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Die Gartenlaube (1864)/Heft 36

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[561]
Nobles Blut.
Schloßgeschichte aus den Erinnerungen meines Vaters.
(Fortsetzung.

„Wer war der Herr, der mich von dem Hunde befreite und dann hierher führte?“ frug der Mönch.

„Es war der Herr Graf.“

„Und wer war der alte Herr, mit dem der Hund war?“

„Der Großvater des Herrn Grafen. Der alte Herr ist sehr alt,“ setzte der Diener von selbst hinzu, „schon in den neunziger Jahren. Da kommt der Mensch in seine Kindheit zurück.“

Er wollte noch mehr hinzufügen, brach aber das Gespräch ab.

Der Mönch war wieder allein. Er genoß ein halbes Glas von dem Weine, den der alte Diener ihm gebracht hatte, dann setzte er sich in einen großen, alten ledernen Lehnsessel, der in dem Zimmer stand, und überließ sich seinen Gedanken. War doch so Manches hier, was sie ihm beschäftigen konnte. Was er davon nicht selbst gesehen und gehört, hatte er durch den Lumpensammler und den Doctor erfahren. Und Alles, was er gesehen und gehört und erfahren hatte, waren Räthsel. Die kranke Frau, die nicht leben und nicht sterben konnte, bis sie ihren Mann wiedergesehen habe; ihr Mann, der sie nur wiedersehen konnte unter der Gefahr, von den rund umher auf ihn lauernden Franzosen erschossen zu werden; die schöne Gräfin, die verblendet war von der Leidenschaft zu dem schönen französischen Obersten, dem sie für den späteren Abend ein Rendez-vous versprochen hatte, dem sie dann den Gatten der sterbenden Frau verrathen sollte; der alte, neunzigjährige gebückte Graf, der in seine Kindheit zurückgekommen, dem der Geist vielleicht wohl ganz und gar zerrüttet war; der Enkel dieses alten Grafen, dessen stilles Wesen ebenfalls einen so eigenthümlichen Charakter gehabt hatte; jener Lumpensammler endlich noch: das Alles waren Räthsel. Dazu diese tiefe Stille des Schlosses und seiner Umgebung, die schon für sich allein ein Räthsel war. Einige von diesen Räthseln, vielleicht alle, mußten sich noch in der Nacht lösen, die angebrochen war. –

Der Mönch wurde in seinen Gedanken unterbrochen. Es klopfte Jemand an seine Thür.

„Herein!“ rief er.

Ein stattlicher, etwas runder Herr trat in das Stübchen.

„Guten Abend, Herr Pater.“

Der Pater erkannte die Stimme des Doctors, dessen Gespräch mit dem Lumpensammler im Walde er angehört hatte.

„Guten Abend,“ erwiderte er.

Der Doctor gehörte zu den vortrefflichen Aerzten, die immer klar, entschieden und entschlossen, ohne Umstände, dabei freilich auch etwas derb und kurz angebunden sind.

„Herr Pater, ich soll Sie zu einer Dame hier im Schlosse führen, die schwer krank liegt und wahrscheinlich die Nacht nicht überleben wird. Sie wünscht, Ihnen zu beichten und die Sterbesacramente von Ihnen zu empfangen. Ich bin selbst zu Ihnen gekommen, weil ich eine Bitte an Sie hätte.“

Der Mönch hatte sich den Arzt näher angesehen. Daß der Doctor ein braver, wohlwollender Mann sein müsse, hatte er schon aus dessen Worten im Walde entnommen. Er sah jetzt in ein braves, wohlwollendes, rundes Gesicht.

„Herr Doctor!“ sagte er.

„Was, Sie kennen mich?“ rief der Doctor.

„Sie sollen es hören. Ich wollte es Ihnen sagen, bevor Sie Ihre Bitte an mich aussprechen. Ich war vorhin im Walde Zeuge Ihrer Unterredung mit einem Fremden, den Sie Hauptmann nannten, und der sich mir gegenüber für einen Lumpensammler ausgegeben hatte. Ich weiß also vielleicht Manches von dem, was Sie mir sagen wollten.“

Der Arzt war einen Augenblick stutzig geworden. Dann sah er dem Mönch forschend in das Gesicht, und auch er hatte in ein ehrliches, braves Gesicht gesehen und war wieder beruhigt.

„Ich brauche meine Bitte kaum noch auszusprechen,“ sagte er. „Sie werden einer frommen edlen Frau die Beichte hören, die sich dennoch Manches vorwerfen wird, gerade weil sie so fromm und edel ist. Machen Sie ihr nicht ebenfalls Vorwürfe. Das sollte meine Bitte sein. Der Geistliche und der Arzt, sie haben ja, wenn es einmal zum Sterben kommt, eine Aufgabe: dem armen Sterbenden den Tod so leicht wie möglich zu machen. Der liebe Gott weiß ohnehin, was er ihm geben will. Aber ich sehe, ich brauche meine Bitte nicht mehr auszusprechen. Ist es Ihnen gefällig, Herr Pater?“

„Muß die Frau sterben?“ fragte der Mönch.

„Ich fürchte, ja.“

„Sie hat ihren Mann gesehen?“

„Nein. Und sie wird ihn wohl nicht mehr sehen. Es ist neun Uhr vorbei – Sie wissen ja Alles – und von allen Seiten kommen bestätigende Nachrichten, daß das Schloß von allen Seiten besetzt ist. Der – Lumpensammler ist ein kluger und gewandter Mann; hier wird alle seine Klugheit und Gewandtheit scheitern.“

„Gehen wir, Herr Doctor,“ sagte der Mönch. „Und was Ihre Bitte betrifft, so seien Sie unbesorgt.“

Der Mönch sprach die Worte in einem so eigenthümlichen Tone, daß der Doctor ihn darauf ansehen mußte. Das blasse Gesicht [562] des Greises war aber verschlossen. Sie verließen die Rentmeisterei, in der das Stübchen des Mönches lag, durchschritten quer den Schloßhof und traten in das große, weite Schloß. Sie waren aber nicht durch das hohe Mittelportal eingetreten. Der Arzt führte den Mönch durch ein schmales, dunkles Seitenpförtchen, das offen stand.

„Wir müssen,“ sagte er zu dem Mönche, „durch den unbewohnten Theil des Schlosses und durch Hinterthüren zu der Kranken kommen. Das Bedientenvolk darf Sie nicht sehen, es könnten Verräther darunter sein. Ihr Besuch bei der Kranken würde ihnen deren nahen Tod anzeigen; man würde weitere Vermuthungen daran knüpfen.“

Sie stiegen eine schmale, dunkle Treppe hinauf; oben mußten sie lange Gänge durchschreiten, die matt erleuchtet waren. Der Doctor war auf dem langen Wege gesprächig, der Mönch desto einsylbiger.

„Sie hatten hier schon ein Abenteuer, Herr Pater? Der alte Conrad hat mir davon erzählt.“

Der Mönch antwortete nicht.

„Es sind hier,“ fuhr der Doctor fort, „überhaupt absonderliche Zustände. In alten Schlössern und Familien kommt das vor. Alter Samen artet aus. Nun, Sie werden es erfahren, wenn Sie öfter hierher kommen. Aber wenn Sie mein ganzes Gespräch mit dem Freunde Lumpensammler da hinten im Walde gehört haben –“

„Ich habe es ganz gehört.“

„Dann haben Sie schon ein gut Theil von den Dingen hier erfahren. Es war nur nicht viel Gutes, Herr Pater!“

„Nein!“

„Ja, ja, der alte Herr – Sie sahen ihn ja bei Ihrem Abenteuer – er ist wieder ein Kind geworden, sagte Ihnen der alte Conrad; hm, er ist wahnsinnig und das war er schon lange, schon sehr lange. Alter Samen artet aus, und bei dem Alten kam noch etwas Besonderes hinzu; kein Mensch weiß nur recht, was es war; aber Gutes war es wahrhaftig nicht, und davon ist all das weitere Uebel ausgegangen. Reichlich, Herr Pater! Da war seine einzige Tochter ihr Leben lang ein armes, unglückliches Geschöpf gewesen – ich habe sie nicht mehr gekannt; sie war früh gestorben – eine Wohlthat für sie; da sind seine beiden Enkel, – der junge Herr – ja, Herr Pater, der ist ein Kind, ein gutmüthiges Kind; aber mehr ist er auch nie geworden, nie gewesen; daß er gerade blödsinnig sei, darf man nicht sagen; Sie haben ihn ja auch gesehen. Und von seiner schönen Frau haben Sie gehört – aber von der jetzt nicht. Von der armen Frau, zu der wir gehen, muß ich Ihnen noch etwas sagen. Sie ist die Enkelin des alten Grafen – das vortrefflichste Wesen auf der Welt – aber still, Herr Pater –“

Der Doctor flüsterte die Worte. Er hatte seinen Schritt gehemmt und er horchte.

„Herr Pater,“ sagte er dann noch leiser, „gehen wir in jene Nische; aber treten Sie so leise wie möglich auf; wir dürfen nicht gehört werden.“

Sie waren mitten in einem der langen, halb erleuchteten Gänge, die sie zu durchschreiten hatten. Fünf Schritte von ihnen war eine tief eingeschnittene Fensternische, in diese führte der Arzt den Mönch. Sie gingen mit fast unhörbaren Schritten und standen darin in völliger Dunkelheit. Sie horchten von neuem und vernahmen einen raschen, leichten Schritt, der näher kam.

„Teufel!“ fluchte der Doctor in sich hinein.

Es war eine Ahnung in ihm aufgestiegen, die ihn vergessen ließ, daß er in Gegenwart des alten frommen Geistlichen fluchte.

„Halten wir den Athem an, wenn sie vorbeikommt,“ flüsterte er noch dem Mönche zu.

In dem dunkeln Lichte des Ganges kam eine hohe Frauengestalt vorbei. Sie war schwarz gekleidet; man hörte die Seide rauschen: ein Capuchon umgab ihren Kopf, verdeckte ihr Gesicht. Ihr Gang war eilig, leicht, dennoch stolz. Leise trat sie nicht auf; sie war also entweder in diesem dunklen, abgelegenen Gange auf rechtem Wege, oder sie hatte nicht daran denken können, hier von Jemandem gesehen oder auch nur gehört zu werden. Sie war vorüber gegangen.

„Pater,“ sagte der Arzt, „wissen Sie, wer das war?“

„Nein, Herr Doctor.“

„Es war die schöne Frau, von der Sie den Hauptmann, den Lumpensammler und mich sprechen hörten, die Gräfin, die Schloßherrin, die Gemahlin des schwachsinnigen Grafen, der Sie von dem Hunde befreite.“

Der Mönch erwiderte nichts.

„Und wissen Sie, wohin sie geht?“ fuhr der Arzt fort. „Zu dem Rendezvous geht sie! Zu dem Buhlen! Zu dem hübschen französischen Obersten. O, diese Franzosen! Nein, nein! Sie sind nicht schlechter, als Andere! Aber diese deutschen Weiber! Auf sie alle Schmach der Untreue, des Verraths, der Gemeinheit! Der Hauptmann hatte Recht. Da läuft sie zu dem Buhlen, die Ehrvergessene! Die deutsche Edelfrau zu dem Feinde ihres Vaterlandes, zu dem Unterdrücker ihres Volkes! O, und indem sie den einen Verrath begeht, fügt sie vielleicht den zweiten hinzu. Während ihre arme Schwägerin im Sterben liegt, verräth sie ihr den Gatten, und dieser Gatte ist einer der bravsten, der edelsten deutschen Männer. Sie haben den Namen des Freiherrn von ** gehört, Pater?“

Der Arzt sprach den Namen eines edlen deutschen Mannes aus.

„Ich habe ihn gehört,“ sagte der Mönch.

„Zu seiner sterbenden Gattin führe ich Sie. Ihn wollen die Franzosen in der heutigen Nacht abfangen, und dazu alle die Anstalten, von denen Sie den Hauptmann mit mir sprechen hörten. Er hat ihren Kaiser beleidigt; er hat sein Volk zum Widerstande gegen die französische Tyrannei aufgefordert. Da ist sein Tod beschlossen, da wird auf ihn gefahndet von allen Seiten, da ist er gehetzt, wie ein flüchtiges, edles Wild. Es gelang ihm endlich, über die Elbe in sicheres Land zu entkommen, seine Frau mit einem Kinde mußte er zurücklassen. Sie waren lange mit ihm geflohen; sie hatte den Mann, den sie liebte, auf den sie so stolz war, nicht verlassen wollen. Da erkrankte das Kind, mit dem Kinde sie, und er mußte allein weiter fliehen. Sie suchte und fand ein Unterkommen in dem Schlosse ihrer Väter. Ihr Kind starb, mit ihr selbst wurde es schlimmer. Sie fühlte, daß sie sterben müsse, und hatte nur noch einen Wunsch für das Leben: noch einmal den Gatten wiederzusehen. Und sie hatte den Wunsch wieder nicht: sie wußte, daß seine Befriedigung dem edlen Gatten das Leben kosten könne. Da konnte sie nicht leben und nicht sterben. Ich schritt ein. Mit keinem der Ihrigen konnte ich mich berathen, nicht mit dem wahnsinnigen Großvater, nicht mit dem schwachsinnigen Bruder, nicht mit jenem ehrvergessenen Weibe. Mit dem alten treuen Conrad sprach ich, dann mit dem ehrlichen Hauptmann, meinem Freunde und dem Freunde des Freiherrn. Er übernahm es, den Freiherrn herzuführen. Es mußte gewagt werden. Er war selbst früher Gensdarmeriehauptmann; er hatte dem Feinde des Vaterlandes nicht dienen wollen und darum seinen Abschied genommen. Er kennt Land und Leute, Wege und Schliche. Er holte den Freiherrn und er hat ihn in der Nähe. Aber seine Anwesenheit muß den Franzosen verrathen sein, denn sie haben überall ihre Spione. Ich hatte die Kranke auf das Wiedersehen vorbereiten müssen, sie hat ihre Freude gegen ihre Umgebung nicht verbergen können. Die Dienerschaft hat davon gesprochen, heimlich genug; die Spione haben es dennoch erfahren. Das Schloß und die ganze Gegend ist besetzt. Wir glaubten gleichwohl, es noch wagen zu müssen. Sie müssen sich wiedersehen, Beide. – Lassen Sie uns gehen, Herr Pater! Ich sollte eigentlich jenem ehebrecherischen Weibe nachgehen, ihr ihre Schande vorhalten, sie– O, und ich weiß nicht, was ich thue, während Sie bei der Kranken sind. Kommen Sie – Aber halt! Was ist denn das wieder? Da geht wieder Jemand in diesem alten Gange, in dem man sonst Monate lang wandeln kann, ohne einem Menschen zu begegnen!“

Der Arzt hatte wieder leiser gesprochen. In dem Gange nahete sich wieder ein Schritt, aus derselben Richtung, aus welcher die stolze Dame gekommen war, und ging ebenfalls rasch, ebenfalls nicht leise, aber er war schwerfällig.

„Sollten die Franzosen, die Verfolger des Freiherrn, in das Schloß eingedrungen sein?“ fragte sich der Doctor. „Alle Wetter, nein! Es ist der alte Graf, der Verrückte! Wie kommt der in diese Gegend des Schlosses? Wohin mag er wollen? Aber still! Keinen Laut! Der Alte hat Augen wie ein Luchs und Ohren wie ein Dachs.“

Sie verhielten sich still. Die lange, gekrümmte Gestalt des alten Grafen schritt mit raschem, schwerem Tritt vorüber. Der wahnsinnige Greis schien irgend etwas eifrig zu verfolgen; man [563] glaubte es seinem stieren Auge anzusehen, das nicht rechts, nicht links blickte.

„Sollte er ihr folgen?“ sagte der Doctor. „Sollte er etwas gesehen, erfahren haben? Er ist nicht ganz unvernünftig und hat für manche Dinge sogar ein scharfes Urtheil. Er soll schon vor einiger Zeit etwas gemerkt haben, meinte der alte Conrad. Ich muß es wissen. – Aber gehen wir zu der Sterbenden.“

Sie verließen den Ort, der sie verborgen hatte. Sie mußten noch weit in den langen Gang hineingehen, dann Seitengänge einschlagen, bis sie in den bewohnten Theil des weitläufigen Schlosses gelangten, in welchem die Zimmer der kranken Freifrau sich befanden. In einem der Seitengänge erreichten sie diese.

Der Arzt klopfte fast unhörbar an eine Thür, und eben so leise wurde die Thür von innen geöffnet. Eine alte Kammerfrau hatte sie geöffnet, sie ließ die Beiden in ein matterhelltes Zimmer treten, in welchem die tiefste Stille herrschte. Es war die Stille der Nähe des Krankengemachs, vielleicht, wahrscheinlich, bald des Todes. Wer hätte sie stören mögen!

„Was macht die Kranke?“ fragte der Arzt mit seiner leisesten Stimme die Frau.

„Sie ist ruhig geblieben, seitdem Sie fort waren. Sie erwartet den Herrn Pater.“

„Melden Sie ihn.“

Die Kammerfrau verschwand durch eine Seitenthür. Man hatte sie kaum gehen, die Thür kaum öffnen und wieder zumachen hören. Nach kurzer Zeit kam sie zurück, und mit ihr kam der alte Diener Conrad, der bei der Kranken gewesen war. Der alte Mann hatte Thränen in den Augen. Als er an dem Mönche vorbeiging, ergriff er dessen Hand; er drückte, er küßte sie.

„O Herr Pater, Sie gehen zu einem Engel des Himmels –“ Er konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen.

„Die gnädige Frau ist bereit,“ sagte die Kammerfrau.

Sie führte den Mönch in das Krankenzimmer, in diesem zu einem Bett.

„Der Herr Pater, gnädige Frau,“ sagte sie.

