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Die Gartenlaube (1864)/Heft 38

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[593]
Nobles Blut.
Schloßgeschichte aus den Erinnerungen meines Vaters.
(Fortsetzung.

Der Mönch hatte wohl richtig gelesen in den Augen des Dieners. Sie verkündeten Entsetzliches, bevor die Lippen es aussprechen konnten.

„Sie sind vorbereitet, gnädigster Herr?“ sagte er.

„Ich bin,“ unterbrach ihn der Mönch, „für Dich wie für alle Anderen der Franziskanerpater Antonius.“

Der Diener neigte sich gehorsam, während die Augen ihm feucht wurden.

„Sie sind vorbereitet, frommer Pater, das Traurigste zu hören. So lassen Sie es mich denn kurz machen. – Der Herr hatte mich binden lassen, als Jenes mit Ihnen geschah. Gebunden wurde ich in den Hundestall geworfen, kein Mensch durfte zu mir. Da öffnete sich um Mitternacht die Thür des Stalles, der Graf trat ein und löste meine Bande.

,Du wirst mir folgen,’ sagte er dabei. ,Du wirst thun, was ich Dir befehle. Sprichst Du ein einziges Wort von dem, was Du siehst und hörst, so bist Du des Todes.’

Er mußte schrecklich anzusehen sein, wie er so sprach. Ich konnte es in der Dunkelheit nicht sehen, doch ich hörte es an der Stimme. Es überlief mich heiß und kalt, aber ich folgte ihm. Er ging in das Schloß, die Treppe zum ersten Stock hinauf, hier in den Corridor links, an dessen Ende sich die Thür befand, die in den runden Thurm führte. An einer der letzten Thüren des Corridors blieb er stehen. Es war die Thür zu dem Wohngemach der Gräfin, seiner Gemahlin. Er zog einen Schlüssel hervor und schloß die Thür auf. Wir waren bisher im Dunkeln gegangen. In dem Zimmer brannte ein trübes Licht.

,Reinige hier,’ befahl er mir. „In einer Stunde darf man hier keinen Fleck mehr sehen, wenn Dir Dein Leben lieb ist.“

In dem Zimmer war eine Blutlache. Ich schleppte Wasser herbei, Tücher und was sonst zum Reinigen gehörte. Er stand in der Thür und sah mir zu. Wie er aussah, ich weiß es nicht; ich hatte nicht den Muth ihn anzusehen, und ehe die Stunde um war, war ich fertig. Er verschloß die Thür.

,Jetzt hier,’ befahl er.

Er zeigte auf den Boden des Corridors vor der Thür des Zimmers, aus dem wir kamen, bis zu der Thür des Thurmes.

Er hatte das Licht aus dem Zimmer mitgenommen. Ein Strich von Blut zog sich von der einen Thür zur andern. Ein Blutender war hier an der Erde geschleppt. Ich reinigte auch hier. Er stand mitten im Corridor und sah mir zu. Als ich bald fertig war mit meiner Arbeit, wollten mich meine Kräfte verlassen. Ich war in die Nähe der Thurmthür gekommen und hörte in dem Thurme ein leises Wimmern. Ich hörte es diesmal deutlich, erschrecklich deutlich. Das Tuch, mit dem ich wischte, fiel mir aus der Hand.

,Wird’s bald?’ rief er mir drohend zu.

Ich arbeitete wie wahnsinnig weiter. Ehe der Morgen anbrach, war ich fertig.

,Du kannst gehen,’ sagte der Graf. ,Du bleibst in meinen Diensten. Du bist der einzige Treue hier. Werde nicht zum Verräther. Gehe zu Bett und spionire nicht!’ rief er mir noch drohend nach.

Er blieb in dem Corridor. Ich ging, ohne mich umzusehen, in meine Stube, in mein Bett. Schlafen konnte ich nicht. Als die ersten Leute im Schlosse aufstanden, wagte auch ich mich hinaus und ging in den Schloßhof, nach dem runden Thurme zu. Die Fenster des Grafen waren von innen noch fest mit den Vorhängen verhüllt, in seinem Wohn- wie in seinem Schlafzimmer. Der Graf schlief also noch. Ich ging um das Schloß herum, ich sah zu den Fenstern der Gräfin und des Grafen Curt hinauf. Sie waren verschlossen, wie sonst, als wenn die Bewohner noch in voller Ruhe des Schlafes wären. Ich wartete bis zu der Stunde, wo der Herr regelmäßig aufzustehen pflegte. Ich mußte dann in sein Schlafgemach kommen, ihm das Frühstück bringen und ihm beim Ankleiden helfen. Er bewohnte ganz allein den Thurm, und verschloß daher jeden Abend dessen nach außen auf den Hof führende Thür, und ich konnte nur vom Schlosse aus zu ihm gelangen. Ich ging in das Schloß, in jenen Corridor, der bis in den Thurm führte, an und in dem ich in der vergangenen Nacht jene entsetzliche Arbeit hatte vornehmen müssen. Ich sah noch die Spuren des Waschens und Fegens und Reibens. Eine Blutspur war nirgends[WS 1] mehr zu erblicken. Ich hatte meine Arbeit gut gemacht. Ein Grausen ergriff mich; in dem Gange war Niemand, die Thüren zu den Gemächern der Gräfin waren verschlossen, wie immer zu dieser Stunde; sie stand erst später auf. Ich klopfte an die Thür, die in den Thurm, in das Schlafzimmer des Grafen führte. Ich erhielt keine Antwort, selbst als ich stärker klopfte. Es blieb auch still, als ich zum dritten Male klopfte. Der Graf mußte es gehört haben, wenn er auch noch so fest schlief; er hatte einen leisen Schlaf. Er wollte mir also nicht antworten. Ich kehrte um. An der Treppe begegnete mir der Bediente des Grafen Curt. Er sah verstört aus.

,Wissen Sie nichts von meinem Herrn?’ fragte er mich.

[594] ,Warum fragen Sie nach ihm?’

,Als ich ihn eben wecken wollte, fand ich ihn nicht. Alle seine Zimmer sind leer. Er hat sein Bett nicht berührt. Schon gestern Abend hatte ihn Niemand mehr gesehen. Es fiel mir jetzt erst auf. Und – und – Conrad, das Schießen gestern Abend, der Zorn des regierenden Herrn – all das Andere – Herr des Himmels, was mag aus dem armen Grafen Curt geworden sein?’

Wir wußten es Beide nicht. Nach einer Weile kam mit kreideweißem Gesichte die Kammerfrau der Gräfin zu mir.

,Conrad, was ist aus der gnädigen Gräfin geworden?’

,Warum fragen Sie nach ihr?’ mußte ich auch sie fragen.

Sie hatte ihre Herrin wecken wollen; hatte aber ihre Thür, die Thüren aller ihrer Zimmer verschlossen gefunden. Sie hatte geklopft, gerufen, Niemand hatte ihr geantwortet; nichts hatte sich drinnen geregt. Auch sie hatte ihre Herrin schon am gestrigen Abende nicht mehr gesehen. Ich hatte auch für sie keinen Bescheid und kehrte in den Corridor zurück, um zu erwarten, daß der Graf sein Schlafgemach öffne und mich rufe. Eine Stunde später öffnete sich die Thür; der Graf trat heraus wie immer, finster, drohend, zornig, wie alle die Tage, alle die Zeit vorher. Das Gesicht war nur etwas müde, als wenn er die Nacht nicht geschlafen hätte.

Er verschloß die Thür des Thurmes hinter sich.

,Folge mir!’ sagte er mir dann.

Er verließ den Corridor und bog in einen Seitengang ein. In diesem Gange lagen die Zimmer, die zur Aufnahme von Besuch bestimmt waren. Er trat in eins der Zimmer.

,Ich werde künftig hier wohnen. Besorge mein Frühstück.’

Er sagte es in seiner finstern Weise, aber kalt, ruhig, als wenn am gestrigen Abende, in der vergangenen Stacht nichts vorgefallen sei. Ich konnte ihn ohne Grausen nicht ansehen. Ich brachte ihm sein Frühstück, er ordnete ruhig etwas in dem Zimmer, und als ich das Frühstück hingestellt hatte, rief er mich zu sich heran.

,Höre mir wohl zu. Die Thür, die vom Corridor in den runden Thurm führt, wird noch vor Mittag vermauert. Ist die Arbeit fertig, so wird der ganze Corridor durch eine Gitterthür abgeschlossen, daß ihn kein Mensch wieder betreten kann. Zum Abend muß das Ganze beendet sein.’

Ich ließ es ausführen, wie er es angeordnet hatte. Vorher hatte ich doch noch an der Thurmthür horchen müssen. Ich hörte kein Stöhnen und kein Wimmern mehr. Lebendige wurden nicht eingemauert. Aber nicht die Gräfin, nicht den Grafen Curt hat je ein Menschenauge wiedergesehen. Das Gerücht wurde ausgesprengt, Graf Curt sei mit der Gräfin entwichen. Jenen Corridor hat bis heute nie wieder eines Menschen Fuß betreten. Die Fenster des Thurmes sind noch heute von innen dicht verhängt, wie ich sie am Morgen jener schrecklichen Nacht sah. In das Innere des Thurmes ist nie wieder Jemand getreten, auch der Graf nicht. Es führt nur noch die eine Thür hinein, vom Schloßhofe aus. Sie ist seit jenem Abende nicht wieder geöffnet worden. Der Graf hat die Schlüssel zu ihr; wo er sie verwahrt hält, weiß Niemand. Die sämmtlichen Fenster des Thurmes sind von innen dicht mit festen eisernen Stäben versehen; auch durch Hinansteigen hat also kein Mensch in den Thurm gelangen können.

Frommer Pater, Sie wissen jetzt, warum nicht die Gräfin, nicht der Graf Curt, Ihr Vater, nach Ihnen fragen, sich um Sie bekümmern konnte. Und auch die Comtesse Caroline konnte es nicht. Die Unglückliche – Aber wozu soll ich Ihnen allen Schrecken, alle Angst, allen Jammer, die Verzweiflung der armen Comtesse erzählen? Ich weiß ja auch nicht viel davon. Sie wurde schon nach wenigen Tagen in ein Kloster gebracht zu ihrer Erziehung und blieb dort auf ihren Wunsch, bis sie fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Da mußte sie zurückkehren, um sich zu vermählen. Von Ihnen, frommer Pater, hatte man nichts wieder gehört; Sie waren verschollen. Der Graf wollte sein altes Geschlecht nicht aussterben lassen, es sollte in den Nachkommen der Tochter fortblühen. Er hatte der Gräfin Caroline einen stillen jungen Herrn aus einem alten gräflichen Hause zum Gemahl ausgesucht, der seinen Namen ablegen und dafür den Namen Graf von Frankenberg annehmen mußte.

Auf dem Schlosse war es wie im Grabe. Die Gräfin Caroline war zurückgekommen wie eine Grabesblume, die nur aus einem Grabe in ein anderes verpflanzt war. Der junge Graf war im Schlosse nicht mehr, als ein Bedienter. Still war er hergekommen; er wurde immer stiller, an Büchern und Beschäftigung hatte er keine Freude. Nach einem Jahre hatte er sich dem Trunke ergeben. Die Gräfin Caroline welkte von Tage zu Tage mehr dem Grabe zu. Nachdem sie ihrem Gemahl zwei Kinder geboren hatte, einen Knaben und ein Mädchen, starb sie. Ein paar Jahre nachher starb ihr Gemahl; die hitzigen Getränke hatten ihm Körper und Geist zerstört.

Der Sohn der Beiden war still, wie sein Vater; er hatte einen noch schwächeren Verstand als dieser. Die Tochter war das Ebenbild ihrer Mutter, als die Gräfin Caroline noch das schöne und glückliche Kind war, das mit Ihnen spielte. Sie hat leider auch von dem späteren Unglück ihrer Mutter erben müssen, wenn auch nicht Alles. Sie durfte nach ihrer Neigung und Wahl einem edlen Manne ihre Hand reichen. Der Name des Freiherrn, ihres Gemahls, ist in ganz Deutschland ebenso geliebt und geehrt, wie die Franzosen ihn hassen und verfolgen, weil ihr mächtiger Kaiser den deutschen Edelmann fürchtet. Die beiden Gatten lieben sich auch über Alles. Aber ihre Kinder sind ihnen gestorben, bevor sie ein Jahr alt wurden. Kann auf den Nachkommen des Grafen Moritz Anderes als ein Fluch ruhen? Und jetzt liegt die arme Frau in den Armen des Todes – derselbe Fluch muß sich ganz erfüllen, wie an ihr, vielleicht mit an ihrem edlen Gemahl.

Ihrem Bruder, dem Sohne der Gräfin Caroline, suchte der alte Graf die Gemahlin aus, eine schöne stolze Dame aus einem alten, vornehmen Hause. Ach, sie war nicht zu vornehm und stolz, die deutsche Gräfin, die Geliebte eines leichtfertigen, hochmüthigen Franzosen zu werden, und das ist sie, ehrwürdiger Herr! Es ist ein Glück, daß sie ohne Kinder ist. Ihr Gemahl ist völlig schwachsinnig geworden. Er sieht ihren Lebenswandel nicht.

Der alte Graf – er zählt bald neunzig Jahre – ist noch immer körperlich rüstig; der Verstand war ihm schon gleich nach jenen Vorfällen angegriffen; vielleicht war es schon vorher so gewesen; ich hoffe es zu Gott. Später hatte er Perioden, in denen er völlig wahnsinnig war; dann wurde es wieder besser mit ihm. So ist es noch; nur wechseln in der letzteren Zeit der Wahnsinn und die Vernunft häufiger in ihm. Er kann ganz verständig sprechen, aber man ist keinen Augenblick sicher, daß nicht plötzlich mitten in seiner Rede der Wahnsinn in ihm losbricht. Bösartig ist er dabei immer, und immer hat man sich vor ihm zu hüten, daß man nicht von einem seiner bösen Streiche getroffen werde. Der Einzige, der manchmal Gewalt über ihn hat, ist sein Enkel mit seinem stillen, blödsinnigen Wesen. So geht dies alte Grafengeschlecht zu Grunde.“

Der Diener schwieg. Auch der Mönch gab sich schweigend seinen Gedanken hin. Die beiden Greise saßen lange still einander gegenüber.




3. Neue Geschichten des Schlosses.

Der Doctor und der Hauptmann waren in das Krankenzimmer gegangen. Die beiden Gatten waren allein darin, sie hatten sich so viel zu sagen, so viel mitzutheilen, da sie sich seit langer Zeit nicht gesehen hatten. Fortwährend hatte ja der Freiherr auf wirklicher Flucht oder in Besorgniß gegen geheime französische Verfolgung sein müssen; denn er wäre erschossen worden, wenn er in die Hände der Verfolger fiel. Wie waren sie jetzt glücklich zusammen nach so langer schmerzlicher Entbehrung!

„Wie geht es der gnädigen Frau?“ fragte der Doctor.

„Ich lebe auf, Doctor,“ sagte so glücklich die matte Stimme der Kranken.

„Und Sie sollen recht lange leben.“

Der Hauptmann hatte die in der Tapete verborgene Thür zu dem geheimen Gange gefunden und geöffnet. Er trat mit dem Doctor in den Gang und zog die Thür hinter sich zu. Sie waren in voller Dunkelheit.

„Wohin nun weiter, Hauptmann?“ fragte der Doctor. „Man sieht nicht die Hand vor den Augen.“

„Ja, Doctor, wohin? Das ist die Frage.“

„Ich meinte, Sie kennen den Gang.“

„Der alte Conrad hat mir von ihm erzählt. Weiter weiß ich nichts. Und auch er war nur die paar ersten Stufen einer Wendeltreppe hinuntergekommen, er hatte nur gehört, daß man unten in einen langen schmalen Gang komme, der zu der Thür irgend eines Gemaches führe, aus dem man dann in das Freie gelange.“

[595] Der Hauptmann tappte in der Finsterniß umher.

