit angekündigt. Seine Freilassung wie seine Verhaftung geschah, ohne daß ihm der Grund der einen oder der andern mitgetheilt wurde. Seine persönliche Meinung jedoch war, daß er seine Freilassung einem Briefe verdankte, der trotz der Aufsicht, die ihn umgab, bis zum Kaiser von Rußland gelangte.

Er lebte jetzt einige Jahre in der Schweiz, und am 12. August 1830 sandte er wiederum einen Protest an die europäischen Regierungen gegen die Erhebung Louis Philipp’s auf den Thron von Frankreich.

Der schreckliche Tod des Prinzen von Condé, den man am 27. August 1830 in seinem Schlafzimmer auf dem Schlosse St. Leu erhängt fand, ist bekannt, aber auch noch ein unaufgeklärtes Räthsel. Man kann begreifen, welch einen Verlust der Dauphin, der auf seinen Reisen den Namen Baron von Richemont angenommen hatte, hierdurch erlitt. Eine andere hohe Persönlichkeit suchte jedoch den Verlust zu ersetzen. Es war dies die verwittwete Herzogin von Orleans, die Mutter Louis Philipp’s, welche, wie wir aus den uns vorliegenden Schriftstücken ersehen, dem unglücklichen Prinzen vollständig huldigte, und es ist vielleicht ihrem moralischen Einflusse zuzuschreiben, daß die Polizei den Dauphin einige Jahre ruhig in Paris leben ließ. Kaum jedoch begriff die Juli-Regierung, daß er Beweise genug in Händen hatte, um den Legitimisten durch einen öffentlichen Eclat schädlich zu werden, als sie Alles anwandte, einen solchen Eclat herbeizuführen. Am 29. August 1833 wurde er arretirt und nach fünfzehn Monaten Voruntersuchung unter der Anklage der „Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates“ vor das Geschwornengericht des Seinedepartements gestellt.

Dieser Proceß, welcher in den Annalen der französischen Jurisprudenz für immer einen außergewöhnlichen Platz behaupten wird, befindet sich in der Gazette des Tribunaux vom 3., 4. und 5. November 1834 mitgetheilt. Die Staatsanwaltschaft ward durch die große Masse von Zeugnissen fast gezwungen, die Identität des Baron von Richemont mit dem aus dem Temple geretteten Dauphin anzuerkennen, und mußte stumm bleiben, als der Angeklagte ihr die Frage vorwarf: „Wenn ich nicht Ludwig der Siebzehnte bin, wer bin ich dann?“ Der Proceß schlug der legitimistischen Partei in der That eine gefährliche Wunde, und einige Enthüllungen, die er mit sich brachte, ließen das Publicum klar und offen in die Intriguen der verjagten Dynastie schauen. Merkwürdig vor Allem sind die Worte, welche der Präsident des Gerichtshofes beim Schlusse des Processes an die Geschworenen richtete: „Meine Herren, wer ist der Angeklagte, der heute vor Ihnen steht? Was ist sein wahrer Name, seine Herkunft, seine Familie, was sind seine Antecedentien, was sein ganzes Leben? Ist er ein Werkzeug der Feinde Frankreichs, die in unser Land überallhin den Bürgerkrieg zu tragen streben? oder ist er vielmehr nur ein Unglücklicher, der, wie durch ein Wunder, den Schrecken einer blutigen Revolution entronnen ist, der, geächtet und durch seine Geburt selbst mit dem Bann belegt, keinen Namen und keine Zuflucht findet, wo er sein Haupt niederlegen kann?“

Wir überlassen dem Leser den Commentar über solche Worte im Munde des Präsidenten eines Gerichtshofes. Die Geschworenen konnten auf die Frage der Identität des Dauphin nicht eingehen und fanden ihn schuldig der „Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates“, in Folge dessen er vom Gerichtshofe zu zwölf Jahren Gefängniß verurtheilt wurde.

Ein in den Annalen der Justiz vielleicht noch nie dagewesener Fall trat jetzt ein. Unter welchem Namen den Angeklagten verurteilen? Ihn unter dem von ihm geforderten zu verurtheilen, hieß ihm diesen Namen und Alles, was damit verbunden war, zuerkennen, und soweit wollte die Juli-Regierung sich doch nicht compromittiren. Die Staatsanwaltschaft fand einen Ausweg, indem das Urtheil alle die Pseudonymen anführte, die der Dauphin auf seinen vielen Reisen geführt.

Der Prinz wurde in das Gefängniß von St. Pelagie geführt, wo er die Chefs der republikanischen Partei, Armand Marrast, G. Cavaignac, Bache etc. als Gefangene fand, die seinem Charakter und seinem Unglücke die nothwendige Achtung nicht versagen konnten und mit denen er Beziehungen anknüpfte, die sich nach langen Jahren noch als freundschaftliche bewiesen. Im Jahre 1835 fand man eines Tages den politischen Theil des Gefängnisses leer – die Gefangenen waren während der Nacht entsprungen.

Der Baron von Richemont zog sich nach der Schweiz zurück. Hier lebte er bis zum Jahre 1840, wo ihm die allgemeine Amnestie erlaubte, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Im Jahre 1842 wurde er von Neuem verhaftet, aber nach einigen Tagen wieder freigelassen.

Die Revolution im Jahre 1848 gab seiner Existenz eine neue Wendung. Seine Anhänger zeigten sich jetzt frei und ohne Scheu, sie gründeten ein Journal, dessen Name L’Inflexible war, welches die Aufgabe hatte, die Frage von der Existenz Ludwig des Siebzehnten in der Person des Baron von Richemont der Oeffentlichkeit zu übergeben und das Publicum, dessen unumstößlicher Richterspruch die öffentliche Meinung bildet, als Jury anzuerkennen.

In der kurzen Zeit des Erscheinens dieses Blattes gewann der Baron von Richemont Tausende von Anhängern; verborgene, längst vergessene Thatsachen kamen an’s Licht; Zeugen, an die Niemand mehr dachte (unter Andern der frühere Gesandte eines deutschen [683] Staates am Bundestage), belegten mit Documenten Erzählungen, die man bis dahin für unglaublich gehalten hatte. Wenige Monate noch, und das erwünschte Ziel, die Aufgabe seines ganzen Lebens wäre erreicht gewesen … da spielten die Legitimisten ihr va banque und gewannen die Partie. –

Der Baron von Richemont war 64 Jahre alt, ein Schlagfluß hatte ihm eine Seite des Körpers gelähmt, er hatte in seinem Leben unmenschlich viel gelitten; man muß den greisen, fast verkrüppelten Mann nicht zu streng richten, wenn die Energie ihn nahe am Ziel seines harten Kampfes verließ.

Aus besonderen Rücksichten ist es uns unmöglich, auf die Gründe einzugehen, die so plötzlich eine gänzliche Veränderung in der Gesinnung des Barons hervorriefen. Vielleicht werden unsere Leser aus den nachstehenden Thatsachen sich selbst eine Meinung bilden. Das Journal stellte seine Publicationen ein, der Baron reiste nach Italien, wo er am 20. Februar 1849 vom Papste Pius IX. in Gaeta in einer mehrstündigen Audienz empfangen wurde. Nach seiner Rückkehr sagte er sich nach und nach von seiner bisherigen Umgebung los, frequentirte nur Geistliche und alte Legitimisten, machte eine Reise nach Niederbronn, wo eine paralytische Nonne, welche vorgebliche Ekstasen hatte, ihn als König und Gesalbten des Herrn begrüßte, ließ sich vom Bischof von Straßburg noch einmal confirmiren – kurz, fiel ganz und gar in die Hände einer Partei, die ihm die Theilnahme aller derer zu entziehen wußte, welche ihm wenigstens ihr aufrichtiges Beileid nie versagt hatten.