Sie kehrte in das Zimmer nebenan zurück, in dem sie gewartet hatte, um dort ferner zu warten.

Der Mönch war allein mit der Kranken, der er die Beichte hören und die er zum Sterben vorbereiten sollte, die ein Engel des Himmels war. Er stand an ihrem Bett. Auch in dem Krankenzimmer war nur eine halbe Helle; nur eine Nachtlampe brannte darin. In ihrem matten Scheine sah der Mönch die Kranke. Es war eine junge Frau, vielleicht im Anfange der dreißiger Jahre. Sie war schön; aber das schöne Gesicht war weißer als die weißen Kissen, auf denen sie lag. Dem alten Mönche weinte das Herz, wie er sie so sah. Er mußte gewaltsam das Schluchzen unterdrücken, das ihm in der Brust heraufzog. Aber immer mußte er sie wieder ansehen, wie man ein Bild ansieht, das wir schon früher einmal gesehen haben, als Kind vielleicht schon, das seitdem nie aus unserer Erinnerung hat entweichen können, und das nun auf einmal vor unser leibhaftes Auge wieder hintritt.

„Sie wollen mir beichten, meine Tochter!“ sagte der Mönch, und seine Stimme zitterte.

„Ja, ehrwürdiger Vater.“

„Sind Sie sofort bereit?“

„Ja, ehrwürdiger Vater,“ sagte sie noch einmal mit ihrer schwachen Stimme.

Er kniete vor dem Bette nieder. Da sie, die Kranke, es nicht konnte, that er es für sie.

„Der Herr der Wahrheit sei mit Ihnen!“

Er empfing ihre Beichte, ertheilte ihr die Absolution und sprach den Segen über sie. Er wollte ihr das Abendmahl und die letzte Oelung geben, aber in dem Vorzimmer war ein Geräusch entstanden.

Es war die erste Unterbrechung der lautlosen Stille, die, so weit das Ohr reichte, geherrscht hatte. Die Kranke horchte hin.

„Mein Mann!“ fuhr, jauchzte sie auf einmal auf. „Georg! Georg!“

Die Thür wurde leise geöffnet, und noch leiser trat ein Herr in das Zimmer.

„Georg, mein Georg, bist du es?“

Da flog, stürzte der Mann zu dem Bette.

„Ich bin es, meine Margarethe!“

Der Gatte umfing die Gattin. Sie umschlang mit den schneeweißen, abgezehrten Armen seinen Hals.

„O, nun kann ich sterben. In Deinen Armen, Du theurer Mann! Du meine Liebe, mein Stolz! Du Stolz Deines Vaterlandes, Du Freude Deines Volkes!“

Der Gatte konnte vor Weinen nicht sprechen. Der Mönch verließ das Zimmer.

„Ja, nachher, mein Vater!“ rief ihm die Kranke zu. „Warten Sie in dem Nebenzimmer.“

Der Mönch ging in das Nebenzimmer, um zu warten. Er fand den alten Diener Conrad darin und den Hauptmann. Die Kammerfrau war hinausgegangen. Der Hauptmann trug noch die Kleidung des Lumpensammlers und war sehr vergnügt.

„Ah, Herr Pater, da sehen wir uns ja wieder! Aber was habe ich unterdeß von Ihnen hören müssen, durch meinen Freund, den Doctor? Sie haben uns belauscht! Nun, Sie konnten nicht anders. Aber ich, ich! Ich hätte die Vorsicht selbst sein sollen – ich wollte es sein! Und an Ihrer Stelle hätte eben so gut ein französischer Spion horchen können. Aber der liebe Gott hat uns ja beigestanden. Danken wir ihm.“

„Sie haben keine Sorge, keine Furcht weiter?“ fragte der Mönch.

„Wovor? Den Freiherrn herein zu bringen, das war die Gefahr, die Furcht. Ist er einmal im Schlosse – ei, da kann ein ganzes Regiment Gensdarmen und ein Regiment Kürassiere dazu kommen, und sie können einen ganzen Monat lang suchen – wir haben hier so viele alte und neue Burg- und andere Verließe, Souterrains, Keller, geheime Gänge und Fallthüren, Thürme und Wendeltreppen, Leitern und Stricke, einen ganzen Wald von Geheimnissen. – Aber was macht die Kranke, Herr Pater? Das war wohl eine Freude des Wiedersehens? Nun wird der Doctor sie auch wieder curiren können.“

Der Mönch kam nicht zum Antworten. Der Doctor trat in das Zimmer. Er war eilig; er sah besorgt, wenn nicht gar ängstlich aus.

„He, was giebt’s, Doctor?“ rief ihm der Hauptmann entgegen.

„Nichts Gutes.“

„Erzählen Sie.“

„Sie wissen, ich wollte sehen, wo der alte Herr und die Gräfin geblieben sein. Ich ging ihnen nach und fand sie.“

„Und wo und wo? Und wie?“

„Nachher davon. Lassen Sie uns zunächst das abmachen, was uns am nächsten angeht. Ich fand die Spur des Alten am runden Thurm.“

Der alte Diener Conrad war unruhig geworden. „Am runden Thurm?“ unterbrach er den Erzähler.

„Ja, Alter. Verwundert Sie das?“

„Was that er dort, Herr Doctor?“

„Er – Aber nachher davon. Bleiben wir bei der Stange. Ich hatte mich in einen Winkel gestellt, um den Alten zu betrachten. Auf einmal höre ich hinter mir Jemanden schleichen. Ich sehe mich um, erkenne den Louis und dachte, er wolle seiner Herrin nach; er habe etwas erfahren, was er ihr selbst in ihrem Rendezvous mittheilen müsse; vielleicht geradezu eine Gefahr für sie und ihren Obersten. Er ist ja nicht blos der Kammerdiener, sondern auch der Vertraute seiner Herrin, der französische Lump.

Ich lasse also den alten Grafen fahren und sehe dem Burschen nach. In der Mauer hinter dem Thurme ist ein Pförtchen, das in’s Freie führt. Er schleicht zu dem Pförtchen, zu dem er den Schlüssel hat – Gott weiß, woher.“

„Von der Gräfin – von wem anders?“ sagte der Hauptmann.

Der alte Conrad nickte stumm mit dem Kopfe.

Der Doctor fuhr fort: „Er schloß das Pförtchen auf und trat in’s Freie. Ich folgte ihm bis an die Schwelle. Hinauszugehen wagte ich nicht sogleich. Ich horchte. Aber das dauerte keine Minute, da hörte ich von allen Seiten leise, leichte Schritte heraneilen. Der Schuft mußte einem Nahestehenden ein Zeichen gegeben haben; dieser hatte es weitergegeben. Das Gesindel hatte eine ganze Kette gebildet. Und wie sie beisammen waren, da hätten Sie das Zischeln und Zascheln, das Fragen und Antworten hören sollen, und auch wohl das Hin- und Herüberlegen. Ich konnte nur leider nichts verstehen. Sie sprachen so leise, und ihr Französisch flog ihnen so schnell über die glatten Lippen, daß man meinte, nur Pfeile oder Kugeln durch [564] die Luft schwirren zu hören. In ein paar Minuten war Alles vorbei. Gesehen hatte ich in der Dunkelheit nichts. Der Louis kam zu dem Pförtchen zurück; die Anderen gingen wohl wieder auf ihre Posten, oder holten vielleicht noch mehr Mannschaft herbei. Ich hatte mich wieder verborgen. Der Louis schloß das Pförtchen wieder zu und kehrte in das Schloß zurück. – Und nun, Hauptmann, und Sie, alter Conrad?“

„Pah, Doctor,“ sagte der Hauptmann, „daß das Alles dem Freiherrn gilt, daß der spitzbübische Kammerdiener hier auf der Lauer gelegen und seine Ankunft sofort ausspionirt hat, daran zweifle ich keinen Augenblick; auch daran nicht, daß wir nun bald ein paar Dutzend Gensdarmen im Schlosse haben werden. Aber was dann? Und käme ihrer auch ein ganzes Regiment – ich sagte es schon vorhin – wie sollten sie ihn in allen den Winkeln und Löchern und Spelunken des Schlosses und seiner Nebengebäude finden und fangen?“

„Aber,“ erwiderte der Doctor, „er ist hier mitten im Schlosse, weit von allen Löchern und Spelunken.“

„Wir sind auf unserer Hut, Doctor.“

„Vor einem geheimen Ueberfall, der plötzlich, von allen Seiten losbricht, vielleicht schon in diesem Augenblicke vorbereitet, eingeleitet ist?“

„Pah, wenn auch das! Wir haben Alles überlegt, Doctor. In die Krankenstube kann man nur durch dieses Zimmer; alle ihre anderen Thüren sind von innen verschlossen und verriegelt. Das heißt mit Ausnahme einer. Diese eine aber, Doctor, führt in einen geheimen Gang, und dieser geheime Gang führt unmittelbar in die verborgensten jener Löcher und Spelunken, und von ihm weiß Niemand, als der alte Conrad, der mir ihn gezeigt hat, und seitdem also auch ich, und jetzt Sie und der fromme Pater. Freilich ganz hineingegangen ist wohl noch Niemand von uns.“

„Und der alte Graf kennt ihn nicht?“ fragte der Doctor.

„Was soll der Wahnsinnige?“

„Ich weiß es nicht. Man muß aber an Alles denken.“

„Der Herr Graf kennt ihn,“ sagte der alte Kammerdiener des Grafen.

„Aber er hat kein Gedächtniß mehr,“ rief der Hauptmann.

„Und die Gräfin?“ fragte der Doctor.

Das wußte Niemand.

„Sie hat früher ein Jahr lang diese Gemächer bewohnt,“ sagte nur der alte Conrad.

Doch der Hauptmann verlor seinen Muth und also auch sein Vertrauen nicht.

„Wer wird gleich das Schlimmste fürchten? Indeß, wir wollen es jetzt einmal, um der äußersten Vorsicht willen. Kommen Sie, Doctor, wir Beide wollen den Gang untersuchen bis unten hin. Finden wir das geringste Verdächtige, so muß der Freiherr sofort weiter. Gehen wir in das Krankenzimmer. Sie sehen nach der Kranken; ich spreche unterdeß mit dem Freiherrn. So merkt sie nichts, wenn wir durch die geheime Thür wieder abgehen. Ziehen Sie sich an, da unten ist eine nichtswürdige Luft.“

Der Arzt warf einen Ueberzieher über.

„Hm, Doctor, was that der Alte an dem Thurme?“ fragte der Hauptmann unterdeß.

„Er suchte die Thür aufzuschließen, die hineinführt. Er hatte einen Bund von Schlüsseln bei sich. Ich hörte ihn damit rasseln.“

„Hm, was mochte er in dem alten Thurme wollen?“

„Wer kann das wissen? Sein großer Hund war mit ihm.“

„Sahen Sie auch die Gräfin, Doctor?“

„Nein.“

„Auch den französischen Obersten nicht?“

„Auch ihn nicht.“

„Ah, Sie sind fertig. Kommen Sie.“

Der Hauptmann und der Arzt gingen in das Krankenzimmer.

Der alte Mönch und der alte Kammerdiener waren in dem Vorzimmer allein. Die Kammerfrau der Kranken war einmal gekommen, um sich nach der Herrin zu erkundigen; als ihre Hülfe nicht nöthig war, hatte sie sich in ein anderes Nebengemach zurückbegeben.

Der Kammerdiener hatte das Vertrauen des Hauptmannes nicht getheilt. Er hatte mehrmals dazu den Kopf geschüttelt. Seine Unruhe, seine Besorgniß und seine Angst hielten an, als der Arzt und der Hauptmann fort waren. Dabei warf er so sonderbare Blicke auf den Mönch. Es war, als wenn er Fragen über Fragen an den alten Geistlichen habe, als wenn er selbst sein altes Herz gegen ihn ausschütten müsse, aber er hatte nicht den Muth dazu. Er nahm ihn sich doch zuletzt, er mußte es. Er ging auf den Mönch zu.

Der Geistliche saß trübe in sich gekehrt. Der Diener redete ihn an.

„Das sind traurige Geschichten hier, Herr Pater.“

„Und sie sollten nicht so sein.“

„Sie gehen auch Ihnen zu Herzen?“

„Müssen sie nicht jedes menschliche Herz tief berühren?“

„Und sie werden ein noch traurigeres Ende nehmen, Herr Pater. Es kann ja nicht anders sein, denn es liegt ein Fluch auf diesem alten Schlosse, auf diesem alten, edlen Geschlecht. Es ist mir, als wenn es noch in dieser Nacht sich erfüllen müsse, als wenn in der nächsten Stunde schon hier Alles vorbei sein werde. Es liegt mir so recht drückend schwer auf dem Herzen.“

Der Mönch antwortete nicht. Der alte Diener stand noch einmal unschlüssig. Dann hatte er noch einmal seinen Muth wieder.

„Herr Pater, darf ich mir das Herz gegen Sie leicht machen?“

Der Mönch nickte.

„Ich will Ihnen die alten Geschichten dieses Hauses erzählen. Sie werden dann erfahren, welcher Fluch auf ihm liegt, und wie er sich erfüllen muß.“

„Ja, ja,“ sagte der Mönch leise. „Aber Gott weiß Alles am besten, und er ist in Allem gnädig, auch in seinem Strafen. Erzählen Sie.“

(Fortsetzung folgt.)




Bilder aus dem Thiergarten.
Von Brehm.
4. Der Bison.

„In den Tagen unserer Kindheit und Jugend,“ sagt Audubon, „streiften Büffel über die kleinen, aber wundervollen Ebenen von Indiana und Illinois, und Heerden von ihnen zogen durch die offenen Wälder Kentucky’s und Tennessee’s. Bald genug verschwanden sie alle, bis auf wenige zurückgebliebene. Diese hielten sich noch eine Zeit lang, aber gegen die Jahre 1808 und 1809 verloren auch sie sich. Ihr Gebiet hat sich seitdem mehr und mehr auf den Westen beschränkt, und gegenwärtig mußt du deine Schritte zu den indianischen Landen lenken und viele hundert Meilen jenseits des Ohiothals durchreisen, der großen Felsenkette entgegen, welche das Rückgrat Nordamerika’s bildet, bevor du den ,Büffel’ triffst in seiner trotzigen Unabhängigkeit, auf jenen weit ausgedehnten Ebenen, welche sich längs des Fußes der Felsengebirge dahinziehen. Dort kannst du Kenntniß erlangen von dem Leben des Thieres, von den Kämpfen der tapfern Bullen unter sich und von den Kämpfen des Menschen mit dem stolzen Geschöpf.“

Es tönt wie eine Klage zu uns herüber von jedem Reisenden, welcher nur einmal die „Büffelheerden des Westens“ sah, daß dieses gewaltige Thier, das größte Säugethier des nordamerikanischen Festlandes, unaufhaltsam seinem Schicksale entgegengeht, daß das drohende Verhängniß, welches über ihm schwebt, wahrscheinlich noch schneller sich erfüllen wird, als wir fürchten. Schon gegenwärtig sind die Büffelheerden nicht entfernt mehr das, was sie waren. Zwar durchstampfen noch Tausende und Abertausende von ihnen

[565]

Die Bisons im Hamburger Thiergarten.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[566] jene vielgenannten Prairien des Westens; zwar dehnen sie noch heute ihre Wanderungen von Canada bis zu den Küstenländern am Golf von Mexico aus; zwar sieht man noch heute den Staub in Wolken aufwirbeln unter den scharrenden und stampfenden Hufen der grimmig mit einander kämpfenden Thiere oder vernimmt das tiefe, hohle Gebrüll, welches durch die Luft zittert auf weithin: aber schon gegenwärtig kann der Jäger Wochen und Monate lang die Prairien durchstreifen, ohne auch nur eines einzigen „Büffels“ ansichtig zu werden. Da, wo überall die gebleichten Knochen des Thieres an sein früheres Vorhandensein erinnern, da, wo die Mordlust des Menschen in den Schädeln der getödteten „Büffel“ sich Marksteine hinterließ, ist es jetzt öde und still geworden, und mit jedem Jahrzehnt schreitet die Zerstörung weiter vor; jedes Jahr vermindert die zahllosen Heerden. Es ist gar nicht unmöglich, ja nicht einmal unwahrscheinlich, daß der Bison noch früher als sein nächster Verwandter, der Wisent, „so die Nichtkenner Urochs nennen“, dem Menschen erlegen sein wird; denn es steht zu befürchten, daß drüben im Westen kein Gewaltherrscher sich finden dürfte, welcher ihm einen solchen Schutz gewährt, wie ihn der Wisent – nicht aber der schon seit Jahrhunderten ausgestorbene Auerochs! – heutigen Tages noch im Walde von Bialowicz genießt. Gegenwärtig aber lebt der „Büffel“ noch und nicht blos in seiner Heimath, sondern auch im alten Europa, hier freilich nur als armer, trauriger Sclave des Menschen, eingepfercht in einen engen Raum, ein Schatten nur von dem, was er ist.

Dieser Sclave, dieser Schatten des freilebenden Bison ist es, welchen ich diesmal den Lesern der Gartenlaube vorführen will, so verlockend es auch sein mag, anstatt des gefangenen Bison, vom freilebenden „Büffel“ und seinem Ringen und Kämpfen um’s Dasein zu reden.