„Hier!“ rief er. „Eine Treppe! Und richtig eine Wendeltreppe. Und es ist auch ein Strick da, um sich daran zu halten, damit man nicht unten den Hals bricht. Man muß also verdammt tief fallen können. Folgen Sie mir, Doctor.“

„Ich bin schon da.“

„Halten Sie sich nicht zu fest an dem Stricke, das alte Seil kann morsch sein, seit Jahrhunderten da hängen. Wenn es reißt, brechen wir Beide da unten die Hälse.“

„Und wo sind wir, Hauptmann?“

Der Angeredete suchte von Neuem umher. „Auf trocknem, festem Boden von Erde.“

„Und hier links fühle ich eine steinerne Mauer. Der Gang muß sich also nach rechts ziehen.“

„Und da habe ich ihn auch. Der trockne, feste Boden zieht sich hier fort. Und ich kann Ihnen auch sagen, wie breit der Gang ist, Doctor. Ich messe fünf Fuß, acht Zoll. Wenn ich meine beiden Arme ausstrecke, so berühren meine Fingerspitzen rechts und links die beiden Seitenmauern. Denn nicht wahr, Doctor, die Länge der beiden ausgestreckten Arme eines Menschen entspricht der Länge seines Körpers?“

„Wenn uns in diesem schmalen Gange Franzosen begegneten, so wären wir ein paar verlorene Menschen.“

„Ja, das wären wir. Gehen wir weiter.“

„Ich folge Ihnen.“

„Horch! Hörten Sie da nicht etwas, Doctor?“

„Da hinten vor uns! Es kam mir auch so vor.“

„Und in der Höhe war es.“

„Sollten wir an dem Ende des Ganges sein?“

„Wir werden es sehen. Es ist wieder still. Gehen wir um so vorsichtiger.“

„Teufel, da ist es wieder! Und ganz nahe vor uns.“

„Und es lautet, als wenn an einem Schlosse gedreht, an einer Thür gearbeitet würde.“

„So ist es auch, und, Hauptmann, wenn da die Franzosen wären, um in den Gang einzudringen?“

„Und wer sollte sie hingeführt haben, Doctor?“

„Der Louis! Wir sprachen schon vorhin von ihm. Der Bursch ist mit allen Hunden gehetzt, kennt alle Winkel des Hauses, hat, wie alle Welt hier, von einem geheimen, unterirdischen Gange im Schlosse gehört, hat sicher nicht eher geruht, als bis er ihn ausspionirt, hat ihn dann von einem Ende bis zum anderen verfolgt und gebraucht ihn jetzt zu seinem schändlichen Verrathe. Sie hätten sehen sollen, wie der Schuft den ganzen Tag, den ganzen Abend immer auf den Beinen, bald hier, bald dort, überall schlich, überall hin horchte. – Aber still! Da wurde deutlich ein Schlüssel gedreht.“

„Wer in dieser verdammten Finsterniß sehen könnte! Aber gehen wir darauf zu.“

„Und wenn es die Franzosen wären, Hauptmann? Wir liefen ihnen geradezu in die Hände!“

„Entkommen könnten wir ihnen ohnehin nicht. Aber im Gegentheil, wenn wir es können, so ist es mir gerade durch ein Draufgehen möglich. Jene Thür ist nicht unmittelbar am Gange. Sie müssen also noch eine zweite Thür passiren und vorher öffnen; kommen wir ihnen an dieser zuvor! Vielleicht ist sie von hieraus zu verriegeln, oder sonst zu versperren. Voran, Doctor! Nur dem Muthigen gehört die Welt.“

Sie gingen vorwärts. Nach dem Oeffnen der Thür hatten sie gar nichts weiter gehört.

Sie waren nach zehn Schritten am Ende des Ganges. Aber wo und wie war dieses Ende des Ganges? Sehen konnten sie nicht das Geringste. Sie mußten fühlen.

„Wir stehen vor einer Thür von massivem Eisen, Doctor – sie ist so breit wie der Gang und verschlossen.“

„Versuchen Sie, ob sie zu öffnen ist.“

„Still, Doctor! Das würde Geräusch machen und uns verrathen. Mich dünkt, ich höre etwas jenseits.“

Beide legten horchend das Ohr an die Wand.

„Wahrhaftig,“ rief der Doctor, „da spricht Jemand.“

„Und wissen Sie, wer es ist?“

„Nun?“

„Der junge Graf.“

„Der Blödsinnige?“

„Gewiß. Mit wem mag er nur sprechen?“

„Und wo könnte er sein? Wo wären wir also?“

„Da antwortet ihm Jemand, und – Teufel, das ist die Stimme des alten Grafen.“

„Großvater und Enkel beisammen? Der Verrückte und der Blödsinnige? Die haben seit Jahren kein Wort mit einander gesprochen. Was mögen sie jetzt haben?

„Da wird eine Thür geöffnet. Sie knarrt fast ärger als die andere, als wenn sie seit einem halben Jahrhundert nicht geöffnet wäre.“

„Seit einem halben Jahrhundert, Hauptmann? Wissen Sie, daß gerade seit fünfzig Jahren die Frau und der Bruder des Alten verschwunden sind?“

„Teufel, Doctor, worauf bringen Sie mich da? In dem alten Thurme sollen die Beiden verschwunden sein. An dem alten Thurme sahen Sie vorhin den Alten mit den Schlüsseln. Wir müssen hier vor diesem Thurme stehen. Der verborgene Gang mündet hinein.“

„Aber still, still, Hauptmann! Hören Sie die sonderbaren Töne!“

„Das ist ein Hund.“

„Der Alte hatte seine Dogge bei sich, den Hannibal.“

„Und hören Sie, wie das Thier heult! Und da winselt es wieder. Das überläuft einen ja heiß und kalt. Was mag das sein?“

„Horchen wir weiter. Da lacht einer. Es ist der Alte. Ich kenne sein heiseres, boshaftes Lachen des Wahnsinns. Das fährt erst recht durch Mark und Bein.“

Sie schwiegen und horchten gespannt, indem sie Beide das Ohr fest an die eiserne Thür gelegt hatten. Großvater und Enkel, der verrückte und der blödsinnige Graf, sprachen miteinander. Aber von dem, was sie sprachen, waren nur einzelne, abgerissene Worte zu verstehen.

„Ja, ja, hier!“ sagte der Alte, als wenn er auf eine Frage geantwortet hätte.

„Und wie?“ fragte der Enkel.

Die Antwort war diesmal nicht zu verstehen. Die Horcher unterschieden nur das Wort „Hannibal“. Von dem, was darauf wieder der Enkel sprach, waren nur die zwei Worte „die Franzosen“ zu verstehen. Der Alte lachte darauf, fast so heiser und boshaft, wie vorhin. Dann sprachen Beide lange, ohne daß eine einzige Sylbe zu unterscheiden war.

„Hannibal, komm!“ rief jetzt der Alte dem Hunde zu.

Die Thür, die zuletzt aufgeschlossen war, wurde wieder zugemacht. Man hörte deutlich das schwere Knarren, aber am Schlosse wurde nicht wieder gedreht; sie war also nur angelehnt. Zwei Schritte bewegten sich. Eine zweite Thür wurde geöffnet; es war dieselbe, welche die Horchenden zuerst, da sie noch weiter zurück im Gange waren, hatten aufschließen hören. Sie wurde wieder abgeschlossen, und man vernahm nichts mehr.

„Hm, Doctor, was war das Alles?“

„Gott weiß es, Hauptmann: Die Beiden haben etwas vor, die beiden armen Thoren zusammen. Gutes ist es nicht, obwohl der Blödsinnige dabei ist. Das Lachen des Alten war zu boshaft. Und auch die Bosheit des Wahnsinns steckt an, wie der Wahnsinn selbst. – Gehen wir, Hauptmann!“

„Ja, kehren wir zurück! Was gehen uns die Narren an? Ich habe da zwar einen Gedanken über das, was sie vorhaben konnten; aber er ist zu wüst, als daß ich ihn aussprechen mag. – Wir haben eins gewonnen. Dieser Gang mündet in den alten runden Thurm; darüber ist kein Zweifel. So kann kein Franzose hinein. Die Thüren des Thurmes sind von Eisen; die Fenster sind mit den schwersten eisernen Stäben versehen. Die Schlüssel zu den Thüren hat außer dem Alten und dem alten Conrad kein lebender Mensch gesehen. Der Alte giebt sie nicht aus der Hand. So ist der Freiherr sicher vor jeder Gefahr.“ – Sie waren schon auf dem Rückwege und konnten, trotz der tiefsten Dunkelheit, schneller gehen in dem Gange, der ihnen nun bekannt war. Aber auf einmal mußten sie auf der Mitte ihres Weges ihre Schritte einhalten. Sie hörten plötzlich vor sich ein Geräusch, einen Lärm.

„Herr des Himmels, was ist das?“

„Das ist Waffengetöse!“

„Vor uns! In dem Zimmer der Freifrau!“

„Die Franzosen?“

[596] „Sie sind es!“

„Hören Sie den Schrei, Doctor!“

„Hauptmann, das ist der Schrei einer Sterbenden!“

„Die arme Frau! Der arme Mann!“

„Eilen wir!“

„Wir kommen zu spät.“




Die beiden Greise im Vorzimmer der kranken Freifrau hatten lange still beisammen gesessen. Bei einem plötzlichen Geräusche waren sie aufgefahren. Das Vorzimmer lag an einem Seitengange in dem bewohnten Theile des Schlosses. Man konnte in diesen Seitengang auf kurzem, geradem Wege von dem Hauptcorridor aus gelangen, in welchen von dem großen Treppenhause des Schlosses unmittelbar die breite Doppeltreppe führte; man kam aber auch hin aus jener engeren Treppe und durch jene schmalen, gewundenen, dunklen und abgelegenen Gänge, durch welche der Arzt den alten Mönch geleitet hatte.

Das große Portal, das in das Treppenhaus führte, war am Abende verschlossen, von Dienern bewacht. Von dem Hauptcorridor aus konnte daher unangemeldet Niemand zu den Zimmern der Freifrau gelangen. Jene schmalen, gewundenen, meist durch unbewohnte Theile des Schlosses führenden Gänge waren vielleicht nicht einmal den sämmtlichen Bewohnern des Schlosses bekannt; ein Fremder hätte sich, zumal am Abend, da sie nicht erleuchtet waren, in ihnen und durch sie gar nicht zurechtfinden können. Das Geräusch, das die beiden Greise hörten, schien aus der unbewohnten Gegend des Schlosses, aus den schmalen, dunklen Gängen, zu kommen. Es kam rasch näher. Schritte von Menschen schlichen leise, aber schnell, als wenn der Nachtwind durch die alten Gänge fahre.

„Wer kann da kommen?“

„Die Franzosen, geführt von einem Verräther, dem Louis.“

„Schließen wir die Thür ab.“

Der Kammerdiener schloß die Thür ab, die in den Gang führte.

„Zum Freiherrn! Er muß in den verborgenen Gang!“

Die Kammerfrau kam durch die Seitenthür, durch die sie sich in ihre Stube nebenan begeben hatte, in das Zimmer gestürzt.

„Franzosen!“ rief sie. „Rettet den Herrn.“

Ihr Rufen war in dem Krankenzimmer gehört. Der Freiherr öffnete die Thür des Zimmers.

„Was giebt es?“

„Die Franzosen, gnädiger Herr! Retten Sie sich!“

Der Freiherr kehrte in das Krankenzimmer zurück. Der alte Diener trat mit ihm ein, flog zu der verborgenen Tapetenthür und riß dieselbe auf.

„Hier, hier, Herr Baron! In den Gang! Da unten sind Sie sicher.“

Aber die Kranke hatte laut aufgeschrieen. Der Freiherr eilte zu ihr. Sie umfing ihn krampfhaft.

„Georg, ich sterbe! Aber rette Dich, rette Dich!“ rief sie dann.

Sie konnte es rufen, die edle Frau, in dem furchtbaren Krampfe, in den Schreck und Angst sie geworfen hatten, der alle ihre Glieder schüttelte. Es war der Krampf und der Kampf ihres Todes. Konnte der Gatte sie in diesem Kampfe verlassen?

„Margaretha, mein Weib, mein Alles, stirb nicht!“

Er beugte sich über sie; er umfaßte sie, dem Krampfe zu wehren, den Kampf zu mildern.

„Gnädiger Herr, ich beschwöre Sie!“ rief der Diener.

Er erhielt keine Antwort.

„Ich beschwöre Sie bei Allem, was Ihnen heilig ist,“ rief er noch einmal. „Da sind die Verfolger.“

Er stürzte zu dem Krankenbette, zu dem Freiherrn. Die Verfolger waren da. Sie waren wie im Sturm an die Thür des Vorzimmers geflogen und fanden sie verschlossen. Drei Kolbenstöße stießen die Thür ein. Bewaffnete Gensdarmen drangen in das Zimmer, rannten hindurch zu der Thür des Krankenzimmers. Der Verräther hatte sie von Allem unterrichtet, mit Allem bekannt gemacht. Der alte Mönch hatte sich vor die Thür gestellt und trat ihnen entgegen.

„Zurück! Dort liegt eine Sterbende! Zurück im Namen des allbarmherzigen Gottes, den auch Ihr in Eurer Sterbestunde anrufen werdet.“

Man hörte nicht auf ihn. Er wurde zur Seite gestoßen. Die Thür des Krankenzimmers war von innen verriegelt. Der Kammerdiener hatte es gethan; er hatte die Gegenwart seines Geistes nicht verloren. Die Thür wurde mit dem Kolben eingestoßen, wie die erste. Die Verfolger waren in dem Krankenzimmer.

Der Freiherr hatte noch seine Arme um die Sterbende geschlungen. Der treue Diener suchte ihn von ihr fortzureißen, aber er konnte es nicht. Die französischen Gensdarmen hatten ihn schon gefaßt und rissen ihn von ihr. Sie konnten es und schleppten ihn fort.

Der Diener stürzte hinter ihnen her, als wenn die Ohnmacht noch etwas retten könne aus den Klauen des Verraths und der Gewalt. Die Sterbende stieß einen durchdringenden Schrei aus. Der Mönch trat an ihr Bett. Eine Todte lag vor ihm. Die arme Frau hatte ausgerungen, war erlöset von ihrem Schreck, von ihrer Angst, von allen ihren Leiden. Der Mönch kniete nieder am Bette und betete still für die Seele seiner todten Verwandten.

Der Arzt und der Hauptmann kamen aus dem geheimen Gange hervor. Sie sahen die Leiche und den still vor ihr auf den Knieen betenden Mönch. Sie standen unwillkürlich schweigend. Da kehrte der alte Diener Conrad in das Zimmer zurück. Sein Gesicht war leichenblaß.

„Kommen Sie,“ sagte er zu dem Hauptmann und zu dem Arzte. „Retten können Sie nicht mehr. Der Fluch dieses unglücklichen Hauses muß in der heutigen Nacht sich ganz erfüllen; aber kommen Sie.“

Sie folgten dem alten Diener. Der Mönch betete still weiter. Nach einer Weile öffnete sich leise die Thür. Die Kammerfrau der Verstorbenen trat ein. Ihr verweintes Gesicht war zugleich verstört.

„Herr Pater, Sie möchten zu dem runden Thurme kommen.

Der alte Conrad läßt Sie dringend bitten. Ich werde unterdeß bei der Leiche beten.“

Der Mönch erhob sich und verließ das Zimmer. Die Frau kniete an seiner Stelle nieder.

(Schluß folgt.)




Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.
Nr. 6. Weltkind und Propheten beim Schmaus in Koblenz.

„Götz von Berlichingen“ ist erschienen, die „Leiden des jungen Werther’s“ sind ihm vor Kurzem gefolgt und haben die tiefste und gewaltigste Wirkung geäußert, die je ein Dichterwerk auf das deutsche Publicum ausübte; der Autor, der junge Doctor juris Wolfgang Goethe in Frankfurt a. M., ist der literarische Held des Tages. Aus allen Frauen- und Mädchenaugen in Deutschland fließen ihm in Bächen Thränen der Rührung, des Dankes und der Bewunderung, nicht weniger aus denen empfindsamer Jünglinge. Im simplen weißen Kleide mit Rosaschleifen an Brust und Schultern wandeln zarte Damen, das geliebte schmerzensreiche Buch in der Hand, an des Flusses Ufer und suchen auch wohl hie und da in solchem Aufzug in den Wellen das Ende ihrer Leiden, und gefühlvolle Cavaliere in blauem Frack, gelben Hosen und Stulpstiefeln wälzen düstere Pläne im liebesgramzerrissenen Herzen und liebäugeln mit ihren Pistolen. Vergebens wähnt Herr Nikolai in Berlin mit plumpem nüchternem Spott den Strom zu dämmen. Es bekommt ihm schlecht; denn der, der jene Thränen quellen machte, versteht es nicht minder, solche Trümpfe durch ganz andere zu übertrumpfen und den armseligen Spötter mit einem einzigen humoristischen Keulenschlag zu Boden zu strecken. Des Dichters Herzensthränen, die er einst in Wetzlar weinte, als er sich losriß am letzten Abende und jenen Zettel schrieb: „Er ist fort, Lotte, wenn Du dieses liesest,“ sind längst getrocknet. Er „wandelt“ nicht mehr „in Wüsten, da kein Wasser ist“, wo „seine Haare ihr Schatten sind und sein Blut sein Brunnen“, wie er ehedem noch von Frankfurt nach dem geliebten „teutschen Hause“ an der Lahn schrieb. Er hat sein beliebtes „Hausmittel“ angewandt, um sich zu heilen von Schmerz und Verwirrung, und vortrefflich

[597]

Lavater, Goethe und Basedow beim Mittagessen in Koblenz.

