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Die Gartenlaube (1864)/Heft 34

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[529]
Unter dem Bauernkittel.
Eine wahre Geschichte.
(Schluß.)


Es war noch früher als die Tage zuvor, da Pater Ignaz am nächsten Morgen am Thore des Stadtgefängnisses klingelte. Als er begehrte, nach der Zelle Nr. 18 geführt zu werden, berichtete ihm der Schließer, daß der Mörder auf Befehl des Königs noch spät am gestrigen Abend in andern bessern Gewahrsam gebracht worden und auch diesen Morgen eine nochmalige genaue Untersuchung anbefohlen sei, da Friedrich Wilhelm nach Durchlesung der Hauptacten und einem Gespräche mit dem Herrn Obertribunalrath geäußert habe, er glaube nicht an die Schuld des jungen Bauern.

Der hellste Freudenstrahl flog bei den Nachrichten über das Gesicht des Priesters, und der alte Schließer, der ihn die Treppe hinaufgeleitete, konnte kaum seinen eiligen Schritten folgen. Bald standen sie vor der neuen Zelle. Ehe aber der Pförtner die Thür erschloß, sagte der Pater: „Lieber Herr Werften, ich habe von heute ab freien Zutritt zu dem Gefangenen, und Niemand ist befugt einzutreten, wenn ich bei ihm bin. Hier das eigenhändige Rescript des Königs, – hier das des Herrn Gerichtspräsidenten, und dies der Schein vom Vorstand der hiesigen Verwaltungsbehörde.“

Der Schließer wies alle drei Schreiben zurück, sah den jungen Priester fast liebevoll an und erwiderte: „Als ob ich an Ihrem einfachen Wort zweifelte! Als ob ich überhaupt denken könnte, daß Jemand aus dem freiherrlichen Geschlecht der K. eine Unwahrheit sagen würde! Nein, so viel kennt man doch die K.s im Westphalenland! Aber die Unterschrift Seiner Majestät Friedrich Wilhelm’s des Vierten, sehen Sie, die möcht’ ich wohl anschauen, hab den Herrn schon liebgewonnen, als er noch als Kronprinz hier mit unserm verehrten Herrn Oberpräsidenten von Vinke unsere Provinz bereiste. Es ist ein gar guter Herr.“

„Das ist er!“ rief der Geistliche mit leuchtendem Auge.

„Sie haben ihm von dem Gefangenen erzählt, nicht wahr? O, ich dacht’s mir gleich, als ich heute hörte, daß Se. Majestät so lange mit Ihnen gesprochen.“

Der Priester legte das Schreiben des Königs in die Hand des Schließers und sagte ruhig: „Ihr wolltet ja wohl den Namenszug sehen?“ und trat in die Thür, die er rasch öffnete.

Nicht war’s das große, freundliche, sonnige, nach der Gartenseite hin gelegene Zimmer, nicht die hübsche, wenn auch einfache Einrichtung, die der Priester bei seinem Eintritt sah, er erkannte in dem Raume für den ersten Augenblick nur Eins – Andreas ohne Ketten!

Der Gefangene wandte sich beim Oeffnen der Thüre lebhaft um, kaum sah er den Geistlichen, so stürzte er auf ihn zu und lag, ehe der’s hindern konnte, zu seinen Füßen, und sein Gewand küssend, seine Kniee umklammernd, rief er unter Thränen: „Dank, Dank, o tausend Dank, daß Sie mir diese Gnade vom Könige erwirkt haben!“

Tief bewegt, erschüttert, keines Wortes mächtig, beugte sich der Priester zu dem ehemaligen Jugendgespielen, versuchte ihn emporzuziehen, faltete aber im nächsten Augenblick seine Hände und schaute verklärten Auges gen Himmel, als der am Boden Liegende in leidenschaftlicher Aufregung ausrief: „Nein, lassen Sie mich! Ihre Liebe, Ihre Güte, des Königs Huld hat mir tief, tief in mein verhärtet Herz gegriffen! Lassen Sie mich hier zu Ihren Füßen mit meinem Dank meine Beichte verbinden und hören Sie sie an im Namen des dreieinigen Gottes, im Namen der Mutter Maria und dem aller Heiligen, die mich schützen mögen! – – Vor acht Tagen waren’s gerade zwei Jahre, als ich zur Heimath zurückkehrte. Ich hatte meinen Militärdienst beendet und hätte wohl recht froh und glücklich sein können, allein merkwürdiger Weise überfiel mich eine unerklärliche Angst und gönnte mir unterwegs keine Ruhe. Erst als ich mein Dorf vor mir liegen sah, fiel mir die Centnerlast von der Seele, überglücklich wollte ich die letzte Strecke durcheilen, da ward mir eine Kunde, die mich zur Stelle bannte. – – Ich hatte auf dem Hofe der Eltern eine Braut. Diese wurde gerade in der Stunde mit meinem Bruder in der Kirche getraut! Was soll ich meinen Schmerz schildern? Sie kennen das Leid, Baron Adolar, das Treubruch bringt, denn Ihre Cousine Flora lehrte es Sie, ich weiß es! Denken Sie an den Tag zurück, wo sie Ihren Bruder heirathete, frommer Vater, und glauben Sie, der Bauer Andreas fühlte den Schmerz ebenso tief, wie der junge Freiherr.“

Andreas hielt einige Augenblicke inne, der Priester legte leicht seine Hand auf das Haupt des Knieenden und sprach leise: „Armer Andreas, armer, unglücklicher Freund!“