Ein englischer Lord, so erzählte man mir voriges Frühjahr in London, welcher im nördlichen Schottland große Besitzungen, ausgedehnte Güter besaß, war vor ungefähr zehn Jahren auf den guten Einfall gekommen, sich aus Amerika Bisons zu verschreiben. Die Thiere langten wohlbehalten an, wurden in einem geräumigen Park untergebracht, vermehrten sich hier, und im Verlauf der Zeit wuchs eine kleine Heerde heran. Da aber starb der büffelfreundliche Lord, und seine Erben suchten sich so rasch als möglich der ihnen lästigen Heerde zu entledigen. Es kamen mit einem Male „Büffel“ auf den Thiermarkt, ohne daß man eigentlich wußte, wie, und in allen Thiergärten wurde der Wunsch laut, die seltenen Thiere zu besitzen. Aber freilich, die geforderten Preise waren nicht verlockend: 300 Pfd. Sterl., volle 2000 Thaler unseres Geldes, wurden für das Paar junger Bisons verlangt und einzeln auch bezahlt. Ein besonderer Glücksumstand setzte uns in den Stand, ein Paar von ihnen für die Hälfte dieses Geldes zu erwerben. Dieses Paar ist es, welches gegenwärtig eine der größten Zierden des Hamburger Thiergartens bildet.

Die Bisons standen, als wir sie erhielten, im dritten Lebensjahre und hatten damals ungefähr die Größe unserer gewöhnlichen Hausrinder erreicht. Inzwischen sind sie bedeutend gewachsen, haben aber doch wohl kaum mehr als drei Viertheil ihrer vollen Größe erlangt; denn ihr Wachsthum währt, wie man allgemein annimmt, bis in das achte oder zehnte Lebensjahr. Sie erreichen dann eine Größe, welche die unserer stärksten Hausrinder um ein Bedeutendes übertrifft: die amerikanischen Jäger geben das Gewicht eines alten Bullen auf 2000, das einer Kuh auf 1200 Pfund an.

Das Eigenthümliche der Bisongestalt gründet sich auf die überwiegende Ausbildung des Vorderleibes im Vergleich zum Hinterleibe. Der Körper erreicht am Widerrist seine größte Höhe und Breite, fällt von hier aus nach vorn und hinten ab und verschmächtigt sich gleichzeitig, der dichten Mähne halber scheinbar noch mehr als in Wirklichkeit. Die Läufe sind kurz und stämmig; der Schwanz ist mittellang, der Kopf unverhältnißmäßig groß, sehr breit an der Stirn, von da an gleichmäßig nach der Muffel zu verschmälert, so daß er, von vorn und von der Seile betrachtet, keilförmig gestellt erscheint. Die Augen sind groß, dunkel gefärbt und von unheimlichem Ausdruck, weil das Weiße getrübt ist; das Gehör ist klein, in der Mähne fast versteckt, zugespitzt; die Muffel ist gerundet, das Nasenloch groß. Die kurzen Hörner, welche an ihrer Wurzel sehr stark sind, nach der scharfen Spitze aber rasch abfallen, biegen sich zuerst nach außen und hinten, sodann nach oben und wenden sich mit den Spitzen nach innen und hinten. Eine sehr starke und dichte Mähne umhüllt den ganzen Vordertheil, namentlich das Kinn, die Unterbrust und die Schultern; sie verbreitet sich aber auch über die Vorderschenkel, zumal an der Hinterseite hervortretend, und ist auf den Hinterschenkeln und als Schwanzquaste wenigstens angedeutet. Schwach behaart sind nur die Unterseite des Leibes, die Innenseite der Schenkel und die Läufe vom Fersengelenk an. Der Oberkopf scheint in einem weichen Filz zu stecken, so dicht ist hier die Behaarung. Die Färbung ist ein sehr gleichmäßiges Graubraun, welches längs der Mähne, namentlich an Vorderkopf, Stirn, Hals und Wamme in Schwarzbraun übergeht. Das alte, zumal das abgestoßene Haar verbleicht und erscheint dann graulich gelbbraun. Muffel, Gehörn und Hufe sind schwarz.

Der Bison bekundet, wie sein europäischer Verwandter, auf den ersten Blick alle Eigenschaften eines wilden Geschöpfes. Man würde sich täuschen, wollte man ihn für plump und ungeschickt halten: die gewaltige Masse bewegt sich im Gegentheil mit einer Leichtigkeit, welche geradezu in Erstaunen setzt. Es ist, als ob es dem Thiere Vergnügen mache, mit seiner eigenen Kraft zu scherzen und zu spielen. So ruhig und theilnahmlos er während der Tagesmitte auch zu sein scheint, so lebhaft, so lebendig zeigt er sich, wenn die Dämmerung eintritt, so munter und rege ist er in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden. Unsere Gefangenen sieht man namentlich gegen Abend in lustigen Sprüngen sich ergötzen; sie laufen dann nicht nach anderer Rinder Art, sondern sie galoppiren und zwar mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit, welche selbst einer Antilope alle Ehre machen würde. Alle Bewegungen sind eigenthümlich, kurz abgebrochen, wenn man will, aber sie sind, wie bemerkt, in hohem Grade gewandt und werden mit einer Schnelligkeit ausgeführt, welche höchstens die Kraft und die Ausdauer überbieten. Der laufende Bison legt rasch große Strecken zurück, viel größere, als man meinen möchte, wenn man seine niedrigen Läufe betrachtet. Im Zorn fällt er in einen raschen, ausgreifenden Trab; im lustigen Spiel bewegt er sich in sonderbaren Wellenlinien, welche entstehen, weil er die Masse seines Leibes bald am Vordertheil, bald am Hintertheil aufwirft. Dann wird der Schwanz wie beim zornigen Bullen erhoben und der Kopf ziemlich tief zum Boden herabgedenkt; ausdrucksvolles Schütteln desselben bekundet die größere oder geringere Erregung. In dieser Weise durchläuft unser Paar zuweilen zehn bis zwölfmal sein Gehege, und dabei ist es ihm gleichgültig, ob es sein Weg durch das in der Mitte liegende Wasserbecken oder auf dem Lande dahin führt. Eins der Thiere läuft regelmäßig dicht hinter dem andern, und dasjenige, welches den Vortritt hat, läßt sich von dem zweiten nicht überflügeln. Mit Eintritt der Dunkelheit werden diese Spiele beendet; in Bewegung aber bleiben die Bisons bis zum nächsten Morgen. Der Tag scheint ihre Ruhezeit zu sein; ob sie dann aber wirklich schlafen, vermag ich nicht zu sagen. Es hält sehr schwer, dies zu beobachten, denn ihre Sinne sind so scharf, daß sie die Annäherung eines Menschen immer bald wahrnehmen und sich dann sofort munter zeigen. Es scheint mir, als schliefen sie mit vielen Unterbrechungen, so lange sie ruhen; wenn dies aber der Fall, kann ihr Schlaf nur ein sehr kurzer sein, ein Halbschlummer, falls man so sagen darf, welcher höchstens eine oder zwei von den vierundzwanzig Stunden des Tages beansprucht.

Gegen Witterungseinflüsse zeigen sich unsere Bisons vollkommen unempfindlich. Ihr Stall ist ihnen nichts mehr, als der Ort, welcher die Krippe enthält; sie betreten ihn, um sich satt zu fressen, und verlassen ihn, nachdem sie ihr Bedürfniß befriedigt haben, möglichst schnell wieder. Zum Wiederkäuen wählen sie sich im Sommer wie im Winter einen beliebigen Platz innerhalb ihres Geheges. Im Winter fanden wir sie zuweilen mit einer dicken Schneedecke belegt; sie hatten sich auch im tollsten Gestöber nicht in das Innere ihres Hauses zurückgezogen, sondern lieber außen einschneien lassen und schauten unter ihrer weißen Decke scheinbar befriedigt hervor. Starker Regen ficht sie eben so wenig an, und nur bei heftigem Sturme pflegen sie sich so zu stellen, daß der Kopf durch ihren dicken Leib geschützt wird. Auch die Sonnenhitze scheint sie nicht zu behelligen, obwohl es in den warmen Monaten des Jahres und zumal um die Mittagszeit noch am häufigsten vorkommt, daß sie länger als sonst in ihrem Stalle verweilen.

Es läßt sich nicht verkennen, daß es dem Bison leicht gemacht wird, die verschiedenste Witterung zu ertragen. Der Wechsel seines Haarkleides steht mit den Jahreszeiten im innigsten Einklange. Wer den Bison kennen lernen will, muß ihn im Winter betrachten; denn nur dann zeigt er sich in seiner vollen Schönheit. [567] Der Winterpelz hüllt das ganze Thier dicht ein und vergrößert seinen Umfang um ein Beträchtliches. Er besteht aus feinen Grannen und einem äußerst zarten Wollflaum, welcher meines Erachtens an Weichheit und Feinheit durch Alpacawolle nicht überboten wird. Dieser Wollfilz bildet eine viel dickere Lage, als man meint, weil er überall fast gleichmäßig lang ist, und deshalb die Länge der einzelnen Haare nicht so in’s Auge fällt. Die eigentlichen Grannen überwuchern ihn scheinbar nur an denjenigen Stellen des Leibes, wo sie sich selbst zur Mähne ausgebildet haben. Erst im Frühjahr bei der Härung bekommt man von der dichten Wolldecke eine richtige Vorstellung. Schon gegen den März hin löst sich das Vließ von der Haut ab und zwar nicht flockenweise, sondern in Fetzen von beträchtlicher Größe, in Stücken von mehr als einem Geviertfuß Ausdehnung, welche vermöge ihrer Zusammenfilzung gewöhnlich erst wochenlang vom Leibe herabhängen und bei Bewegung hin- und herflattern. Die filzartige Beschaffenheit des Vließes ist denn auch die Ursache, daß die Härung fast den ganzen Sommer beansprucht oder streng genommen das ganze Jahr hindurch währt. Mit Beginn des Frühlings löst das neu hervorsprossende Haar das alte langsam ab und erst mit Eintritt des Winters hat es eine genügende Länge erreicht, wächst aber auch während der kalten Monate noch stetig fort; es wächst in Wahrheit bis zu dem Augenblicke, wo es durch das nächste Haarkleid verdrängt wird. Nur bei einigen hochnordischen Thieren, z. B. bei den Eisfüchsen, und auch bei dem Trampelthiere habe ich etwas Aehnliches beobachtet. Der Wollwechsel der Schafe, welche doch ein noch dichteres Vließ tragen, geht in durchaus verschiedener Weise vor sich. Gewöhnlich beginnt sich das Vließ des Bison zwischen den Vorderläufen und am Unterleibe zuerst zu lösen; dann werden einzelne Stellen der Oberseite klar, ohne daß dabei eine Regelmäßigkeit zu bemerken wäre, bis zuletzt auch der Oberrücken oder die Gegend am Widerrist sich verändert. Während des Wechsels sieht der Bison ganz erbärmlich aus, die herabhängenden und bei Bewegung herumflatternden Haarfetzen stören den Beschauer so, daß er sich geneigt fühlt, das Thier von den lästigen Anhängseln zu befreien.

Der Bison scheint sich in seinem Lumpengewand zu gefallen, obgleich sich nicht verkennen läßt, daß er sich noch einmal so stolz trägt, wenn er in seinem vollen Haarschmuck prangt. Doch thut er selbst nur wenig, um den Wechsel zu beschleunigen, reibt sich nur selten an hervorragenden Stellen, und wenn er sich im Sande wälzt, wie er dies oft zu thun pflegt, so geschieht es keineswegs, um der Fetzen seines alten Kleides sich zu entledigen, sondern einzig und allein, um sich von den auch ihm sehr beschwerlich fallenden Mücken zu befreien. Wind und Wetter sind die einzigen Kräfte, welche ihm seine Lumpen nach und nach vom Leibe reißen. Mit wahrer Befriedigung bemerkt man, wie schnell sich das Aussehen des Thieres bessert, wenn solcher Liebesdienst ihm geworden ist. So lange die Fetzen noch an ihm herabhängen, sieht auch die bereits befreite Haut häßlich aus, weil das neue Haar wegen seiner Feinheit sie kaum bedeckt und nackt erscheinen läßt, während dieser Eindruck verschwindet, wenn sich erst wieder eine Gleichmäßigkeit in der Behaarung hergestellt hat.

Hinsichtlich seiner Nahrung macht der Bison geringe Ansprüche, d. h. er begnügt sich mit gewöhnlichem Futter. Unsere Gefangenen erhalten ungefähr dasselbe, welches man unsern Hausrindern vorwirft; doch verschmähen sie alle eingemaischten Getränke. Gutes Heu oder im Sommer Gras, Kleien, Körnerfutter, Kartoffeln und Möhren – das sind Stoffe, mit denen wir sie ernähren, und dabei befinden sie sich ganz vortrefflich. Zum Getränk erhalten sie nur reines Wasser. Daß sie gewisse Nahrungsstoffe vor andern bevorzugen, ist sicher, namentlich der Klee darf als ihr Leckerbissen bezeichnet werden. Der Klee ist es denn auch, welcher uns ein Zähmungsmittel der Thiere an die Hand gegeben hat; mit ihm locken wir sie jetzt nach jeder Stelle ihres Geheges hin, und ihn fressen sie uns ungescheut aus der Hand.

Unsere Gefangenen haben gegenwärtig einen großen Theil ihrer ursprünglichen Wildheit abgelegt: sie sind so liebenswürdig geworden, wie ein Bison dies zu sein vermag. Anfangs waren sie nicht blos scheu, sondern auch boshaft und wüthend. Beim Anblick ihres Wärters stürzten sie mit mächtigen Sprüngen aus ihrem Stalle heraus, im Gehege aber bedrohten sie den Mann in nicht mißzudeutender Weise. Wenn sie ihr Futter nehmen sollten, schlichen sie vorsichtig zur Krippe, und die geringste Störung scheuchte sie augenblicklich wieder zurück. Das verlor sich nach und nach gänzlich, und gegenwärtig verkehrt der Wärter unbesorgt mit ihnen. Er hat sie kennen gelernt, und sie haben in ihm ihren Freund und Wohlthäter erkannt. Jetzt folgen sie seiner Stimme oder gehorchen seinen Befehlen. Auch gegen mich beweisen sie eine große Zuneigung, weil ich mich ihnen niemals mit leeren Händen nahe. Sie wissen sehr genau, was es zu bedeuten hat, wenn ich die ihr Gehege begrenzende Wiese betrete, und erheben sich augenblicklich, wenn ich dort Gras pflücke, in der Absicht, es ihnen zu reichen, ja, sie lassen sich schon durch meinen Anruf herbeilocken. Beide kommen mir dann entgegen, schnaufen mich grüßend an und stecken die blauschwarze Zunge weit aus dem Maule heraus, um das ihnen vorgehaltene Futter in Empfang zu nehmen. Dabei bekundet der Stier jedesmal das ihm eigene Selbstgefühl: er will stets der Erste und Bevorzugte sein. So ausgezeichnet er sich sonst mit seiner Gefährtin verträgt – wenn es zum Futter geht, beansprucht er das Recht des stärkeren Geschlechts, und wenn die schwache Hälfte dies Recht nicht gutwillig anerkennen will, versucht er durch kräftige seitliche Hornstöße das ihm Versagte sich zu erzwingen. Er geräth dann in eine gewisse Aufregung, und die ohnehin trüben Augen erhalten einen wahrhaft unheimlichen Ausdruck. Ist das Futter verzehrt, so tritt der Frieden augenblicklich wieder ein.

Ich glaube nicht, daß man den Bison als ein geistig tiefstehendes Geschöpf betrachten darf, wie es wohl öfters geschehen. Es hält schwer, über die Höhe der geistigen Fähigkeiten eines so wenig umgänglichen Thieres sich klar zu werden; so viel aber meine ich annehmen zu dürfen, daß der Verstand durchaus kein geringer, sondern daß er im Umgange mit den Menschen einer weiteren Ausbildung wohl fähig ist. Zur Zeit hat man es freilich mit einem Wesen zu thun, auf welches die versuchte Zähmung noch sehr geringen Einfluß ausgeübt, und welches sich deshalb die Eigenschaften eines wilden Thieres treu bewahrt hat. Das trotzige Gefühl, das Bewußtsein der gewaltigen Kraft ist der Erkenntniß der Ueberlegenheit des Menschen noch nicht gewichen. Der Bison fühlt sich noch dem Gebieter der Erde gegenüber als ein Geschöpf, welches den Kampf mit Jenem nicht zu scheuen braucht. Dies aber wird sich ändern, und wären wir Kaukasier ebenso geschickt in der Behandlung der Thiere, wie die Indier es sind, besäßen wir die milde Anschauungsweise, die ruhige Gelassenheit und die zähe Ausdauer, welche die braunen Leute der Gangesländer wilden Thieren gegenüber mit so großem Erfolg benutzen: wir würden auch mit dem Bison weiter gekommen sein, als dies gegenwärtig der Fall. So viel ist sicher, daß ich von meiner nach der ersten Bekanntschaft mit diesem Thiere gefaßten Meinung zurückgekommen bin, mit anderen Worten, daß ich jetzt in dem Bison nicht mehr ein unzähmbares Geschöpf sehe, es vielmehr recht wohl für möglich halte, daß sich der Mensch auch ihn unterthänig machen kann.

Dieselbe Ansicht hat lange vor mir bereits Robert Wickliffe ausgesprochen, vielleicht derjenige Thierzüchter, welcher über den Bison die meisten Beobachtungen anstellen konnte. Wickliffe hat, wie er Audubon berichtet, dreißig Jahre lang diese Thiere in der Gefangenschaft gehalten, sie wiederholt zur Fortpflanzung gebracht, gefunden, daß sie sich mit andern Rindern kreuzen, und erfahren, daß die in der Gefangenschaft geborenen „Büffel“ durchaus nicht wilder oder wüthender sind, als viele zahme Hausrinder. Der Mann glaubt auch, daß der Bison mit der Zeit ganz in derselben Weise ausgesucht werden könne, wie irgend eine andere Race oder Art unserer Rinder; er verspricht sich namentlich in den zum Hausstand übergegangenen Thieren gute Milcherzeuger erhalten zu können.