[598] hat es sich an ihm bewährt. Seine „Generalbeichte“ hat er in einer der herrlichsten seiner Dichtungen abgelegt, und nun ist seine Seele frei, und keine Wolke düstern Grams und finstern Brütens mehr verdunkelt ihren sonnigen Glanz. Während ihm ringsum die empfindsamsten Thränen fließen, lacht er sein übermüthigstes gesundestes Lachen, schreibt er bei einer Flasche Burgunder sein „Götter, Helden und Wieland“ in einer Sitzung nieder und ergießt über alles Schwächliche, Kleine, Marklose, wo es an ihn und seinen Kreis herantritt, die volle Schale seines erbarmungslosen poetischen Spottes, wie in Pater Brey, Satyros, den neuesten Offenbarungen und dem Jahrmarkt zu Plundersweilen.

Dasselbe volle schöne Feuer der Jugend in seinen Adern, dieselbe Gluth in seinem Herzen wie nur damals in der seligen Zeit zu Straßburg, als er sich auf’s Pferd warf und in die verhüllte Mondnacht hinaussprengte auf der lieb bekannten Straße nach Sesenheim hin; aber alles Empfinden und Denken ist so viel reicher und reifer, die innere Gewißheit stolzer und gewaltiger Schöpferkraft so viel sicherer, und mit freier Klarheit schwebt sein Geist über den Dingen, einer Klarheit, von der seine unerreichten Recensionen aus jener Zeit in den Frankfurter gelehrten Anzeigen noch als ein bewundernswürdiges Zeugniß gelten können. –

In jener glücklichen Lebensperiode traf viel Besuch im stattlichen Hause am Hirschgraben zu Frankfurt ein, oft mehr, als es der Frau Rath zuweilen lieb sein mochte, deren Küche und Keller den Ruhm des großen Sohnes theuer genug zu büßen hatten. Jedes Mitglied der großen deutschen Gelehrten-, Literaten- und Dichterrepublik, das Frankfurt passirte, traf natürlich mit dem Autor des Werther zusammen, und selbst in der kühlen, maßvollen und bereits etwas geheimräthlich Goethisch abgefaßten Schilderung jener Zeiten in „Wahrheit und Dichtung“ empfängt man noch auf’s Lebhafteste den Eindruck jenes bunten, wechselnden, unruhigen Treibens mit seinem Kommen und Gehen, mit seinen Reisen und Ausflügen hier- und dorthin, Bekanntschaften, schnell geschlossenen Freundschaftsbünden, Geschäften, Arbeiten und mannigfachsten Vergnügungen, in dessen Wirbel er unaufhörlich hineingerissen wurde, ohne doch von der überlegenen Klarheit seines Kopfs dadurch das Mindeste einzubüßen.

Der liebste und wichtigste dieser Frankfurter Besuche, bei dessen Bericht er noch dreißig Jahre später mit so ganz besonderer Liebe und gemüthvollem Behagen verweilt, ist der von Lavater. Wir brauchen nicht erst zu sagen, welche gefeierte Persönlichkeit Johann Caspar Lavater, der Pfarrer an der Peterskirche in Zürich, einst war, als er den Versuch machte, die Physiognomik d. h. die Deutung des menschlichen Geistes und Charakters aus der Bildung des Gesichts, zur Wissenschaft zu erheben, und durch eine gewisse sentimentale Auffassung des Christenthums für Hunderte von „schönen Seelen“ ein Gegenstand schwärmerischer Verehrung wurde. Die Bekanntschaft beider Männer war bereits längere Zeit vor der persönlichen Begegnung durch einen lebhaften Briefwechsel zwischen Beiden, dem gefeierten Theologen und Propheten und dem Dichter, eingeleitet. Lavater machte eben ernstliche Anstalten zu seiner Physiognomik, deren Einleitung schon früher in das Publicum gelangt war. Dies Unternehmen versetzte die damalige Welt in die tiefste Aufregung, die nicht allein dem Grundgedanken dieser neuen Theorie der Menschenkunde, sondern mehr noch dem eigenthümlichen Umstand entsprang, daß Lavater alle Welt zu einer Art von persönlicher Mitarbeiterschaft heranzuziehen bemüht war. Er wurde nicht müde, von Jedermann, von Berühmten und Namenlosen, Schattenrisse ihrer Profile zur Einfügung in sein Werk zu verlangen, und diesem Appell an die allgemeine menschliche Eitelkeit ist in einer Zeit, wo die Silhouette so üppig wucherte, wie heut nur die photographische Visitenkarte, wohl in überschwänglichster Weise entsprochen worden. Eine der wunderlichsten Schrullen lag jedenfalls einer andern von Lavater ausgehenden Aufforderung an Bekannte und Unbekannte zu Grunde, der: ihm Christusköpfe eigener Zeichnung, gleichgültig, ob der Betreffende überhaupt zeichnen könne oder nicht, zu übersenden. Aus der Art, wie sich der Zeichner den Heiland vorstellte, glaubte Lavater die sichersten Rückschlüsse auf Charakter und Geistesart des Darstellers machen zu können. Dabei scheint er sich des komischen Irrthums völlig unbewußt gewesen zu sein, daß einmal die Phantasie des nicht künstlerisch befähigten oder ausgebildeten Menschen gar nicht eine ganz bestimmte Gesichtsform in ihrer Gesammtheit und ihrem Detail aus sich zu erzeugen und er andererseits noch viel weniger dieselbe ihrer Vorstellung gemäß auf’s Papier zu bringen vermag.

Im Frühling jenes Jahres 1774 hatte er Goethe angekündigt, daß er auf einer vorzunehmenden Rheinreise Frankfurt und ihn selbst zu besuchen gedenke. Die Nachricht verbreitete sich bald und verursachte „die größte Bewegung im Publicum“. Die frommen christlichen Kreise, in denen der Geist des alten Pietismus vielfach noch so lebendig herrschend und wirksam war, sahen mit dringendem Verlangen dem Kommen des begeisterten und begeisternden Herzenskündigers und Predigers entgegen, der von Gott mit der wunderbaren Kunst begnadigt war, in den Gesichtern wie in den Seelen untrüglich zu lesen, der sich eines fast leibhaftig unmittelbaren Verhältnisses mit seinem Herrn und Heiland, des directen thätigen Eingreifens in sein Leben und Sein durch denselben, mit voller reiner Ueberzeugung rühmen zu dürfen glaubte. „Alle waren neugierig einen so merkwürdigen Mann zu sehen; viele hofften für ihre sittliche und religiöse Bildung zu gewinnen; die Zweifler dachten sich mit bedeutenden Einwendungen hervorzuthun; die Einbildischen waren gewiß, ihn durch Argumente, in denen sie sich selbst bestärkt hatten, zu verwirren und zu beschämen, und was sonst alles Williges und Unwilliges einen bemerkten Menschen erwartet, der sich mit dieser gemischten Welt abzugeben gedenkt“. Dann kam er selbst, und mit dem Ausrufe, in dessen wenigen Sylben der ganze Styl der Stürmer und Dränger, der „Kraftgenies“ jener siebziger Jahre zu Tage tritt, mit: „Bist’s“ und „Bin’s!“ von seiner und Goethe’s Seite lagen sie sich in den Armen. Aber „sonderbare Ausrufungen“ Lavater’s verriethen bald jene Täuschung, auf die ich oben hinwies: die Wirklichkeit der Erscheinung entsprach nicht dem selbsterzeugten Phantasiegebilde; er hatte sich den Dichter des Götz und Werther anders zurecht gemacht gehabt, und es kostete Mühe und Scherz genug, ihn mit dem Bilde zu versöhnen, das „Gott und der Natur zu machen nun einmal gefallen habe“. Und wahrlich, diese beiden hatten es in diesem Fall doch gewiß gut genug gemeint und gemacht!

Die Unterhaltungen, die er mit dem Gast führt, und die, deren Zeuge er ist, werden für den Dichter höchst merkwürdig und folgenreich. Er sieht ihn überall „seine Wirkungen in’s Weite und Breite ausdehnen“, durch Belehrung und Unterhaltung die Wohlwollenden bezaubern, die Feindseligen entwaffnen und zurückweisen. „Die tiefe Sanftmuth seines Blicks, die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtönende treuherzige Schweizer Dialekt und wie manches Andere gab Allen, zu denen er sprach, die angenehmste Sinnenberuhigung; ja seine bei flacher Brust etwas vorgebeugte Körperhaltung trug nicht wenig dazu bei, die Uebergewalt seiner Gegenwart mit der übrigen Gesellschaft auszugleichen.“

Keinem bedeutenden Manne, der zunächst die idealen Gemüthssaiten zu berühren und in Schwingung zu setzen verstand, hat es je an einem getreuen andächtigen Gefolge zarter Frauen und Weiblein gefehlt, die an seinen Lippen und Augen hingen, den Spuren seiner Tritte folgten und allezeit bereit waren, sei es seine Füße zu salben und mit ihren schönen Haaren zu trocknen, sei es die Stücke Zeugs aus den Polstern zu schneiden, auf denen er geruht, und selbst das kleinste Partikelchen davon als geweihte Reliquie auf dem zärtlichen Herzen zu tragen. Solch eine holde Schaar hat auch den Propheten von Zürich auf Wegen und Stegen umringt. Sie drängten sich in Frankfurt in die Zimmer, die man ihm eingeräumt, und untersuchten besonders mit frommer Aufmerksamkeit das Schlafcabinet, was den Mephistopheles Merck zu der Motivirung veranlaßte: „die frommen Seelen wollten doch sehen, wo man den Herrn hingelegt habe.“

Goethe wollte die Gelegenheit, des Zusammenseins mit dem bedeutenden Manne froh zu werden, so gründlich wie möglich ausnützen. Er schloß sich Lavater an, als dieser seine Reise nach Ems fortsetzte. Von Gesellschaft aller Art umringt, ließ er ihn dort zurück, als ihn seine Geschäfte in die Vaterstadt Frankfurt zurückriefen. Aber hier stand ihm eine neue Unterbrechung seiner Ruhe und Thätigkeit bevor. Ein zweiter Prophet, der mit seinem lebendigen Worte die Welt zu gewinnen, aber zu Zwecken ganz anderer Art dienstbar zu machen gedachte, ein dem ersten in jedem Zuge seines Wesens ganz entgegengesetzt Gearteter traf ein: Basedow. Auch er bedarf keiner Einführung bei unsern Lesern. Die von ihm nach Rousseau’schen Principien zu Dessau begründete, obschon nur kurze Zeit von ihm geleitete Erziehungsanstalt, das Philanthropin, hat, trotz vieler Abirrungen, wesentlich dazu beigetragen, einer naturgemäßern gesündern Pädagogik Bahn zu brechen.

[599] Nichts kann für die schöne Eigenschaft des Goethe’schen Gemüths und Geistes, auch dem Fremdesten sein Recht werden zu lassen und jeder noch so wunderlichen Individualität nicht nur gleichmütiges Ertragen, sondern auch liebevolles Eingehen auf ihre Eigenart zuzuwenden, deutlicher zeugen, als die nahen herzlichen Beziehungen, in welche er sich alsbald zu dem seltsamen und originellen Manne gesetzt hat. Der leidenschaftliche rücksichtslose Ketzer, den Hamburg und Lübeck in den allerchristlichsten Bann gethan hatten, der cynische Verächter jeder geselligen Rücksicht, der rauh und höhnisch, muthwillig selbst das Wohlwollen zerstörte, das ihm und seinem großen Unternehmen, der Reform des Erziehungs- und Unterrichtswesens, entgegengebracht wurde, dieser unreinliche, schönheit- und grazienlose Antagonist seiner eigenen Natur, wurde ihm schnell genug Object eines kaum minder warmen und lebendigen Interesses, als das, mit welchem er den schwärmerischen, glaubensseligen, an Leib und Seele edel und zart gebildeten Schweizer Propheten umfaßt hielt. Basedow hatte damals eben sein berühmtes „Erziehungswerk“, das „Elementarbuch für die Jugend und für ihre Lehrer und Freunde“ mit den Chodowieckischen Kupfertafeln zum Abschluß gebracht, das im Lauf desselben Jahres in Altona erschien. Von thätigen und begeisterten Förderern seiner philanthropischen Lehren in ganz Europa bereits mit bedeutenden Summen zur Ausführung dieses Werks unterstützt, bereiste er nun Deutschland, um mehr und mehr noch die Herzen und ebenso die Beutel zu weiterer Unterstützung der großen Sache, besonders behufs ihrer thatsächlichen praktischen Verwirklichung und Erprobung, zu erschließen. Goethe’n wollten seine Pläne wenig einleuchten, und verkehrter erschien ihm noch die oft so widersinnige Art, mit welcher Basedow seine Gönner weit eher tief zu verletzen, als ihre Gunst zu steigern oder neue bei den Menschen zu erwerben bemüht erschien. Aber das so wenig, als seine mancherlei höchst widerlichen Manieren, selbst die ihn ewig umhüllende Wolke von schlechtem Tabaksqualm und der entsetzliche „Stinkschwamm“, mit dem er seine Pfeife anzündete, konnten ihm die Benutzung der „herrlichen Gelegenheit, sich, wo nicht aufzuklären, doch gewiß zu üben,“ verleiden. – In einem Wagen fuhr er mit ihm in die sommerliche schöne Welt hinein. In Ems fanden sie Lavater; auch dieser bei aller Glaubensstärke und Leidenschaft so milde Mann weiß den Cyniker mit den kleinen scharfen schwarzen Augen unter struppigen Brauen, dem höhnischen Lachen, der rauhen Stimme, der schlechten Perrücke auf dem trotzigen Kopf wohl zu ertragen und in seiner Tüchtigkeit zu schätzen. Die seltsam zusammengefügten Drei leben in bester Eintracht ein an Genuß und hochfliegender Geisteserregung überreiches Leben.

Mit fast jugendlichem Behagen, das jeden Leser mit ergreift, schildert der sechzigjährige Dichter die Scenen jener tollen Tage seiner brausenden Jugend, die Lust, den Uebermuth, mit dem er den süßen Schaum des Daseins schlürfte, und die herrliche feurige Rüstigkeit des Geistes, die ihn in jeder Pause „nach rasch durchrastem Tanze“ auf der Stelle im tabaksqualmigen Zimmer des Philosophen alle höchsten Fragen des Gedankens zu discutiren befähigt. Sie fahren zusammen die Lahn herunter. In Koblenz, wo sie landeten, war der Zudrang groß, jede der drei Berühmtheiten erregte in ihrer Art Antheil und Neugierde. Dort an der Mittagstafel des Hotels fand jene heitere charakteristische Scene statt, welche unser Holzschnitt illustrirt, anlehnend an Goethe’s eigne poetische Schilderung derselben in Knittelversen, welche sie unsterblich gemacht hat.

„Zwischen Lavater und Basedow saß ich bei Tisch meines Lebens froh.“ Ersterem mochte der zudringende Eifer seiner Verehrer und Verehrerinnen nur geringe Muße lassen, sich mit dem Hauptzweck eines Diners zu beschäftigen. Mit „einem Pfarrer an seiner Seit’“ ist er gar bald in eifrigen Erörterungen begriffen. Ueber dem unerschöpflichen Lieblingsthema aller inspirirten Propheten, der Offenbarung Johannis, dem Buch mit sieben Siegeln, hat er schnell genug Speise und Trank vergessen; er „entsiegelt die Siegel kurz und gut, wie man mit Theriaksbüchsen thut,“ und malt das ganze himmlische Jerusalem, als ob er es gemessen und aufgenommen hätte, „dem hocherstaunten Jünger vor“. Wie mögen die anwesenden frommen und schönen Seelen, Damen und Cavaliere, sich um den vom Herrn Berufenen und Erwählten geschaart und dem sanften Strom seiner heiligen Rede gelauscht haben! Sein junger übermüthiger Freund an seiner linken Seite aber „war indeß nicht weit gereist, hatte einen Salmen aufgespeist.“ Und diesem wieder zur Linken war auch Vater Basedow auf sein altes Steckenpferd gestiegen, hatte „einen Tanzmeister an seiner Seit’“ gepackt und all seine verfehmten und verdammten Ketzereien über die Kindertaufe und andere Dogmen zum Entsetzen der rechtgläubigen Seele dieses und der übrigen Tischnachbarn ausgekramt. Alle Protestationen: „es wüßte ja ein jedes Kind, daß es in der Bibel anders stünd“, verfangen nicht gegen den heterodoxen Eiferer, und – auch er hat Glas und Teller kaum berührt, während der große Realist neben ihm „behaglich unterdessen hat einen Hahnen aufgefressen.“

„Und nun nach Emmann weiter ging’s
Mit Geist- und Feuerschritten.
Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten.“

so schrieb er gleich darauf in ein Stammbuch und bewahrte uns so für immer die Erinnerung an diesen „wunderlichen Mittagstisch“ und an die Laune und überschäumende Jugendlust des „herrlichen Gottesmenschen“, der dort zu Tafel saß. –

Welche verschiedene Bedeutung für die Nachwelt war dem in Koblenz schmausenden Triumvirate bestimmt! Lavater, der schwärmerisch Verehrte, der Vielumdrängte, der Angebetete, ist schon lange vergessen, sein großes Werk, die Arbeit seines Lebens, verstaubt ungelesen in den Bibliotheken; Basedow, der feurige, excentrische Jünger Rousseau’s, der Vorläufer Pestalozzi’s – wer denkt noch seiner, wenn auch manche seiner Ideen und Anregungen uns zu gute gekommen sind und fruchtbringend wirken für die Generationen nach uns, – das Weltkind aber, das in Mitten saß, zwischen dem Propheten rechts und dem Propheten links, der überschäumende junge Frankfurter Doctor Juris und Advocat, ist unser gewaltiger Dichterkönig geworden, der nimmermehr vergessen und – nimmermehr übertroffen werden wird, so lange die deutsche Zunge klingt.