„Ja, unglücklich war ich! O Herr, so trostlos, so verzweifelt, daß der Freund, der mir Alles gesagt, mich nicht verlassen mochte, wie heiß ich mich auch vielleicht darnach sehnte, allein zu sein. Wir blieben unten in dem Eichenwäldchen, das Sie kennen, das dicht an die Wiese außerhalb des Schloßparks stößt. Dort lief ich, von rastloser Unruhe getrieben, Stunden lang umher, dort lag ich regungslos Stunden lang im Rasen. Die Dämmerung kam, ohne daß ich wußte, was anfangen, was thun. Die Dunkelheit brach ein, und noch hatte ich keinen Entschluß gefaßt, wohin [530] gehen, wo bleiben. Eben redete mir der Freund zu, ihm in die Hütte seiner Schwiegermutter zu folgen, – da hörten wir plötzlich Stimmen im Walde, dann Schritte, und bald vernahmen wir den Ruf: ‚Heinrich! Heinrich!‘ – endlich den Ruf: ‚Andreas!‘ Es war die Stimme meines Bruders. O diese Stimme! Sie durchdrang mich wie tausend Dolche, ich stürzte, wie von wildem Wahnsinn erfaßt, fort, weit und immer weiter, denn ihn zu sehen – wäre mir unmöglich gewesen. Plötzlich bannte ein geller Hülfeschrei aus weiter Ferne meine Schritte – da noch ein Ruf! Ich flog zurück, das Schrecklichste fürchtend. Todtenstille herrschte nun ringsum; der Stelle näher kommend, wo ich zuvor mit Heinrich gesessen, hörte ich noch ein leises Aechzen – dann Alles still; plötzlich aber die mit heiserer, fast erstickter Stimme ausgestoßenen Worte: ‚Jetzt, Viper, hast Du Dein Gift ausgespritzt!‘ O, wie sie meine Sinne im Kreise drehen machten, diese Worte, diese Stimme! Ich wollte schreien – ich brachte keinen Ton heraus; ich wollte vorwärts stürzen – meine Glieder waren wie gelähmt. Da rauschte es in den Zweigen, da eilte eine Gestalt an mir vorüber, ich sah Augen, die mich anstarrten, – es war mein Bruder!

„Dies meine letzte Erinnerung! Als ich das Bewußtsein wieder erhielt, waren Wochen vergangen; ich hatte die Krisis eines Nervenfiebers überstanden und – erwachte mit dem mir anhaftenden Brandmal eines Mörders im Gefängnisse. Schwach, krank, hoffte ich mit jedem kommenden Tage auf den Tod, ich mochte in dieser leider trügerischen Hoffnung nicht meinen Bruder als Mörder bezeichnen, und als ich gesund wurde, fühlte ich von Tag zu Tag deutlicher, daß seine Schande der Tod meiner Eltern sein würde. Aus den Verhören, in die man mich schleppte, erfuhr ich selbst erst alle nähern Umstände des Vorfalls. Ich hörte, daß der alte Bote des Dorfes es gewesen, der mich zuerst als den Mörder Heinrich Kamphagen’s bezeichnet. Der alte Schurke war mir gram gewesen seit dem Tage, wo ich als Knabe gesehen, daß er Enten aus dem Schloßgraben Ihres Onkels gelockt und gefangen. Ich hatte ihn nie angezeigt, ich hatte ihm seitdem manches Huhn, manche Ente von meiner Mutter erbettelt und ihm hundertfach Wohlthaten zugewendet, da er so bitter arm war – er vergalt die Rücksicht des Knaben, die Güte des Jünglings damit, daß er mich des Mordes anklagte! Ich war ihm am Tage meiner Heimkehr Morgens an der Parkwiese des Schlosses begegnet; Nachmittags hatte er mich mit Heinrich Kamphagen im Walde gesehen. Er war während des Hochzeitsmahles in den Hof meiner Eltern gekommen, hatte meinen Bruder zu sprechen verlangt, diesen aber erst gesehen, als endlich der Tanz auf der Tenne begonnen. Beide waren dann mitsammen durch’s Feld gegangen, wie sie ausgesagt, um mich zum Hochzeitsfest zu holen. Möglich, daß dies wahr, alles Andere, was sie beschworen, ist Lüge!“

Andreas hielt einige Secunden inne, dann fuhr er rascher fort: „Sie haben ausgesagt, Hülferufe hätten sie vorwärts getrieben in den Wald, sie seien zur Stelle gekommen, wo die Unthat verübt worden, im Moment, da die Braut des Schulzenknechts, Ilse Steinbrock, eine arme Weberin, mit lautem Schrei besinnungslos über die Leiche des Ermordeten hingestürzt wäre, und zehn Schritte von ihr entfernt hätten sie später auch mich gefunden! Mit einem seidenen Tuche war der Unglückliche halb erdrosselt, mit einem schweren Knotenstock war ihm das Gehirn eingeschlagen. Jenes Tuch, jener Stock – Beides gehörte mir, das Tuch trug die Anfangsbuchstaben meines Namens, der Knopf des Stockes – mein Wanderstab, meinen vollen Namen. Ich hatte das Tuch, wie ich mich später entsann, am Nachmittage abgenommen, der Stock hatte neben meinem Tornister gelegen. Alle diese Sachen zeugten gegen mich. Ein unglücklicher Zufall mußte sie meinem Bruder in die Hand geführt haben, als er, ein wenig berauscht, mit dem in Streit gerathen war, der wahrscheinlich für mich gesprochen und ihm sein Unrecht vorgehalten. Gezeugt hat mein Bruder nicht wider mich, er hat nur geschwiegen. Meine Vertheidigung hat zuerst einzig jene arme Weberin geführt, sie, die Braut des Ermordeten, hat so lange meine Unschuld beschworen, bis sie, wohl aus Kummer, wahnsinnig geworden! Kennen Sie die Verhandlungen, so werden Sie auch wissen, welche Wendung die Sache nahm, als jene Ilse Steinbrock für irrsinnig, ihre Aussagen für ungültig erklärt worden. Ich erfuhr das an dem Tage, wo mein Vater dem Schließer des Gefängnisses die Mittheilung gemacht, daß ihm ein Enkel geboren sei!“

„Das weißt Du?“ rief der Priester überrascht, fast entsetzt.