Wir werden wohl thun, wenn wir uns so kühnen Hoffnungen einstweilen noch nicht hingeben; ebenso wenig aber dürfen wir den Bison derjenigen Beachtung für unwerth halten, welche er unzweifelhaft verdient. Unmöglich ist es nicht, daß der bekannte “Böblinger Rapsbauer“ einst mit einem Bisongespann zu Markte fährt.

[568]
Pariser Bilder und Geschichten.
Die Zuaven.

Paris gleicht einem offenen Buche, aus dem man stets neue Dinge lesen kann. Gott allein weiß, wie vielen Poeten und Romanschreibern, Journalisten und Gelehrten dieses abenteuerliche Buch zur Quelle dient, aus der sie die seltsamen oder belehrenden, die heiteren oder rührenden Gegenstände schöpfen, die sie der Leserwelt mittheilen. In der That, diese Quelle scheint unversiechbar. Je mehr man Paris – dies moderne Babylon, wie es mit Recht genannt wird – nach allen Richtungen durchstudirt und durchstöbert, desto merkwürdigere Standpunkte bietet es den Forschungen des aufmerksamen Beobachters.

Nicht das am wenigsten Interessante, welches die interessante Weltstadt an der Seine dem Fremden vor Augen führt, ist ihr Straßenleben in seinem ewigen Wechsel, seiner bunten Mannigfaltigkeit von charakteristischen Erscheinungen, welchen allen mehr oder minder die französische Beweglichkeit und Grazie, der französische Esprit ein Gepräge aufdrückt, das es vom Straßenleben aller anderen Großstädte auf das Bestimmteste unterscheidet.

Der Soldat der verschiedensten Waffengattungen, der vornehme Guide als eigentlicher Leibwächter des Kaisers, die prachtvollen Centgardes, die blitzenden Kürassiere mit den gewaltigen Roßschweifen ihrer antiken Helme, die reichbetreßten Jäger zu Pferde, wie die einfache Rothhose der Infanteristen, – sie Alle sind stehende Typen in diesem unablässig verwandelten Kaleidoskop des Straßenlebens, und überdies Lieblinge des Publicums, denn der Pariser ist wie jeder Franzose ein großer Freund des Militärs; die Lieblinge der Lieblinge, die besonders gehätschelten und gepflegten Schooßkinder der Pariser und – der Pariserinnen aber sind die Zuaven, jene merkwürdige halborientalische Truppe, die einen höchst charakteristischen Theil der französischen Armee bildet.

Der Zuave trägt auf seinem glattgeschorenen Kopfe einen weißen Turban mit rothem Kopfeinsatz, an dem eine große gelbe Quaste herabhängt; seine Uniform besteht aus kurzer, offener Jacke und Weste von blauem Tuche, die mit schnörkelhaften Verzierungen von gelber Borte reich ausgeschmückt sind; seine rothen Hosen von türkischem Schnitt, die über dem Knöchel gebunden werden, sind sehr weit; enge, kurze Gamaschen von weißem Leder umschließen seine Füße derart, daß nur die äußerste Spitze der Schuhe sichtbar wird. Um den Leib gürtet er eine breite blaue Binde und über dieselbe einen schwarzen Ledergurt, an welchem ein kurzes, ziemlich breites Seitengewehr herabhängt, das er gleichzeitig auf die Miniébüchse, mit der er bewaffnet ist, als Bajonnet aufpflanzen kann. Wie man sieht, ist diese Uniform ziemlich phantastisch, und ein Bataillon Zuaven, das mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel auf dem Boulevard vorüberzieht, gewährt einen bunten, heitern, zugleich aber auch sehr imposanten und kriegerischen Anblick. Mit ihren bärtigen, sonnengebräunten, ausdrucksvollen Gesichtern erwecken die braven Soldaten unwillkürlich Antheil und Sympathie und verwunden die Herzen mancher Schönen.

Die Zuaven haben den sogenannten „Zouaoua’s“ ihren Namen entlehnt, Abkömmlingen eines Kabylen-Stammes, welche die Leibwache des Dey’s von Algier ausmachten. Im Jahre 1830 kam der Marschall Clauzel auf den Gedanken, aus ihnen regelmäßige Bataillone zu bilden. Nach und nach stellte man unter diese barbarischen Horden auch civilisirte Soldaten ein, die ihren wilden Cameraden sehr bald das beständige Leben unter freiem Himmel, den Scharmützel-Krieg, die Kunst, Hinterhalte zu legen – kurz, die ganze heitere Seite des Partei-Krieges ablernten, der eine gewisse Poesie nicht abzusprechen ist. Dieses militärische Zigeunerleben, das ohnedies von den klimatischen Einflüssen unter dem heißen afrikanischen Himmel sehr begünstigt ward, sagte dem leichten, unabhängigen Sinn des französischen Soldaten ungemein zu, und so bildete sich nach und nach die kühne und verwegene Truppe aus, die man jetzt Zuaven nennt und die mit ihrem Spitznamen die „Schakals“ der Armee heißen. Der Krieg ist ihr Element, der Kampf ihr Bedürfniß, das Wort Gefahr ist ihnen unbekannt, kein Hinderniß scheint ihnen unüberwindlich. Jubelnd rücken sie in ihren bunten Anzügen auf den Feind an, indem sie – den Cancan tanzen.

Es mag keine leichte Aufgabe sein, diese wilde Schaar anzuführen, und es gehört sicherlich eine feste Hand und ein eiserner Wille dazu, um sie in den Fesseln der militärischen Disciplin zu erhalten; auch findet man unter den Generalen, von denen sie nach und nach commandirt worden sind, die bedeutendsten Namen der französischen Armee, wie Espinasse, Chasseloup-Laubat, Cavaignac, Lamoricière, Bosquet, Bourbaki, Canrobert – alles muthige Löwen, welche die „Schakals“ sehr wohl zu behandeln verstanden. Obgleich die Fahnen der Zuaven sehr durchlöchert sind, so kann man doch in den Falten dieser glorreich zerfetzten Banner die nachstehenden Siege ziemlich deutlich lesen: „Belagerung von Constantine“, „Rückzug von Medeah-Mascara“, „Schlacht am Oued-Fodelah“, bei „Isly“, an der „Alma“, bei „Inkerman“, am „Malakoff“ und die Namen sämmtlicher Schlachten aus dem jüngsten italienischen Feldzuge.

Eigentliche Orientalen giebt es heutzutage nur noch wenige unter den Zuaven; dagegen hat Paris der Armee den stärksten Tribut an „Schakals“ geliefert, meistens junge Leute, die irgendwie in ihrer Carrière verunglückt waren. Rechnet man nun zu dieser Jugend noch einen Stamm alter Soldaten, die, zum Unterschiede von dem jungen Anflug, Mahomeds genannt werden, so hat man die mosaikartig zusammengestellte Schaar beisammen, welche die bunte Zuaven-Compagnie bildet.

Die Tapferkeit des Zuaven ist über alles Lob wie über allen Zweifel erhaben; sie steckt schon in seiner Uniform. Nach dem Ausspruche eines alten Zuaven, den ich als competenten Richter anerkennen muß, sind die Eindrücke, die der Kampf hervorbringt, etwa folgende: Beim ersten Schuß denkt man an Gott, beim zweiten an seine Mutter, der dritte erweckt instinctmäßig den Trieb der Selbsterhaltung und man empfindet das widerwärtige Gefühl der Furcht; da kommt aber der vierte Schuß und trifft einen Cameraden, das fließende Blut ruft das Gefühl der Rache hervor, und beim fünften Schuß denkt man schon gar nicht mehr an sich selbst, alle geistigen Kräfte vereinigen sich in dem einzigen Wunsche, den gegenüberstehenden Feind zu vernichten. Nach und nach entwickelt sich die Schlacht immer mehr, die Colonnen rücken näher aneinander heran, der Pulverdampf umhüllt wie ein dichter Schleier die Schrecknisse des Kampfes, und wie Milton’s Engel, die im Chaos mit einander rangen, fechten die Kämpfenden blindlings und wie in der Finsterniß! Die Gefahr erhöht und stählt nur ihren Muth, der sich nach und nach in die vollkommenste Todesverachtung verwandelt. So erklären sich auch die zahllosen Beispiele von Unerschrockenheit, an denen die Geschichte der Zuaven überreich ist.

Bei Balaklava wird einem Signalisten die rechte Hand abgeschossen, er nimmt sein Signalhorn in die linke Hand und sagt: „Meine Mutter wollte durchaus, daß ich das Geigenspiel erlernen sollte, nun ist es ein wahres Glück, daß ich mir diese Mühe erspart habe!“ In der Schlacht an der Alma mußten die Zuaven auf Befehl des Marschalls Saint-Arnaud einen hohen, ganz glatten Erdwall stürmen, und nachdem sie dieses fast unglaubliche Kunststück mit unsäglichen Anstrengungen und unter mörderischem Feuer ausgeführt hatten und auf der Höhe anlangten, befanden sie sich ganz unvermuthet in einem schönen Weinberge, den die Russen stark besetzt hielten. Sie vertrieben nun zunächst die Russen und machten sich sodann über die Weintrauben her – die Kanonen donnern, die Kartätschen hageln auf sie herab, aber sie lassen sich durchaus in ihrem Genusse nicht stören und rufen, indem sie der feindlichen Artillerie die Trauben entgegenhalten, im näselnden Tone der Pariser Obstverkäuferinnen: „Echte Weintrauben von Fontainebleau, süß wie Honig! zwei Sous die Traube, sechs Sous das Pfund!“

Der Zuave ist mit dem Tode vertraut; er hat diesen düstern Gast oft und sehr nahe gesehen und fürchtet ihn nicht. Trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit gegen heilige Dinge ist er im Grunde ein ganz guter Katholik, hält große Stücke auf den Feldgottesdienst, schmückt den dazu erforderlichen Altar so schön wie möglich mit Blumen aus und hat für die Feldprediger, die seinem Corps beigegeben sind, eine hohe Achtung. Einer dieser Geistlichen, ein junger Priester aus der Pariser Diöcese, der Abbé Parabère, erfreut sich der ganz besonderen Gunst der Schakals, weil er brav ist wie ein Löwe und sein heiliges Amt ganz unerschrocken im dichtesten Kugelregen ausübt. Bei Inkerman wird ihm sein [569] Pferd unter dem Leibe erschossen, da besteigt er ohne lange Ueberlegung eine Kanone und folgt der Schlacht, wie ein zweiter Turenne, auf diesem sonderbaren Gefährt, zum großen Jubel seines Bataillons. Er ist ein Priester ganz wie für den Zuaven-Geistlichen geschaffen; er versteht es außerordentlich seine „Schakals“ zu behandeln; er raucht, trinkt und flucht, – unschuldige Flüche, die er sich selbst, zu seinem Gebrauch in Nothfällen, zurecht gemacht hat, so meint er. Einige Tage vor der Schlacht bei Magenta tritt er an einen alten Zuaven, einen „Mahomed“ des Bataillons, heran, der als ein energischer Jesuitenfeind bekannt war und auch durchaus kein Hehl daraus machte.

„Nun, alter Schakal,“ redete ihn der Abbe an, „Dir ist wohl warm?“

„Sehr warm, Herr Abbé!“

„Komm und trink ein Glas Wein mit mir, potz Federmesser und Tintenfaß! Das darfst Du mir nicht abschlagen; ein Jesuit bezahlt ja die Zeche!“

„Sie sind sehr gütig, Herr Abbé!“

„Bist Du ein Pariser Kind?“ fragt der Geistliche weiter, indem er die Gläser vollschenkt.

„Echtes Pariser Kind aus dem Faubourg St. Antoine,“ lautet die Antwort.

„Lebt Deine Mutier noch?“

„Ja, Gott sei Dank! und sie hat mich sehr lieb.“

„Du magst ihr große Sorgen gemacht haben, Schlingel!“

„Leider ja, und das thut mir aufrichtig leid, denn sie ist gar so gut!“

„Hier, trink ein zweites Glas auf ihre Gesundheit. Du warst gewiß ein rechter Raufbold, Spieler, Säufer, liefst allen Mädchen nach?“

„Das muß wahr sein, Herr Abbé! Verliebt war ich, wie eine magere Katze, Millionen-Schock …“

„Still! Ich glaube gar, Du fluchst auch?“

„Zuweilen, Herr Abbé, wenn’s kalt ist.“

„Nun wahrhaftig, Du hast alle Laster an Dir, und wenn Du Deine Gewissenskanonen ausfegen wolltest, müßtest Du eine der sieben Todsünden nach der andern herauswerfen.“

„Das glaube ich fast auch, Herr Abbé!“

„Trink ein drittes Glas auf Deine Besserung. Apropos, man sagt mir, daß Du durchaus nicht zur Beichte gehen willst; ist das wahr?“

„Ja, das ist wahr. Sehen Sie, Herr Abbé, Sie sind ein braver Mann, ein wahrer Teufelskerl, und ich schenke Ihnen meine Achtung; aber weder Sie, noch alle Engel oder Heiligen des Paradieses brächten mich dazu einen Beichtstuhl zu betreten!“

„Das hast Du vor der Hand auch gar nicht nöthig, alter Starrkopf! denn Du hast mir soeben hier beim Glase Wein, ohne es zu wissen und zu wollen, Deine Generalbeichte abgelegt. Das genügt mir vollkommen, und Du magst Dich sträuben und weigern wie Du willst, ich ertheile Dir hiermit feierlichst vor allen Deinen Cameraden die Absolution!“

Man kann sich vorstellen, welchen Jubel diese Scene unter den „Schakals“ hervorrief und wie sehr sie die Popularität des Abbé Parabère erhöhte! – Schon seit längerer Zeit hat man den Zuaven die Beleidigung angethan, ihnen ganz eigenthümliche und sonderbare Ansichten über das Eigenthumsrecht zuzuschreiben. Nun wäre es allerdings möglich, daß die afrikanischen Feldzüge ihre Begriffe über diesen zarten Punkt einigermaßen verwirrt hätten, denn in Feindesland nimmt man es wohl im Allgemeinen mit der Frage über „Mein und Dein“ nicht so genau, und so mag ihr Ruf als ausgelernte und abgefeimte Plünderer nicht ganz ungerechtfertigt sein. Sie halten sich aber stets in den Grenzen der erlaubten Plündereien, und ihre Fingerfertigkeit in dieser Beziehung erstreckt sich nur auf eßbare Gegenstände. Sie sind nämlich große Freunde aller Art culinarischer Genüsse, ihr „Fristi“, das heißt ihre Mahlzeit, geht ihnen über Alles, so daß sie kein Mittel verschmähen, das ihnen die Süßigkeiten der Tafelfreuden erhöhen könnte. Sie organisiren Raubzüge auf Hühner und Enten, frische Eier und Speck; bei diesen Unternehmungen ist ihnen ein Bekleidungsstück von höchstem Nutzen, das ich bei der obengemachten Aufzeichnung ihrer Uniform anzugeben vergessen habe; es ist dies ein weiter, braunwollener Mantel, der mit einer ungeheueren Kapuze versehen ist, und diese Kapuze ist trefflich geeignet, die erbeuteten Gegenstände bereitwillig aufzunehmen und in ihren weiten Falten geheimnißvoll zu verbergen. Vor Sebastopol schlich sich ein Zuave allabendlich bis dicht vor die belagerte Stadt heran und holte daselbst alle möglichen Eßbedürfnisse, namentlich auch frische Radieschen, frische Butter etc. Er kam stets mit sehr reicher Beute zurück und wurde nach und nach zum Generallieferanten sämmtlicher Officierstische ernannt, was ihm einen ansehnlichen Verdienst einbrachte, namentlich von Seiten der Herren Engländer, die mit klingenden Guineen zu bezahlen pflegten. Einige Wochen lang setzte der Zuave dieses Geschäft glücklich und ungestört fort; eines Abends aber fehlten plötzlich die Radieschen auf den Officierstischen – große Bestürzung! man zieht Erkundigungen ein: der arme Generallieferant hatte pünktlich zur gewohnten Stunde seinen Beutezug angetreten, aber – er war nicht mehr zurückgekehrt! – Die Zuaven besitzen überhaupt eine reiche Erfindungsgabe, wenn es gilt, sich neben ihrer spärlichen Löhnung kleine Nebenverdienste zu schaffen. Zahlreiche Episoden liefern hierfür den Beleg; ich theile eine davon mit, für die ich meinen Gewährsmann nennen will, es ist Alexander Dumas. Ich selbst habe sie aus dem Munde des großen Romanciers gehört, der sie aus Algier, wo sie sich zugetragen, mitgebracht hat.

Eine Commission, welche wissenschaftliche Forschungen anzustellen beauftragt war, befand sich in der Stadt Oran, wo das dritte Zuaven-Bataillon in Garnison stand. Eines Tages ließ sich ein Zuave beim Präsidenten dieser Commission melden. Er hatte einen kleinen Käfig in der Hand, in welchem ein langschwänziges Thier sich ängstlich hin und herbewegte.

„Was bringen Sie mir denn, mein Freund?“ fragte der Präsident, der ein sehr gelehrter Mann war.

„Ich bringe Ihnen ein kleines Thier, Herr Präsident, und glaube kaum, daß Sie in Ihrem Leben jemals etwas dergleichen gesehen haben.“

„Zeigen Sie mir doch das Wunder!“

„Hier, Herr Präsident!“ und der Zuave überreichte dem gelehrten Herrn den Käfig; dieser betrachtet den Inhalt sehr aufmerksam und ruft nach einer kurzen Pause ziemlich enttäuscht: „Das ist ja eine Ratte!“

„Ja wohl, eine Ratte; aber eine Ratte mit einem Rüssel, wie Sie bemerken werden, Herr Präsident!“

„Wie so, eine Ratte mit einem Rüssel?“

„Betrachten Sie das Thier nur genau, Herr Präsident, prüfen Sie, nehmen Sie die Lupe, um besser zu sehen.“

Der Gelehrte betrachtet, prüft, nimmt die Lupe und entdeckt, daß die Ratte wirklich einen Rüssel hat, der mit der Nase zusammenhängt, ziemlich beweglich scheint, aber aufwärts gekehrt ist. Er ist höchst erstaunt über dies Phänomen, das ihm ganz unerklärlich scheint, und fragt endlich den Zuaven, was die Ratte kosten soll.