Das Kaiserthum ließ ihn ruhig seine Prätentionen an den Tag legen und sah zu, wie sogar Mitglieder der Napoleonischen Familie mit königlichen Ehrenbezeigungen nicht karg gegen ihn waren. Man sagt, daß die Herzogin von Angoulême auf ihrem Todtenbette ihn öffentlich als ihren Bruder hätte anerkennen wollen, aber von ihrem Beichtvater daran verhindert worden und daß ein ansehnlicher Jahrgehalt an Stelle der öffentlichen Anerkennung getreten wäre. Wir haben keine Beweise für oder gegen diese Erzählung, die im Kreise seiner Anhänger circulirte.

Sein plötzlicher Tod im Schlosse Vaulx-Renard und das Verschwinden seines Leichnams haben zu mancherlei Gerüchten Anlaß gegeben, die wir für unnütz halten zu wiederholen. Ein letztes Factum jedoch, das vielleicht den Leser interessiren wird und für dessen Glaubwürdigkeit wir Bürge sind, ist folgendes. Bei seiner letzten Abreise nach Lyon, einige Tage vor seinem Tode, verfehlte er den Zug und trat mit einer ihn begleitenden Person in ein nahegelegenes, im Augenblicke leeres Kaffeehaus. Auf einem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch; es war der „Graf von Montecristo“ von Alex. Dumas. Nachdem er einen Augenblick darin geblättert hatte, wandte sich der Baron an die Person, die bei ihm war, und sagte: „Glauben Sie, daß es möglich sei, daß durch die Wirkung des Haschisch eine Person Tage lang für todt gehalten, begraben und noch lebend aus dem Grabe gebracht werden könne?“




Um den Lesern diese interessante Persönlichkeit noch bekannter zu machen, wollen wir ein Fragment aus einem seiner Briefe wörtlich anführen.

„… Was ich eigentlich will, welches der Zweck meines Kampfes, der über ein halbes Jahrhundert jetzt dauert, ist, fragen Sie mich? – Ich will Ihnen darauf antworten. Es ist Ihnen wohl noch nie eingefallen, daß ich jetzt noch daran denke, den französischen Thron zu besteigen; es wäre ein sehr großes Unglück für mich, aber wahrhaftig ein noch größeres für Frankreich, und man könnte von uns Beiden sagen, wir verdienten mit Recht all unser Unglück; noch weniger denke ich daran, mich durch meine Anerkennung reich und hochgestellt zu machen. Sie wissen, daß für mein Leben gar wenig nothwendig ist, und daß für dieses Wenige reichlich gesorgt ist. Mich rächen? Es kommt ein Alter, lieber Herr, wo das Blut langsamer durch die Adern rinnt, und wo man eine unaussprechliche Wollust im Verzeihen fühlt. Also? – was ich will – was ich begehre – warum ich unermüdlich streite, ist Folgendes, lieber Herr: ich möchte gern vor meinem Tode allen Denen, die mir mit so vieler Ergebung und Uneigennützigkeit gefolgt sind, die unumstößliche Ueberzeugung einflößen, daß nicht ein politischer Abenteurer, sondern die königliche Waise des Temple ihnen so oft mit wahrer Freundschaft und mit dem herzlichsten Danke für ihre Aufopferung die Hand gedrückt hat.“ – Aus einem Privatbriefe einer Person, die lange Jahre mit dem Baron von Richemont verkehrte, jedoch seine Ansprüche für unbegründet hält, entnehmen wir endlich folgende Einzelheiten über seine äußere Erscheinung.

„Unser ‚Dauphin‘ ist immer noch derselbe; es ist und bleibt eine merkwürdige Erscheinung, vielleicht eine der merkwürdigsten, die in diesem Chaos von verschiedenen Welten, die man Paris nennt, existirt. Da Sie ihn nicht kennen, will ich Ihnen eine Beschreibung dieses Menschen geben. Er ist von mittlerer Größe, und obgleich er viel an Rheumatismus leidet, geht er doch gerade und aufrecht; seine schneeweißen Haare liegen glatt auf seinem Kopfe und sein ganzes Aeußere macht den Eindruck eines vollständigen Gentleman im strengsten Sinne des Wortes. Sein blaues Auge hat einen seltsamen Ausdruck von Güte und Wohlwollen; man sieht diesem Auge an, daß manche herbe Thräne ihm entflossen ist. Er spricht langsam und immer freundlich und äußerst gewählt; seine Stimme hat einen festen, energischen Klang und scheint vom Alter gar nicht gelitten zu haben. Er behandelt alle Gegenstände, die ihn betreffen, mit der äußersten Ruhe, man möchte sagen mit Gleichgültigkeit; ich habe noch nie ein herbes Wort von ihm gehört. Wenn er von Ludwig dem Achtzehnten spricht, ziehen sich seine Augenbrauen zusammen, ohne daß jedoch der Klang seiner Stimme sich verändert. Kommt das Gespräch auf Louis Philipp, so bemerkt man ein verachtungsvolles Lächeln auf seinen Lippen; bei der Erwähnung Marie Antoinette’s schüttelt er traurig den Kopf, und wenn man von der Kaiserin Josephine spricht, hat er eine stehende Phrase: „ce n’était pas une femme, c’était un ange.“ (Das war keine Frau, das war ein Engel.)

„Merkwürdiger Mensch! Sie könnten Jahre lang mit ihm umgehen, ohne daß er Ihnen nur ein einziges Mal von seinen Prätentionen spräche; fangen Sie aber davon an, so wird er unerschöpflich, und ich muß es Ihnen gestehen, dieser langsame, kalte, würdige Vortrag eines unerhörten Unglücks aus dem Munde des Märtyrers selbst macht mehr Proselyten, als die Deklarationen seiner Advocaten. Er ist unermüdlich im Wohlthun: ich selbst weiß von nicht unbedeutenden Summen, die er im vorigen Winter selbst an Arme vertheilt hat. Er nimmt fast nie Geschenke von Werth an, sehr gern aber kleine Souvenirs, besonders Handarbeiten von Damen, gegen die er äußerst zuvorkommend ist, namentlich wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben. Er ist äußerst wohlwollend gegen Jedermann und übt durch diese sich nie verändernde Güte einen großen Einfluß auf seine ganze Umgebung aus. Sein Portier und dessen ganze Familie, die ihn nur als Monsieur Louis kennen, schwärmen für ihn. Was mich so sehr an seinen Umgang fesselt, ist die Abwesenheit alles Theatralischen in seiner Person; er weiß ganz gut, daß ich von seinen Prätentionen nichts halte, und doch ist es ihm nie eingefallen, mich überzeugen zu wollen. Wenn wir zusammen sind, sprechen wir von den Tagesneuigkeiten, von Diesem oder Jenem, nie jedoch von Ludwig dem Siebenzehnten.“ …

Wer mag das Räthsel ergründen, das uns dieser merkwürdige Baron Richemont vorlegt? wer wagt zu entscheiden, ob er Betrüger, ob Betrogener, ob er wirklich der Mann war, für den er sich ausgab? Sollte sich Keiner unserer historischen Schriftsteller veranlaßt finden, seine Forschungen einem Gegenstande zuzuwenden, der jedenfalls unser größtes Interesse in Anspruch nimmt, wenn ihm auch jetzt kaum noch eine praktische Bedeutung beigelegt werden kann?