Die Poesie unserer vier Wände.
Der kleine oder häusliche, der gelehrte, der gemüthliche und der elegante Comfort.


Ein verdienter Arzt hat in diesen Blättern in umfassender Weise dargelegt, wie unsere Wohnungen den Anforderungen der Gesundheitspflege gemäß einzurichten sind, wir wollen nur davon sprechen, wie wir sie schön und bequem einrichten können; also dort ärztlich, hier ästhetisch, wird Rath ertheilt. Nichts wäre thörichter, als Jedem denselben Comfort zur Bedingung zu machen; das hieße Jedem anrathen denselben Schnitt des Kleides anzunehmen, unbeachtet ob er für seinen Körper passe, oder es hieße auch behaupten, eine gute Wohnung sei nur in einem Exemplar vorhanden, da sie es doch in tausenden ist, denn die Regeln der Schönheit und des Nutzens sind in unendlich kleine Theile auflösbar und bleiben doch immer Regeln der Schönheit und des Nutzens. So wohnt ein Gelehrter ganz anders schön und bequem als ein reicher Lebemann, und dieser wieder anders, als ein feiner Kunstkenner und Sammler, und von der Wohnung des letztern unterscheidet sich die gute bürgerliche Ausstattung, die man auch die häusliche nennen kann, denn in ihr tritt das „Haus“ am deutlichsten hervor, mit so wenig als möglich Benutzung von Luxus- und Ueberfluß-Elementen. Es sei uns erlaubt vier Arten schöner und zweckdienlicher Behausungen anzugeben, oder vier verschiedener Comforts: erstens den kleinen oder häuslichen Comfort, zweitens den gelehrten, drittens den gemüthlichen, und viertens den eleganten Comfort. Alle diese vier Arten sind in unserer modernen Stubenexistenz auf gleiche Weise vertreten, und wir würden sehr Unrecht thun, wollten wir eine auf Kosten der anderen beeinträchtigen oder herabsetzen; sie sind alle gleich beachtenswerth, und jede fordert, daß man sie recht auffasse und darstelle.

[600] Der häusliche oder bürgerliche Comfort besteht in der Einrichtung eines Hauses vollkommen den Bedürfnissen gemäß, die ein wohlgeordneter, auf mittlen Wohlstand gegründeter und durch Ausübung irgend einer erwerblichen Thätigkeit erhaltener Hausstand bedingt. Hier ist Zweckmäßigkeit jeder Einrichtung die erste Pflicht, und Ordnung und Sicherheit sind die zunächst zu beachtenden Erfordernisse. Doch läßt sich auch hier ein Comfort denken, der das Vorhandene und Unabweisbare so ordnet und zusammenstellt, daß dem Gesetze der Schönheit und der Bequemlichkeit genügt wird. Niemand wird im Hause eines kleinen Handwerkers oder niedern Beamten den Kupferstich nach der Sixtinischen Madonna suchen, aber wohl wird das Auge eine reinliche, gut erhaltene Wand vermissen, wenn sie fehlt. Fauteuils und Chaiselongues sind nicht am Platze, dagegen ziert das Gemach ein gutgearbeiteter, sauber überzogener Sorgenstuhl für den Vater, und zwar an das helle Fenster gerückt, damit der Blick des ermüdeten Mannes, der aus der Enge des Bureaus oder aus dem Wust und Getriebe der Werkstätte kommt, sich an dem freien Blick auf das Gärtchen am Hause oder, wo dieses nicht vorhanden, auf das bunte Treiben der Straße erholen kann.

Die Hausfrau stattet sich ihre Kammer nach eigenem Geschmack aus; die reinlichen Wandschränke, welche die Producte des Fleißes und der Sparsamkeit einschließen, glänzen nicht von Palissander und Mahagoni, wohl aber von festem Eichen- oder anderem sauber gehaltenen und frischpolirten Holze. Der Raum dieser Kammer ist klein; dennoch aber sind die Gegenstände, die darin stehen müssen, weil in den anderen Zimmern für sie kein Platz ist, so vertheilt und jeder freie Raum so sorgsam für sie benutzt, daß sie dem Auge einen angenehmen Eindruck machen. Man erblickt sofort, daß hier Zweckmäßigkeit zugleich mit dem Bestreben waltet, das Gefällige und Zusammenstimmende durch Entfernung jeder Ueberladung und Zerstückelung hervorzubringen. Der Weg durch alle Zimmer ist frei; nirgends steht ein ungehöriges Möbel in der Mitte der Stube, oder ist so gestellt, daß der Herumwandelnde an eine scharfe Kante sich stoßen kann. Die kleinen Vereinigungsplätze der Familie können auch im Dämmerlichte gefunden werden. Der Blumentopf am Fenster hat seinen bestimmten Platz, über ihm der Käfig mit dem Vogel, und zwar hängt der Käfig so, daß selbst der Vater, wenn er den Hut auf hat, nicht daran stößt; denn nichts ist widriger als mit dem Hut, wenn er gar noch ein neuer ist, an irgend ein Ding zu rühren, das zu niedrig herabreicht.

Zum Comfort eines solchen Hauses gehört, daß die Thüren und Fenster gut schließen, denn weder will man den Lärm von der Straße, noch deren Staub im Hause haben. Der eine Ofen, der die ganze Familienstube erwärmt und wohl auch als Filialinstitut ein paar Schlafkammern nebenan, ist von eben so kernhafter Constitution wie von erprobter Tüchtigkeit. Er ist in Wintertagen die Stütze des Hauses und der Hauptträger des Comforts. Nirgends sitzt die Hausfrau lieber, als auf dem zierlichen Armstuhl aus Korbgeflecht, der sammt dem Bänkchen, das zu ihm gehört, seinen bestimmten Platz in einiger Entfernung vom Ofen hat und ebenso wenig aus der Stelle gerückt werden darf, wie der Sorgenstuhl des Vaters. Da kein eignes Garderobe- und Toilettenzimmer da ist, so hängen die nothwendigen Kleidungsstücke für den Hausvater so, daß er sie auf kürzestem Wege erreichen und der wärmende Hausrock so schnell wie möglich den abgelegten Straßenanzug ersetzen kann; die Pantoffeln haben ihre eigene Stelle, so wie das Käppchen immer über derselben Stuhllehne, leicht erfaßbar, hängt. Für den Gast giebt es besondere Plätze, ein Stuhl der herangeschoben wird und der seinen Platz wieder an der Wand oder in der Ecke einnimmt, wenn der Gast fort ist. Auch dem Gaste muß behaglich zu Muthe werden, der Geist der Ordnung, der Ruhe, der Bequemlichkeit muß selbst wider Willen den umherfahrendsten, unruhigsten und unordentlichsten Gast fesseln. Das ist der Segen des Comforts, daß er jede häusliche Tugend begünstigt. Ein Mann, der in seinem Hause sich wohl fühlt, wird nicht streben außer demselben seine müßige Zeit zuzubringen, und schon in diesem Umstand allein liegt ein Segen für jede Familie und jeden häuslichen Verein.

Wir wollen unsere kleinbürgerliche Wohnung noch weiter betrachten. Sollen wir Gemälde in Rococorahmen, Spiegel in Bronze-Einfassungen hineinwünschen? Gewiß nicht, denn der schlechteste Bronzerahmen fordert schon zur Gesellschaft eine Tapete, ein Spiegeltischchen, eine Console und Portieren, und all dieser Plunder macht mit einem Schlage die ganze gute Einrichtung unseres Mannes zu nichte. Sei es immerhin, daß die Menge der Fabriken diese Luxusgegenstände jetzt für so geringen Preis liefert, daß selbst ein knapp zugeschnittener Haushalt sie allenfalls noch erreichen kann; doch sie sind in dem Maße schlecht, wie sie billig sind, und vor allen Dingen gehören sie nicht zum Comfort eines solchen Hauses. Aber was unser Mann sich anschaffen kann und anschaffen muß, sind gute, derbe, handfeste Möbeln, helle und große Fensterscheiben, glatte reinliche Wände, weiße Vorhänge ohne allen Flittertand, frisch erhaltene Fußböden, hier und da, namentlich bei dem Sorgenstuhl des Vaters und unter dem Tische, an dem die Familie gewöhnlich zu Mittag und zu Abend Platz nimmt, mit Teppichen belegt; denn eine warme Fußdecke ist kein Luxus, sondern gehört zum Comfort.

Ein paar gute Lithographieen, dazu die photographirten Portraits des Hausherrn und seiner Frau, geben der Wand einen Schmuck, der vollkommen dem Orte gemäß ist. Eine Landkarte, besonders eine Specialkarte des Heimathlands oder vom eben existirenden „Kriegsschauplatze“, ist, in dem bescheidenen Winkel am Ofen angebracht, ein gar anmuthiges warmes Belehrungs- und Zerstreuungsplätzchen, wo der emporwachsende Sohn des Hauses bald diese, bald jene Straße und Stadt aufsucht, die er einst auf seiner Wanderschaft zu besuchen gedenkt, oder das Gespräch mit dem Gaste sich, wie dies in der Regel geschieht, auf die Tagesgeschichte verläuft, auf Siege und Niederlagen. Da ist die Karte nun wieder ein trefflicher Wegführer, während die Mutter aus dem reinlichen und gut gelüfteten Eckschrank die Kaffeetassen herablangt und damit jenes vielsagende und wohlklingende Geklapper anfängt, welches auf baldige Genüsse deutet. Dies ist ein bürgerlicher oder häuslicher Comfort, der in seinen Grenzen streng eingehalten werden muß. Er würde ja sogleich seinen Charakter verlieren, wenn er nur ein Geringes in die anderen Arten des Comforts hinüberspielte, namentlich sich gelüsten ließe, in den eleganten Comfort hinüberzugreifen; denn dieser ist, wie wir zeigen werden, nur mit großem Reichthum erreichbar, seine kleinliche Nachahmung aber bringt überall das Fratzenhafte, Ungehörige, Unbequeme und Geschmackwidrige hervor.

Wir fassen jetzt die zweite Gattung Comfort, den gelehrten, in’s Auge. Der Hauptsatz, der gleichsam als Motto an der Thür steht, lautet: Hier heißt Ordnung, was überall anderswo Unordnung heißt. In diese Stamm- und Urregel des gelehrten Comforts müssen wir uns vor allen Dingen fügen, wenn wir ein Wort über diesen Gegenstand sprechen wollen. Der gelehrte Comfort ist ein schreiender Contrast zu dem vorhergeschilderten bürgerlich-häuslichen. Dort ist Alles Ruhe, Ordnung, Sicherheit; hier Unruhe, Unordnung, Unsicherheit, und doch ist’s ein Comfort, das heißt Der, welcher hier wohnt, will gerade so wohnen und nicht anders, sein Zimmer ist also sein Kleid, und wo das Zimmer das Kleid ist, da ist Comfort vorhanden. Versucht es, rückt einen Stuhl an die Wand, wo er eigentlich hingehört, legt ein Convolut Papier auf den Tisch, statt daß es auf dem Boden liegt, und ihr werdet sehen, mit welcher feurigen Miene des Zorns der Gelehrte, der von einem Gange heimkehrt, sein Zimmer betritt. Das Erste ist, daß er das Convolut wieder auf den Boden schleudert, den Stuhl in die Mitte des Zimmers rückt. Versucht es, einen Vorhang am Fenster zu befestigen, wählt ihn von dem schönsten Stoffe, und ihr werdet erfahren, daß der Gelehrte, so wie ihr den Rücken gekehrt habt, mit Gefahr seines Lebens auf zwei aufeinander gestellte Tische klettert, um mit eigenen Händen den Vorhang herabzureißen, der ihm das Zimmer verfinstert und gerade an die Stelle der Wand einen Schatten wirft, wo eine kleine Copie nach Murillo hängt, auf die er zwar nie seinen Blick richtet, die aber doch sichtbar sein muß, im Fall es ihm einfiel, jemals den Blick dahin zu lenken. Und überhaupt, was ist einem Gelehrten ein Vorhang? Ein lästiger Lappen, der hin- und herschwankt und im Winde sich aufbauscht wie ein Segel, wenn er nicht befestigt wird, und er wird nie befestigt.

Alles, was nicht Bücher, Manuscripte, Sammlung, Curiosität ist, führt für unsern Mann nur eine störende Existenz herbei. Von einem bequemen Polsterstuhl dagegen ist er ein großer Freund; der muß aber tief und breit sein und auf Rollen stehen, damit man sich mit einem Buche in der Hand hineinwerfen, damit man bald über diese, bald über jene Armlehne das Bein hinüberschwingen kann. Zu Zeiten hockt er mit ganzem Körper im Stuhle, zu andern Zeiten liegt er knieend [601] darin und hat den Folianten, in dem er gerade studirt, auf die Lehne, wie auf ein Beipult gelegt. Weiche Teppiche über das ganze Zimmer sind nothwendig, denn der Gelehrte macht barfuß Abends vor dem Zubettgehen eine kühlende Promenade über den weichen Rasen der Wollenfäden. Das ist ein kleiner lucullischer Genuß, der sein Gutes auch für die Gesundheit hat, denn die Füße, die den Tag über in der engen Stiefelumhüllung stecken, machen ihre Gelenkigkeit und Ausdehnbarkeit geltend und sammeln Kräfte für den morgenden Stiefelzwang. Der Morgen- oder Schlafrock des Gelehrten ist ein Priesterrock der Bequemlichkeit, denn in ihm ist Alles vereinigt, was je die menschliche Kleidertracht an flatterndem Wesen, an Weite, an Fülle der Falten, mit einem Worte an Bequemlichkeit aufzutreiben hat. Seine Absicht ist, die leicht gehaltene Beinbekleidung zu verstecken, aber er erreicht diese Absicht selten, und noch seltener denkt der Gelehrte daran, seinem Schlafrock zu Hülfe zu kommen, indem er Knöpfe in Bewegung setzt oder ein Schnur fester bindet.

Zum Comfort eines Gelehrten gehört, daß man ihn seinem Staube überläßt, den er einen gelehrten Staub nennt, der aber durch nichts verschieden ist von dem Staube, den man überall studiren kann, höchstens daß dieser Staub die Eigenschaft hat, sich fester an seinen Gegenstand anzuklammern und hartnäckiger den oppositionellen Bestrebungen von Bürste und Besen zu widerstreben. Das wissen zu ihrem großen Leid Hausfrauen und Haushälterinnen zur Genüge. Aber diese Frauen wissen nicht, daß den Gelehrten aus dem Staube emporziehen heißt, ihn seinem Comfort entrücken. Gäbe es ein Mittel, den Staub zu entfernen, ohne auch das geringste Blättchen, Täfelchen und Stiftchen aus seiner Lage zu bringen, so würde der Gelehrte mit Freuden in das Reinigen seiner Zimmer willigen, denn er ist kein Protector des Staubes oder gar der Unreinlichkeit.