„O Herr Präsident,“ entgegnete der Krieger, „das seltene Thier hat eigentlich gar keinen Preis; indessen Sie sollen es für hundert Franken haben!“

Der Gelehrte würde sich jedenfalls zu einem noch höheren Preise verstanden haben, um nur in den Besitz des seltenen Exemplares zu gelangen; er untersucht es nochmals und entdeckt, daß es ein Männchen ist.

„Könnte ich nicht auch das Weibchen haben?“ fragt er den Zuaven.

„Wenn Sie mir für das Männchen hundert Franken bezahlen wollen, werde ich zusehen, daß ich Ihnen auch das Weibchen schaffe.“

„Wann das?“

„Das ist schwer zu bestimmen, denn diese Thiere sind höchst selten und sehr schwer zu fangen; vielleicht in vier Wochen –“

„Gut denn, in vier Wochen! Ich verlasse mich auf Sie. Hier sind vorläufig hundert Franken, und wenn Sie mir das Weibchen bringen, sollen Sie die gleiche Summe haben.“

„Ich danke Ihnen, Herr Präsident!“ ruft der Zuave sehr vergnügt, steckt das Geld ein und trollt von dannen. Pünktlich nach vier Wochen erscheint er ganz triumphirend wieder und überreicht dem Gelehrten eine weibliche Rüsselratte; dieser betrachtet das Thier, findet Alles in schönster Ordnung, zahlt dem Zuaven abermals 100 Francs und ist ganz entzückt sich nun im Besitz eines so phänomenalen Rattenpaares zu befinden. Seine gelehrten Collegen beneiden ihn um diesen Schatz und setzen Himmel und Erde in Bewegung, um sich ebenfalls Rüsselratten zu verschaffen. [570] Anfangs schien dies ganz und gar unmöglich, denn kein Mensch kannte diese Thiere. Nach und nach fanden sich aber auf dem Markt zu Oran mehr und immermehr Rüsselratten ein, so daß sie gar keine Seltenheit mehr waren. Das kam daher, weil das Recept der Rüsselrattenfabrication verrathen worden war! Dieses Recept war sehr einfach: man nahm die Schwanzspitze einer Ratte und pfropfte dieselbe auf die Nase einer anderen, unterhielt diese Verbindung mit einem Heftpflaster und umwickelte das ganze Thier, damit es den Verband nicht zerstören konnte; nach vierzehn Tagen gab man ihm die Freiheit wieder, und die Rüsselratte – oder vielmehr das Kunststück, war fertig; die inoculirte Schwanzspitze saß ebenso fest an der Nase, wie etwa der Kamm auf einem Hahnenkopfe. Man kann sich vorstellen, daß die Enttäuschung und der Aerger des hochgelehrten Präsidenten nicht gering war, als sich ihm das Geheimniß der Entstehung seiner so theuer erkauften Rüsselratten enthüllte.

Man erzählt sich, wie gesagt, eine Unzahl derartiger Anekdoten, die alle mehr oder weniger dem erfinderischen Scharfsinne der Zuaven viel Ehre machen. In der Regel sind es die Araber, die dem Speculationsgeist der „Schakals“ zum Opfer fallen; auch sind diese armen Eingeborenen sehr mißtrauisch geworden und halten sich so viel wie möglich auf ihrer Hut.

Es giebt unter den Zuaven auch viele Künstler und Kunstverehrer, namentlich sind sie, wie fast alle Franzosen, leidenschaftliche Anhänger Thaliens. Das Theater ist ihnen Bedürfniß, und da ihre nomadenartige Lebensweise sie dieses Genusses öfters beraubt, so haben sie sich selbst ein Theater geschaffen und die dazu erforderlichen Mimen aus ihren Reihen gewählt; die Kunstreisen, die sie später unternahmen, haben ihrer künstlerischen Begabung auch in Deutschland Anerkennung verschafft. Das erste Zuaventheater wurde in Algier gegründet. Ein Tourist, der das Land bereiste, wünschte natürlich auch das Zuaventheater kennen zu lernen, um so mehr als er einige Bekannte unter den „Schakals“ hatte, die zufällig hervorragende Mimen waren und von denen sich besonders einer, ein junger hübscher Mensch, in der Darstellung von Frauenrollen auszeichnete. Man giebt ein Stück von Scribe: „Louise oder die Wiedervergeltung“, und der junge Zuave spielt die Rolle der Louise. Unser Tourist mag diese Vorstellung natürlich nicht versäumen, aber im Augenblick, wo er sich anziehen will, um sich in den militärischen Musentempel zu begeben, vermißt er seine Fußbekleidung, ein Paar neuer sehr schöner Lackstiefeln. Aergerlich über den Verlust, hilft er sich so gut er eben kann und eilt in’s Theater. Louise tritt auf; sie ist sehr zierlich angezogen, kokettirt mit dem Publicum, und um das Parterre ganz und gar zu entzünden, zeigt sie auch ihre netten Füße, an denen – die neuen Lackstiefeln des nicht wenig erstaunten Touristen prangen!

Man liest häufig, daß die Zuaven, namentlich im Felde, Katzen zu Begleiterinnen wählten, die sie auf ihren Tornistern trügen; das ist ein Irrthum. Ein „Mahomed“, den ich darüber befragte, sagte mir ganz naiv: „Wenn wir Katzen hätten, würden wir sie essen!“ Dagegen haben die „Schakals“ Hunde, die ihnen auf ihren Beutezügen vortreffliche Dienste leisten; zuweilen richten sie sich auch Affen ab. Ein kranker Zuave, der zu seiner Herstellung die Luft des Vaterlandes einathmen sollte, brachte sich als Reisegefährtin eine große Feldmaus aus Algier mit; er hatte sie an seine Zündnadel festgebunden, sie fraß ihm aus der Hand und hieß „Gallipoli“.

Der Zuave ist in Frankreich außerordentlich populär; übrigens kennt er auch seine Popularität und ist sich seines Werthes bewußt. Sein Bataillon aber geht ihm über Alles, und er hängt mit ganzer Seele an seiner Fahne, der er mit Begeisterung und mit festem Siegesvertrauen folgt. Er ist ein vortrefflicher Camerad, und es herrscht unter den „Schakals“ ein bewundernswürdiger Corpsgeist, der von den „Mahomeds“ gepflegt und erhalten und den neu eintretenden Rekruten sogleich und, wenn es nöthig ist, sehr energisch eingeimpft wird. Den „Mahomeds“ gilt es für ein Glück und für die höchste Ehre, Zuaven zu sein! Wer von dieser Ansicht nicht ganz durchdrungen ist, thut besser dem tapfern Corps fern zu bleiben; denn wie der Wachtmeister in „Wallenstein’s Lager“ denken die Zuaven:

„Der Soldat muß sich lernen fühlen;
Wer’s nicht edel, wer’s nicht nobel treibt,
Lieber ganz vom Handwerk bleibt!“




Federzeichnungen aus Thüringen.
Erstes Blatt.
Mecklenburg in Thüringen.
Von Ludwig Walesrode.
I.

Den armen Mädchen, welche in dem geographischen Institute von Justus Perthes zu Gotha Landkarten illuminiren, macht gewiß keine Karte mehr Mühe und Noth, als die des kleinen thüringischen Landes. Müssen sie doch, mit dem Aufwande aller Farben des Tuschkastens, eine deutsche Vielherrschaft veranschaulichen, wie sie nirgendwo anders in unserm zerrissenen Vaterlande so buntscheckig zusammengeschweißt ist. – Preußen, Kurhessen, Sachsen-Coburg-Gotha, Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, die Fürstlich Reußischen Lande älterer und jüngerer Linie, und dazu freundnachbarlichst Sachsen-Altenburg und Baiern, das Alles wälzt und windet sich in mäandrisch verschlungenen Grenzlinien durcheinander, daß es dem Beschauer bunt vor Augen flimmert, wie wenn er lange in das wirr blendende Farbenspiel der Chromatropen hineingeschaut. – Und mit welcher peinlichen Genauigkeit müssen nicht alle diese Linien auf der Karte gezogen werden! Ein einziger unvorsichtiger Zug mit dem Pinsel, ein einziges in die Breite fließendes Farbentüpfelchen könnte einen Heinrich LXVII. von Reuß-Schleiz der Hälfte seines Landes berauben und sonst noch zu den intricatesten Grenzstreitigkeiten führen. Es giebt Stellen in Thüringen, wo auf ein von herzoglich gothaischem Gebiete laut in den Wald hinein gerufenes Wort gleichzeitig ein herzoglich sachsen-meiningisches, ein großherzoglich sachsen-weimar-eisenachisches und ein königlich preußisches Echo antwortet. – Hie und da ist noch dazu ein Bröcklein „fremdländisches“ Gebiet mitten in irgend ein anderes engeres thüringisches Vaterland, wie ein Meteorstein vom Himmel, man weiß nicht wie, hineingefallen. So könnte es einem arglosen Ferienreisenden, der etwa auf einer Fußwanderung nach dem auf gothaischem Grund und Boden romantisch gelegenen Oberhof ein Heft, vielleicht dieses Heft der „Gartenlaube“ aus der Tasche zieht, um lesend sich den Weg zu kürzen, leicht widerfahren, daß er plötzlich von einem Diener königlich preußischer Gerechtigkeit mit sammt seiner Lectüre, „im Namen des Gesetzes!“ confiscirt wird. Warum auch achtete er nicht des Fußpfades, der ihn mit einem einzigen unvorsichtigen Schritte hineintreten ließ in die königlich preußische Enclave Suhl, allwo, wie überall im Großstaate Preußen, die „Gartenlaube“, nach dem Beschlusse der Berliner Rota, auf den Index der verbotenen Schriften gesetzt ist? – Vor Kurzem wurde vor dem Schwurgerichte zu Gotha gegen einen Wilddieb, wegen Attentats auf einen Forstbeamten, ein Proceß verhandelt, der schon einmal, aus internationalen Competenzbedenken, auf mehrere Monate vertagt werden mußte, weil während der Verhandlung gewichtige Zweifel darüber entstanden waren, ob die Kugel, welche in der Nähe eines kurfürstlich hessischen Forsthüters in einen kurhessischen Baum eingeschlagen, von preußischem oder gothaischem Gebiete abgeschossen worden war. Um das herzoglich gothaische forum delicti zu begründen, mußte eine förmliche Grenzregulirung angeordnet und durch eine von einer besondern Commission bewirkte sorgfältige topographische Kartenaufnahme festgestellt werden, daß der Busch, hinter welchem der Wilderer sein Gewehr abgefeuert, kein königlich preußischer, sondern ein herzoglich sächsisch-coburg-gothaischer Busch gewesen, wenn auch die Kugel, bevor sie in’s Kurhessische gelangte, ein Stück königlich preußischer Luft pfeifend durchschnitten hatte. Und doch betrug die Distanz zwischen dem Schützen und seinem Ziel nicht volle 70 Schritte!

[571] Trotz alledem und alledem ist das Thüringer Land so voll neckischen Landschaftszaubers, so waldduftig und bergfrisch, daß der von so viel Herrlichem angemuthete Wanderer darüber leicht und gern jene buntscheckige Zerlapptheit vergißt. Er braucht ja eben vor Wald die – Schlagbäume nicht zu sehen.

Freilich, zu dem vielen Uebrigen jetzt noch gar ein Mecklenburg in Thüringen, das ginge wohl Manchem über den Spaß und über den Ernst! –

Möge sich indeß der Leser durch die Ueberschrift dieser Skizze nicht beunruhigen lasten. Es handelt sich hier nicht um ein mecklenburgisches Paschalik, das etwa plötzlich über Nacht, aus heiler Haut, durch Gebietstausch, Erbschaft, Verzicht, Verkauf oder irgend eine souveraine Laune, mit Mann und Maus an Mecklenburg gefallen wäre. Der Wanderer durch Thüringen hat, nach wie vor, nicht zu fürchten, daß in den aus grüngoldigem Waldesschatten hallenden Wettgesang von Drossel, Amsel, Finke und Nachtigall und was sich sonst aus schwanken Baumwipfeln vernehmen läßt, die Stockschläge einfallen könnten, mit denen im Lande der Obotriten die Nationalhymne auf der Kehrseite der Landeskinder, zur Belebung vaterländischer Gesinnung, taktirt wird.

Ich spreche von einer lieblich grünen Scholle thüringischer Erde, auf welcher ein gar trefflicher mecklenburgischer Poet, der für sein übervolles Dichterherz in seinem engern – ach nur zu engen – Vaterlande „kein Hüsung“ gefunden, sich sein Mecklenburg aufgebaut hat.

Wer von meinen Lesern wüßte jetzt nicht, daß ich von Fritz Reuter spreche? –

Aber die mecklenburgische Dichterenclave in Thüringen ist durch kein Farbenpünktchen auf der Karte markirt; kein Wegweiser streckt zuvorkommend den hölzernen Zeigefinger darauf hin; selbst der rothe Bädeker, der sonst Alles weiß, scheint nichts davon zu wissen, und die polizeilich concessionirten Führer durch den Thüringer Wald würden den Fremden groß ansehen, der sich bei ihnen erkundigte, wo denn Mecklenburgisch-Thüringen läge.

Ich hoffe daher, von den Wanderern durch das Thüringer Land werden gar manche mir Dank dafür wissen, daß ich ihnen mit diesem nicht gerade verstohlenen Fingerzeige den Versteck verrathe, hinter den Fritz Reuter sich zurückgezogen, um ungestört seiner Muse und seiner Muße zu leben. Wir Leute von der Feder sind nun einmal ein indiscretes Volk; was wir auf dem Herzen haben, das müssen wir uns auch vom Herzen herunterschreiben. Ich meine aber außerdem, daß so ein Poet „von Gottes Gnaden“, wie Fritz Reuter einer ist, gar nicht das Recht habe, incognito sich vor dem Volke verleugnen zu lassen, das ihn liebt und verehrt.

So bitte ich denn den Leser, mir und meiner Schilderung zu folgen.

Der vom Bahnhofe quer durch Eisenach wandernde Wartburgzügler gelangt über einen stattlichen Marktplatz, zwischen dem residenzlichen Schlosse und der lindenbeschatteten St. Georgskirche, vorüber an der blumengeschmückten Boutique einer „kohlensauren Jungfrau“ – wie der Berliner mit besonderer Genugthuung bemerken wird – an die „obere Predigergasse“, an deren Ecke ein großer goldener Pfeil im schwarzen Felde, mit der Ueberschrist: Nach der Wartburg“, ihm officiell die Richtung des Weges anzeigt, den er einzuschlagen hat. Doch der Wanderer braucht sich vom Pfeile nicht auch das Symbol der Schnelligkeit, wie es am Kragen der Telegraphenbeamten angedeutet ist, zu Gemüthe zu führen. Umgekehrt rathen wir ihm, sich hübsch Zeit zu lassen, damit er nicht außer Athem gerathe, und des Weges zu achten, der ihm reichlich lohnende Umschau und Rückblicke gewährt. Am Ende des kurzen Gäßchens schlägt er links den eigentlichen Bergpfad nach oben ein, auf den zur besondern Sicherheit noch ein zweiter, blitzgeschlängelter Pfeil hinweist. Hier befindet sich der Wanderer bereits einige 50 Fuß über der Sohle des Wartburgberges, bis zu dessen Kuppe hinauf er etwa noch 550 Fuß zu „klimmen“ hat, wie wir dem des Bergsteigens unkundigen und darum um so mehr auf dieses Abenteuer verpichten norddeutschen Ferienreisenden zu Liebe sagen wollen. Denn im Grunde ist das Steigen hier nicht gar zu schwer. Wenn der Wanderer nicht gerade ein hektisches Mädchen ist, oder ein kurzathmiger Staatshämorrhoidarius, oder ein langbeiniger englischer Tourist, oder ein greinender ungezogener Range wohlgezogener Eltern, der auch einmal reiten will, kann er sehr füglich des langohrigen grauen Saumthieres entrathen, das an der „Eselsstation“ gesattelt und gezäumt seiner Reiter und Reiterinnen wartet. – Dieser Station gegenüber, rechts an der Straße, liegt, am sanft sich abdachenden Berghange hingestreckt, der Eisenacher Friedhof, voll eingegrünter und beblümter Grabeshügel, aber leider auch besäet mit Aschenurnen, abgebrochenen Säulenschaften, Pyramiden und verhüllten Genien, deren schwülstig sentimentaler Zopfstyl an die sogenannten Buchdruckerstöcke auf den Büchertiteln aus der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erinnert.

Der Fremde wird indeß durch das „memento mori!“ am Wege sich nicht die Berglust verkümmern lassen, die seiner wartet.

„– – – Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht empor in die reinen Lüste.“

Etwa 100 Schritte weiter und steiler aufwärts eröffnet sich links, über ein durch die dichtbewachsene hohe Laubhecke führendes Gartenpförtchen hinweg, dem Blicke ein eng gerahmtes landschaftliches Idyllenbild, wohl werth in dem Skizzenbuche oder der Erinnerung des Wanderers mitgenommen zu werden.