„Ja, Herr! – ich weiß noch mehr – Alles, weiß, daß seit drei Wochen jener Enkel eine Schwester hat und daß trotz des Unglücks, trotz der Schande, die ich über eine ehrliche brave Familie gebracht, der Herr sie nicht ganz verlassen hat und Gottes Segen sichtbarlich mit dem guten Sohne ist! – – –“

Andreas schwieg, auch der Priester war keines Wortes mächtig. Beide erlagen lange Zeit dem Eindruck des Gerichtes, das die Welt hält. Der Gefangne hatte seinen Beichtvater fester umklammert; mechanisch streichelte dieser das feuchte Haar, die eiseskalten Hände des unglücklichen Opfers irdischer Gerechtigkeit – menschlicher Falschheit! – endlich schien’s ihm doch zu viel, zu groß dieses Opfer, das ein Bruder dem andern brachte, und er fragte eindringlich:

„Willst Du es wirklich fort und fort tragen, dieses Elend, diese Schmach? – wird nicht einmal über Dich kommen der lebendige Wunsch, gerechtfertigt, schuldlos dazustehen?“

„Er ist schon über mich gekommen und überwältigt stets durch ernstes Nachdenken, durch reifliche Ueberlegung. Noch gestern schwankte ich eine Secunde, als Sie wieder in mich drangen, besiegte aber die Anwandlung schneller, als alle frühern Wünsche.“

„Wirst Du es aber immer können, Andreas?“

„Ich will, frommer Vater, und – ich kann! Das Schlimmste ist überwunden. Ich bin fest entschlossen – selbst zu sterben.“

„O, daß ich schweigen muß!“ rief der Priester traurig, „daß ich Deine Unschuld nicht laut verkünden darf, daß ich dies Alles als Beichtgeheimniß höre und ich Dich nun nicht hinstellen kann als den besten, den edelsten, den aufopferndsten der Brüder!“

„Und was hätt’ ich dann?“ rief der Gefangene. „Ich wüßte den Stolz, die Freude, den Liebling meiner Eltern in Ketten und Banden; ich würde den Vater, die Mutter entweder schnell vor meinen Augen sterben, oder in Gram und Verzweiflung langsam dahin siechen sehen. Ich wüßte die Geliebte meiner Jugend nicht allein öffentlich befleckt durch das Brandmal, Weib eines Mörders zu sein, ich sähe sie noch tiefer entehrt als das Weib eines ehrlosen Betrügers! Und wären sie’s allein! Eltern – Weib – aber, o Herr, da sind ja noch die Kinder. Sollen sie in früher Jugend beschimpft, geschändet sein? sollen sie durch’s lange Leben einen unehrlichen Namen tragen, sollen sie vielleicht fluchen Dem, der sie in’s Dasein gerufen hat? o nie, nie! Ich könnte in all diesen niederdrückenden Gedanken nie einen ruhigen, nie einen frohen Augenblick haben, während jetzt, inmitten meines Elends, oft Friede und Freude in meiner Brust herrschen, ein so wunderbarer Friede, eine so heilige Freude, daß Beides selbst einen verklärenden Schein über das traurige Bewußtsein wirft, in den Augen der Welt, in den Augen meiner Eltern als Mörder dazustehen!“




König Friedrich Wilhelm IV. stand auf dem mit Blumen geschmückten, mit Kränzen reichverzierten Bahnhöfe zu M., inmitten der Spitzen aller Civil- und Militärbehörden, inmitten einer dicht gedrängten Volksmasse, die den König, der sich einen Tag in der Stadt aufgehalten, nun auch bei der Abreise noch zu sehen trachtete.

Der König unterhielt sich im letzten Augenblick noch freundlich, leutselig mit Vielen, in seiner unwiderstehlich liebenswürdigen Art und Weise. Endlich war Alles gesagt und gesprochen. Friedrich Wilhelm machte eine Bewegung, die Jeder in seiner Umgebung verstand, grüßend wich Alles zur Seite, eine breite Straße öffnete sich, inmitten der dichtgedrängten Massen, Hüte wurden geschwenkt, Tücher wehten und ein nicht endendes Hurrah ertönte. Freundlich lächelnd schritt der Monarch langsam durch die Reihen, unermüdlich grüßend, oft Einen, der seinen Patriotismus vorwiegend laut an den Tag legte, mit ganz besonderer Heiterkeit in’s Auge fassend. Mit einem Male wurde inmitten alles Jubels seine Miene ernst, und scharf richtete er den Blick auf eine Gestalt, die einen Schritt aus der Menge vortrat. Es war ein junger Mann in geistlicher Tracht, der ihn mit großen, freudig leuchtenden Augen ansah und tief grüßte. Der König blieb dicht vor ihm stehen und sagte:

„Ich freue mich sehr, Sie noch zu sehen.“

„Mein höchster Wunsch ist erfüllt, wenn es mir noch vergönnt wird, Ew. Majestät meinen innigsten Dank für die Gnade auszusprechen!“ entgegnete der Geistliche.

„Folgen Sie mir aus dem Gedränge, lieber Baron, erzählen Sie mir, ob sich in Folge dessen Etwas ereignete.“

[531] Der König ging lebhaft, rasch voran, vorbei an dem schon geöffneten Coupé mit der Krone, vorbei an allen Wagen, und nur der junge Priester, den er angeredet hatte, folgte ihm nach dem leeren Raume des Bahnhofs, wo der Monarch stehen blieb. Minute auf Minute verstrich, eine Viertelstunde war vergangen, und seitwärts von der verstummten Menschenmasse stand der König noch immer im eifrigsten Gespräch mit dem Geistlichen. Sein Gesicht, seine Gebehrden waren von Secunde zu Secunde lebhafter geworden; ein dunkles Roth brannte auf seinen Wangen, er wandte das immer heller blitzende Auge gar nicht ab von dem Antlitz des Priesters, einem Antlitz, das von einer heiligen Freude leuchtete, wie im Glanz immer höherer Verklärung strahlend.