H. M-n. 




Der Himmel des Hauses.

Ein Himmel zwischen vier Wänden? Wo ist der? Suche nur! Du wirst ihn in jedem Hause finden, und wäre es noch so klein, ja wäre es selbst noch so groß und prächtig, wenn es nur einen Winkel hat, aus welchem Kinderstimmen lockend zu Dir dringen. Und da suche ja nicht in den größten Häusern den größten Himmel. Gott bewahre! Die Häuser thun’s nicht, die Kinder sind’s ganz allein, die den Himmel machen, und da kannst Du es gar oft erfahren, daß gerade im kleinsten Hause der größte und schönste Himmel ist.

Und auch die Kinder thun’s eigentlich nicht ganz allein: es [684] gehört auch das „Mütterchen“ der Kinder dazu, und was machte sich wieder der liebe Himmel aus all seinen Freuden, wenn nicht die Kinder und das Mütterchen „Horch!“ ruften, wenn sie den Schritt des Vaters hören, und die Größeren ihm entgegenhüpften und das Kleinste ihm entgegenrutschte und alle ihm die Händchen entgegenstreckten, das Mütterchen auch, wenn er die Thür zu seinem Himmel ausmacht.

Das gehört gar sehr zu diesem Himmel. Die Kinder allein thun es nicht, und wären deren noch so viele beisammen. Sonst müßte ja – das Waisenhaus der herrlichste Himmel sein! Du lieber Gott! Geht nur einmal mit und seht hinein, wo die vielen vielen Kinder sind. Da ist’s freilich gar ordentlich, wie auf einem Kornacker, die Furchen richtig gezogen und die Halmen darauf, und einer sieht aus wie der andre, nur lacht nirgends dazwischen heraus eine rothe Klitsche und eine blaue Kornblume. Die sind vor lauter Ordnung alle dahin! Wie lachen die armen Kinder so traurig! Da ist kein Himmel! Es kann ja keiner sein, denn mit Vater und Mutter ist ihnen ihr Himmel gestorben und ist ihnen nichts davon übrig geblieben, als das kleine Stückchen Erdboden, auf dem das Gras des Gottesackers wächst. Wer giebt den Armen ihren Himmel wieder?

Wer? Der liebe Gott! Der thut’s doch! Wenn sie groß geworden sind und brav und arbeiten fleißig und werden selbst Vater und Mutter, dann geht auch ihnen zwischen ihren vier Wänden ihr verlorener Himmel wieder auf! So schön ist’s auf Erden, daß Niemand zu sterben braucht, ohne je in diesem Himmel gelebt zu haben.

Wollen wir und auch ein wenig hineinschleichen? Ich habe eine offene Thür dazu gefunden, eine ganz kleine, nicht größer als der Deckel eines Buches, eines Prachtbandes, und wenn wir den aufschlagen, stehen wir mitten darin! Du glaubst gar nicht, was wir „aus unsern vier Wänden“ dann Prächtiges weiter erzählen können.

Gut. Machen wir denn unsern Thürdeckel auf! – Ah! Wie lieblich! Eine Kinderstube – und wir kommen gerade zur „Morgentoilette“ zurecht. Ein Kindchen plätschert in der Badewanne und ein anderes wird just gewaschen.

„Halte aber auch hübsch still,“ sagt der Schwamm.

„Dummes Zeug, du mußt still halten,“ sagt das Wasser, nachdem es sich vorgeblich kokett einschmeichelnd als das „schöne, weiche, lauwarme“ Wasser angepriesen.

„Wenn wir nicht ordentlich reiben,“ sagt das Seifläppchen, „kriegen wir keinen Grund.“

„Das eine Ohrchen ist schon gut,“ sagt schlau das Handtuch, „nun blos noch das andere.“

Kamm und Bürste streichen die verwirrten Löckchen glatt, theilen den Scheitel und sagen: „Gleich sind wir fertig.“

„Erst das rechte Aermelchen, dann das linke Aermelchen,“ sagt das reine Hemdchen.

„Ueber Nacht sind wir auch nicht magerer geworden,“ sagen die Strümpfchen zu den wurstrunden kleinen Wackelwaden.

Die Schuhchen sagen: „Schmuck Pferdchen, blanke Huschen.“

„Kopfüber, ohne die Frisur zu verderben, das ist die Kunst,“ sagt das Unterröckchen.

„Jetzt komme ich,“ sagt das Kleidchen, wie der Vornehmste in der Gesellschaft, auf den alle Anderen gewartet haben. Es weiß recht gut, daß es das rothe Kleidchen mit den Glasknöpfchen ist, zu dem das Kind das Zeug sich selbst ausgesucht nach der Probe; es weiß, daß es des Kindes Lieblingskleidchen ist.

„Nun noch das Näschen bohnern,“ sagt das Taschentuch, seine unangenehme Commission in eine launige Form kleidend.

„Fix und fertig.“ sagt der ganze Chor.

„Ach, da sitzt noch ein Thränchen, ein dummes kleines Thränchen, das sich nicht abtrocknen lassen wollte, auf der Backe. Das küsse ich schnell weg,“ sagt die Mutter, „und dann gehen wir Papa Guten Morgen sagen, einen freundlichen, reingewaschenen, ‚angezogenen’ Guten Morgen.“

Ist das nicht eine Lust? Und da sollen wir uns schon wieder von dannen schleichen? Nein! Jetzt geht die rechte Freude erst los! Die Mutter bringt eine Schüssel und Butter und Mehl und Eier zur Thür herein und stellt alles auf den großen Tisch. Da giebt’s die liebste Kinderlust, die noch den Alten so wohl gefällt, daß sie selbige auf jeder Straße am hellerlichten Tag ausüben, so oft sich die Gelegenheit dazu bietet, und das ist? – „Das Zusehen!“ – Sehen wir denn auch mit zu!

Die Butter thut spröde und glitscht alle Augenblicke unter dem Löffel weg, sie wird aber immer wieder zurückgeholt zum lösenden Rundlauf. Endlich läßt sie jeden Widerstand schwinden und fügt sich still in das Unabänderliche, wie es im Recept steht, „zu Sahne gerührt zu werden“. „Es schneit, es schneit,“ nämlich Mehl. Am Schüsselrand aufgeschlagene Eier fallen in den Mehlschnee und werden, in lustigem Wirbel kreiselnd, als gelblackirte Jagdschlittchen begrüßt. – Es wird Kuchen eingerührt. – Die Kinder sehen zu.

Der Wächter, dessen Amt naturgemäß auch die Sorge für die nächtliche Straßenbeleuchtung in sich schließt, kommt, die Laterne zu putzen. Er stutzt den Docht, polirt den messingenen Hohlspiegel und die Glasscheiben, schlägt nach vollbrachter Arbeit – es ist Winterszeit – die Arme kräftig um den Leib zu seiner Erwärmung, nimmt die Leiter schräg über die Schulter, den Arm durch die Sprossen steckend, und setzt seine Tour weiter fort: – die Kinder stehen am Fenster und sehen zu.

In der Badewanne.

Morgen am Sonntage soll spazieren gefahren werden. Der Wagen ist zur Säuberung vom Kutscher aus dem Schuppen gezogen. Zuerst wird er mit der Hand aus dem Eimer, so im großen Ganzen angespritzt, wie Leinwand auf der Bleiche; dann erfolgen ein paar Sturzgüsse kräftigster Schwenkung, recht unter den Kasten nach der Gegend der Deichselgabel und des Spannnagels hin, dann werden die Achsen geschmiert, die abgestreiften Räder glitschend wieder aufgestreift, und es ist eine Lust, wie leicht sie sich jetzt drehen, frei schwebend über dem untergestellten Hebebaum, während sie nun abermals gleichmäßig von allen Seiten bespült werden können. Dann zum Schluß noch das Einthranen des Lederzeuges und das Blankreiben der Metallbeschläge. Alles höchst anziehende Dinge: – die Kinder sehen zu.