Der steilen Bergwand ist ein Garten abgewonnen, dessen saubere Kiespfade zwischen Blumenbeeten, Rasengrün, Sträuchern und Baumgruppen hinaufklettern bis an die tiefer dunkelnden Waldschatten und sich wiederum thalwärts senken zum nachbarlich traulichen Verkehr mit den Dächern, Schornsteinen und kleinen bescheidenen Gärten der unten am Bergsaume liegenden Häuschen. Ein in moosiges Gestein eingelassener Stufenweg führt vom erwähnten Pförtchen hinauf zu dem auf einen terrassirten Abhang keck hingestellten Schweizerhause, das uns mit seinen spiegelhell in’s Weite leuchtenden Fenstern, seinen vorspringenden Giebeln, Altanen und Erkern gar zuthunlich anheimelt. Das ist keine jener abgedroschenen, meist auch abgeschmackten Variationen über ein architektonisches Schweizerthema, wie man deren gegenwärtig, zum Ueberdrusse, und leider unpassend genug, im norddeutschen Flachlande, sogar in der kaum einige Zoll über den Horizont der Wasserlinie hervortauchenden Marschebene sieht oder auch – hört! Architektur ist ja, nach Schlegel, gefrorene Musik. Wir haben hier ein wirkliches leibhaftiges Schweizerhaus vor uns, von vorherrschend luftig leichter Holzconstruction und doch wohnlich warm und sicher an die schützende Bergwand gelehnt, wie es eben zweckmäßig und malerisch in die Berge hineinpaßt, auch wenn diese, wie unsere Thüringer Waldgebirge, keine Gletscherfirnen hinauf in den Himmel strecken. Allein, wie naiv dieser Bau auch das Typische des Schweizer Styles widergiebt, so verräth doch die Anmuth der Gliederung an Façade und Profil, vor Allem die arabeskenfeine, wie mit der Feder gezogene Zeichnung der schwebenden Gallerien, der Balkenknäufe, der hölzernen Träger und Simse an den weit vorspringenden Giebeldächern und die an den Mauern gar zierlich sich markirende Verriegelung des Gebälkes und der Holzständer eine feine künstlerische Hand, wenn nicht schon die aus der Stirnmauer unter dem linken Giebelfelde hervortretende, von einem Consol getragene Statue, einen altdeutschen Meister des Baugewerks im Style Peter Vischer’s darstellend, unverkennbar auf den Künstler hinwiese. Und in der That ist der Erbauer und Besitzer dieses Schweizerhauses derselbe Architekt, welcher die Restauration der Wartburg, nach Ritgen’s Entwürfen, geleitet hat – der Bauinspector Dittmar, ein Schüler Meister Ziebland’s in München.

Und wie gar idyllenfriedlich erscheint dieser Erdenwinkel erst dem Wartburgspilger, wenn derselbe zurückblickend das Auge weithin über die Landschaft schweifen läßt, auf welche die Fenster und Altane des Schweizerhauses hinabschauen; über die von üppig frischem Gartengelände umrankte Stadt Eisenach hinweg, in eine meilenweite, von der Eisenbahn durchschnittene fruchtbare Thalebene, mit Dörfern, Weilern, Waldungen und gleich grünen Landseen wogenden Halmfeldern, bis an die in wellenförmigen Linien übereinander sich thürinenden Höhenzüge. welche den von Erfurt in der Richtung nach Gerstungen und Lichtenfels dampfenden Schienenzug zur rechten Hand begleiten und unter denen kurz vor Eisenach die scharfprofilirte nackte Felswand des aus der Tannhäusersage bekannten Hörselberges auftaucht.

„Hier muß gut wohnen sein!“ dürfte gewiß mancher Wanderer, mit einer Anwandlung menschlich verzeihlichen Neides, ausrufen.

Nun, auch Fritz Reuter war der Meinung, daß das Fleckchen nicht gar übel wäre, sein „Hüsung“ darauf aufzuschlagen, und das hat er denn auch vollführt. Er haus’t mit seiner Gattin [572] im ersten Stock, während sein Wirth, Herr Bauinspector Dittmar, das Erdgeschoß des Schweizerhauses bewohnt.

Von den Tausenden norddeutscher Verehrer Fritz Reuter’s, die allsommerlich von Eisenach aus zur Wartburg aufsteigen, dürften nur wenige wissen, ahnen, wie nahe sie der Weg vorbeiführt an der Wohnung ihres plattdeutschen Lieblingsdichters, aus dessen Schöpfungen ihnen ein nie versiechender Quell herzerfrischenden Humors entgegensprudelt. Ueber das niedrige Gartenpförtchen hinüber könnte der Wanderer dankbar grüßend die Hand des Dichters drücken. Und wie Manchem von den heurigen Sommerreisenden, die seit einem vollen Jahre ohne alle weitere Nachricht geblieben sind über das Schicksal des wackern „Entspeckters Hawermann“, welcher bekanntlich am Ende des zweiten Bandes von „Ut min Stromtid“, durch den unverantwortlichen Leichtsinn des Windhundes Fritz Triddelsitzens in so unverdiente Schmach und Noth geräth, würde es nicht zur tröstlichen Beruhigung gereichen, aus des Dichters eigenem Munde zu erfahren, daß endlich Alles in dem nächstens die Presse verlassenden dritten Bande zu einem glücklichen Ausgange führt und daß auch der engherzige Zamwell Pomuchelskopp seinen Lohn und seine Prügel erhält! –

Ich habe diesen Wohnsitz Fritz Reuter’s als eine mecklenburgische Enclave mitten in der bunten, thüringischen Vielherrschaft bezeichnet, als ein Mecklenburg in Thüringen. Ist das eine poetische Licenz, so hat mich eben der Poet zu dieser Licenz berechtigt.

Fritz Reuter hat in der That sein Vaterland mit nach Thüringen genommen, nicht an seinen Schuhsohlen, aber in seinem volkstreuen Herzen. Er fand eine waldfröhliche Scholle am Fuße der Wartburg und mit dem Rechte des souverainen Dichters, dem die Welt gehört, hat er für Mecklenburg davon Besitz genommen. Freilich nicht für das berüchtigte Stock-Mecklenburg, an dessen Grenzen sich der Wanderer, wenn er nicht etwa Weinreisender ist, scheu vorüber drückt, sondern für jenes Mecklenburg, das in Leid und Lust, in Sitte und Sprache eines gemüthsinnigen Volkslebens, dem Dichter Geburt- und Heimstätte gewesen und ihm eine unwandelbare Seelenheimath geblieben ist.

Und welche Wunder weiß nicht so ein Poet mittels des Zaubers schöpferischen Humors zu vollführen!

Vor den Fenstern seines Arbeitszimmers rauschen und wogen die Baumwipfel aus tiefem Felsengrunde; von seinem Schreibtische aber schaut er sinnenden Blickes, das Herz voll Heimweh und Heimlust, hinein in die weitgestreckten fetten Bodenflächen Mecklenburgs. Gehöfte und Dörfer tauchen auf mit landwirthlich derben Staffagen um Haus und Scheuer, mit Eggen, Pflügen, Rüstwagen, Düngerhaufen, Pfützen, mit Pferden kräftig runden Schlages, breitgehörnten, feisten Rindern, grunzenden Schweinen, mit gänsebrüstigem und sonstigem Federvieh, überhaupt Allem, was zum lebenden und todten Inventarium einer ländlich mecklenburgischen Idylle gehört. Aus den frisch gerissenen Furchen des Sturzackers duftet der Brodem mecklenburgischer Erde. Zwischen Pappeln und geköpften Weiden schleicht eine Landstraße über die weite Ebene dem Horizont zu. Eine Postkutsche arbeitet sich eben durch das tief ausgefahrene Geleise hindurch. Der Schwager wird wohl nichts dagegen haben, daß die Phantasie des Dichters als „blinder Passagier“ aufhockt. Das Fuhrwerk fliegt nur um so rascher dahin. Hat doch der Poet seinen Pegasus mit vorgespannt. Da grüßen schon über enggedrängte Giebel und Dächer hinüber die Thürme von Malchin, Parchim, Dömitz, „Bramburg“, „Stemmhagen“. Das alte Vaterhaus erschließt sich dem Dichter. Er streift durch die Straßen, in denen sich die Erinnerungen seiner Kindheit tummeln; er besucht alte Schulfreunde, Nachbarn und wunderliche Käuze seiner Bekanntschaft. Die Meisten deckt längst das Grab, dem Dichter aber leben sie. Von allen Seiten umtönt ihn das landsmännische Plattdeutsch in voller Treuherzigkeit und Einfalt altväterisch ererbter Ausdrucksweise und doch wiederum so voll natürlichen Humors und lebendigen Volkswitzes. Die patriarchalische Idylle, wie sie in Mecklenburg noch zu Hause ist, der bürgerliche Lebensroman, wie er dort in räumlich und social eng zugeschnittenen Verhältnissen sich abspinnt, die ergötzliche Schnurre etc., das Alles zieht in bunten Erlebnissen und Gestalten an des Dichters geistigem Auge vorüber und doch in der ganzen Frische der Gegenwart, als wär’s noch greiflich, unmittelbar, blutwarmen Hauches. Und was er so schaut und empfindet, schreibt Fritz Reuter aus seinem Herzen und seinem Tintenfasse mittheilsam nieder im ehrlichen Platt, auf daß feine plattdeutschen Mitmenschen sich daran erbauen und ergötzen. Die Hinstorff’sche Hofbuchhandlung in Wismar und Luwigslust aber läßt es in Rostock drucken auf etwas gar „grisem“ Papier, das an die alten deutschen Volksbücher „gedruckt in diesem Jahre“ erinnert, als wollte der Verleger auf diese Weise seines Autors Volksthümlichkeit noch besonders illustriren, was er gar nicht nöthig hat.

Fritz Reuter’s Bücher sind in Tausenden und Abertausenden von Exemplaren, in immer neu sich folgenden Auflagen, über das weite Sprachgebiet des plattdeutschen Idioms und noch weit darüber hinaus gewandert; über die preußischen Marken und Pommern hinauf gen Osten, wo an der Weichsel der in plattdeutscher Volksmundart gebotene Tagesgruß der dankenden Erwiderung in slavischer Zunge begegnet, und höher hinauf über den Pregel hin, wo an einem Tische in der Dorfschenke nicht selten plattdeutsche „Dönchen“ mit litthauischen Dainos wechseln. Dann wieder westwärts, hin über Niederelbe und Weser, über den braunschweigischen und hannoverschen Harz, hinunter bis an den friesischen Küstensaum, dann abwärts über das Münsterland zum Niederrhein, überall allüberall sind Fritz Reuter’s Schriften die Zierde des Familien-Bücherschrankes und die zerlesensten Bücher der Leihbibliotheken. Auch im europäischen Auslande, auch jenseits des atlantischen Oceans, in New-York, am Mississippi, Missouri, in Californien, inmitten der mexikanischen Sierren, in Honolulu, in der Havanna, kurz wohin nur Mecklenburger und Hamburger Kinder, Schleswig-Holsteiner, Hannoveraner, Oldenburger etc. von Geschäftswegen verschlagen Worten sind, wird jede neue Schrift Fritz Reuter’s mit Jubel begrüßt als ein treuer Bote, der gar viel Herziges und Anmuthendes aus der fernen Heimath zu erzählen weiß.

Für seine des Plattdeutschen kundigen Landsleute ist Fritz Reuter ein Dichter am häuslichen Heerde geworden.

Ich nenne ihn einen Dichter, obwohl gerade die dem Leser sylbenweis zuscandirten und in Reime gefaßten Dichtungen – ich nehme die im Einzelnen so wunderliebliche „Bagel- un Minschengeschicht: Hanne Nüte“ nicht aus – nicht das Bessere sind, was Fritz Reuter geschrieben hat; ich nenne ihn einen Volksdichter, wenn auch kein Lied von ihm im Munde des Volkes lebt. Er darf in seiner Weise dem Franzosen Beranger dreist das Wort nachsprechen: „Le peuple c’est ma muse!“ – Hat doch in der That Fritz Reuter bereits seinen tönenden Rhapsoden gefunden! Ich erinnere an den Mecklenburger Schulmeister, der vor Kurzem eine förmliche Kunstreise durch einen Theil von Norddeutschland gemacht hat, um vor einem großen, entzückt lauschenden Publicum, wie z  B. in Hamburg, Erzählungen von Fritz Reuter mit dem echten Accent und in der naiven Tonart des Mecklenburger Platt vorzutragen. In einer Residenz – ich glaube in Schwerin war’s[WS 1] – wurden ihm sogar die Vorlesungen von Polizeiwegen verboten, weil dieselben dem Besuche des Theaters Abbruch thaten.

Man kann aber außerdem sicher sein, fast in jedem geselligen Kreise des nördlichen Deutschland Jemanden zu finden, der sich auf seine Virtuosität im Vorlesen Reuter’scher Dichtungen etwas zu Gute zu thun weiß und der für alle Fälle einen Band derselben in der Tasche mit sich führt. Selbst in vornehmen Cirkeln, wo sonst Musik, Aesthetik und die Phrase des höheren Schliffs herrscht, ist mit Fritz Reuter das Plattdeutsche mehr als blos salonfähig geworden; es ist an der Tagesordnung oder – um mich correct auszudrücken – an der Abendordnung der Salons. – Ich bin in Hamburg auf einer Soirée eines mit Millionen an der Bank bezifferten Hauses gewesen. Die glänzenden und zugleich comfortabel eingerichteten Gesellschaftsräume zeugten von jenem feinfühligen Geschmack, den der prahlende, beutelstolze Parvenu sich nimmer aneignen wird. Der prachtvolle Flügel war geöffnet. Auf dem Notenpulte lag eine Chopin’sche Etüde aufgeschlagen und harrte der kunstfertigen Finger der Dame vom Hause, die, wie mir bekannt, mit einer an Meisterschaft grenzenden Virtuosität ihr Instrument zu beherrschen wußte. Es fehlte auch nicht an einer Sängerin, deren seelenvollem Augenaufschlage man es ansehen konnte, daß sie sich für Mendelssohn’s „Auf Flügeln des Gesanges“ im Voraus stimmte; auch war ein tüchtiger Baryton da, mit dem sie aus classischen und neueren Opern manch reizendes Duett beifallssicher vortragen konnte. Ein Cello lehnte in einer Ecke neben einem Violinkasten. Es war sichtlich Alles auf einen musikalischen Abend eingerichtet.

Da zog einer der Gäste, der als leidenschaftlicher und auch guter Fritz Reuter-Vorleser bekannt war, einen Band der „Olle [573] Kamellen“ aus der Tasche, Einigen aus der Gesellschaft vertraulich mittheilend, er habe das Buch für den Nothfall mitgebracht, um unter Umständen eine Lücke im Repertoir der Unterhaltung damit auszufüllen. Aber der Name „Fritz Reuter“ und „Olle Kamellen“ war von den Nächststehenden gehört, das Buch gesehen worden, und „Fritz Reuter“ und „Olle Kamellen“ ging es von Mund zu Mund durch den Saal. Bald war der erwähnte Herr von der ganzen Gesellschaft umdrängt. „Bitte, bitte, vorlesen!“ klang’s von allen Seiten. Das dringende Ersuchen des Herrn und der Frau vom Hause, welche letztere liebenswürdig auf die eignen Lorbeeren verzichtete, um ihrer Gesellschaft und ihrer selbst willen – denn auch sie gehörte zu den Verehrern Fritz Reuter’s – machte dem höflichen Sträuben, das der Gast der Erfüllung dieses Wunsches entgegensetzte, ein Ende.

So wurde denn aus der projectirten musikalischen Soirée mit Chopin, Mendelssohn, Figaro’s Hochzeit, Casta Diva und was sonst noch – ein plattdeutscher Fritz Reuter-Abend. Wohl an zwei Stunden hing die Gesellschaft am Munde des Vorlesers, in stetem Wechsel von heiterem Lachen und tiefer Rührung, die auf allen Gesichtern lag und in leisen und lauteren Ausrufen sich kund gab. Ein eigenthümliches Phänomen aber war es, wie nachher an der mit fürstlichem Luxus servirten Tafel, in einer der gewähltesten Gesellschaften Hamburgs, wo sonst ein unvorsichtig ausgestoßenes plattdeutsches Wort betrachtet wurde wie etwa eine plebeje Matrosen-Theerjacke, die sich in einen eleganten Cercle gedrängt, hinüber und herüber plattdeutsche Scherzworte gewechselt wurden. Selbst junge Damen, denen man noch die französische Pension anmerken konnte, bewiesen ohne Scheu ihre Geläufigkeit im hamburgschen, dem mecklenburgschen geschwisterkindlich ähnlichen „Pladddütsch“, das sie als Kinder noch mit den altbürgerlichen Großeltern, mit Amme und Dienstboten geplaudert. Und je kleiner und rosiger der Mund, um so allerliebster stand ihm das treuherzig neckische Platt.

So weiß Fritz Reuter mit der Wünschelruthe Poesie das Herz des Volkes auch in jenen Schichten zu finden und zu rühren, die als höhere Gesellschaft ihr Leben von dem Leben des Volkes getrennt haben. Was unser Schiller in seinem Liede „An die Freude“ singt:

„Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,“

das gilt auch von der wahrhaften, aus freudiger Seele quellenden Volkspoesie.

Fritz Reuter’s Wohnung am Fuße der Wartburg.