Die Spitzen der Behörden, das ganze versammelte Volk, Alles hatte nur diese Beiden im Auge, Niemand sprach, ein Jeder lauschte, und Niemand vermochte eine Sylbe zu hören. Da, als eine endlos lange halbe Stunde vorüber, sah man, wie der König dem jungen Priester die Hand reichte, sah, daß er die Hand desselben fast eine Minute in der seinen hielt, in herzlichster Weise dabei mit ihm sprach, dann einen Schritt vorangehend, seinen Begleiter, noch immer an der Hand haltend, nachzog und abermals stehen blieb, und nun hörten die Nächststehenden deutlich die Worte:

„Seien Sie überzeugt, daß ich Alles thun werde, was in meiner Macht steht. Die Sache ist schwierig, muß aber doch gehen. Behalten Sie daher Muth und empfehlen Sie ihm Geduld. Sagen Sie ihm auch, wie es mich gefreut hat, daß er, nächst Gott, seinem Könige vertraut hat, grüßen Sie ihn von mir, von seinem Könige, der ihn hochachtet und bewundert!“

Diese Worte liefen von Mund zu Mund, diese Worte wurden in tausendfacher Weise ausgelegt und gedeutet! Wie verschieden aber auch darüber die Lesart und Ansicht, in der Meinung kam Alles überein: „daß der König außerordentlich zum Katholicismus hinneige“, und viele Blätter, viele Zeitungen berichteten in ihren Spalten: „daß auf seiner Reise durch Westphalen der König von Preußen die katholische Geistlichkeit ganz besonders ausgezeichnet habe.“

Nach und nach verloren sich diese Gerüchte wieder, um einige Jahre später stärker denn je aufzutauchen. Es war um die Zeit, als in die preußische Residenz ein katholischer Priester aus Westphalen gekommen war, der unbehinderten Zutritt zu dem Privatcabinet des Königs hatte und während mehrerer Wochen fast täglich von der erhaltenen Erlaubniß Gebrauch machte. Er war oft über eine Stunde allein bei dem Könige, er sprach viel und angelegentlich mit diesem in den Gesellschaften, zu denen er gezogen wurde, und die Beobachter wollten bemerken, daß Friedrich Wilhelm nach den Unterredungen mit dem Priester noch stundenlang ernster und nachdenklicher war, als sonst.

Als man den Geistlichen zum letzten Mal im königlichen Schlosse zu Berlin sah, strahlte sein Gesicht von einer so unverkennbaren innern Seligkeit, daß Alle, die ihn erblickten, sich zuflüsterten: „der hat sein Ziel sicher erreicht.“ Sie hatten nicht Unrecht! Pater Ignatius hatte jetzt wirklich das Ziel seines Strebens erreicht: der Gespiele seiner Kinderjahre, der Jüngling, welcher des Mordes überführt, der Mann, der mehr und mehr sein Freund geworden, war – frei! frei durch den Ausspruch des Königs! – – –

Während einzelne Hauptblätter der Tagespresse sich mit dem möglichen Uebertritt des Königs von Preußen zur katholischen Religion beschäftigten, enthielten mehrere Lokalblätter der Provinz Westphalen die Nachricht: „Der Bauer Andreas D., der vor einigen Jahren, des Mordes beschuldigt, zum Tode verurtheilt war, von Sr. Majestät aber zu lebenslänglicher Gefängnißstrafe begnadigt wurde, ist jetzt in Anbetracht seiner musterhaften Führung und in Folge dringender Bittgesuche seiner braven Eltern, deren nunmehriger einziger Sohn er jetzt, nach dem kürzlich erfolgten Tode seines Bruders, ist, am gestrigen Tage auf Befehl des Königs seiner Haft entlassen und von dem Pater Ignatius, dem frühern Freiherrn Adolar von K. nach seiner Heimath geleitet.“ – –

Mit welchen Gefühlen sah Andreas jetzt seine Heimath wieder! Er ertrug den Anblick nicht, als er mit Pater Ignatius das Eichenwäldchen durchschritten und vom Saum des Waldes aus hinüberschaute nach dem von den alten Linden umschatteten Hofe seiner Eltern.

„Ich kann dort nicht eintreten!“ rief er erbebend und warf sich dann laut schluchzend in die Arme seines Freundes, seines Retters. „Ich kann nicht!“ wiederholte er schaudernd. – – –

Da trat ein todbleiches junges Weib mit grauem Haar, mit gramdurchfuchten Zügen rasch hinter dem nahen Baum hervor und sich Andreas zu Füßen werfend, fragte sie zitternd: „Kannst Du es auch dann nicht, Andreas, wenn ich Dir sage, daß Deine Eltern seit einer Stunde wissen, daß kein Mörder über ihre Schwelle tritt?“

Andreas, der Priester schauten überrascht, entsetzt auf die Frau, die so angsterfüllt zu ihm emporsah.

„Bist Du Anne?“ fragte der Bauer tonlos.

„Ja.“

„Und Du – Du sagtest meinen Eltern – –“

„Daß der Mörder todt ist.“

„Anne! Anne!“ schrie Andreas.

„Ich hatte es Martin in seiner Todesstunde gelobt.“

„Wie! Er sagte es Dir?“

„Nie! ich aber wußte es! ich hab’s geahnt seit dem Tage, wo ich sein Weib war, denn, Andreas, Du konntest kein Mörder sein!“

„Unglückliche!“

„Ja wohl unglücklich! ich habe Dich beneidet Tag für Tag, Stunde um Stunde! ich beneide Dich noch.“

„Steh auf, Anna!“ bat Andreas tief ergriffen.