„Mache Dein Mäulchen auf, ich thue Dir nichts, ich will blos [685] probiren, ob er schon lose ist; ist er noch fest, so lassen wir ihn ruhig sitzen.“ Der Faden wird umgeschlungen, ein kleiner schwacher Ruck, und wahrhaftig, da baumelt er schon, der kleine allerliebste Mausezahn, am abgestumpften Kegelende mit einem schimmernden frischrothen Blutpünktchen geziert.

Die Thür geht auf, die Thür wie andere Thüren nicht ohne Schlüsselloch; der glücklich Operirte kehrt weinend zu seinen Geschwistern zurück, die natürlich nicht etwa – zugesehen haben. Denn erstens stehen sie ganz am andern Ende des Zimmers, und zweitens nicht überall, wo die Kinder zuzusehen wünschen, ist dies erlaubt. Ueberhaupt müssen sie nicht so neugierig sein und nicht von Allem wissen wollen, sonst werden sie zu früh alt.

Die ersten Schuhe.

Glücklicherweise sind diese Fälle ausgeschlossener Oeffentlichkeit nicht häufig. Wenn ein slovakischer Hausirer altes Geschirr mit Drahtgeflecht bestrickt, wenn der Glaser eine Scheibe einsetzt, wenn der Uhrmacher die große Kastenuhr auseinandernimmt, oder der Böttcher Reifen um das Faß schlägt, wenn der Maurer Mörtel mischt – der fette weiße Kalk ist die Schlagsahne, der bräunliche Sandkies zuckersüßes Backwerk – bei Gartenarbeiten und beim Wäscherollen, beim Zuckerschlagen und Bratenausschneiden, beim Packen zu versendender und beim Oeffnen angekommener Kisten, und bei einer Menge anderer interessanter und lehrreicher Vorgänge in Haus und Hof, dürfen die Kinder frei und ungehindert, was sie so gerne thun, und was nur sie allein mit dieser selbstvergessenen, sich ganz in den Gegenstand versenkenden Naivetät zu thun vermögen – zusehen.

Die Reise in der Kinderstube.

Aber wie die Zeit vergeht bei dem – Zuschauen! Da dämmert es schon, und doch ist’s nicht zum Fortkommen aus diesem Himmel, ja es wird immer schöner, je länger wir zwischen unseren vier Wänden verweilen, und was schmeckt denn dem Kleinsten da so gar gut? Sein eigener Schuh! Wer sieht euch nicht mit leiser, wonniger Rührung an, ihr kleinen lieben Kinderschuhe!

Abends, wenn das kleine Volk ausgezogen und zu Bett gebracht ist, stehen an der Thür der Kinderstube, paarweise, in langer Reihe, Schuhchen aller Gattungen, bei deren Anblick wir gern verweilen. Winzige Schlappschuhchen stehen da, nicht viel größer als Puppenschuhe, mit mehr Neigung und Geschick, in den Mund gesteckt zu werden, als aufrechten Ganges das Kind zu tragen.

Schuhchen, die wie „ein Pfeil“ kriechen.

Schuhchen, denen wir Bedeutungsvolles genug nachzusagen glauben, wenn wir anführen, es sind die ersten „kalbledernen“ schwarz gewichsten; das kindische Prunken mit rothem Saffian und blanken, gelben Knöpfchen ist für sie eine längst überwundene Jugendthorheit.

Schuhchen, die nach vielen verübenden Gehversuchen endlich die ersten freien Schritte ohne Anhalt gethan.

Schuhchen, die, wenn sie nicht mehr laufen wollen, gar schmeichelnd „uppa“ betteln, um auf den Schooß genommen zu werden.

Schuhchen, es sind Mädchenschuhe, von so leichtem, kurz schreitenden, und doch unendlich fixen Gangwerk, daß ihr Hin- und Hertappeln an die zierliche Behendigkeit der Rebhühner erinnert.

Schuhchen, es sind charaktervolle Knabenschuhchen, deren fester, sicherer Schritt auf den Ernst und die Willenskraft künftiger Jahre hinweisen, und leichtlebige Schuhchen, die ein Gelübde abgelegt zu haben scheinen, niemals zu gehen, sondern stets zu hüpfen, zu springen, zu traben und zu galoppiren.

Schuhchen, die mit einem schwungkräftigen „Hopsa“ über die Gosse gehoben werden.

Schuhchen, hochbeglückt dadurch, daß sie beim letztmaligen Besohlen knarren gelernt.

Schuhchen, die den nach Hause kommenden Eltern die halbe Straße lang entgegen laufen.

Schuhchen mit der Devise wasserdichten Selbstvertrauens „durch Dick und Dünn“, die von draußen ganze Rittergüter an den Sohlen mitbringen und zur Fußbürste zurückgeschickt werden mit der Weisung: „Vorher aber erst tüchtig den Strauchbesen gebraucht!“

Schuhchen, gedankenvollem Baumeln ergeben, die nach melancholischer Auffassung den „Esel zu Grabe läuten“.

Schuhchen, fein lang und schlank, von schwarzem Zeuge mit Glanzlederspitzen; sie haben Tanzstunden und stehen in regelrechter dritter Position.

Schuhchen, die gar zu gerne schon Halbstiefel wären, junge Halbstiefelchen, die den Wunsch hegen, zum Geburtstage Anschlagesporen zu bekommen, und andere, noch ehrgeizigere Halbstiefelchen, die sich bereits in still verwegenen Hoffnungsträumen als wirkliche effektive Schäftenstiefel erblicken.

Man sieht, es herrscht eine große Mannigfaltigkeit der Charaktere, Eigenarten und Thätigkeiten unter den Schuhchen so gut, wie unter den Kindern, die sie tragen, aber eine Eigenschaft ist durchgehend – kleine Reißteufel sind sie alle.

Laßt sie reißen in Gottes Namen! Besser eine große Rechnung vom Schuster, als vom Apotheker.

Was sollte sonst aus dem höchsten Fest in diesem Himmel des Hauses werden, wenn das Christkindlein bescheert und seinen Sack ganz ausleert? – Wie waren doch die Tage in den letzten Wochen alle so lang! Endlich ist der letzte Tag ertragen und der heilige Abend auch, und das ist die letzte Nacht, – und morgen ist’s endlich Morgen! O Du liebe Ungeduld!

Die Sonne wußte recht gut, weshalb sie gestern Abend so frühzeitig in die entlegenste Südwestecke hinabsank, sie hat einen weiten Weg unten um die ganze Erde herum, ehe sie wieder aufsteigt im Osten. Der Zeit aber ist das ganz recht, sie will wieder einbringen, was in den übergeschäftigen letzten Tagen an rennender Hast zu viel geschah, oder will sie gar, im demüthigen Gefühl ihrer Endlichkeit, ganz und gar vom Posten gehen und der Ewigkeit selbst die Ehrenwache bei den hochheiligen Mysterien überlasten?

Dennoch schwingt der Pendel, die Zeiger rücken, der Glockenhammer hebt sich, wenn die schleichende Stunde endlich vollbracht ist.