Diese allgemeine Volksthümlichkeit verdankt Fritz Reuter lediglich seinem treuen Humor, der den Kern seines ganzen innern Menschen bildet. Er ist ein echter Poet, weil er ein echter Humorist ist. – Es ist unsern Aesthetikern noch nicht gelungen, den Begriff des Humors in faßlicher, erschöpfender Definition festzustellen; der Humor spottet eben humoristisch der haarspaltenden Gelehrsamkeit, die sein ungebundenes Wesen in ein trockenes Schema hineinzwängen will. Und wenn wir Fritz Reuter selbst fragten, wie er denn eigentlich seinen Humor zu Wege bringt, er würde uns kein anderes Recept geben können, als dieses: „Nimm einen Bogen Papier, eine Stahlfeder oder auch nach Belieben einen Gänsekiel, befeuchte diesen von Zeit zu Zeit mit einigen Tröpfchen Tinte und schreibe nieder, was dir Kopf und Herz dictiren. Punctum!“ Aber was bedarf auch die Welt der Definition des Humors! An seinen Werken erkennt sie den Humoristen, der den schlummernden Humor in ihrem eignen Herzen weckt. Das ist genug. –

Fritz Reuter hat nicht, wie Cervantes, die Welt mit einer unsterblichen, tragikomischen Figur des übermüthigen Humors beschenkt; er hat nicht – um lieber von einem gar trefflichen deutschen Humoristen zu reden – wie Carl Immermann in seinem „Münchhausen“, ein amnuthig inniges Liebesleben von duftig poetischem Hauche in eine Arabeske hineingezeichnet, aus deren wilden Ranken, Blüthen und Blättern uns gar märchenhaft närrische Zerrbilder anlachen. Nirgends in seinen Schriften begegnet uns eine Carricatur, die in allegorischer Uebertreibung der menschlichen Thorheit spottet; nirgends führt er uns Verhältnisse und Schicksale vor, die über die Sphäre bürgerlicher Möglichkeit hinaus sich in’s Abenteuerliche verlieren oder für die nur der Dichter den Glauben seiner Leser fordern kann. Die Menschen, wie sie uns aus Fritz Reuter’s Büchern entgegentreten, kommen uns in ihren Physiognomieen, ihrer Haltung, Sprechweise und ihrem Behaben, selbst in ihrer Kleidung so bekannt vor, als müßten wir sie schon irgendwo gesehen haben, oder als könnten wir denselben jeden Tag begegnen. Auf gleiche Weise nimmt das Schicksal dieser Menschen, das Fritz Reuter im bunten Wechsel von heiteren und ernsten Verwicklungen vor unseren Augen sich abspinnen läßt, den Verlauf eines gewöhnlichen Alltagsschicksals an, wie es nun einmal in den enggezogenen [574] Verhältnissen des Kleinlebens „ländlich – sittlich“ zu sein pflegt. – So bin ich vor Kurzem noch in Gotha von einem Verehrer Fritz Reuter’scher Schriften, für dessen Ungeduld der dritte Band von „Ut min Stromtid“ gar zu lange auf sich warten ließ, alles Ernstes, als ob es sich um wirkliche Lebensverhältnisse handelte, gefragt worden, ob ich nicht wüßte, ob der Herr von Rambow auf Pümpelshagen doch am Ende durch seine steigenden Geldverlegenheiten genöthigt sein werde, sein Gut an den gemeinen Kerl, den Zamwell Pomuchelskopf, gegen einen Spottpreis abzutreten, oder ob vielleicht der Jude Moses noch einmal sich herbeilassen werde Geld vorzuschießen. – Ich wußte dem Herrn keine bessere Antwort zu geben, als daß ich ihm achselzuckend bemerkte, ich müßte über diese Angelegenheit noch ein discretes Schweigen beobachten – wobei derselbe sich denn auch beruhigte.

Aber das ist eben das Verdienst Fritz Reuter’s, daß er seine Schöpfungen zu Erlebnissen seiner Leser macht, daß er diese zur Mitleidenschaft, zur Theilnahme an dem Geschicke schlichter Menschen zwingt, an denen sie sonst kalt und theilnahmlos vorübergehen. Die optische Täuschung, daß der Leser selbst zu finden glaubt, was der Dichter für ihn gefunden, ist eben der Triumph des Dichters.

Fritz Reuter nimmt die Menschen wie sie sind, aber wie sie sich nur den humanen Anempfindungen des Humoristen offenbaren. Die Gestalten treten aus des Dichters schöpfungsfreudiger Seele wie aus einem goldig lichten Hintergrunde hervor. Ein mild ironischer Zug umspielt selbst die trüben Ereignisse, die der Dichter ebensowenig wie das Leben seinen Menschen ersparen kann. In Fritz Reuter’s Dichtungen ist nirgends etwas Weinerliches, ungesund Sentimentales. Auch in verzweifelten Lebenslagen erscheinen die komischen und naiven Persönlichkeiten in der vollen Komik und Naivetät ihres Wesens, dessen sie sich nun einmal nicht entäußern können. Es hilft dem Leser nichts – er mag noch so gerührt und erschüttert sein – er muß unter Thränen lächeln, vielleicht auch lachen. –

Hat doch auch der freudig goldige Glorienschein des Humors das Haupt des Dichters umleuchtet in den Kasematten preußischer Festungen, wo er, zu vieljähriger Gefangenschaft anstatt der Todesstrafe begnadigt, das Verbrechen abbüßen sollte als studirender Jüngling nutzlos für die deutsche Einheit geschwärmt zu haben. Man schrieb damals die dreißiger Jahre, in Preußen regierte Friedrich Wilhelm III., und Herr v. Kamptz führte die politischen Untersuchungen.

Die elende Philisterseele, die Fritz Reuter’s von Humor übersprudelndes und doch so rührendes Buch „Ut min Festungstid“ ohne Lachen, ohne Thränen und ohne Ingrimm lesen könnte, verdiente einen besonderen Ehrenplatz unter den Amphibien der vorzüglichsten aller zoologischen Gärten Deutschlands.




Ein unterirdischer Riesenbau im Oberharze.

Am Nachmittage des 5. August d. J. umstanden in der Nähe des am Fuße des Harzes gelegenen braunschweigischen Fleckens Gittelde, einige hundert Schritt von der Kunststraße, Tausende das Portal eines sogenannten Stollen-Mundlochs. Bergleute vom Oberharze und Landbewohner, nebst Curgästen aus dem nahen Badeorte Grund, harrten auf den Augenblicks wo eine in Clausthal in der Grube Elisabeth eingefahrene Mannschaft hier zu Tage austreten würde. Die Versammlung galt der Eröffnung eines großartigen Baues, der sich würdig den Aquäducten der Römer und allen Tunnelbauten der Neuzeit an die Seite stellt. Um dem Leser ein Verständniß dieses wichtigen Unternehmens zu vermitteln, muß ich indeß etwas weiter ausholen.

Der Harzer Bergbau war, wie öfter schon, durch die mit den bisherigen Mitteln nicht mehr zu beseitigenden Grundwasser gefährdet. Man hatte letztere bisher theils durch sogenannte Künste, d. H. Pumpenwerke, gehoben, theils in Abzugscanälen, Stollen, abgeleitet. Pumpenwerke heben bekanntlich das Wasser nur 32 Fuß hoch. Die hier angewendeten sind so zusammengesetzt, daß jede tiefer liegende Pumpe das 32 Fuß in die Höhe geförderte Wasser einer höher liegenden übergiebt. Die Pumpen werden durch mächtige Wasserräder, welche auf der Oberfläche von den Gefällen eines wohlgeordneten Teich- und Grabensystems bewegt werden, in Thätigkeit gesetzt. Das Gestänge, welches die Pumpenstangen hebt, dient in manchen Gruben zugleich zum bequemern Aussteigen der Bergleute aus dem Schachte. Es ist begreiflich, daß mit der zunehmenden Tiefe dieser Schächte die Lasten, welche die Gestänge zu halten und zu heben haben, ungeheuer und bei übergroßer Tiefe endlich unmöglich werden, zumal wenn im Frühlinge schmelzende Schneemassen die Grube zu „ersäufen“ drohen. – Weit einfacher ist die Entfernung der Grundwasser durch Stollen, deren Bau aber kostspielig und zeitraubend ist. Schon 1525 wurde der erste (Dreizehnlachter-)Stollen, der in Wildemann etwa 1300 Fuß über dem Spiegel der Nordsee mündet, getrieben, und in demselben Jahrhunderte sah man sich zu noch drei andern Stollenanlagen veranlaßt. Dadurch konnte der Bergbau zweihundert Jahre lang ungestört betrieben werden. Die Tiefe der Gruben unter der Sohle der vorhandenen Stollen nahm aber zu, die unterirdischen Maschinen hoben die Wassermenge nicht mehr bis zu jenen Stollen, und wieder drängte der überhandnehmende Feind den Bergmann, durch tiefere Stollen Abhülfe zu schaffen. Da faßte man nach längeren Untersuchungen und Verhandlungen 1771 den Plan, einen Stollen von der Bergstadt Grund aus zu den Clausthaler Gruben zu führen. Dieser Stollen – nach König Georg III. „Tiefer Georg-Stollen“ genannt – wurde in zweiundzwanzig Jahren (1777–99) mit einem Kostenaufwande von 412,141 Thlr. beendet. Er liegt etwa 970 Fuß unter Tage, ist mit allen Querdurchschlägen gegen 21/2 deutsche Meilen lang und nimmt die Gewässer der Clausthaler, Zellerfelder und Bockswieser Gruben auf.

Da aber bei seiner Beendigung einzelne Schächte schon tief unter seine Sohle niedergebracht und die Gesenke nur mit großer Anstrengung in Fluthzeiten von Wassern frei zu halten waren, so genügte sehr bald auch diese kostspielige Anlage nicht mehr. Vier Jahre nach Vollendung des Georg-Stollens suchte man deshalb die Tiefbaue der Hauptgrubenreviere durch eine 400 Fuß tiefere Wasserstrecke zu sichern, ermöglichte damit auch eine Concentration der Wasserwirthschaft und vermittelst Kähnen den Transport der Erze. Aber einen Ausgang hatten diese Gewässer nicht, sie mußten bis auf den Georg-Stollen gehoben werden, und die angestrengtesten Leistungen der Maschinen waren nicht immer im Stande, die Fluthen zu bewältigen, zumal auch der Georg-Stollen durch die Menge der hindurchdringenden Gewässer oft in Gefahr war, verstopft zu werden. Der Bergbau stand an einer Grenze, über welche hinaus nur der Bau eines tiefsten Tagestollens sichere Hülfe bringen konnte.

Erst 1850 kam indeß das Bergamt auf Grund markscheiderischer Messungen und allseitiger Erwägungen zu dem Beschluß, den jetzt in Gittelde mündenden Stollen in Angriff zu nehmen. Das königl. Hann. Ministerium genehmigte den Plan, die allgemeine Ständeversammlung des Königreichs stimmte dem Kostenanschlage von 419,000 Thalern bei, die herzogl. braunschweigische Regierung kam hinsichtlich des Ansetzpunktes in Gittelde dem Unternehmen entgegen, und so konnte am 21. Juli 1851 der Bau begonnen werden. Das Werk erhielt nach dem verstorbenen Könige den Namen Ernst-August-Stollen. Die Arbeit wurde auf zehn verschiedenen Punkten der Stollenlinie zugleich in Angriff genommen, was die Beendigung sehr beschleunigte. Ueberall in gleichen Dimensionen, nämlich bei einer Höhe von etwa 9 und einer Weite von 6 Fuß, hat der Canal auf der ganzen Länge einen gleichmäßigen Fall von 5,4 Zoll auf je 658 Fuß. Man hatte auf eine Arbeitszeit von 22 Jahren gerechnet, aber schon nach 12 Jahren 11 Monaten erfolgte am 22. Juni dieses Jahres der letzte Durchschlag. Es giebt einen Begriff von der Großartigkeit des Unternehmens, wenn man bedenkt, daß die ganze Länge des Stollens, einschließlich aller Nebenstrecken, 11,819 Lachter oder drei deutsche Meilen beträgt; daß etwa 11/2 Million Bohrlöcher in selbiges Gestein gearbeitet und über 2000 Centner Pulver verschossen wurden. Die Bohrlöcher aneinander gereiht würden eine Gesammtlänge von 60–70 deutschen Meilen ergeben.

Nur der frohe Sinn und die wie der Stein feste Beharrlichkeit des Bergmanns haben, wenn wohl oft auch unter Seufzern [575] nach ungezählten Millionen von Schlägen mit dem schweren Fäustel das große Wert zu Stande gebracht zum bleibenden Zeugniß der Thatkraft des Bergbewohners.

Daß das Ziel, wenn auch mit größeren Kosten, welche die so viel früher möglich gemachte Benutzung des Stollens reichlich ausgeglichen, so bald erreicht wurde, ist zweierlei Umständen zu verdanken: der höchsten Genauigkeit und Sicherheit der markscheiderischen Messungen und der anerkannt vortrefflichen Ausführung der bergmännischen Arbeiten. Daß auf einer so ungeheuren Strecke genau der oben erwähnte Fall der Stollensohle von 5,4 Zoll auf 100 Lachter eingehalten ist, daß bei den neun verschiedenen Durchschlägen Sohle und Wangen fast ohne Differenz aufeinander trafen, daß man in der geraden Linie vor dem Mundloch auf 5925 Fuß Entfernung das Tageslicht erblickt – alles dieses ist Beweis sowohl der wissenschaftlichen Begabung des Markscheiders, wie des kunstfertigen bergmännischen Betriebes. Jenen haben selbsterfundene Instrumente, so auch die Anwendung starker Magnete bei der Durchschlagsrichtung unterstützt; diese ist planmäßig und klug geleitet und unter treuester Benutzung der Arbeitskräfte so rasch zu Ende gebracht. –

Der oberharzische Beamte, der mir diese Angaben machte, sprach eben noch von den Verunglückungen beim Bau und den Erzgangaufschlüssen, welche der Betrieb zu Wege gebracht, da bewegte sich drängend die Volksmasse vor dem mit Thürmen und Zinnen geschmückten, aus Sandstein-Quadern erbauten Portal des Mundlochs, und tief ergreifend erklang ein „Nun danket Alle Gott!“ welches die eigentliche feierliche Einweihung des großen Baues einleitete.

Aus Aller Augen sprach die Freude, und auch die nicht unmittelbar bei dem Stollenbetriebe betheiligten Bergleute und sonstigen Bergbewohner waren, weil sie die Bedeutung des Werkes zu würdigen verstanden, froh bewegt im Hinblick auf eine für den Grubenbetrieb hoffnungsreiche Zukunft. Die frohe Stimmung der Festgenossen, die Vereinigung von frommem Ernst und reiner Freude, wie sie selten so harmonisch gefunden werden, bestimmten mich, der ich eigentlich nur zufälliger Zuschauer der Feier war, schnell dem weitern Verlauf der Festlichkeiten beizuwohnen. Fand ich auch in der Volksmenge keinen Bekannten – am Oberharze fühlt man sich bald heimisch, und wenn irgendwo im lieben deutschen Vaterlande, so kommt man hier offen und treuherzig dem Fremden entgegen.

Wir gingen über die Berge nach Grund, während eine Menge bereitstehender Equipagen auf die Mitglieder der Behörden harrte, die in einem neben dem Mundloche aufgestellten Zelte die während der Stollenfahrt getragene bergmännische Kleidung ab- und den Beamtenrock anlegten. Ein Grubenbursche, der seinem Herrn Geschwornen Grubenlicht und Anzug getragen, mußte mir von der Fahrt erzählen. In einem Zechenhause in der Nähe des Elisabether Schachtes waren Morgens sechs Uhr die Fremden aus Hannover, Braunschweig, Oesterreich und Preußen, das Bergamt und sonstige oberharzische Beamte mit einem Choral empfangen worden. Nachdem die Bedeutung des Stollens und an einem Grubenrisse dessen Richtung und Verbindung mit den weit verzweigten Grubenrevieren erläutert war, wurden die 70 Personen, welche die Fahrt unter Vorauftritt eines Bergmeisters und des Berghauptmanns mitzumachen beabsichtigten, verlesen. Für gefahrlose Einfahrt in den erleuchteten bis zum Stollen über 1200 Fuß tiefen Schacht war möglichst Sorge getragen. Bei dem ungewohnten Niedersteigen an so langen, senkrecht stehenden Leitern wird Mancher an das Loos des alternden Bergmanns gedacht haben, der nach zwölfstündiger saurer Schicht aus der nassen Tiefe und dem Pulverdampfe mit kurzem Athem und zitternden Knieen hinaufsteigt, um am Abend mit den Seinigen eine kärgliche Mahlzeit zu halten, einige Stunden auszuruhen und früh Morgens vielleicht zum letzten Male hinunterzufahren. Doch bei dieser Fahrt am 5. August fehlte es an Erquickung und Stärkung nicht. Auge und Ohr empfingen bleibende Eindrücke. Bemerkenswerthe Stellen waren durch transparente Inschriften bezeichnet. Acht Schiffe, mit Guirlanden und Tannenzweigen geschmückt, nahmen die unterirdischen Reisenden auf. Zuvor aber ward ein Imbiß und ein Glas Portwein gereicht. Im vordersten Schiffe hatte ein Musikchor, im letzten eine Sängerschaar Platz genommen. Auch ein Kanonenboot deckte den Rücken und die donnernden 21 Kanonenschläge am Herzog Wilhelm-Schachte machten gewiß manches Herz erbeben, denn in diesen verschlossenen Tiefen findet die Schallwelle keinen Ausweg und schlägt um so mächtiger in’s Gehör. Drei neuen Durchschlagspunkten war durch gußeiserne Tafeln bleibende Erinnerung gegeben. Man hatte dann die Schiffe verlassen und ging auf dem gedielten Fußboden (Tretwerk) des Stollens fort. In einem weiten schön decorirten Raume unterhalb der Bergstadt Wildemann wurde gefrühstückt. Endlich war das Mundloch erreicht, wo beklommenen Herzen bei dem fröhlichen „Glück auf!“ im Sonnenlichte wieder leicht wurde.

Unter diesen Mittheilungen hatte ich Grund erreicht. Die Angehörigen des Bergfaches fanden dort im größten Speisaale des Curorts eine gute Tafel, und erst nach Mitternacht passirten die Gäste auf ihrem Wege nach Clausthal das Spalier von Hüttenleuten mit Fackeln auf der Frankenscharner Silberhütte.