Die Wohnung des Gelehrten pflegt eine Anzahl von Gegenständen zu beherbergen, die zum theuersten Luxus gehören, allein sie gehören zugleich zum Comfort des Gelehrten und sind deshalb an ihrem Platze; so Büsten, Gemälde, seltne Zeichnungen, umfassende Sammlungen, vor Allem Bücher. Ueber Aufstellung und Vertheilung dieser Dinge kann man dem Gelehrten, wenn er dabei ein Mann von Bildung ist, manchen Rath ertheilen, den er willig aufnehmen wird, denn er will nicht nur bequem, sondern auch schön wohnen. Nehmen wir an, der Gelehrte sei zugleich Kunstkenner, dabei habe er über bedeutende Mittel zu gebieten, so wollen wir sein Zimmer ungefähr so einrichten. Es muß groß, hell und ein behagliches Viereck sein, denn ein Zimmer mit Tiefe ist ein nothwendiges Bedürfniß für einen Raum, wo viel aufgestellt sein will, ohne daß das Eine das Andere erdrücke oder verdecke. Geben wir dem Zimmer drei hohe und breite Fenster und nur eine Haupt- und eine Seitenthür; dadurch erhalten wir eine breite Wandfläche links von dem Eingange, eine durch die Seitenthüre gebrochene rechts. An der breiten Wand stellen wir zwei Bücherschränke auf, die nicht in die Höhe, wohl aber sehr in die Breite reichen. Die Höhe des obersten Bücherbretes darf nicht die des menschlichen Auges überragen, sonst muß zu Treppen und Bänken die Zuflucht genommen werden, was immer unbequem ist; auch nicht zu tief auf den Boden dürfen die Bücherreihen hinablaufen, da das Bücken beschwerlich fällt. Den frei bleibenden oberen Raum über den Büchern nehmen entweder Gemälde oder Büsten ein; diesen schadet die Höhe nicht, wenn es nicht Miniaturen oder Statuetten sind. Die Bücher selbst ordnet man besser auf freistehenden Bücherbretern an und schließt diese mit einem leicht beweglichen grünen Vorhang; das ist vortheilhafter, als sie in Schränken unterzubringen, deren Glasthüren immer mit einiger Umständlichkeit geöffnet und geschlossen werden, und, offen bleibend, Gegenstände abgeben, an denen man sich stößt. Auf alten Gemälden sieht man diese Art Bücherbehälter, die sich ganz gut ausnehmen. Will man ein Uebriges thun, so legt man den Vorhang in schöne Falten und läßt ihn über eine Stuhllehne niederhängen. Die breite Wand, wollen wir annehmen, hat in ihrer Mitte eine nicht tiefe Nische; dort findet ein schöner Gypsabguß des Diskuswerfers oder der Venus von Milos seinen Platz. An der andern Wand bringen wir ebenfalls Büchergestelle an, soweit dies möglich ist, und nicht minder Büsten und Bilder. Die Cabinetthüre schließt eine grüne Gardine von demselben Stoffe, welcher die Büchergestelle umhüllt; über die Thür, die nicht hoch ist, kommt entweder ein besonders hübsches Cabinetstück, etwa ein Genrebild von Teniers oder van der Werff oder ein Medaillon. Die Wände am Eingang sind zu zierlich gearbeiteten Stendern und pyramidalzulaufenden Gerüsten bestimmt, auf denen geschmackvolle und seltne Bronzen, Antiquitäten, schönes altes Silber und Porzellan, Elfenbeinarbeiten, kleine Miniaturen ausgestellt werden – ein kleines gelehrtes Büffet gleichsam, wo die Gourmandise ein feines Gläschen echten und subtilen Kunstgenusses schlürft. Ueber der Eingangsthür eine Gruppe oder ein Bild, das jedoch nicht das beste der Sammlung sein darf, denn das Licht ist dort schlecht und der Standpunkt des Beschauers ein ungünstiger. Die Wand zwischen den Fenstern füllen Spiegel aus, doch nicht moderne, sondern kleine venetianische Spiegel mit Rahmen von ciselirter Arbeit. Zwar reflectiren diese Spiegel wenig mehr als das Gesicht, allein was thut es? unser Gelehrter ist nicht eitel, zu seinem Gebrauch führt er in seinem Schlafgemach ein minder kostbares und minder gelehrtes, aber dafür desto brauchbareres Glas.

Jetzt ist das Gemach comfortabel meublirt? Nein, noch nicht! Der Leser vergißt, daß wir noch kein Sopha, keine Fauteuils, keine Chaiselongue hingestellt haben, und er wird uns zurufen: wohin? Es ja nirgends Platz. Allerdings nicht an den Wänden, aber wohl in der Mitte des Zimmers. Hier steht ein runder oder ovaler Tisch, bedeckt in unordentlicher Ordnung mit Büchern, Zeichnungen, Mappen, und um diesen Tisch herum gruppirt sich zunächst ein Sopha von großer Tiefe und Weite, mit niedrigen Lehnen, damit nichts hindert, es als Ruhebette zu gebrauchen, je nachdem der Körper diese oder jene Lage wählt. Die Polster sind von Leder, denn es muß sich auf ihnen rasch hingleiten lassen, auch müssen sie eine angenehme Kühle aushauchen, endlich dürfen sie nicht zu weich, sondern müssen eher etwas hart und elastisch sein. Außer dem Sopha sind noch eine Anzahl Stühle, sämmtlich Armstühle, vorhanden, die, auf Rollen, mit der darin sitzenden Person leicht hierhin und dorthin fahren. In der Tiefe des mittlern Fensters steht der Arbeitstisch mit seinen zwei Begleitern, zwei mächtigen Papierkörben. Der Arbeitstisch hat keine Fächer und keine Gerüste, er ist geräumig, um eine große Anzahl Papiere und Bücher zugleich zu fassen. Der Stuhl vor diesem Tische ist ein ungepolsterter, womöglich ein Rohrstuhl, denn es ist ungesund und unzweckmäßig, bei lang anhaltendem Sitzen sich durch Polster zu erhitzen. Das Licht des Fensters ist gedämpft, entweder durch gute Glasmalereien oder durch einen grünen Vorhang, der bis zur Hälfte niederhängt. Auf dem Schreibtisch steht, so daß das Licht gerade darauf fällt, ein Glas mit frischen Blumen gefüllt, oder eine schöne kleine Bronzestatuette. An der Wand, welche den Schreibtisch begrenzt, lehnen besonders zierliche Bilder und Bildchen in kunstvollen Rahmen. Mit diesen wird gewechselt, um neue Schätze der Sammlung dicht vor das Auge des Besitzers zu bringen, dessen Blick, von dem Papier aufschauend, so stets einen anmuthigen Gegenstand der Betrachtung erfaßt. Ist’s in der Jahreszeit der Früchte, so ist neben den Schreibtisch ein Tischchen herangerückt, auf dem eine antike Thonschale, kein moderner vergoldeter Porzellanteller, mit Früchten garnirt, Platz findet. Das ist der gelehrte Comfort. Den Staub und das Durcheinander der Papiere und Bücher muß sich der Leser hinzudenken.

Wenn wir jetzt zur Beschreibung des gemüthlichen Comforts schreiten, so müssen wir nothwendig ein Capitel der Poesie aufschlagen und zwar der Poesie, die jeder Mensch unbewußt treibt, wie etwa in den „Précieuses ridicules“ von Molière die junge Dame Prosa spricht, ohne zu wissen, daß es Prosa ist. Es kann Jemand im Geschäftsverkehr sehr trocken, sehr langweilig sein – geht diesem Manne nach in seine Behausung, und siehe da, ihr findet, daß er Poet ist; ein Poet in der Stille seiner vier Mauern, wo ihn niemand sieht, ihn Niemand stört. Hört den Pedanten nur sprechen, der stets seine Acten, seine Processe im Munde führt, der über die doppelte Buchführung nicht hinaus kann, der Agio, Procente und Dividenden aller möglichen Geldsorten und Werthpapiere mit einer grausamen Geläufigkeit wie am Schnürchen herzusagen weiß, der einfältig dreinschaut, wenn ihr von der Rose und der Nachtigall sprecht – geht ihm nach, wenn er die niedrige Thür seiner kleinen Wohnung öffnet, und ihr werdet den Poeten finden. Und nun gar die Frauen! Diese sind Meisterinnen in dieser Art des Comforts. Welch ein anmuthiges Spiel mit einem Blumentopf, mit einem Stückchen Schleier, das über einem Bilde hängt! mit einem unter zärtlichen Thränen, unter Seufzern im Mondenschein verblühten Kranze, der dort an der Wand angebracht ist über einem Kästchen von Cedernholz, das der Himmel weiß [602] was für eine Reliquie der Freundschaft, irgend ein mystisches Band, ein vergilbtes Atlaskißchen, gefüllt mit „blonden Löckchen“ enthält! Das Alles sind Gedichte: es pulsirt überall ein Herz, es jubelt überall irgend eine Erinnerungsstunde, es hüpft überall ein kleiner Freudenengel. Und die Bewohnerin dieser Kammer ist oft ein ergrautes Mütterchen oder Jüngferchen, dem Niemand die Poesie anmerkt, wie Niemand in der geschlossenen Muschel die Perle sieht.

Dem gemüthlichen Comfort Regeln und Anweisungen zu geben, ist schwer, eben weil er gar so sehr individuell ist, gleichsam identisch mit der Person, für die er da ist. Der Liebhaber des gemüthlichen Comforts nimmt vom Luxus nicht gern etwas an, weil er überall Bedeutung sucht und ihm nichts so zuwider ist, als eine kalte Eleganz, Stoffe und Möbeln, die in ihrer Gleichförmigkeit ihm nichts sagen und in die er nichts hineingetragen hat. Ein Lehnstuhl, auf dem die „Großmutter“ gesessen, ist ihm ein unendlich theures Möbel. Das Stückchen Borde an der Armlehne hat sich abgelöst, weil die Hand der alten Frau oft daran gespielt – o wie köstlich! Was ist dagegen ein moderner Rollstuhl von der erfindungsreichsten Eleganz! Aber der Gemüthliche liebt nichtsdestoweniger das Bequeme. Er liebt still zu sitzen und zu träumen. Also gute, feste, auch schöne Möbel, keine eleganten Möbel, die in gewohnter Ordnung und guter Verfassung stehen, wo sie vor Jahren schon standen. Denn dem Gemüthlichen ist eine Vorliebe für das Stabile zur andern Natur geworden. Ach, es war einst so schön! ruft er, und dieses „War“ rufen ihm seine Geräthe, seine Wände, seine Bilder, seine Polster zu.

Der Grundsatz, nach dem ein Zimmer mit gemüthlichem Comfort zu versehen, ist, recht viel „Winkel“ zu schaffen. Bildet das Zimmer einen großen Raum, so wird er in zahllose kleine Räume getheilt. Das giebt „Etablissements“. Jeder Winkel ist gleichsam eine kleine Erinnerungskapelle für sich, wo irgend ein liebes Bild dominirt und still angebetet wird. Dann eilt der liebe Einsame aus einem Winkelchen in’s andere, und zuletzt bleibt er in einer Epheulaube sitzen, die einen ganzen Tisch voll „Andenken“ und „Erinnerungen“ umgrünt. Wir wollen in der Kürze angeben, wie ein solches Zimmer in viele kleine Zimmer zu theilen ist. Die vier Winkel, vielleicht eine Nische oder ein Erker dazu, sind an und für sich und ohne weitere Vorkehrung kleine Schmollstübchen und Empfindsamkeitssolitüden; sie müssen mit einem Ecksopha, einem runden Tische und zwei oder drei Stühlen darum versehen sein. Eine bewegliche Wand mit Einfassungen von Seide oder Glastafeln trennt die verschiedenen Cabinetchen. Es ist so angenehm dunkel darin. Abends erhellt eine verdeckte Lampe das Winkelchen. Das gegenüberstehende ist ebenso eingerichtet, auch das dritte und vierte; alle haben sie ihre absondernden Schirmwände, die zurückgeschlagen werden können, wenn das Eckchen in dem großen Zimmerraum ausgehen soll. Die Mitte des Zimmers nimmt ein runder Tisch ein, den zwei halbrunde Sophas umcirkeln. Die Fenster haben Blumentischchen oder kleine Epheulauben, vor oder in denen Fauteuils stehen; von der Fensterdecke hängen Körbchen mit Epheu herab, und die Vorhänge schließen dicht, denn es ist zum gemüthlichen Comfort erforderlich, daß es nicht zu hell sei. Ein auf diese Weise ausgestattetes Zimmer kann eine ganze gemüthliche Familie mit einer Anzahl guter Freunde bewohnen. Bald erhalten dann die „Etablissements“ Namen, dann heißt’s: dies ist Charlottens Winkel, dies Theresens etc. Und Charlotte empfängt ihre Freundinnen, Therese die ihrigen in ihrem Etablissement. Es giebt tausend kleine empfindsame Scherze und Neckereien; man lauscht und wird belauscht, Geheimnisse, welche in diesem Winkel gesprochen werden, haben, Gott weiß wie, den Weg in den entgegengesetzten gefunden. Für Leute, die den gemüthlichen Comfort nicht kennen und nicht lieben, ist ein solches Zimmer kaum zu bewohnen; sie finden keinen freien Raum, kein helles Fenster darin, überall stoßen sie sich an Tischen und Stühlen, überall hängt etwas von der Decke herab. Je weiter nach dem Norden, je häufiger trifft man auf diese Art von Zimmereinrichtung; das nordische Klima, die ärmliche Natur und der kurze Sommer machen die Zimmerexistenz und das gesellige Beisammensein zum Bedürfniß.

Um den letztgenannten unserer Comforts, den eleganten, in’s Leben zu rufen, bedarf es eines ungewöhnlichen Reichthums, denn er ist das Höchste und Beste, was man von Zimmereinrichtung kennt. Alles ist hier solid, echt, massiv, und jede Quaste an den Gardinen sagt dem Beschauer, daß hier Tausende – nicht verschwendet – sondern wohl angebracht sind, um ein Vollendetes darzustellen, sowohl an Schönheit, als an Bequemlichkeit. Es giebt indeß einen falschen eleganten Comfort, der eben die Summen aufzehrt, die der echte kostet; man erkennt ihn daran, daß ihm der Hauptbestandtheil des echten fehlt, der gute Geschmack. Ueberladung ist ein sicheres Wahrzeichen des Pseudoelegant. Durch nichts kann man mehr gegen den guten Geschmack sündigen, als durch Ueberladung und durch ungehörige Zusammenstellung. Unsere Zeit neigt zu Beidem. Die Fabriken, die eine große Anzahl Stoffe und Ornamente liefern, haben den Geschmack irre geleitet, indem sie ihm das Reiche, in die Augen Fallende, Ueberhäufte als das Schöne darstellen; immer aber ist das Einfache zugleich das Schöne, und man muß sich sehr hüten, ein Fabrikat, mag es noch so gut ausgefallen sein, einem aus der Künstlerhand hervorgegangenen Stücke gleichzustellen. Der elegante Comfort will nicht viel aufeinanderhäufen, er will Weniges, aber dieses Wenige auch in der reinsten Form und in der trefflichsten Masse haben. Beispiele werden dies erläutern. Wir denken uns drei Gemächer, einen Saal, ein Empfangzimmer, ein Boudoir oder Cabinet, und statten diese mit dem eleganten Comfort aus. Unser Saal hat neun hohe helle Fenster mit Spiegelglasscheiben in einer Fronte. Die Wände des Saals sind weiß, geglätteter Gyps, oben mit goldenen Leisten eingefaßt; keine Gemälde. Haben die gegenüberliegende Wand oder die zwei Seitenwände Nischen, so stehen in diesen Marmorstatuen, nicht Gipsabgüsse. Die Fenstervorhänge und die Portieren sind schwerer seidner Damaststoff von dunkelblauer Farbe und gehen bis an den Boden herab, frei hängend und in großer Faltenfülle. Spiegel in einem Stück füllen die Räume zwischen den Fenstern; sie reichen ebenfalls bis zu dem Fußboden, einfache goldene Rahmen schließen sie ein. Die Fensternischen können kleine Marmorsäulen enthalten mit ebensolchen Vasen von flacher Form, die mit Blumen gefüllt sind; doch müssen diese Postamente Raum lassen, daß man an’s Fenster herantreten kann. Die Möbel dunkelblau mit vergoldetem Gestelle, der Fußboden Parquet in verschiedenen Hölzern; ein großer Bronzelüstre schwebt an der Decke, in allen Ecken prangen Candelaber, von denen jeder wenigstens fünfzig Wachslichter fassen kann, so daß aus den vier Ecken ein Glanz von zweihundert Flammen dem großen Lüstre zu Hülfe kommt. Glänzende Beleuchtung ist ein Haupterforderniß des eleganten Comforts, und in einem Saal sind es besonders die Ecken, die erleuchtet werden müssen, weil von hier aus die wirksamste Helle strömt.