Der Hahn wird unruhig auf seiner Latte, obwohl er weder selbst Bescheerung erwartet, noch für seine Familie heimlich aufgebaut hat. Er krähte schon mehrmals und läßt sich nicht länger irre dadurch führen, daß noch Mond und Sterne scheinen, er hat [686] die Uhr im Kopfe. Die Hofthür wird geöffnet, der Widerhall des Hauses erwacht vom Scharren des Kehrbesens, benutzt aber, verschlafen wie es Alle sind nach den vielen Störungen in der Nacht, jede kleine Pause, abermals einzunicken zur köstlichen Nachruhe.

Es poltert im Ofen, Kleider werden geklopft, der wache Morgen schreitet immer dreister einher, dringt immer weiter vor in das Gebiet der Träume und ruft endlich, das blendende Licht in der Hand: „Kinder, steht auf!“

Endlich, endlich ist es Morgen! Morgen, der aber doch immer noch Nacht ist, der einzige Morgen des ganzen Jahres, an dem auch die kleinsten der kleinen Leute bei Lichte aufstehen – dies allein schon ein Ereigniß, eine That, ein Wunder und Glück, das reine Märchen!

Nicht selten müssen sehr kräftige Erweckungsmittel angewandt werden, um die fesselnde Kraft der „himmlisch warmen Bettchen“ zu überwinden. Heute fährt das gesammte Aufgebot der Kinderbeine beim ersten Anruf zugleich heraus – wie ein Bein, und die Schnelligkeit des Ankleidens wird nur von der fröhlichen Verwirrung, die sie erzeugt, übertroffen – und gehemmt.

Endlich trotz aller Confusion fertig gekleidet, fügen sich die Kleinen, die doch sonst nicht genöthigt zu werden brauchen, nur der kategorisch festgehaltenen Weisung, erst noch ruhig zu frühstücken.

Welch ein Zauber für die Kindesseele, eben wieder erstanden aus dem Schlummer, rein und klar wie der sternhelle Morgen, in der ganzen, unberührten Frische eines neuen Tageslebens, an dem noch keine prosaische Erinnerung der Gewöhnlichkeit haftet, das noch kein, wenn auch nur in unbewußter Trübung des Behagens nachwirkender, schnellvergessener Streit, keine paradiesaustreibende Unart entstellte – der höchsten Freude des Jahres entgegen zu gehen! Welch ein Zauber in dieser Verschmelzung der Reize aller Tageszeiten und der entgegengesetztesten Stimmungen, in dieser Nachtdunkel, strahlendes Kerzenlicht und Morgenweihe, Entzücken und Andacht in Eins verwebenden, zeitlos ideellen Wunderwelt! Welch ein Zauber, wenn beim wohlbekannten Klange des Silberglöckchens die Thürflügel aufgehen, von unsichtbarer Hand bewegt, als wären es wirklich geflügelte Thüren, und die stürmisch Herbeigeeilten, geblendet von all dem Glanze, nun doch im ersten Augenblick wie erstarrt auf der Schwelle stehen bleiben, bis der Eltern ermunternder Zuruf zum Nähertreten auffordert – welch ein Zauber, wenn nach der süßen Betäubung erster allgemeiner Freude die jubelnde Besitzergreifung der köstlichen Gaben folgt, wenn ein Jeder gerade das findet, was er „sich am meisten gewünscht“ – die Mädchen ihre Puppen, die sie gar nicht mehr aus dem Arme lassen, die Knaben Trommeln und Trompetchen, deren lustiger Schall dem Feste so wesentlich ist, wie der Glockenklang des Frühgottesdienstes – welch ein Zauber, wenn den Zweigen des Christbaumes jener eigenthümlich würzige Duft entströmt, der, mit keinem andern Wohlgeruch vergleichbar, noch in der Erinnerung so magisch wirkt, daß die Kinder schon wochenlang vor dem nächsten Feste jeden verlöschenden Wachsstock, von Wonneschauern der Vorahnung durchrieselt, begrüßen: „Es riecht nach Weihnachten!“ Welch ein Zauber auch dann noch, wenn die letzten herabgebrannten Lichtchen im Tannengrün zwischen den zurückgeschlagenen Fenstervorhängen die Rosen des Osthimmels aufglühen sehen, den goldigen Alpenschnee der Morgenwolken über den Häusern, die wallenden Rauchsäulen, purpurdurchleuchtet, nicht als stiegen sie aus Schornsteinröhren empor, von Feuerstätten, aus denen klafterweise gekaufte Birken- und Kiefernkloben gebrannt werden, sondern wie Opferdampf flammender Cederscheite, der auf seinen Schwingen die Andacht heiliger Beter emporträgt! – Und von der Höhe dieses Morgens die Aussicht nicht wie bei der Abendfeier auf das immer zu frühe Zubettgestecktwerden, sondern auf einen ganzen langen Tag, dessen frommes Gebot festlicher Muße die Spiel- und Naschfreuden zu einer Gewissenspflicht macht!

So! Nun laßt uns aus dem Himmel scheiden in seinem liebsten Glanz! Wir machen mit frohem, reichem Herzen die Thür auf, die „aus unsern vier Wänden“ wieder in das Leben des Alltags führt, und klappen den Deckel des köstlichen Buches zu, in welchem die kunstreiche Hand eines Kindesherzens die Bilder aus dem Kindesleben so wunderbar schön und wahr gemalt hat. Drückt ihm recht warm die Hand, dem Rudolf Reichenau und auch den Künstlern Pletsch und Bürkner, und wer sein Herz frisch und gut erhalten will, der lasse sich recht oft von ihnen in den Himmel des Hauses führen: er wird, und säße er selbst in diesem Himmel zwischen den eigenen vier Wänden, durch solche Führer ihn immer höher würdigen, immer inniger lieben lernen.[2]

Fr. Hfm. 




Alles hat seine Wissenschaft.

Das Rasiren ist eine chirurgische Operation, und zwar eine der schmerzhaftesten. Wer durch die Umstände dazu verdammt ist, sie an sich vornehmen zu lassen oder selbst vorzunehmen, gehört unter die unglücklichsten Menschen. Verlorenes Vermögen, Zahnschmerz, Arm- und Beinbrüche, Untreue der Geliebten – das sind alles zwar höchst traurige Ereignisse, aber sie gehen vorüber und am Ende lächelt Einem wieder die Hoffnung einer besseren Zukunft. Dagegen steht Dir das Rasirtwerden alle Tage bevor. Das wußten schon die alten Griechen, und ich würde den für einen sehr oberflächlichen Denker halten, der noch nicht eingesehen hätte, daß in der gewaltigen Prometheusmythe das Schicksal der zum ewigen Leiden verdammten Männerwelt mit dem Zauber der versöhnenden Poesie umgossen werden sollte. Prometheus ist ein Mann, welchem es gesellschaftliche Stellung, eheliche Verhältnisse oder Farbensinn nicht erlauben, seinen Bart lang und voll zu tragen; der Felsen, an den er geschmiedet, ist der durch die Phantasie des Dichters verklärte Rasirschemel; die alle Tage aufs Neue wachsende Leber bedeutet eben den Bart, welchen der Geier, der Barbier, allmorgentlich ihm wieder abhackt.

Du magst den Barbier, der Dich aus Deinem schönsten Morgenschlummer stört, wohl einmal fortschicken, „es wäre heut nicht nöthig“; allein Du täuschest Dich selbst. Sobald Du zu klarer Beurtheilung der Verhältnisse gelangt bist, fühlst Du, daß Du Dich mit dem struppigen Kinne nicht unter den Menschen sehen lassen kannst, ohne Deine männlichen Reize der bittersten Bekrittelung ausgesetzt zu sehen Was bleibt Dir übrig, als Dich selbst zu rasiren – und nach qualvollem Besinnen entschließest Du Dich dazu.