„Nicht eher, als bis Du mir sagst, daß Du ihm, daß Du mir verziehen hast. Er litt furchtbar – ich büßte schrecklich und werde, so lang ich auch noch lebe, keine frohe Stunde mehr haben.“

„Ich vergab Euch lange! Ich stehe auch ohne Groll vor Dir. Dieser fromme Priester kann es bezeugen.“

„Dein Wort genügt, Dein Wort gilt mir mehr, denn tausend Eide aller Priester der Welt. Ich danke Dir, danke Dir innig.“

Sie stand auf und trat an die Seite. Andreas näherte sich ihr und reichte ihr die Hand hin. Ein glühend Roth überflog ihr geisterbleich Antlitz, sie wich zurück, indem sie rief und Thränen über ihre eingesunkenen Wangen flossen:

„Nie, nie kann, darf ich Deine Hand fassen! Nie und nimmer darfst Du die meine berühren! Sie lag in der des Mörders, in der Hand dessen, der Deine Jugend vergiftet, Dein Leben zerstört.“

Wie ein gescheuchtes Reh lief sie in den Wald; Andreas aber trat den Weg zum Hofe seines Vaters an. – – – –

Die Sterne glänzten schon am Nachthimmel, als er dort noch zwischen seinen Eltern unter den alten Linden saß. Immer und immer wieder mußte er ihnen sagen, daß er sie liebe, daß er ihnen vergebe. Als aber sein Vater die Frage aufwarf: „Wie war Dir’s nur möglich, unschuldig zu sein und für schuldig zu gelten?“ da rief er mit leuchtendem Auge: „Ich hatte den Trost, daß mein Gott, mein König und ein Freund meine Unschuld kannten.“




Fünf Jahre sind seit Andreas’ Freisprechung vergangen. Es ist wieder ein Sonntagmorgen, und über das Dorf hin hallen die Klänge der kleinen Dorfglocke, der Glocke, die da zum Altare läutet, über den Särgen der Verstorbenen ertönt und die Beter zum Gotteshause ruft.

Zu Grabe hat diese Glocke drei Jahre zuvor Martin’s Kinder geläutet. Sie starben binnen wenigen Tagen am Scharlachfieber. Ihren Tod beklagte eigentlich nur Andreas – die eigene Mutter, die Großeltern sahen die Kinder fast freudig in ein anderes Leben gehen.

Vor zwei Jahren ertönten die Glocken zu Andreas’ Hochzeit – am heutigen Sonntage riefen sie sein junges Weib in’s Gotteshaus, das an dem Tage den ersten Kirchgang nach der Geburt eines Knaben feierte.

Andreas hatte den Bitten seiner Eltern, dem Drängen seines Freundes Ignaz nachgegeben, als er an den Traualtar trat. Ueber zwei Jahre war er mit diesem Freunde, der während der Gefängnißjahre seinen Geist so reich gebildet, wie Gott sein Herz, auf Reisen gewesen; dann hatte er die Schwester von Ilse Steinbrock geheirathet und diese Wahl nie bereut.

Pater Ignaz, der schon viele Würden ausgeschlagen, lebte seit Andreas’ Heirath als Pfarrer im Dorfe. Er hatte sich von ihm nicht trennen können, und wie er einst Tag um Tag im Gefängniß [532] bei ihm gewesen, so nun auf dem alten Bauernhofe in Gottes freier schöner Natur.

Auch Friedrich Wilhelm der Vierte hatte den Pater Ignaz nach der Residenz berufen und ihm eine hohe Stelle angetragen. Noch einmal war der Pater nach Berlin gereist und hatte an den Monarchen noch einmal eine Bitte gerichtet, die: in der Nähe des Mannes bleiben zu dürfen, dem er einst als Lehrer entgegengetreten und dessen Schüler er geworden.

Ehe Pater Ignaz schied, fragte der König lachend: „Und Sie wollen nicht mindestens einen von den Versuchen machen, deren man Sie so vielfach mir gegenüber verdächtigt, wollen mich nicht zu Ihrem Glauben bekehren?“

„Mein Streben war stets nur auf die Erreichung des Möglichen gerichtet, Majestät.“

„Wie? des Möglichen? Nein, mein Bester, da irren Sie, denn ich weiß nur zu gut, daß, als Sie mir damals zuerst, nach dem Diner in M. von dem jungen Bauer erzählten, der an jenem Tage sein Todesurtheil vernommen, Sie von mir doch anscheinend das Unmögliche verlangten.“

Der Priester lächelte und entgegnete lebhaft: „Darum wandte ich mich ja einzig an Ew. Majestät, nicht nur als einen der Mächtigen auf Erden, denen es hienieden allein möglich ist, scheinbare Unmöglichkeiten zu vollbringen, nein, auch an den Menschen, dessen edles Herz ich kannte, wie das meines armen, verkannten Freundes.“

„Und doch,“ sprach der Herrscher Preußens sinnend und demüthig, „sagen Sie selbst, was ist meine That gegen die des Bauern!“

„Ew. Majestät thaten viel, Alles, gaben dem Gefangenen das Leben, die Freiheit!“ rief der Priester begeistert.

„Und er, der Bauer, gab mir doch mehr, die Lehre, daß ein Mensch nicht einer Krone bedarf, um einer Krone würdig zu handeln.“




Sollte ein geneigter Leser fragen, woher ich die That des Bauern kenne, diese wahre Heldenthat? Ich lebte in Westphalen, und dort ist sie wohl bekannt. Dort steht jener Bauernhof in einem seiner reizendsten Dörfer, und da lebt jener einst des Mordes Angeklagte, geliebt von seiner Familie, geachtet von seinen Freunden, bewundert von Allen, die seine That kennen.

Er selbst spricht nie über das aus Liebe und Rücksicht gebrachte Opfer. Man ahnte es einst, man wußte es später und erzählt sich’s, wo man ihn sieht, erzählt sich’s auch noch in dem Gefängnisse, spricht dort mit Stolz, mit Achtung und Bewunderung von dem jungen Manne, den man in eben den Mauern einst nur voll Schauder als Mörder betrachtet.