Das Empfangzimmer ist mit einer carmoisinrothen oder veilchenblauen schweren seidenen Tapete überkleidet, ebenfalls oben und unten durch goldene Leisten abgeschlossen. Auf dieser Wand nehmen sich die Gemälde besonders schön aus, die in schweren und reichen Goldrahmen von geschnitzter Arbeit, nicht Fabrikat, passend vertheilt sind. Nicht zu viel Bilder. Ein großes Bild auf der freistehenden Wand genügt, doch muß es ein treffliches Gemälde sein, nicht dunkel in der Färbung, weil die Tapete schon dunkel ist; eine Copie nach Claude Lorrain mit sehr hellem Morgenhimmel wäre zu empfehlen. Neben einem guten Bilde will man nicht gern etwas Anderes sehen, deshalb komme nichts weiter an die Wand. Die gegenüberstehende Wand kann drei Bilder von kleinen Dimensionen fassen; indeß müssen es natürlich alles Oelgemälde sein, keine Kupferstiche. Büsten und Oelbilder passen nicht wohl zusammen, darum halte man diesem Zimmer die Skulptur ganz fern. Die Vorhänge sind von demselben Stoffe und derselben Farbe wie die Tapeten und wie im Saale frei herabhängend. Es kann erlaubt sein, einen zweiten leichten Stoff als untere Bekleidung der Vorhänge zu wählen, doch nicht weiß, weil dies zu scharf contrastiren würde. Der Teppich des Bodens ist dunkelgrün, ohne Muster und aus der schönsten und weichsten Wolle gewebt. In der Mitte des Zimmers ruht auf einem dunkelfarbigen Sockel eine große flache Schale von schwarzenn Marmor mit Blumen gefüllt, nicht Blumen in Töpfen, sondern abgeschnittenen, die nach den Farben geordnet sind und täglich erneut werden. Der Farbenschmelz der Blumen in dem schwarzen Marmor nimmt sich trefflich aus und bildet den schönsten Schmuck. Ueberhaupt darf man Blumen, wenn sie in ihrer vollen Schönheit glänzen sollen, nicht in bunten oder vergoldeten Gefäßen aufstellen, weil Gold und Farben das Auge von den Blumen ab und auf sich ziehen. Die Möbeln sind von der Farbe der Tapete in reicher Goldeinfassung.

Das Boudoir oder Cabinet ist mit blaßgelber oder gelblich röthlicher Seide tapezirt und decorirt, über diesem Grund der [603] Tapete breitet sich ein fein in Falten gelegter Florüberzug mit Spitzemnuster. Ein rundes Sopha oder ein Divan umschließt das ganze Zimmer, Fauteuils und kleine Tische sind überallhin vertheilt. Eine Ampel von mattgeschliffenem röthlichen Glase hängt in zierlicher Form vom Plafond herab. Ein hoher breiter Stehspiegel nimmt die Wand zwischen den Fenstern ein; ein Piano und Bilder kommen hinzu. Die niedergelassenen Vorhänge an Fenstern und Thüren schließen Abend das Cabinet vollkommen ab. Der Teppich ist hellgrün oder gelb und grün gemustert. Dies wäre ein kleiner Theil des eleganten Comforts; es versteht sich von selbst, daß er großer und mannigfacher Abwechselung in den Formen und Farben fähig ist, nur der Grundton muß bleiben: Einfachheit bei dem höchsten Werth der Stoffe und Dekorationen. Eine Eleganz dieser Art hört auf Luxus zu sein, sie wird zum Kunstwerk. Das gebildete Auge, der geläuterte Geschmack weiß die Regeln des eleganten Comforts über die anscheinend geringfügigsten Dinge zu verbreiten.

Die vier Arten von Comfort, die wir hier betrachtet haben, stehen, wie man sich denken kann, im Leben nicht so abgeschlossen da, wie wir sie, unserem Zweck gemäß, dargestellt haben. Der gelehrte Comfort verschwistert sich sehr oft mit dem eleganten, der bürgerliche oder häusliche nimmt eine große Anzahl Motive und Ausschmückungen aus dem Gebiete des gemüthlichen. Auch giebt es Zimmereinrichtungen, in denen von allen vier Arten etwas zu finden ist; doch sind gerade diese keine Mustereinrichtungen, und der Gast wird sich in solchen Räumen nicht behaglich fühlen. Ein Hauptgedanke muß stets vorwiegen, und Ebenmaß und Zweckmäßigkeit müssen seine Begleitetem.
A. v. St.[1] 




Aus den Rechtshallen des Mittelalters.
Zusammengestellt von George Hiltl.
2. Die Anwendung der gebräuchlichsten Folter- und Strafwerkzeuge.
II.

Wir verließen die Inquisitin auf der Leiter. „Wie der Scharfrichter sie zum andern Mahle wieder zwei Sprossen weiter zog“ – heißt es in dem Protokoll ferner – „erhub sich ein überaus starker Sturm-Wind, welcher so gewaltig wider die Fenster der Volterstuben ging, daß man meinet, sie würden mit sammt den Rahmen hinein in tausend Stücke geworfen. Inzwischen wurde gebetet: ‚Heilige Dreifaltigkeit stehe uns bei.‘

Inquisitin: ,Ach Göttchen, hilf mir balde?‘

Richter: ,Wer soll Dir helfen?‘

Inquisitin antwortet nicht, sondern fähret fort zu rufen: ,Ach, hilf mir, hilf mir!’

,Ziehet an!’ rufet der Richter, die Knechte drehen immer weiter, daß man die Gelenke knacken höret (!) Da kam eine Mauß aus der Spalten der Diele wie der Blitz nach der Leither zu. Nach welcher Mauß der Scharffrichter und seine Knechte mit Stäben, auch der Amtsdiener, der gerufen und eben ein Bund Schlüssel in der Hand hielte, tapffer zuschlugen, sie aber nicht treffen konnten, indem sie hoch über Stäbe und Schlüssel auf und nieder sprang, als wenn sie Flügel hätte, verschwund auch drauf in einem Augenblick, daß man sie nicht weiter sahe, es legete sich auch der Sturmwind und ward Alles stille. Von den meisten Schlüsseln aber waren die Kämme (Bärte) herab oder doch krumm, daß man sie wieder machen lassen mußte. Also suchete der höllische Menschenjäger in Gestalt einer Mauß seine Freundin zu befreien.“

Es ist überflüssig, ein Wort zur Erklärung hinzuzufügen, die sich Jedem von selber aufdrängt. Daß die Verfinsterung jener Zeiten die Bewohner aller Gerichtslocale, als Mäuse, Schaben, Motten und Fliegen, für verkappte Teufel hielt, die im Augenblicke der Folterung ihren Freunden beizustehen kommen, bezeugen sämmtliche Gerichtsordnungen. „Es sollen die Gerichtsleuthe immer wol auf ihrer Huth sein. Da es denn häufig genug geschiehet, daß der böse Feind Gestaltens einer Mauß, Schmeißfliegen, Hummel oder Hörnisse hereinfähret, da denn die Gerichtspersohnen wohl Ursache haben, fleißig Gott anzuruffen, ehe und während sie bei dem Hexen-Gesindel seind und den schweren Handel der Tortur anheben.“

Einige Worte mögen noch über den „Hexenschlaf“ gesagt sein, der jedenfalls nichts weiter, als ein in Folge der fürchterlichen Anstrengung und Erregung aller Nerven eingetretener Starrkrampf war. „Aber,“ sagt der alberne Geheimrath Döpler, „das Zaubrer- und Hexen Gesindel wird von ihrem Buhlen dem Teufel gehärtet, daß sie keine Marter noch Pein fühlen, sondern auff der Leither schnarchen und schlafen, wie Jemand so von langer Reise heimgekehret. Offtmalens fähret ihnen der Erzfeind in die Kehlen, da sie dann nicht zu sprechen vermögen, sondern krächzen und ihnen ein Schaum vor den Mund tritt.“

„Nachdem nun der Richter diesen Vorfall (mit der Maus) protocoliren lassen, klopfete der Scharffrichter mit einem Stecken der Inquisitin auf die Brust. Er sagte: ,Es ist Zeit, daß Du bekennest?‘

Illa: ,Lasset nach, Meister Hans, ich will bekennen, ich will eine Hexe sein, da man es also begehret. Ihr habet ja Hexen genug unter Händen gehabt?‘

Richter: ,Nehmet die Inquisitin herab von der Leiter.‘

Dieses geschieht. Der Scharffrichter renket ihr die Gliedmassen ein und lasset sie setzen, welches man aber bei den Zaubrern und Hexen nicht gerne thuet (!). Bringt ihr auch, so es Noth thut, eine Stärkung bei, derohalben immer Wasser, Essig, Schlagtränke, Zimmet und Rosenwasser bei denen Folterungen vörhanden sein sollen. Inquisitin hat sich kaum erholet, so wird sie ermahnet, zu bekennen. Sie lachet höhnisch und sagt: ,Was sol ich aussprechen? Meister Hans, saget es mir doch vor.‘ Der Richter ermahnt sie noch ein Mal, da sie aber verstockt bleibt und glaubt, sie habe die Tortur überstanden, befiehlt der Richter, ihr um dreiviertel fünf Uhr die Beinschrauben anzulegen.“

Fig. VI. Die Beinschrauben.

Dieses Instrument des vierten Foltergrades, dargestellt in Fig. VI., hatte verschiedene Formen. Die hier abgebildete ist eine der ältesten und führt den Namen „spanische Stiefeln“, auch „würtembergischer Fußstock“. Die in späterer Zeit gebräuchlichen Beinschrauben waren in der Form den Daumschrauben ziemlich gleich. Die Anwendung wird durch den Holzschnitt ganz leicht erklärt. Die stiefelförmigen Hülsen sind inwendig mit eisernen Zacken versehen. Ein Vorderstück dient zur Deckung des Schienbeins, ein Hinterstück deckt die Wade. Die mit Schlüsseln versehenen Schrauben ziehen die Stücke gegeneinander, bis sie fast zusammenstoßen und sich fest auf die bedeckten Theile des Beines legen. Die äußerst empfindliche Construction des Schienbeines machte diesen Torturgrad zu einem der qualvollsten. Da der Stiefel das Bein über dem Knöchel umschloß, so war ein vollständiges Absterben der Füße die Folge, und gewöhnlich hinterließ dieser Grad zeitlebens die traurigsten Spuren an dem Körper des Gemarterten. Bei der Vollziehung mußte der Inquisit sitzen und das zu marternde Bein auf einen Fußschemel legen. Ein Knecht hielt ihn von rückwärts, ein zweiter drückte die Beine fest, und der Meister schraubte auf Befehl des Richters langsam zu. Blieb der Inquisit mit den Stiefeln an den Beinen hartnäckig, so bedienten sich die Scharfrichter eines Kunstgriffes, um den ohnehin grausamen Schmerz noch zu erhöhen. Er klopfte nämlich mit dem Schraubenschlüssel gegen

[604] den das Schienbein umhüllenden Theil des Folterstiefels. Die Schmerzen, welche diese Schläge verursachten, müssen entsetzlich gewesen sein, denn häufig folgte hierauf das erpreßte Bekenntniß.

Fig. VII. Das Rad.

„Die Scharffrichter sollen mit den Schlüsseln gegen die Beinschienen kloppen, da der Schmerz denn empfindlicher wird. Auch sollen sie solche lüften. So sie die Schienen abnehmen, müssen die Füß braun (!) und blau (!) sehen, als hätte man eine Form hineingedrücket. Zuweilen, wenn der Scharffrichter ungeschickt schraubet, läuffet das Blut an den Beinen herab, wo denn der Judex dreinreden sol.“

Fig. VIIIa.
Der Hexenhaken.

Fig. VIIIb.
Der kunstge-
recht geschlun-
gene Strang
zum Hängen.

So sagt die sächsische Halsgerichtsordnung von 1693. Die fast hundert Jahre später erschienene theresianische bestimmt fünfzehn Minuten Dauer für diesen Foltergrad „bei großen Bösewichtern“ und befiehlt dem Richter, besonders darauf zu sehen, „daß der Freimann nicht die Schienbeine breche, sondern menschlich (!) mit dem Sünder umgehe“. – Es ist überhaupt bemerkenswerth, daß in den Vorschriften so häufig ein Ton von Wohlwollen durchklingt, z. B. „wenn man den Sünder von der Leiter fallen ließe, so könnte er sich den Rücken brechen, oder die Arme verrenken!!“ Dafür zerrte sie ihm der Henker auseinander! – Oft werden Richter und Henker vor „grausamen Handlungen“ gewarnt, während sie doch Stunden lang den Höllenqualen ihrer Mitgeschöpfe beiwohnten.

Fig. IX. Würgbirne
Geschlossen.     Göffnet.

In einem Artikel der sächsischen Halsgerichtsordnung wird streng befohlen, „die Tortur Morgens vorzunehmen, da der Reus ganz nüchtern ist. Denn hätte er gegessen, so würde ihm durch Umdrehung des Magens und Erbrechen nicht allein schwerere Pein am Leibe, sondern auch Schaden an der Gesundheit zugefüget.“ – Es scheint fast, als hätte man sich hin und wider der Gewaltmaßregeln geschämt und sich hinter solchen nichtigen Auslassungen verschanzt. Zuweilen wird der Scharfrichter aber auch vor den Hexen bei der Folter gewarnt, „daß sie seinem Leibe nicht schaden. Wie denn zu Eisenach Anno 1661 eine Hexe, die alte Hirtin genannt, bei der Tortur den Nachrichter zu Mühlhausen, Werner, als er sie mit abgewendetem Gesichte auf die Leiter ziehen wollte, ehe er sich dessen versahe, durch das Koller in die Achsel gebissen, darvon er ohnmächtig geworden.“ – Häufig wird der Henker gewarnt, keine Zaubermittel bei der Tortur anzuwenden.

Die Inquisitin sitzt auf dem Folterschemel und hat die Beinschrauben an. „Da sie den Henker bittet, er solle ihr sagen, was sie schwatzen müsse, antwortet er: ‚Ich will Dir schon weisen, was Du sagen sollst.‘ Er zieht die Schlüssel an.

Fig. X.
Die Spinne.

Inquisitin: ,Au, Meister Hans, thut gemach! laßt mich besinnen.‘

Scharffrichter: ,Ei was, dazu ist Zeit genung gewesen.‘ Er schraubt das rechte Bein zu.

Illa: ,Au weh, Ihr bringt mich um’s Leben! Das kann kein Pferd aushalten.‘

Fig. XI.
Die
Brandmarke.

Worauf aber der Richter befahl, ihr mit der Beinschraube hefftig zuzusetzen, bis der Seiger fünff Striche vor Voll stand. Worauff die Inquisitin ein so furchtbares Brüllen erhoben, daß Alle sich entsetzet, auch in eine Ohnmacht verfallen, die Mundwinkel verzogen, endlich, als der Scharffrichter mit dem Schlüssel die Schienbeine geklopfet, aus der Ohnmacht erwecket (!) und geruffen: ,Ich will Alles bekennen, nehmet mir die Dinger von den Beinen.‘ Hier befiehlt der Richter, die Inquisitin herabzunehmen und ermahnet sie noch ein Mal, Alles zu gestehen.“

Fig. XII.
Die Schandlarve.

Die Willenskraft der Unglücklichen ist durch die ungeheuren Schmerzen gebrochen, sie vermag nicht mehr zu widerstehen. Sie bekennt. – Die in den Protokollen enthaltenen Vorschriften bezüglich der Abnahme der Bekenntnisse, so wie diese selbst, sind fast stets dieselben. Sie sind so haarsträubender Art, so fürchterlichen Inhaltes, daß Mitleid, Schauer über die schreckenerregende Verfinsterung der Geister und Unwillen über die Willkür der geistig beschränkten Richter mit einander wechseln, wenn man die Acten durchliest. Bündniß mit dem Satan, der als Junker Hans, Fritz, David oder so ähnlich benannt erscheint, Hexentänze in der Teufelsnacht, Geständnisse von angestiftetem Unheil, getödtetem Vieh, verzauberten Kindern, Hineinbeschwören der sogenannten „Elben“ oder bösen Dinger in den Körper eines Feindes, Liebschaft mit dem Teufel und endlich das Zugeständniß, daß der böse Voland sie auf der Folter in Gestalt einer Maus oder Fliege besucht, sie aber endlich verlassen – dies Alles wogt und wirbelt wüst durcheinander, die Actenfascikel der Gerichtshöfe mit beklagenswerthem Unsinn füllend.

Noch nicht recht gelüftet ist ein Theil des Schleiers, welcher die Mysterien der Hexenprocesse bedeckt, das sind die fast unbegreiflichen [605] Momente der Selbstanklage! Es ist hier, wo es sich um Beschreibung der Folterwerkzeuge handelt, nicht Raum gegeben, um auf dieses Thema näher einzugehen. Was aber trieb die vielen Elenden zur Richterbank, um sich der unnatürlichsten, unmöglichen Verbrechen anzuklagen? Von einem dunklen, unbewußten Drange gejagt, lieferten sich jene Besessenen dem Richter freiwillig aus. Wie religiöser Wahnsinn seine Anhänger zu den verkehrtesten Dingen trieb, so läßt sich auch hierbei nur annehmen, daß eine Verwirrung des Geistes die höllischen Gespenster heraufbeschwor und daß diese Störungen die Bewohner ganzer Landstrecken, förmlich epidemisch, ergriffen, eine fürchterliche Manie erzeugend.