Der folgende Morgen brachte neue Ansichten. Eine ungeheuere Schaar von Bergleuten aus allen sieben Bergstädten folgte, festlich geschmückt mit grünen Schachthüten und schwarzem Hinterleder, den Bergfahnen und Musikchören, um zur Kirche zu gehen. Ich sage nichts von der Predigt, aber die gewaltigen Tonmassen möchte ich schildern können, die sich aus so vielen sonoren Männerstimmen entwickelten. Trotz der umfangreichen Orgel und der fünfzig Blechinstrumente war der Gesang vorherrschend. Auf den Bergen ist der Gesang zu Hause, und zumal in Kirchenmelodieen ist der Bergmann sicher. Eben so wie die Tonmasse imponirie daher das klangreiche Metall der Stimmen. – Nicht weniger interessant war am Abend die bergmännische Aufwartung, bei welcher wieder in bester Ordnung alle Berg-, Poch- und Hüttenleute, letztere, wie die Fuhrleute, in weißen Kitteln, ferner Turner und Singvereine im Scheine unzähliger Grubenlichter und Fackeln, mit Fahnen und Emblemen vor dem Amtsgebäude des Ortes erschienen. Etwas ganz Originelles bot ein wie Kartätschenfeuer knatterndes Peitschenconcert der Harzer Fuhrherren und ihrer Knechte, die auf ein mit einer Laterne am Dache des Amthauses gegebenes Zeichen präcise einsetzten und eben so gut pausirten, wenn das Licht verschwand. Imposant war auch der Eindruck, welchen die von den Bergleuten bei den Festgesängen emporgehobenen Grubenlichter machten: der große Platz wurde zu einem Lichtmeere. Der Schluß der großartigen Scene zeigte, wie ihr Beginn und Verlauf, die beste Ordnung, und bald waren die letzten Grubenlichter in der dunklen Ferne verschwunden. Man ahnte auf den stillgewordenen Straßen nicht, welche Lebenslust und Munterkeit dem Harzer innewohnt, aber sie kam am folgenden Tage zum Durchbruch. Das Bergamt war bedacht gewesen dem großen Ereigniß schließlich durch ein großartiges Volksfest Erinnerung zu geben. Zu dem Ende war auf dem geräumigen Schützenplatze ein Zelt gebaut, wie es in solchen Dimensionen und solchem Schmuck niemals auf dem Oberharze gestanden. Das Zelt bedeckte einen Raum von 36,000 Quadratfuß und enthielt vier Tanzsäle, und muntere Pochknaben credenzten unablässig Lager- und Süßbier aus nicht versiechender Quelle. Ein unerschöpfliches Büffet lieferte Speisen. Es mögen mehr als 8000 Personen hier Platz gefunden, oder vielmehr sich im buntesten Gemisch gedrängt und geschoben haben. So eng aber auch der große Raum wurde – Tausende standen noch auf dem Schützenplatz, oder hörten in einem andern Zelte auf die vortreffliche Concertmusik der braunschweigschen Regimentsmusiker – nirgend vernahm man doch Zank und Streit. Man hatte weislich den Bergleuten die Aufrechterhaltung der Ordnung selbst überlassen, die nun durch zahlreiche Festordner, an weißen Armbinden kenntlich, trefflich überwacht wurde. Nirgend war in der ungeheuren Menge Polizei zu sehen, und die gute Disciplin, die überall bei dem Bergwesen herrscht, prägte sich unverkennbar auch im Feste aus. An Witz- und Scherzworten, Trinksprüchen und Reden, Gesang und Gelächter suchten die Festgenossen einander zu übertreffen. – Die Scheidewand der Stände war auf zehn Stunden gefallen. Die höchsten Beamten traten einmal dem Untergebenen in einer ihm wohlthuenden Weise nahe, und wie Bürger in seinen „Weibern von Weinsberg“ launig berichtet, so wurde auch hier „durchgetanzt mit Allen“, bis am Morgen dem Feste durch einen „Kehraus“ ein heiteres Ende gegeben ward. So herrschte im Innern des mit Lampions und Kronleuchtern erhellten Zeltes „reine Freude und Glück“; außen aber konnte sich die Menge nicht satt sehen an der feenhaften Erleuchtung des in allen Farben prangenden Portals. In Transparenten brannten die Wappen der sieben Bergstädte und ein weithin leuchtendes „Glück auf!“ –

[576] Dem Beschauer eines solchen Lichterglanzes liegt, wenn droben die ewigen Lichter still darein schauen, der Gedanke nah: wie bald wird diese Gluth erloschen sein! Doch die Veranlassung, welche diesem Feste Bedeutung gab, der Bau in der Tiefe, den die Noth erfand, wird den spätesten Geschlechtern noch Bewunderung abzwingen. Die edelste Festfreude hat ihren Grund in der Hoffnung einer gesegneten Nachwelt.




Ein christlicher Heide. „Nichts Neues giebt es unter der Sonne!“ das ist ein Citat, das Viele bereit haben, am meisten die Stoiker des modernen Salons, bei denen das nil admirari zum feinen Ton gehört. Dennoch aber passirt Neues, wenigstens neu nach Menschengedenken, wenn auch vielleicht die Möglichkeit vorliegt, daß in verschollenen Culturperioden untergegangener Welten einer oder der andere Präcedenzfall sich ereignet haben mag. Hat je ein Sterblicher als Privatwohlthäter sieben Millionen Thaler bei Lebzeiten an die Armen vertheilt und sich nach seinem Tode den Geiern und Raben als Speise vorlegen lassen? Ich bezweifle, daß irgend ein Chronist oder Memoirensammler dem Aehnliches aufspüren kann. Und doch handelte so ein Mann, Sir Dschamsedschi Dschidschibhoy, Baronet, Kaufmann seines Gewerbes in Ostindien und London, Millionär der Millionäre nach seinem Glück und Feueranbeter seiner Religion nach.

Es giebt in London ein kleines Bethaus der Parsen und Feueranbeter, und wie bei den alten Vestalinnen, wird auch hier das Feuer immer in Brand erhalten von einem „in festem Gehalte“ stehenden Feuerdiener. Alljährlich wird vor der Flamme ein großen Fest von den Parsen in London begangen, das Nowroz genannt, und dasselbe Fest begeht man an dem selben Tage bei den Feueranbetern in Arabien, in Persien, in Indien und in Bokhara, diesseits und jenseits des räthselhaften Aral-Sees in Mittelasien. Auch in London begrüßen sie privatim mit besonderer Feier noch den Aufgang und den Untergang der Sonne, mit einem Ritus, der von dem märchenhaften Zoroaster herrühren soll, und kein Parse löscht je ein Feuer, wäre es auch nur das Flämmchen einer Kerze oder das phosphorische Licht eines patentirten Streichhölzchens. Die parsischen Commis in den Comptoirs der reichen handeltreibenden Parsen Londons, wie jene Parsen, die als britische Beamte – man denke sich feueranbetende Geheimräthe und Oberzollcontroleure! – in den Bureaux der Präsidentschaften von Bombay und Madras angestellt sind, haben immer gefällige christliche, muselmännische oder der Hindurace angehörige Collegen zur Hand, welche, wenn ein Brief gesiegelt oder eine Pfeife angezündet wurde, das heilige Feuer des Wachs- oder Talglichtes oder Zündholzes verlöschen, nachdem solches unter den anwesenden Parsen ängstlich von Hand zu Hand gewandert. Die Parsen, die ich zu Gesichte bekam, erschienen sämmtlich in der Gestalt gewichtiger Financiers, welche, eine ungeheure, braune, kürbisartigc Mütze auf dem schwarzhaarigen Kopfe, in feinen schwarzen Oberröcken englischen Schnitts und in tadellosen schönlackirten Halbstiefeln durch das Gewühl der City laviren. Sie sind Friedensleute nach dem Systeme des Friedensapostels Elihu Burrit, trotz des martialischen Schnurrbarts, der ihnen quer durch das gelbbraune Gesicht wächst, und trotz der großen asiatischen Feueraugen. Sie sind sehr „respectirt“, weil hochangeschrieben bei den Banken, und das Accept eines Feueranbeters ist „pique-fein“, um im Berliner Börsenjargon zu reden. Wird aber gar der bloße Name „Sir Dschamsedschi Dschidschibhoy“ erwähnt, so nimmt jeder Engländer inwendig den Hut ab, da dies auswendig nicht Landessitte, der Erwähnte aber irgendwo in Indien bestattet liegt und Verstorbene ohnehin keine Ansprüche auf Höflichkeit mehr zu erheben pflegen.

Obwohl Sir Dschamsedschi Dschidschibhoy nicht zu der parsischen Colonie Londons gehörte, sondern nur England zeitweise besuchte, ist sein Name doch aller Welt dort bekannt, in ganz Asien aber zum Sprüchwort geworden, mit dem Beinamen „der große Bottle-Wallah“ (Flaschen-Fürst). Er war ein Bettlerkind von Bombay und begann seine Laufbahn als ein „selbstständiger“ Händler mit leeren Flaschen, als er noch ein Knabe im Straßenjungencostüm, mit einem Goldpapierkäppchen auf dem Kopfe und spitzen Pantoffeln an den Füßen. Wie der moderne Erzvater Rothschild schwang er sich vom kleinen Trödler in zehn Jahren zum reichen Manne empor; die leeren Flaschen wichen den vollen, die leeren Theekistchen ganzen Theeschiffen, und nachdem er ein reicher Mann geworden, was die Welt „reich“ nennt, wurde er steinreich, denn Demanten und Rubinen wanderten in hunderten seiner eigenen mit Goldstaubhügeln gefüllten Schiffe durch den ganzen indischen und stillen Ocean.

Große Ostindienfahrer wurden sein zu vielen Dutzenden, sein bis auf den kleinsten Wimpel am höchsten Mast; nicht zu gedenken einer zahllosen Flotte von anderen Schiffen bis zur chinesischen Junke und zum Gewimmel der kleinen Perlfischerbarken hinab. Als „Nabob der Börsen“ kannte ihn Bombay, Madras, Cairo, London. In England figurirte er, von der Königin in den Adelstand erhoben, als Sir Dschamsedschi Dschidschibhoy, grafschaftengroße Ländereien in Britannien besitzend; daheim im Oriente galt er bis zu seinem Ableben als der „Bottle-Wallah“, was für ihn als einen „selfmade man“ (selbstgemachten Mann) längst von dem ursprünglichen Spitznamen zu einem Ehrentitel geworden. Und hätte er sich, anstatt einer feuerrothen Hand, eine Flasche Porter zu seinem Wappenschilde gewählt, würde die Verehrung unter seinen eigenen Landsleuten selbst die Lächerlichkeit des Sinnbildes in das Gegentheil verkehrt haben.

Doch daß der Genannte ein Crösus der Crösusse gewesen, als er im vorigen Jahre verstorben, daß er ein feueranbetender Baronet, das macht ihn nicht merkwürdig und des Nachruhms würdig, außer bei Raritätensammlern oder Anbetern des goldenen Kalbes. Aber die, gering gerechnet, volle Million guter Guineen, mit denen er bei Lebzeiten der Armuth beigestanden, und das „Wie“ der wohlthätigen, liebevollen Austheilung dieser Summe, welche sich in sieben Millionen deutsche Thaler übersetzt, verdienen ihm einen Platz in jeder Chronik unserer Tage, in denen es oft leichter ist groß als gut zu sein.

In Ostindien steht kein Hospital, keine Volksschule für Arme, kein Armenhaus, kein Wohlthätigkeitsinstitut, sei es für Parsen, Muselmänner, Hindus, ja auch für Christen und Juden bestimmt, das nicht theilweise als seine Schöpfung gilt, in vielen Fällen als die seinige ganz allein, gar nicht zu reden von den seiner eigenen Secte zu Liebe errichteten zahlreichen Parsen-Tempeln. In dem langen Kataloge der von ihm ausgeübten Wohlthaten, soweit dieselben durch ihre Summengröße bekannt geworden, sind von 10 – 15,000 Pfd. Sterl. (100,000 Thaler) unter den gewöhnlichen Stipendien, die er an der Londoner Universität wie an der von Bombay zum Theil für Studirende ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses aussetzte, werden mit drei Nullen geschrieben. Hunderte von Brunnen ließ er mitten in der Einöde graben, um der Wassersnoth unter seinen Landsleuten abzuhelfen, und pflanzte Wälder, und baute ganze Dörfer und in Städten ganze Straßen für die Armen und Obdachlosen unter seinen Landsleuten, Glaubensgenossen oder Anderen. An einem Tage schenkte er 18,000 Gold-Mohurs (à 10 Thaler) an die nothleidenden Parsen von Surate und Nowsaree und zeichnete zugleich über eine Million Thaler zum Bau einer Wasserleitung zu Punah, welche Stadt großer Dürre und Hungersnoth preisgegeben war. Der Viaduct wurde über das Bett einen ausgetrockneten Stromes gebaut. Da trat eine unvorhergesehene Überschwemmung ein. Sie riß den Bau fast ganz nieder, und Sir Dschamsedschi baute ihn von Neuem und vertheilte, als Hülfe in der Zwischenzeit, 17,000 Pfd. Sterl. an die Nothleidenden der Stadt. Die Zahl der Beamten seiner eigenen verschiedenen Wohlthätigkeitsanstalten beläuft sich auf zweihundert! Nur vom Gerüchte bezeichnet, aber nicht genannt, sind zahllose Beweise stiller Wohlthätigkeit an verschämte Arme jeden Standes, in Asien, wie selbst mitten in London, das er mehrere Male besuchte. Der „große Heide mit dem Herzen eines großen Christen“, so nennt ihn die Londoner Chronik, und sein Reichthum stand in den Berichten neben den in den Märchen der „Tausend und eine Nacht“ genannten unerschöpflichen Schätzen. Eine englische Zeitung sagte in dem ihm gewidmeten Nekrologe: „Mit der einen Hand machte er Gold und streckte gleichzeitig die andere Allen gefüllt entgegen, die mit einem Weh oder einem Lebensjammer zu ringen hatten.“

Als einst ein englischer Bischof am Hofe zu London mit Sir Dschamsedschi in’s Gespräch gekommen und ihm seine ehrliche Bewunderung so unerhörter Freigebigkeit aussprach, blickte der Andere einige Minuten lang bewegt in die untergehende Sonne, welche die hohen Fenster des Buckingham-Palastes gerade mit ihrem Purpurgolde überfluthete, und sagte: „Alles kommt vom Lichte und schuldet also dem Lichte! Wir kennen in unserm Indien eine Fabel unserer Nachbarn, der Perser, und ich glaube an diese Fabel. Einst erschien ein Engel des ,Gottes des Lichtes’ dem Nouroji, einem vornehmen Perser. Der Engel schrieb mit einem Demantgriffel auf einer goldenen Tafel. Was schreibst Du?’ fragte der Perser. ,Ich schreibe,’ entgegnete der Engel, ,die Namen aller derer, welche Gott lieben.’ ,Ist der meinige darunter?’ fragte Nouroji, aber der Engel schüttelte das Haupt. ,Dann schreibe wenigstens nieder,’ fuhr Jener fort, ,daß ich meine Mitmenschen mein ganzes Leben lang geliebt habe, mit Herz, Seele – und Hand.’ In der nächsten Nacht erschien der Engel wieder mit Schreibtafel und Griffel. Und oben an der Spitze derer, die Gott lieben, stand der Name ,Nouroji’, des Persers, leuchtend in Strahlen!“ Und der Bischof schüttelte ihm schweigend die Hand.

Dies ist in der That die Moral des Lebens und Wirkens des Feueranbeters und Flaschenhändlers Sir Dschamsedschi Dschidschibhoy.

Als sein Testament eröffnet wurde, enthielt es noch lange Listen „wem zu geben in Asien und Europa“. Der City von London übermachte sein Sohn und Erbe von Bombay aus im Juni dieses Jahres 150,000 Thaler als ein Legat seines Vaters für gewisse Wohlthätigkeitsanstalten christlicher Liebe in der Stadt, und die City verlieh dem Sohne ihr Ehrenbürgerrecht. „So endete selbst der Tod nicht die Güte dieses Nabob!“ riefen die Zeitungen. „Keiner gab fürstlicher, Keiner wohlgefälliger wohl Dem, der auch den Trunk Wassers belohnt.“

Zu Guzerat in Indien, der Parsenstadt, steht ein hoher Parsentempel, der „Thurm des Schweigens“ genannt. Auf dessen oberes Plateau bettete man die Leiche des Verstorbenen, nach dem Ritus der Feueranbeter sie den Geiern und Raben und dem „Gefieder, das in Wolken wohnt“, überlassend und dem „Feuer der auf- und untergehenden Sonne“.




Deutscher Menschenhandel. Unter Anknüpfung an den in Nr. 33 und 35 enthaltenen Artikel „Deutscher Menschenhandel der Neuzeit“ macht man uns aus Hessen darauf aufmerksam, daß in der darmstädtischen Provinz Oberhessen dieser schandbare Schacher das „grassirende Uebel“ sei. Nun hat zwar der erwähnte Aufsatz bereits mitgetheilt, wie auch in einzelnen hessischen Gegenden das schmachvolle Gewerbe im Schwange gehe, unser Referent weist aber ausdrücklich darauf hin, daß es hier nicht katholische, sondern vielmehr durchweg protestantische Kirchspiele, namentlich die beiden Orte Hochweisel und Niederweisel seien, in welchen die Seelenverkäufer ihren Hauptsitz aufschlagen, um junge Mädchen nach England zu verhandeln. Die Gerechtigkeit erfordert, daß auch dies Moment gebührend zur Oeffentlichkeit gebracht werde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. tatsächlich: Rostock, vergl. Erklärung in Heft Nr. 43