Mit der überaus wehmüthigen Vorahnung, daß es wohl auch nicht sehr gut schneiden wird, langst Du das Rasirmesser aus seinem alten Futterale. Der Gedanke an die teuflischsten Folterwerkzeuge hat etwas Süßes im Vergleich zu dem Vorgefühl, welches ein stumpfes Rasirmesser hervorzurufen im Stande ist, und weder die Aussicht auf englisches Pflaster, noch die auf blutstillenden Schwamm kann als ein ausgiebiger Trost erscheinen.

„Wir setzen uns mit Thränen nieder“ ist diesmal nicht der Schlußchor der Passion, sondern die Ouvertüre.

Allein „Du hast’s gewollt, Octavio.“

Uebrigens kannst Du das feinste Rasirmesser nehmen und es auf das Sorgfältigste abziehen lassen, wenn Du es unter dem Mikroskop betrachtest, so zeigt sich seine Schneide durchaus nicht als eine scharfe ununterbrochene Linie, sondern sie hat, mannigfach zerrissen und gezählt, ein unregelmäßiges, sägenartiges Aussehen.

Die einzelnen Risse, welche die Zähne von einander trennen, werden theils durch die Poren des Stahles, theils durch die Einwirkung des rauhen Schleifsteines, endlich auch durch den Druck beim Abziehen hervorgebracht, und da sie natürlich nur von ungemeiner Kleinheit sind – man kann mehr als 600 auf das Zoll rechnen [687] und da die scharfe Stahlkante, dies feine Sägeblatt, äußerst dünn ist, so werden die Zähnchen bei der jedesmaligen Benutzung und Wiederherstellung der Klinge in ihrer Form verändert.

Das Rasiren besteht also eigentlich aus einem Durchsägen des Barthaares; das Messer wird stumpf durch ein Verbiegen oder Ausbrechen der kleinen Zähne und durch das Abziehen wieder geschärft, indem dadurch die kleinen Zähne wieder gerade gerichtet werden.

Fig. 1 und 2. Alte Art das Rasirmesser abzuziehen.

Nun weiß man aber, daß eine Säge am kräftigsten wirkt, wenn ihre Zähne nach der Stoßrichtung hin stehen; daß sie dagegen ziemlich effectlos über die Unterlage hingleitet, wenn sie die entgegengesetzte Bewegung ausführt. Beim Rasirmesser muß sich’s demnach ebenso verhalten: es muß am besten schneiden, wenn seine Zähnchen nach der Seite hin stehen, nach welcher das Messer geführt wird. Es geschieht dies aber immer nach der Hand hin, das Messer wird durch das Haar gezogen, nicht gestoßen, und wenn es am besten schneiden soll, so müssen also seine Zähne durch das Abziehen nach dem Hefte des Messers zu gerichtet werden.

Fig. 3 und 4. Neue Art das Rasirmesser abzuziehen.

Das ist der Kern der Sache. Er wird aber bei der gewöhnlichen Behandlung der Messer immer verfehlt. Denn gebräuchlicherweise geschieht das Abziehen in der Art, daß das Messer, wie es in Figur 1 und 2 abgebildet ist, von dem Griff nach der Spitze hin über den Riemen geführt wird; die Zähne müssen sich also nach der Spitze zu richten (wie es nebenbei jede Abbildung in vergrößerter Art darstellt) und gleiten beim Rasiren, weil dabei das Messer wieder in derselben Richtung bewegt wird, über das Haar hinweg, wie eine Stoßsäge beim Rückgange. Die volle Kraft des Messers kann so nicht ausgenutzt werden.

Wenn man aber das Messer so streicht, wie es Figur 3 und 4 zeigen, das heißt von der Klinge nach dem Heft zu, so werden die Zähnchen entgegengesetzt gerichtet und so gestellt, wie es für das Rasiren am günstigsten ist. Das Messer wirkt der Natur der Sache entsprechend dann nicht wie eine Stoßsäge, sondern wie eine Zugsäge, und der erste Versuch mit einem der Art abgezogenen Messer wird das Vortheilhafte der neuen Methode zeigen. Es giebt zwar eine alte Regel, nach welcher die letzten Züge über den Streichriemen so gemacht werden sollen, daß dabei das Messer von dem Körper abgeführt wird, allein sie ist wohl wenig bekannt oder wird von Vielen für nichts bedeutend gehalten, weil man keinen Grund dafür anführen konnte. In dem Gesagten liegt derselbe, und wir haben unsere Leser mit einer Theorie bekannt machen zu müssen geglaubt, welche, obwohl sie nützlicher ist als manche großartige phantastische Welthypothese, bisher nur in wenige technische Zeitschriften übergegangen ist.

Wir hoffen, daß mancher Wuthschrei unterdrückt, manche Thräne getrocknet wird, wenn die Messer nicht mehr nach der alten Methode (Fig. 1 u. 2), sondern nach der neuen (Fig. 3 u. 4) abgezogen werden.




Blätter und Blüthen.

Die Jesuiten – immer die alten. Als Eugen Sue seinen „Ewigen Juden“ veröffentlichte, hielten Manche dessen Schilderungen von den Jesuiten für Dichtungen und zwar für Ausgeburten der gehässigsten Verfolgungssucht gegen eine Gesellschaft sehr ehrenwerther Männer. Sue hat aber nur zu wahr gezeichnet, die Jesuiten von heute sind von genau demselben Schlage, wie vor hundert Jahren, die Störer des confessionellen Friedens und darum die Schädiger und Verwirrer der bürgerlichen Gesellschaft. Zu ihrer Thätigkeit bedürfen sie ungewöhnlicher Geldmittel, und darum sieht ihr Sinn vor Allem nach den irdischen Gütern ihrer Pflegebefohlenen. Wie der römische Kaiser, als er die Urinsteuer empfing, sagte: „Dem Gelde riecht man es nicht an,“ so sagen sie: woher und wie das Geld kommt, ist gleichgültig, wenn wir es nur bekommen; unser heiliger Zweck heiligt unsere Mittel, wenn diese auch etwas unheilig sein sollten.

Im Mai des Jahres 1864 ereignete sich zu Brüssel eine von den Jesuiten selbst ausnahmsweise einmal höchst unvorsichtig herbeigeführte Gerichtsverhandlung, welche gerade eine solche Schaudergeschichte, wie sie nur von Romandichtern erfunden sein sollte, an das helle Tageslicht brachte.