Fig. XIII. Der
Ungeheuerkopf
.

Fig. XIV. Der Schellenkragen.

Die Strafen betreffend, welche die Zauberer u. Hexen nach überstandener Folter ereilten, so lauteten die Urtheile meist auf Tod durch das Schwert, durch den Galgen oder durch das Feuer. War mit den Bezauberungen ein Mord verbunden, so condemnirte man sie zum Rade. Das Fig. VII. abgebildete Rad ist oben mit einem scharfen, messerförmigen Kamm versehen, welcher die Glieder abstieß; bei der Procedur selbst griff der Henker in die Speichen und schlug auf die Gebeine des zu Richtenden.

Die Strafe des Galgens, Hexen und Zauberer treffend, wurde durch besondere Vorrichtungen vollstreckt. Fig. VIII. a und b. zeigen unter a. einen „Hexenhaken“ mit Feder, welchen der Henker an beliebiger Stelle einschraubte; b. einen „kunstgerecht“ geschlungenen Strang zum Hängen gerichtet. Diese besonderen Requisiten für Zaubererexecutionen wurden deshalb in Bereitschaft gehalten, weil mit den Stricken, Haken etc. Mißbrauch getrieben ward. „Es sollen die Schöffen darauf sehen, daß die Henker nicht Strick, Haken oder Stäbe von denen armen Sündern nach ihrer Abthuung liegen lassen; dieweil allerlei Hexenwerk mit solchen Dingen getrieben wird.“

Fig. IX. zeigt unter a. und b. ein zur Folter gebrauchtes Instrument, welches jedoch älterer Zeit entstammt. Es ist dies eine „Würgbirne“, a. geschlossen, b. geöffnet. Diese Birne ward, im 16. Jahrhundert namentlich, den zu Folternden in den Mund gesteckt. Mittelst einer Feder öffnete sich das Instrument (b) und füllte den Mund vollständig aus, wodurch jeder Schrei oder sonstige Gewaltthat z. B. Beißen des Henkers, verhindert wurde. Die Würgbirnen sind eine spanische Erfindung und waren bei den peinlichen Fragen des Inquisitionsgerichtes ein beliebtes Requisit.

Fig. XVI. Der Todtenschädel.

Hieran dürfte sich unmittelbar das unter Fig. X. abgebildete Straf-, nicht Folterinstrument schließen. Im 16. Jahrhundert wurden diese Zangen Ungulae genannt. Man behielt ihren Gebrauch jedoch bei und nannte sie später „Spinnen“, mit welchem Insecte sie der Form nach auch Aehnlichkeit haben. Der empörende Gebrauch, den man von der Spinne machte, stempelt sie zu einem der fluchwürdigsten Werkzeuge menschlicher Tyrannei.

Diese spitzen Klauen, diese scharfen Eisen schlug man in das Fleisch des Verurtheilten. Jeder Biß dieser Zangen riß große Stücke aus dem Körper. Namentlich – es ist haarsträubend – zermarterte man damit die Brüste der Verdammten. Wunderlich genug scheint die Spinne durch religiöse Verehrung in Aufnahme gekommen zu sein. Unter Papst Paul III. soll man zu Rom auf dem Vaticanischen Gottesacker ein solches Werkzeug in dem Grabe eines Märtyrers gefunden haben. Die Reliquie ward im Vatican aufbewahrt; sie gab leider einem Finsterlinge das erwünschte Model.

Fig. XVI. Straf-Instrument für
Marktfriedensbrecher.

Daß die ersten Christen mit ähnlichen scheußlichen Instrumenten gepeinigt wurden, dürfte übrigens keinem Zweifel unterliegen.

War nach abgelegtem Geständnisse etwa ein neuer Widerruf erfolgt, so schritt man zur Feuerfolter, dem fünften Grade. Er [606] bestand kurz gesagt darin: daß sechs zu einem Bündel geschnürte Lichte angezündet und dem auf der Folter liegenden Inquisiten die Flammen unter die Achselhöhlen gehalten wurden. Die Feuerstrafe ward durch die theresianische Gerichtsordnung geregelt und bis 1793 ausgeübt.

Die leichteren Strafen der Hexen bestanden in 1) Brandmarkung; 2) Ausstäupung und Landesvertreibung; 3) Ausstellung an den Pranger in einer Schandlarve – Strafen, die jedoch auch alle Verbrecher anderer Art trafen. Die Brandmarke (Fig. XI.) drückte man dem Verurtheilten auf die Schulter, Brust, Backen etc. Noch heute wird dieses abscheuliche Verfahren, das Gesicht zu brandmarken, an Missethätern in Ostindien ausgeübt, und leider nach den dort herrschenden Gesetzen, welche ein auf der höchsten Stufe der Civilisation stehenwollendes Volk – die Engländer – proclamirt haben.

Im 17. und theilweise 18. Jahrhunderte brannte man Namen – ja Sprüche ein. Z. B. „Hexe“ oder „Hütet Euch vor diesem!“ Bei Zaubereiprocessen brannte der Henker auch das sogenannte „Hexenzeichen“, „Hexenkratzer“, „Stigma“ oder „Teufelsdruck“ mit glühendem Eisen aus.

Kleine Flecke, eine Warze oder ein Mal genügten, um des Pactes mit Satan verdächtig zu sein. „Denn,“ sagt Erasmus Franz salbungsvoll, „dieser verdammte Betrüger und höllische Menschenjäger zeichnet seine lieben Getreuen mit seinem Merkmahle als: Krötenfüssen, Ratten, Maus, Spinne und Fliegen-Bildern. Der Henker soll sie mit einem Pfriemen durchstechen, nachher aber ausbrennen, worauff sie denn gestehen, daß der höllische Schauspieler sie ihnen eingedrückt.“ Bei den Ausstellungen am Pranger in Schandlarven war Fig. XII. die schwerere und peinigendere Larve. Sie bestand aus eisernen Platten und Reifen und wurde durch ein Charnier geschlossen. Fig. XIII., welche der Curiosität halber beigegeben ist, sieht allerdings weit fürchterlicher aus, ist aber nur bei leichteren Vergehungen angewendet worden und war eine Strafe für Verleumder, Ehrabschneider und böswillige Neider. Den Ungeheuerkopf stülpte man dem Verurtheilten über, die beiden Schlangen mußte er in den Händen halten. Fig. XIV. und XV. sind Strafinstrumente, deren Anwendung an das Humoristische streifte. Fig. XIV. ist der Schellenkragen, den Modenarren tragen mußten. Die überhandnehmende Putzsucht verleitete zu den tollsten Ausgaben und trieb häufig dem Verbrechen in die Arme. Um „Exempla zu statuiren“, wurden die Uebertreter der Kleiderverbote einige Male in solche Maschinen gesteckt, mit denen sie umherstolziren mußten. Fig. XV. ist ein Strafinstrument für zänkische Weiber. Zwei Frauen, die sich auf offenem Markte gezankt oder gar thätlich gegen einander vergangen hatten, schloß der Büttel in ein, wie Fig. XV. zeigt, durchlöchertes Holz, und zwar so, daß durch die an beiden Enden befindlichen, weiten Löcher die Hälse, durch die kleinen die Arme gesteckt wurden. In dieser Lage, die Gesichter gegeneinander gekehrt, die zum Kampf bereiten Hände gefesselt, mußten die Marktfriedenbrecher eine Stunde lang auf offenem Platze verharren.

Der Leser möge diese Probe des alten Strafrecht-Humors als kleine Aufheiterung nach so vielen düsteren Schilderungen hinnehmen; vergegenwärtigt man sich die Situation, so macht sie eine komische Wirkung.

Fig. XVII. Der
gespickte Hase.

Aehnliche Bewandniß wie mit dem Ungeheuerkopfe hat es auch mit dem unter Fig. XVI. abgebildeten Todtenschädel. Derselbe ist aus einer Art Pergamentpapier gefertigt und mit Reifen inwendig ausgesteift. Seine Oeffnung, hinter den Kinnladen befindlich, ist so weit, daß ein Mensch bequem seinen Kopf hineinstecken und das Ganze wie einen Helm aufsetzen kann. Wenn der Ungeheuerkopf zur Strafe der Verleumdung, des Ehrabschneidens oder sonstiger injuriöser Handlungen getragen werden mußte, so hatte freilich der Todtenschädel als Schmuck für das Haupt eines Delinquenten ernstere Rechtsceremonien zu repräsentiren. Der Schädel ward nämlich solchen Leuten aufgestülpt, die zum Tode verurtheilt und plötzlich begnadigt wurden. Es war das ein sehr altes Herkommen. Im Westphälischen, im Ansbachischen und in Franken trugen die begnadigten Missethäter einen wirklichen Todtenkopf und zwei Röhrknochen darunter auf der Brust, womit sie an den Pranger gestellt wurden.

Fig. XVII., ein Marterwerkzeug, mit welchem wir schließen wollen, sei deshalb an das Ende gestellt, weil es eigentlich zu keiner besonderen Art regelrechter Torturwerkzeuge gehörte. Es scheint in der That nur eine Spielerei der grausamsten Art gewesen sein. Sein Gebrauch läßt sich sehr leicht einsehen und anschaulich machen. Die beiden Enden, eiserne Stiele, befanden sich zwischen Breterlagen, so daß das Ganze leicht herumgedreht und gerollt werden konnte. Die aus der Walze hervorragenden Spitzen waren Holzstifte meist achteckiger Form. Man zog nun den zu Marternden, indem er auf dem Rücken lag, über dieses Holz, dessen rollende Bewegung nicht geringe Schmerzen verursachte. Hatte man hochgezogen, so ließ man langsam wieder herabfallen und dieses Manöver wiederholte man verschiedene Male. Aufgabe war für den Henker, „den Reus nicht so zu reissen, daß Blut komme, sondern ihn nur glimpflich (!) zu torquiren“. Das Werkzeug führte den harmlosen Namen der „gespickte Hase“. Es findet sich jedoch in keinem eigentlichen, richterlichen, rechtmäßigen Folterinventar, und obgleich es häufig vorkommt, so ist es doch wohl nur eine Laune tyrannischer Richter gewesen, die sich hier und da Bürgerrecht verschafft haben mag. Besondere Stellung im peinlichen Rechtsgange nahm sie nicht ein.

Die beigegebenen Illustrationen sind nach den in der Sammlung des Herrn Dr. Geuder auf der Burg zu Nürnberg befindlichen Originalen gefertigt. Ein Besuch dieser merkwürdigen Sammlung ist dem Leser, den sein Weg nach der schönen altdeutschen Pegnitzstadt führt, dringend anzurathen, wäre es auch nur, damit er sich in dankbarer Freude recht lebhaft bewußt werde, daß die Anschauungsweise jener guten alten Zeit, die dergleichen Werkzeuge raffinirter Grausamkeit erfunden und gehandhabt hat, für immer zu den überwundenen gehört.




Eine Gletscherfahrt im Berner Oberlande.
Von Gottlieb Studer.
(Schluß.)

Unsere Berggänger ließen sich das bescheidene Gabelfrühstück schmecken; währenddem wendete sich der Reisende an den sagenkundigen Jakob:

„Hört, Jakob, ich möchte wohl wissen, woher eigentlich der seltsame Name Altels stammt. Könnt Ihr mir darüber Bericht geben?“

„Nein, Herr, das vermag ich nicht.“

„Drunten im Thale und in unseren Reisehandbüchern nennt man Euern schönen Schneeberg da die Altels. Das deutet doch wohl auf den Namen Elisabeth oder Else. Habt Ihr nicht auch hier in der Nähe eine ,Wilde Frau’ und eine ,Weiße Frau’, wie Ihr den großen Schneeberg hinten im Kienthale benennt?“

„Wir heißen,“ entgegnete Jakob wieder, „den Berg hier mit seinem Schneegipfel schlechtweg den Altels. Den wilden Schafberg, der sich auf der Seite des Gasternthals hoch über die Flühe hinauf bis an den Gletscher zieht, nennen wir Wildelsigen, und drüben über jenem Grat, der sich rechts vom Lohner gegen Frutigen wendet und im Elsighorn sich ausspitzt, liegt eine gute Alp, die den Namen Elsigen führt. Diese Alp bildete vor Zeiten einen Theil des großen Metschberges, der den Adelbodnern gehört. Der Besitzer dieses Berges, so erzählt man, ein sehr reicher Mann, hat eine Tochter, Namens Elisabeth, und zwei Söhne, Melchior und Peter, gehabt. Nach dem Tode [607] des Vaters ist der Berg unter die drei Kinder vertheilt worden, und daher stammt der Name der Alp Elsigen von Elisabeth, Metsch von Melchior oder Melle und Bonder von Peter. Einer der Söhne aber hat den Frevel verübt, die Marke zwischen Metsch und Bonder heimlich zu seinem Vortheil zu versetzen. Nach seinem Tode hörte man oft in der Nacht ein klägliches Wimmern und Rufen: Hier ist die Marke vom Metschberge! Einmal jedoch soll ein unerschrockener Mann das Herz gehabt haben, den Geist aufzufordern, die rechte Marke mittelst eines Seiles zu bezeichnen, und am darauffolgenden Morgen ist wirklich längs der wahren Marklinie eine Reihe von schwarz angebrannten Seilen hingelegt gewesen. Möglich ist’s nun schon, mein Herr, daß der Benennung Altels der weibliche Taufname Elsa oder Elisabeth zum Grunde liegt, möglich aber auch, daß das Wort Els und Elsigen eine veraltete Bezeichnung für Fluh oder Fels ist.“ –

Der Schafbraten war verzehrt, der rothe Walliser hatte die Runde gemacht und die Karawane setzte sich wieder in Bewegung, um den Eisberg zu erklimmen, der nun in blendender Weiße vor ihr emporstieg. Man hielt sich ausschließlich an die äußerste, südliche, Kante des ungeheuern Firndaches, weil man hier keinen Eisbrüchen ausgesetzt war und hoffen durfte, der aufgestaute Firn, den die Sonne so lieblich bestrahlte, werde an dieser Stelle am ersten den Einfluß der Wärme empfinden und durch Aufthauen dem Fuße besseren Halt geben. An den tieferen Hängen des mächtigen Firndaches zeigte sich blaues Gletscher-Eis von Klüften durchzogen, die oberen Partieen aber, über die man emporschritt, bestanden ausschließlich aus Firn oder ewigem Schnee, der aber noch hart gefroren war und dessen krystallisirte Masse in tausend Brillanten funkelte.

Indem die Gesellschaft so mit frischem Eifer der Kante entlang hinanstieg, hatte sie zu ihrer Rechten zwei Schritte entfernt den tiefen Abgrund, der gähnend seinen Schooß öffnete. Der Blick glitt an den glatten Eiswänden und Felsen fast lothrecht hinunter in das vergletscherte Thalbecken, in das sich die Abstürze versenkten und das beinahe kreisförmig von den Kämmen eingewandet war, die den Altelsgipfel mit dem Balmhorn und dieses mit dem Großen und Kleinen Rinderhorn verbinden. Eine Grabesstille ruhte in der einsamen Tiefe dieses Abgrundes. Zur Linken flog das Auge über die blendende Weite des Firngehänges, dessen Saum der Fuß betreten hatte und das sich von der Altelsspitze einige Tausend Fuß tief hinunterzog, je mehr und mehr in seiner vollen Ausdehnung und reinen Pracht sich entfaltend.

Gilgian, der erfahrene Gletschermann, war an der Spitze des Zuges und da, wo die Firnkante steiler anstieg, nahm er die Axt zur Hand, um durch Einhauen von Stufen in die glatte und feste Firndecke den Weg zu bahnen. Munter und kräftig hieb er auf den harten Firn los, so daß die Splitter davon flogen und wie silberner Staub in der Sonne funkelten. Es war eine Lust, diesem Spiele zuzusehen. Doch war die Arbeit mit einigem Zeitaufwand verbunden und seine Gefährten benutzten die kleinen Pausen, die den Marsch unterbrachen, um den grausigen Abgrund zu betrachten, an dessen Rande sie hinschritten, oder ihre Augen umherschweifen zu lassen über die Welt von Bergen, die in stets reicherer Zahl am Horizonte emportauchten. Einen Gruß Euch dort, Ihr strahlenden Zinnen der Mischabel! Dir, Du königliches Haupt des Monte Rosa! Dir, Du weiße Kuppe des Lyskamms! Dir, Du blendender Schneeball des Strubels! Aber auch Dir, Du friedliche Herberge im Schwarenbach, die Du Dich inmitten öder Felstrümmer des sonnigen Lichtes erfreust! –

Die Wanderer waren jetzt an die Stelle gelangt, wo ihre Vorgänger es nicht gewagt hatten, die jäh ansteigende Firnkante weiter zu verfolgen, sondern es vorzogen, sich dem Felsen anzuvertrauen, der am mittäglichen Absturz zu Tage kommt, und an dem brüchigen Gestein der furchtbar steilen Wand gegen eine höhere Stufe der Firnkante emporzuklettern. Es war dies immerhin eine schwierige und gefahrvolle Aufgabe, und es soll einem der Männer, der die Partie mitmachte, vor diesem Gang so sehr gegraut haben, daß er zurückblieb.