L. Ernesti. 




Auf Firn und Eis.
Erinnerung aus den Bergen. Von S.

Im weltbekannten Haslithale des weltbekannten Berner Oberlandes war es. Dort, an der Handeck hatte ich mit meinem Freunde und Landsmanne, einem Ritter vom Malkasten, mein Villeggiaturquartier bezogen; nicht an dem vielbeschriebenen Falle der Aare, der unter jenem Namen gefeiert ist auf der ganzen civilisirten Erde – der braust ein gut Stück weiter links – sondern auf der schönen Handeckalp, welche, obwohl nahe an 4500 Fuß über dem Spiegel des Mittelmeeres, noch von üppigem Tannendickicht eingefaßt wird. Ehedem gab’s hier nur eine gewöhnliche Sennhütte, wo sich der müde Wanderer auf dem Heuboden strecken und an einem Glase Milch oder „Nidln“ (Rahm) und einer Schnitte „Ziegers“ (magern Käses) erlaben konnte, jetzt ist auch hierher die Speculation und mit ihr die Cultur gedrungen. Aus dem alten großen Holzbau mit dem weitgespannten Giebel, der früher lediglich hirtlichen und viehlichen Zwecken diente, ist zugleich eine Art von Hotel entstanden, und ein gegenüber errichtetes neues Haus umschließt die Schlafstätten für die einsprechenden Reisenden; kein Gasthofspalast freilich wie auf Rigikulm, auch nicht einmal wie die Herberge auf dem Faulhorn oder auf der Wengernscheideck, doch alles sauber, gut, behaglich und nicht allzutheuer, – wenn man billig in Erwägung zieht, daß weder Dampfwagen noch Dampfschiffe, nicht Postkutschen und nicht Marktboote, sondern nur die Rücken keuchender Vier- und Zweifüßler des Leibes Nahrung und Nothdurft herzuschleppen können.

Eines Abends waren wir zeitiger als gewöhnlich von unserer Nachmittagswanderung heimgekehrt und pflegten uns auf der Holzbank vor unserer Sennte. Da schlug der große Bernhardshund des Wirthes an, das Haus kam in Alarm, denn ein neuer Gast hielt seinen Einzug. Dergleichen Episoden waren immer Epochen in unserm Stillleben. Wir erhoben uns denn auch, um uns den Ankömmling in der Nähe zu betrachten. Es war ein kräftiger Mann in den Fünfzigen; ein langer grauer Schnurrbart und Augenbrauen, die allenfalls auch zu einem stattlichen Schnauzbarte hingereicht hätten, gaben ihm ein gewisses strenges, martialisches Ansehen. Mit einer Behendigkeit, welche sein graues Haar Lügen zu strafen schien, schwang er sich aus dem Sattel seines Maulthiers und schüttelte dem Wirthe, der diensteifrig herbeigeeilt war, als einem alten Bekannten herzlich die Hand.

„Nehmen Sie mir die Sachen da gut in Obacht und sorgen Sie für meine Leute,“ sprach er auf ein zweites schwerbepacktes Maulthier und sechs handfeste Männer weisend, die sein Gefolge bildeten. Darauf trat er in das Speisezimmer.

Mit dem Fremden, welcher mit einem eigenen Packthier und mit so großer Escorte über die Grimsel zog – denn wo anders konnte man von der Handeck hin? – mußte es eine besondere Bewandtniß haben. Dies und sein interessantes Aeußere erregten unsere Neugier, die uns ebenfalls rasch in’s Zimmer trieb. Wir bestellten unser Nachtessen und waren mit dem Herrn bald in lebhaftem Gespräche.

„Morgen beziehe ich meine gewöhnliche Sommerresidenz,“ erzählte der Ankömmling; „eine Sommerresidenz, wie es keine zweite giebt, so frisch, so glänzend, so imposant – – – ich gehe auf den Unteraaregletscher, da steht mein Sommerpalais. Besuchen Sie mich dort einmal, meine Herren. Da oben sollen Sie erst erfahren, was Alpenpracht und Alpenmajestät bedeuten! – Doch,“ fügte er hinzu, „warten Sie noch ein paar Tage; es ist gar wohl möglich, daß ich meinen Pavillon erst unter dem Schnee hervorsuchen muß, dann bin ich genöthigt, meine ganze Wirthschaft von Neuem loszueisen und in Gang zu setzen, ehe ich Besuch empfangen kann. Ohnedem sah ich verdächtiges Gewölk, als ich von Guttannen heraufritt.“

Darauf beschrieb er uns den Weg, welchen wir einzuschlagen hatten, unter genauer Berücksichtigung aller uns nothwendigen Einzelheiten. „Sie können nicht fehlen, meine Herren. Kommen Sie also ja,“ sagte er, indem er sein Licht nahm, um sich in das Schlafhaus drüben zurückzuziehen.

Jetzt kannte ich den Mann. Es war Herr Dollfus-Ausset aus Mülhausen im Elsaß. Einer der reichsten Fabrikanten-Familien seines Geburtsortes entsprossen und selber Baumwollfabrikant, ist derselbe zugleich ein bedeutender Physiker und unbestritten der erfahrenste Beobachter der Gletscher und ihrer mannigfachen Erscheinungen und Räthsel. Sein Lieblingsstudium ist ihm völlig zur Leidenschaft geworden. Sobald der Sommer kommt, zieht er, seit fast zwanzig Jahren, nach der Schweiz, quartiert seine Familie im Hôtel des Alpes am Reichenbache ein und klimmt hinauf in das Gebiet des ewigen Schnees. Hier auf einem Uferfelsen des Unteraaregletschers hat er sich ein kleines niedriges Steinhaus erbaut, den der gesammten naturgelehrten Welt wohlbekannten Pavillon Dollfus, in dem er mehrere Wochen, manchmal auch Monate zuzubringen pflegt. Tag für Tag wird alsdann der Gletscher begangen, untersucht und angebohrt, wird seine Bewegung, sein Vorrücken oder Rückgehen gemessen, werden Barometer und Thermometer consultirt, Cyanometer und andere Apparate zur Hülfe genommen und die nach allen Richtungen hin angestellten wissenschaftlichen Beobachtungen genau verzeichnet und beschrieben, hauptsächlich um dem Gesetze auf die Spur zu kommen, das einer der schwierigsten und noch immer unentschiedenen Fragen der Naturwissenschaft, der Lehre von der Gletscherbewegung, zu Grunde liegt.