Ein kürzlich von den Galeeren entlassener Mann war Seitens mehrerer Jesuiten denuncirt, sie mit dem Tode bedroht zu haben. Und was ergaben die Verhandlungen? Um eine grandiose Erbschleicherei an einem Millionär zu Antwerpen ausführen zu können, hatten die Jesuiten einen der zunächst berechtigten Erben, den Neffen des reichen Mannes, unter ihre Flügel genommen. Ein alter Jesuiten-Pater hatte ihn so erfolgreich behütet, daß der junge Mensch schon im siebenzehnten Jahre auf die Bahn des Verbrechens gerieth. An dem langen Faden, von dem schon der Groß-Inquisitor in „Don Carlos“ spricht, durch die frommen Väter geleitet, kam er nacheinander in eine Irrenanstalt, dann auf die Galeere. Einen gemeinen Verbrecher zu enterben, konnte der reiche Onkel natürlich leicht veranlaßt werden, und für alle Fälle sagte man den Neffen todt, denn er lebte ja im Bagno unter einem andern Namen. Aber die Strafzeit des Erben erreichte ihr Ende; wenn er frei blieb, konnte er sehr gefährlich werden; also es galt, ihn auf’s Neue unschädlich zu machen. Der alte „Erzieher“ hatte aber auch diesen Fall längst vorgesehen, er hatte sich von seinem folgsamen Zögling schon vor Jahren ein schriftliches Sündenbekenntniß, angeblich für den Onkel, geben lassen; dieses unter dem Siegel der Beichte empfangene Schriftstück übergab er nun der Justiz in dem Moment, als der arme entlassene Sträfling wegen Vagabondage vor Gericht stand – und erreichte dadurch eine neue Verurtheilung zu zehn Jahren Galeere. Der Onkel starb, die Jesuiten bekamen das große Vermögen; aber auch die neue Strafzeit verging, und um den rechtmäßigen Erben nun für den ganzen Rest seines Lebens unschädlich zu machen, erfolgte eine neue Denunciation auf Grund eines Briefes, worin der Neffe den Jesuiten den Tod angedroht haben sollte. Die Jesuiten hatten sich den Ausgang des Schwurgerichts anders gedacht, als er kam. Der von ihnen Angeklagte wurde freigesprochen, sie aber schlichen als Verurtheilte vor Gott und den Menschen aus der Gerichtshalle heim.

Hinterher sagen jetzt die Jesuiten, sie seien zu gutmüthig und schonend, ihre Zeugen zu dumm und die Sachwalter ihres Angeklagten zu verschlagen gewesen; der Präsident habe die Fragen an die Geschworenen absichtlich verkehrt gestellt, und die Geschworenen seien Schufte, und an dem Ganzen seien die Freimaurer schuld. Das Alles beten die ultramontanen Blätter in Deutschland gehorsamst nach; und als die deutsche Presse die Verhandlungen übertrug und damit das Volk in den Stand setzte, sich selbst ein Urtheil über diese belgische Geschichte zu bilden, da mußten die [688] ultramontanen Blätter behaupten, die ganze Geschichte sei erlogen. Das wäre freilich eine sehr gescheidte Ausrede gewesen, wenn sie nur nicht zu spät gekommen wäre.

Die Ultramontanen in Deutschland hätten besser von Anfang an ganz davon geschwiegen, denn, veranlaßt durch ihre Invectiven, gab eine rheinische Buchhandlung die Verhandlungen des Processes in einer Broschüre heraus („Der Jesuiten-Proceß in Brüssel, Verhandlungen vor dem Assisenhof in Brabant vom 13. –16. Mai 1864, Preis 5 Sgr.), die in Monatsfrist vier Auflagen erlebte und besser noch als der Sue’sche Roman zur Aufklärung über das Treiben der Gesellschaft Jesu beitragen wird.




Beitrag zu Schiller’s Charakteristik. Es ist bekannt, daß der Herzog Karl von Würtemberg kurz nach dem Erscheinen der „Räuber“ Schillern verbot, etwas Anderes als medicinische Fachschriften drucken zu lassen, und daß es hauptsächlich diese Beschränkung war, welche die Flucht des Dichters nach Mannheim hervorrief. Die Veranlassung zu diesem Verbot war eine an den Herzog gerichtete Reklamation der Graubündner Regierung, in welcher man sich über eine in den Räubern vorkommende Beschimpfung dieser Republik beschwerte. Es lauteten nämlich in der zweiten Scene des ersten Actes die Worte des Libertiner Schwarz, in welchen er nach dem heutigen Texte Karl Moor auffordert, „mit in die böhmischen Wälder zu kommen und dort eine Räuberbande zu sammeln“, im Originale folgendermaßen: „Komm mit uns nach Graubünden, dem Athen der Räuber und Diebe.“

Kaum waren nun 1781 die Räuber im Drucke erschienen und, getragen von der allgemeinen Aufmerksamkeit, auch nach Graubünden gedrungen, als daselbst einige müßige Patrioten an dieser Stelle Anstoß nahmen und eine großartige Petition veranstalteten, in welcher die Regierung gebeten wurde, Einsprache gegen diese Unbilde zu erheben. Dieser Bitte wurde dann auch sofort entsprochen, und die Folge für Schiller war das oben erwähnte Verbot, seine belletristischen Producte drucken zu lassen, und der Befehl, jene Stelle abzuändern. Noch existirt in dem Staatsarchiv zu Chur die diesfällige Relation der Regierung an die „Ehrsamen Räthe und Gemeinden der Republik alt-fry Rhätien“: sie beginnt charakteristisch folgendermaßen: „Getreue, liebe Bundesgenossen! Ein gewißer wirtenbergischer Militär-Artzt, Namens Schieler, hat sich erfrecht, in einem Comödiantenstück unsere Republik als Athen (d. h. etwa sonderlich günstiges Land) der Räuber und Diebe zu qualificiren. Die Häupter der Republik haben daher“ etc. etc. – Es hätte vielleicht diese Notiz für einen weitern Leserkreis wenig Interesse, wenn sie nicht einen eigenthümlichen Beitrag zur Charakteristik Schiller’s liefern und einen neuen Zug in seinem Wesen hervorheben würde, dessen, irren wir nicht, bisher noch nirgends Erwähnung geschah. Wenn wir nämlich fragen, wie Schiller dazu kommen mochte, gerade das Graubündnerland mit dem schmeichelhaften Attribut eines „Athens der Räuber und Diebe“ zu belegen, so finden wir dafür durchaus keinen Grund, indem gerade im Gegentheil jene Gegenden sich von jeher der tiefsten Ruhe und Sicherheit erfreuten. Auch ein Zufall ist hier kaum denkbar, und so scheint uns denn am plausibelsten eine Ansicht zu sein, die unter der höhern Graubündner Gesellschaft gang und gäbe ist und derzufolge Schiller jene Stelle geschrieben haben soll, um sich für einige durch bündnerische Landeskinder ihm zugefügte Unbilden zu rächen. Es waren nämlich zugleich mit Schiller zwei junge adlige Graubündner, Herr von Salis und Herr von Pestalozzi, auf der hohen Carlsschule gewesen und hatten den etwas unbeholfenen und linkischen, weil immer in den Sphären der Poesie weilenden, jungen Mann derart mit Neckereien jeder Gattung verfolgt, daß Schiller ihnen Rache geschworen und dieselbe nach Dichterart nicht mit dem Degen, sondern mit der wirksamern Feder vollführt habe. Eine Bestätigung dieser Annahme finde ich in einer Stelle aus „Wallenstein“, wo in der zweiten Scene des fünften Actes Buttler zu den zögernden Hauptleuten Devereux und Macdonald sagt:

„Nun denn, so geht und schickt mir Pestalutzen.
Wenn Ihr’s verschmäht, es finden sich genug!“

und einige Zeilen weiter unten, wo von der Ermordung des Terzky und Illo die Rede ist:

 – – – – – – „dort wird man sie
bei Tafel überfallen, niederstoßen;
Der Pestalutz, der Leßly sind dabei.“

Pestalutz, wie der Name von Schiller’s Quälgeist in der schweizerischen Depravation lautet, ist auch hier gewiß nicht ohne Absicht gesetzt, und es ist charakteristisch, daß der Dichter noch zur Zeit der Abfassung des Wallenstein, also viele Jahre nach dem Austritt aus der hohen Karlsschule, sich so drastisch an die dort erlittenen Neckereien erinnerte, wenn wir auch daraus weniger auf Unversöhnlichkeit, als auf eine gewisse Schalkhaftigkeit schließen.