Unter Gilgian’s besonnener Leitung machte die Gesellschaft diesmal den Versuch, die Firnkante trotz ihrer Steilheit unausgesetzt zu verfolgen, und siehe! er gelang.

Jetzt war das ersehnte Ziel, das sich eine Zeitlang hinter den vorspringenden Stufen des Berges selbst den Blicken entzogen hatte, in geringer Entfernung wieder sichtbar. Man konnte das im Glanz der Sonne schimmernde Signal deutlich unterscheiden. Diese Erscheinung, das Bewußtsein, dem Ziele nahe zu sein, befeuerten den Muth der Männer. Das letzte steile Firngehänge stand vor ihnen. Unter der Firndecke kam das glatte Eis zum Vorschein. Aber der wackere Gilgian hieb mit unverwüstlicher Kraft drauf los, und endlich nach einer siebenstündigen Wanderung setzten die kühnen Männer den Fuß auf den Gipfel des Berges, – mit Stolz und Wonnegefühl in das weite Rund hinausblickend, das sich ihnen unter dem klarsten Himmel und in unbegrenzten Fernen erschloß.

Es war so entzückend schön, daß man hätte ausrufen mögen: Hier laßt uns Hütten bauen! Freilich hätte die Verwirklichung dieses Wunsches schon an der mangelnden Räumlichkeit scheitern müssen, denn – der Gipfel war nur etwa zwei Schritte breit und einige Schritte lang und ringsum der Abgrund der Tiefe geöffnet, in die sich der steile Abfall des Berges, hier als glattes Eis- und Schneegehänge, dort als lothrechte Felswand, mehrere Tausend Fuß tief versenkte. Nur nach Südosten hin zog sich der verlängerte, durch eine kleine Einsattelung mit dem Altelsgipfel verbundene Grat als ein blendendweißer Firndamm, theils scharf und schmal wie ein Messerrücken, theils zur überhängenden, luftigen Schneewehe aufgeblasen, unübersteigbar nach der höheren Spitze des Balmhorns empor.

So lagerte sich die Gesellschaft, so gut es gehen konnte, auf den glitzernden Firnteppich nieder, der den Gipfel überkleidete. Die Temperatur war mild, ja so mild, daß Gilgian sich seines warmen Oberkleides entledigte und dasselbe dem Reisenden als Sitzkissen zurechtlegte, während er selbst, den Rücken der Sonne zugekehrt, sich seiner ganzen Länge nach auf den Boden hinstreckte und bald in einen sanften Schlummer verfiel. Unser städtischer Tourist aber fand nicht Zeit zum Schlafen, sondern vertiefte sich in den Anblick und in das Studium des herrlichen Panoramas, das in vollkommener Klarheit unter dem dunkelblauen Himmelsdom um ihn ausgebreitet war und sich sowohl durch Großartigkeit und malerische Schönheit, wie durch den Reiz freundlicher Landschaftsbilder auszeichnete. Laßt auch uns im Geiste an seine Seite emporfliegen und die wunderbare Welt von Firnen und Gletschern, von Kämmen und Gipfeln, von Thälern und Seen, von öden Felsenwüsten und reich angebauten, im Schmucke der Fruchtbarkeit prangenden Gefilden in ihrer immensen Ausdehnung betrachten! Die Sonne überfluthet dieses schöne Stück Erde mit ihren Lichtwellen, und die Luft ist von seltener Durchsichtigkeit.

Dort im Südwesten schimmert, die tiefgebeugte Firnkuppe des nahen Rinderhorns mächtig überragend, zur Seite das Buet hoch und hehr des Montblancs Haupt, im Kreise seiner riesigen Nachbarn. Diesseits dieser gewaltigen Scheidewand gegen Savoyen glänzt dem Auge aus ferner Tiefe das glitzernde Silberband der Rhone entgegen, da wo dieselbe die heiße, zum Theil versumpfte Thalebene zwischen Sitten und Martinach durchzieht. Aber das Auge fliegt weiter! Dem südlichen Horizonte entlang entsteigen die zahllosen Hörner und Spitzen dem Gletscherwall, der die mächtige Bergwelt krönt, die in breiter Zone, mannigfach gegliedert, durch tiefe Thalspalten zerschnitten, das Wallis von den Thälern der Dora und Sesia scheidet. Das trunkene Auge überhüpft die Bergwelt niederen Ranges und ruht wohlgefällig auf den schönen Formen und imposanten Gruppen und Massen eines Combin, einer Pigne de l’Arolla, einer Dent Blanche, eines Matterhorns, dessen kühnaufragender Gipfel bis jetzt der Anstrengungen des Londoner Alpen-Clubs zu seiner Bewältigung gespottet hat, – eines Moming, eines Weißhorns, dessen prachtvolle Eisspitze den gewaltigen Turtmann-Gletscher beherrscht, eines Lyskamms und Monte Rosa, dessen in Wirklichkeit dominirende Majestät jedoch durch die nähergestellten, in kühneren Formen aufstrebenden Gebilde der Mischabel beeinträchtigt wird. Da wo die Gipfel des Simplon dem Kamme der Alpen entragen, wird die Ansicht derselben durch die nahe Gestalt des Balmhorngipfels unterbrochen, aber gerade dieses schöne Gebilde selbst erscheint in seinem blendendweißen Atlaskleide, in dem es in das Azurblau des Himmels hinaufragt, als eine Zierde des Gemäldes.

Allmählich den östlichen Horizont einnehmend ist dem Blicke wiederum eine Scenerie erschlossen, die an Großartigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es sind die reich umgletscherten Gruppen der Lötschthalgebirge und der Aletschhörner, die da in riesenhaften Gestalten in einander verschlungen sind und deren [608] polirte Eispanzer in der Sonne funkeln. Ihren Fuß umlagernd spiegelt sich in seiner Pracht der Langen-Gletscher, der bis nach den grünen Alpen des Lötschenthals hinunter reicht. Sodann setzt sich das Heer mächtiger Gipfelgestalten, anscheinend in einem Gliede, aber in Wirklichkeit coulissenförmig hintereinandergestellt, fort über das Finsteraarhorn, die Jungfrau und den Mönch bis zum Wetterhorn, ihre steilen Eis- und Felsenwände in ihrer ganzen Schreckbarkeit entblößend. Diese Gebilde präsentiren einen vollkommenen Querdurchschnitt durch das Centrum der Berner Hochalpenkette. Im Vordergrunde breitet sich, gleich einem wunderschönen Teppich vor den Füßen dieser Bergheroen, die ganze glänzendweiße Firnebene des Tschingelgletschers aus, dessen zerklüfteter Absturz bis in den Boden des Gasternthälchens herunterhängt, während in kaum mehr kennbaren Gestalten das Doldenhorn und die Blümlisalp ihre firnumsäumten, kahlen Felswände, als nördliche Einfassungsmauer des Gasternthals und Tschingelgletschers, dem Schauenden zukehren und ihre scharfgezeichneten Gipfel in das Blau des Himmels recken. Ueber die weiter vorgeschobene Bergwelt des Kienthals, über die Hörner und Kämme, die den Thälern von Lauterbrunnen und Grindelwald, dem Becken des Brienzersees, den Alpenthälern von Unterwalden entsteigen, schweift der Blick bis an den nebligen Saum ferner Berge.

Nach Norden hinblickend darf das vom Glanz der Gletscherwelt fast geblendete Auge an dem sammtnen Grün der Wiesen, welche die kleine Thalebene von Kandersteg und die zahmen Gründe und Hänge des Kanderthals schmücken, so wie an dem dunkeln Colorit der Hochwaldungen und Alpen sich wohlthuend erlaben. Es verfolgt weiter hinaus den Lauf des Bergstroms in schwindelnder Tiefe durch die ganze Länge des mit seinen Matten und Gehölzen vor ihm aufgeschlagenen Thals. Freundliche Wohnhäuschen und Ortschaften schmücken das Gelände. Frutigen, das stattliche Dorf, Aeschi, auf grüner Hügelhöhe, schimmern dem Auge aus sonniger Ferne entgegen. Die Niesenkette mit ihren leicht aufgeworfenen Gipfeln breitet als linkseitige Thaleinfassung ihren Reichthum an Alpen und Wäldern, aber auch ihre schroffen Gratwände, Ihre Felsbrüche und ihre Lawinenzüge aus. Dort aber am Fuße des Riesen liegt im Schooß üppiger Baumgärten, lieblicher Wiesen und anspruchloser Weinberge, den Fuß malerisch geformter Berghöhen benetzend, der reizende Thunersee blau schimmernd, wie im Abglanz des Himmels. Und drüber hinaus öffnet sich die fruchtbare weite Landschaft, von Hügeln durchschnitten, von Straßen und Flüssen durchzogen, mit Seen, Städten und Dörfern geschmückt und in weiter Ferne von dem blauen Gürtel des Jura, ja von den Vogesen und dem Schwarzwald in sanftgezeichneten Linien begrenzt.

Wendet sich aber der Blick noch mehr, sieht er nach Westen hin, so steht vor ihm neuerdings eine Welt von Bergen da! Es sind die reichen, vom schönsten Vieh besetzten Alpberge des Adelbodnerthals, des Simmenthals, des Saanenlandes, des Thales von Greyerz und des waadtländischen Oberlandes, die sich vor ihm entfalten. Reihe hinter Reihe streckt ihre mannigfach geformten Gipfel empor, – hier im grünen Kleide des Blumenteppichs, dort als nacktes Fluhgebilde, hier in der Form eines spitzzulaufenden Kegels oder eines scharfen Zahns, dort als breitere Kuppe oder als langgedehnter Grat. Das nördlichste Glied dieser zahlreichen Bergketten, die ebensoviele Thäler einschließen, grenzt dieselben in steilaufgebauten Wänden, denen scharfausgeschnittene charakteristisch geformte Gipfel entsteigen, von jener weitausgespannten Thal- und Hügellandschaft ab. Nach Westen hin verliert sich der Horizont in den Berggestalten des fernen Savoyens. Den Südrand dieses Gebirgsnetzes hingegen bildet die mächtige Grenzkette, die sich nach dem Thal der Rhone abstürzt und welcher die vergletscherten Hörner und Kuppen der Diablerets, des Wildhorns, des Rawyl und des Strubels entsteigen, dessen breite Firnschanze, den Gemmipaß bewachend, dem Auge schon näher steht und durch ihre Schönheit die Bewunderung fesselt. –

Unser Wanderer war noch in stiller Andacht vertieft in dem Anstaunen und in der Betrachtung dieses reichen und großartigen Panoramas, als seine beiden Führer – denn auch Jakob hatte sich einem Schläfchen überlassen – aufwachten und erklärten, daß es an der Zeit sei, den Rückzug anzutreten.

Zwei Stunden Aufenthalts auf einem der weitsichtbaren Hochgipfel der Alpen waren wie ein schöner Traum verflossen. Ein letzter Rundblick wurde geworfen vom Montblanc zum Monte Rosa, vom Monte Rosa zur Jungfrau, von der Jungfrau hinaus nach dem blauen See und nach der reizenden Landschaft, aus der ihm die Wohnstätten der Menschen entgegenglänzten. War doch die Luft so klar, daß dem Auge keine Thurmspitze entging und daß es dort am Fuße des Jura in einer geraden Entfernung von achtzehn Stunden die Häuserreihe der Stadt Neuenburg deutlich erkannte, die das Gestade des fernen Sees besäumte. Doch, es mußte geschieden sein!

Um zwei Uhr Nachmittags wurde der Rückzug angetreten. Das Hinuntersteigen ward dadurch erleichtert, daß die der erhöhteren Temperatur und den Strahlen der Sonne ausgesetzte Firn-Oberfläche etwas weicher und lockerer geworden war. Dennoch dachte sich das oberste Gehänge so jäh ab, daß man es nicht wagen durfte, anders vorzurücken, als Schritt für Schritt die alten Stufen zu verfolgen. Aber nachdem man glücklich die erste halbe Stunde Weges und damit auch die steilste Partie zurückgelegt hatte, wich die Gesellschaft von der im Hinanklimmen innegehaltenen Bahn ab und versuchte in gerader Richtung, seitwärts der Firnkante, in nur geringer Entfernung, über die starkgeneigte Firnfläche, die das riesenhafte Altelsdach bildet, hinunterzugleiten. Gilgian war wieder an der Spitze des kleinen Zuges, und die Anderen folgten seinem Geleise, jeder auf seinen erprobten Bergstock gestützt. Es erfordert zu einer derartigen Glitschfahrt nicht nur Uebung und Gewandtheit, sondern auch Unerschrockenheit und Körperkraft. Man darf sich, besonders an solchen Firnhalden, deren untere Partie man nicht klar übersieht und die von Firnschründen durchklüftet oder durch steile Abfälle unterbrochen sein könnten, nicht sorglos dem Trieb und der Lust zum raschen Vorrücken überlassen, sondern, sowie man sich aufrechtstehend mit leicht vorgebogenem Körper, den Stock mit beiden Händen seitwärts gegen den Firn stemmend, auf der glatten Bahn rutschen läßt, muß man die Spannkraft seiner Schenkel stets bereit halten, um im Stande zu sein, plötzlich den Lauf zu hemmen und mittelst Einschlagen des Fußes in dem Firn Posto zu fassen. Die Raschheit der Fahrt hängt übrigens von der Neigung des Gehänges und der Härte des Firnes ab. Ist dieser zu sehr erweicht, so wird man durch das Einsinken am Vorrücken gehindert, und ist der Firn zu hart und glatt, so kann eine solche Rutschfahrt lebensgefährlich werden.

Unsere drei Männer hatten sich der Gunst der Umstände zu erfreuen. Trotz der Vorsicht, die sie anwandten, um nicht in zu raschen Lauf zu kommen, weil sie nicht zu beurtheilen vermochten, wie das Firngehänge tiefer unten beschaffen sei, glitten sie doch mit solcher Raschheit auf der krystallhellen Firnbahn hinunter (siehe die Abbildung in Nr. 37), daß sie in der Zeit von dreiviertel Stunden eine Strecke Weges zurücklegten, die zur Erklimmung vier Stunden erfordert hatte, und sie verließen den Schnee unter ihren Füßen nicht eher, als bis sie den blumenreichen Rasenteppich der Schaftrift betreten konnten.

Hier, auf dem weichen, duftenden Polster, mit der einen Hand die Kinder Florens ergreifend, die andere im ewigen Schnee kühlend, ruhte die Gesellschaft von der lustigen, aber immerhin anstrengenden Rutschfahrt aus, und dem Zaubersacke Gilgian’s wurde das letzte Stück Hammelfleisch, dem Weinfläschchen der letzte Tropfen Walliser ausgepreßt, um die trockenen Kehlen anzufeuchten und die Lebensgeister zu kräftigen.

Das Endziel ihres Marsches stand nahe. Leicht durch die lichte Fichtenwaldung hinuntereilend, gelangte die Gesellschaft in das stille Alpenthal, in das schon die Schatten des Abends fielen. Stolz zurückblickend nach dem gewaltigen Eiskoloß, den man durch Muth und Ausdauer bezwungen hatte, schritt man munter dem einsamen Berghause im Schwarenbach zu und langte zur selbigen Stunde am Ziele des Tages an, wo das herrliche Firnkleid, das den Altelsgipfel umhüllt, in den letzten Purpurgluthen der sinkenden Sonne erstrahlte. –




Zur Nachricht!
Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung. 

  1. Der vorstehende Aufsatz, welcher der belehrenden und praktischen Winke gar manche enthält, gehört zu den letzten literarischen Arbeiten eines bekannten Schriftstellers, dem unsere deutsche Lesewelt eine Reihe geistvoll concipirter und fein ausgeführter Novellen und Skizzen verdankt, dem schwere Krankheit aber jetzt seit längerer Zeit und leider für immer die Feder aus der Hand gewunden hat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nigends