Herr Dollfus hatte richtig prophezeit. Zwei Tage lang dictirten uns Nebel und Regen eine unliebsame Clausur im Handeckwirthshause. Erst am dritten Morgen konnten wir zu unserer Expedition ausrücken. Bald rechts bald links des polternden

[533]

Nach einer Originalskizze von A. Mosengel.

[534] Gletscherwassers zieht sich der Pfad aufwärts, mehrmals die Aare überbrückend, immer in enger Bergumrahmung. Nach etwa zweistündigem tapfern Marschiren, das Kniee und Schenkel tüchtig anspannte, that sich die oberste kesselförmige Thalweitung auf, der sogenannte Räterichsboden, eine dürftige Alm mit zwei verräucherten ärmlichen Sennhütten. Trotzdem ein tröstlicher Anblick für das Auge, der letzte Gruß aus der farbenheitern lebendigen Welt vor der grauen todten Steinwüste, die nun ausschließlich zur Herrschaft kommt. Höher hinauf erlischt jede Spur menschlichen Lebens.

Um zehn Uhr lag das Grimselspital vor uns, das alte Bild des Schweigens, der Oede, der brustbeklemmenden Schwermuth mit dem kleinen schwarzen eiskalten See, der sich neben dem düstern Steinbau ausbreitet, – am Tage wenigstens, wo es, wenn nicht Unwetter die Gäste in seinen Mauern zurückhält, nur selten Anderswen beherbergt als den Spittler mit seiner Familie, seinen Knechten und Mägden und seinem Vieh, denn von welcher Seite man auch kommen mag, ob, wie wir, aus dem Haslithale, oder vom Gotthard über die Furka, immer ist’s eine ordentliche Tagesreise heran. Die Zwischenstationen aber, das Haus am Rhonegletscher oder Guttannen, werden selten einmal zu Nachtquartieren erkoren. Sobald indeß der Abend dämmert, zieht das bunteste Reisegewühl vom Joche hernieder, bricht Gruppe um Gruppe hinter der Felswand hervor, die den aus dem Aarethale Heraufsteigenden das Hospital verbirgt, und bald hat’s Noth mit Unterkunft und Nachtlager. Zu Zweien und Dreien müssen sich die Ankömmlinge in ein enges Zimmer schichten lassen und froh sein, wenn sie überhaupt noch ein Bett erwischen können.

Wir trafen ausnahmsweise auch einmal am Vormittage Gesellschaft, geriethen nach den Erkundigungen um Woher und Wohin? in’s Plaudern und hielten ein langes heiteres Mittagsmahl. Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, als wir uns zur Weiterreise erhoben. Der Grimselwirth fand es bedenklich, so spät noch nach dem Gletscher zu gehen, wir nahmen aber seine Warnung für Eingabe des Eigennutzes. Im Bädeker, unserm vielgetreuen Eckart, stand ja „Aargletscher leicht und gefahrlos zu besteigen“. Warum uns also einschüchtern lassen? Die Feldflaschen wurden neu gefüllt und fort, ohne Führer, dem ewigen Eise entgegen.

Die Wegbeschreibung, die uns der Gletscherenthusiast gegeben, saß fest in unsern Köpfen. So hatte es keine Schwierigkeit, uns bis zum Fuße des Eisstromes aufzuarbeiten. Freilich war’s ein saures Werk, und die zwei Stunden, mit denen Bädeker tröstet, wurden fast zu langen dreien. Bis hierher hatten wir so Etwas gefunden, das man, mit einigem Aufwande von Phantasie, allenfalls als Straße gelten lassen konnte, ab und zu eine in den Fels gehauene Stufe oder ein paar von Menschenhand neben einander geschichtete Steine – jetzt hörten auch alle diese schwachen Anhaltpunkte auf. Wir standen am linken Ufer der Aare, da wo sie in einem trüben Graugrün, mehrfach gespalten, dem Eise entquillt und auf die ebene felsumschlossene Fläche des Aarbodens hinausfließt. Vor uns thürmte sich der Absturz des Gletschers in die Höhe, sein klares Krystall mit dem Schmutzwall der Erdmoräne bedeckt, jenen Ablagerungen von Schutt und Geröll, von Steinblöcken und Felstrümmern, welche der fortschreitende Gletscher vor sich herschickt und in langen oft mehrere hundert Fuß dicken und noch breiteren Strömen dem Thale zuführt. Die Endmoräne des Unteraaregletschers ist für sich allein ein ganz hübscher Hügel, den man bei uns daheim im Flachlande schon zum respectabeln Berge stempeln würde.

Wir stutzten, wir sannen, wir beriethen – es half nichts, wir mußten die Moränenmauer hinan.

Das schreibt sich so leicht, dies Hinan, jetzt in der gewöhnten Sicherheit seiner vier Pfähle, im bequemen Armstuhle und neben der dampfenden Herzstärkung des Frühkaffees; das liest sich so harmlos und gemüthlich in Schlafrock und Pantoffeln auf dem Sopha, während der Theetopf sein trauliches Abendlied singt; in Wirklichkeit aber war’s ein verdammt heikeles Unternehmen. Bei jedem Schritt mußten Fuß und Auge erst die Festigkeit des Bodens prüfen. Oft brachte ein unbedachter Tritt einen nur auf wenigen Stützpunkten ruhenden Stein aus seinem Gleichgewichte, und sein Sturz ließ sich nicht aufhalten, wenn auch der tastende Fuß augenblicklich zurückgezogen wurde.