Up ewig ungedeelt! Es war eine wahre, heilige Herzenssache, für das ganze Deutschland, die Sache unserer schmählich geknechteten Brüder, und sie wird es auch, will’s Gott, im noch nicht beendeten Kampfe mit der Diplomatie bleiben. Die dunkle und doch von Opferfreudigkeit sonder Gleichen auch wieder hell durchleuchtete Zeit sechzehnjährigen Leidens, Hoffens und Kämpfens fest zu halten in Wort und Schrift zur Nacheiferung für die Enkel, erachten wir als eine Ehrenaufgabe des Schriftstellers und begrüßen darum mit Freude ein solches Werk, das, da es die Form eines Romans auf strenggeschichtlichem Boden festhält, zu einem wahren Volksbuch werden kann. Es ist das bereits in den ersten Theilen vorliegende und schnell seiner Vollendung in vier Bänden entgegengehende: „Up ewig ungedeelt“. Schleswig-Holstein 1848–1864. Roman aus der jüngsten Geschichte der Herzogthümer von Stanislaus Grafen Grabowski. – In frischer Darstellungsweise giebt der Verfasser die geschichtlichen Ereignisse in den Herzogthümern, anknüpfend an die ersten Befreiungskriege und mit Benutzung der besten Quellen. Wen das Schicksal selbst auf die Blut- und Siegesfelder geführt, der wird vielleicht auf diesem Schilderungsterrain die eigenen Fußstapfen wiederfinden, und wer fern davon jeder Kunde von dort mit warmer Theilnahme lauschte, sich lebhaft in die Scenerie hineinversetzt fühlen. So liegt das Buch – ein Stück unvergeßlichen Völkerlebens – vor uns, und was der Preis des Kampfes war und wie er errungen, dolmetscht die kostbare große künstlerisch ausgeführte Photographie, die der Verleger, Th. Lemke in Berlin, dem Werke – das übrigens einer solchen Zugabe nicht bedurft hätte, um einer guten Aufnahme sicher zu sein – beigegeben, das allegorische Kunstblatt: „Die Befreiung der gefesselten Herzogthümer.




Erklärung. In meinem Artikel „Mecklenburg in Thüringen“ (Gartenlaube Nr. 36) erzählte ich Seite 572 Spalte 2, daß ein mecklenburgischer Schulmeister auf einer Art von Kunstreise Fritz Reuter’sche Dichtungen öffentlich vorgelesen habe, und führte dabei wörtlich an: „In einer Residenz – ich glaube, in Schwerin war’s – wurden ihm sogar die Vorlesungen von Polizeiwegen verboten, weil dieselben dem Besuche des Theaters Abbruch thaten.“

Gegen diese letztere Aeußerung hat der Herr Bürgermeister A. Möller zu Schwerin in einer Zuschrift an die Redaction der Gartenlaube Verwahrung eingelegt. Er sagt in derselben:

„Es ist mir, der ich die Polizei in Schwerin verwalte, nicht gleichgültig, wenn in Ihrem weitverbreiteten Blatte der hiesigen Polizei ein solches höchst seltsames Verbot zur Last gelegt wird und eine solche Nachricht die Runde durch die Welt macht. Gestatten Sie mir deshalb die Versicherung, daß der referirte Vorfall hier in Schwerin überall nicht passirt ist etc.“ –

Die Redaction der Gartenlaube hat mir diese Zuschrift des Herrn Bürgermeister Möller zur Rückäußerung zugesandt.

Ich erkläre hiermit, daß ich unmittelbar nach dem Erscheinen meines Artikels, noch bevor das Schreiben des Herrn Bürgermeisters eingegangen war, von wohlunterrichteter kompetenter Seite darauf aufmerksam gemacht worden bin, daß jener von mir angeführte Vorfall thatsächlich vollkommen richtig, nur daß der Vorleser kein Schullehrer, sondern ein Musiklehrer, Namens Kräplin, aus Neustrelitz gewesen sei und die Geschichte nicht, wie ich glaubte, in Schwerin, sondern in Rostock, wo die Polizei vom Senator Blank(!!) verwaltet wird, sich zugetragen habe.

Auch ohne den Protest des Herrn Bürgermeister Möller würde ich daher Veranlassung genommen haben, zu berichtigen, daß der Vorgang, den ich, wenn auch nicht mit Sicherheit, nach Schwerin verlegt hatte, in Rostock stattgefunden habe. Jener Protest macht es mir jedoch zu einer Ehrenpflicht dem Herrn Bürgermeister Möller zu Schwerin öffentlich hiermit mein Bedauern auszudrücken, daß durch eine beiläufige Aeußerung in meinem Artikel seine Polizeiverwaltung einem so ungerechtfertigten Verdachte ausgesetzt worden.

Aber auch der Herr Bürgermeister Möller dürfte mir das Zugeständniß machen, daß ich mit der Mittheilung jenes Polizeiverbotes, das er selbst in seinem Schreiben als ein „höchst seltsames“ bezeichnet hat, nicht leichtsinniger Weise etwas Unglaubliches veröffentlicht habe. Die Mittheilung ist verbürgte Thatsache. Könnte man doch aus Mecklenburg noch weit unglaublichere Dinge erzählen, die dennoch leider den vollsten Glauben verdienen! –

Gotha, September 1864.
Ludwig Walesrode. 

Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Vögele der Maggid.


Eine Geschichte
aus dem
Leben einer kleinen jüdischen Gemeinde.
Von
A. Bernstein.
Preis in engl. Cartonnage 271/2 Ngr.

Zum ersten Male wird diese reizende Erzählung aus dem an poetischen Momenten so reichen jüdischen Leben, nach Composition und Abrundung ein wahres Kunstwerk, in einer vom Autor selbst besorgten neuen (dritten) Bearbeitung, gewissermaßen Uebertragung, auch dem großen deutschen Lesepublicum zugänglich gemacht. Es darf daher die sichere Hoffnung ausgesprochen werden, daß diese jüngste Schöpfung des berühmten Verfassers der Leitartikel in der Berliner „Volkszeitung“ nicht blos von israelitischen, sondern von den weitesten Kreisen unserer Lesewelt als eine hochwillkommene Gabe begrüßt werden wird.


  1. Dieser Ausspruch, welcher bei der Gerichtsverhandlung vom Correspondenten der „Gazette des Tribunaux“ aufgenommen ward, ist allerdings später vom Staatsanwalt abgeleugnet worden.
  2. Das so freudenreiche Prachtbuch, welches uns Gelegenheit bot, einige der schönsten Kinderseligkeiten zu belauschen, führt den Titel: „Aus unsern vier Wänden, von Rudolf Reichenau. Erste Abtheilung: Bilder aus dem Kinderleben. Zehnte Aufläge. Mit 66 Originalzeichnungen von Oscar Pletsch, in Holz ausgeführt von H. Bürkner. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow. 1865.“ – Sollen wir zur Empfehlung desselben noch ein Wort zu obigem Artikel hinzufügen, in welchem nur Abschnitte des Textes im Auszug zu einem runden Ganzen verwebt und mit Proben der Illustrationen ausgeschmückt sind, so könnte es nur die Anerkennung für die Verlagshandlung sein, daß sie durch höchst elegante und geschmackvolle Ausstattung des Dichters und des Künstlers Werk in der würdigsten Gestalt dem Publicum vorführt. Jeder Mutter wird das Buch die schönste Weihnachtsgabe sein.
    D. Redaction. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: habe
  2. Vorlage: auf