Da gab’s nun ein Rollen, ein Wälzen, ein Schurren, ein Donnergepolter, wie ein Stein den andern mit hinabriß in die Tiefe, wie das kleine Gebrock in gewaltigen Bogensätzen mit rasender Geschwindigkeit immer rascher und rascher dem Abgrunde zujagte und die größeren Felsstücke im Anprall krachend auseinander barsten und ihre scharfkantigen Trümmer nach allen Seiten umherschleudertcu. Das war, wie wenn Bomben platzten und Granatsplitter umherflögen. Wir wußten nicht mehr wie uns ducken, nicht wie uns rechts und links den unaufhaltsamen Geschossen aus dem Wege bücken! Ganz als lägen wir vor Düppel im Bereich der tückischen Dänenkugeln.

Endlich, endlich waren wir oben; athemlos, schweißtriefend. Nach der empfangenen Weisung sollten wir auf der Moräne fortgehen, bis wir auf der Uferhöhe zur Rechten des Dollfus’schen Pavillons ansichtig würden. Indessen Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, schon zeigten unsere Uhren, daß wir länger denn eine volle Stunde auf der Trümmerfläche marschirten, und nirgends weder Fahne noch das allerkleinste Anzeichen menschlicher Nähe zu erspähen. Nein, es konnte nicht in Ordnung sein mit dem Weg auf der Moräne, wir mußten die Instruction mißverstanden oder doch nicht genau behalten haben. Schon dämmerte es; es gab also keine Zeit zu verlieren. Wir verließen darum die Moräne und wanderten auf dem Gletscher selbst weiter.

Anfangs war ein flottes Fortkommen auf dem grobkörnigen Eise, weit flotter als auf dem Steinmeere der Moräne, wo jeder falsche Tritt die ganze Decke in Aufruhr setzte. Bald aber wurde das Eis glätter und glätter und begann sich obendrein bedenklich zu neigen. Erst kleinere Spalten, dann immer breitere und breitere Schründe zeigten sich, und wir mußten alle unsere Kühnheit aufbieten, uns mit Hülfe unserer festen Alpenstöcke über die sapphirblauen Eisabgründe zu schwingen. Endlich jedoch war’s mit unserm Latein zu Ende, eine entsetzliche Kluft gähnte vor uns. Schon der Gedanke an deren Ueberspringen wäre Vermessenheit gewesen. Wir versuchten also an ihrem Rande weiter zu fußen, vielleicht daß sie sich an einer andern Stelle verengte. Doch plötzlich senkte sich der Boden so bedeutend, daß wir Beide in ein rapides Gleiten geriethen. Zwar gelang es uns, die Stöcke fest gegen die Brust gedrückt und ihre Stacheln tief in’s Eis gebohrt, uns in unserer hängenden Position zu erhalten; allein da saßen wir nun fest, die trostlose Perspective vor uns, im glücklichsten Falle mindestens eine lange finstere, kalte Nacht in ihr ausharren zu müssen. Fürchterlich, haarsträubend!

Die ganze Kraft unserer Kehlen zusammennehmend, über welche uns die Angst noch verfügen ließ, schrieen wir in die Wildniß hinaus nach Hülfe. Schauerlich tönten unsere Stimmen in der weiten traurigen Oede.

„Horch! – Antwortet’s nicht?“

Ich hielt den Athem an und lauschte in banger Erwartung.

– Nichts, nichts, nur der Widerhall unsers eigenen Rufens, welchen die Felswand drüben herüberwarf.

Von Neuem rufen, von Neuem lauschen wir. Vergebens, immer und immer vergebens!

Pst! – Das war keine Täuschung. Ein ferner Schall schlägt an unser Ohr. Es müssen Menschen auf dem Gletscher sein! Erlösung, Rettung naht; aufs Neue belebt die Hoffnung unsere schwindenden Kräfte.

„Hülfe, um Gotteswillen Hülfe!“ rufen wir, so laut es gehen will, und hören entzückt Antwort herüberklingen. Die Stimmen nähern sich, und bald können wir, trotz der Finsterniß, die inzwischen niedergesunken war, in geringer Entfernung von uns zwei Gestalten unterscheiden.

Es waren zwei seiner Diener, welche der Gletscherkundige nach uns ausgeschickt hatte. Vom Hochplateau seiner Residenz aus hatte er uns und unsere Irrfahrten und Anstrengungen gesehen und sandte uns die Hülfe, die wahrlich kam, als die Noth am größten war. Vorsichtig schritten die beiden Männer mit ihren dickbenagelten Bergschuhen der Stelle zu, wo wir gleichsam vor Anker hingen – dennoch konnten sie nicht ganz bis zu uns herabkommen. Sie warfen uns daher ein Seil zu, an dem wir uns wieder fest auf die Beine richteten und allmählich zu unsern Rettern hinaufgriffen. Aber die halberstarrten, steifen Glieder versagten uns den Dienst; mehr getragen, als geführt von unsern kräftigen Aelplern, gelangten wir an den Fuß der Felswand, auf deren breitem Rücken sich der Pavillon erhebt. Noch eine Viertelstunde unsäglichen mühevollen Kletterns auf einem in das Gestein eingehauenen Zickzackpfade, [535] und wir hatten das wundersame Sommerpalais des reichen Elsässer Gletscherfreundes erreicht, – mit Gefühlen, wie sie der Schiffbrüchige hegen mag, der, auf schwanker Planke lange umhergetrieben auf dem Meere, sich endlich an die Küste gerettet hat.

Bon Soir, Messieurs,“ empfing uns lächelnd Herr Dollfus am Portale seiner Villa. „Aber was machen die Herren für Streiche! Sich verirren auf meiner schönen Chaussee, ein wahres Kunststück!“ so spottete er. Allein seine edlen Thaten wogen zehnfach seinen Spott auf. Er führte uns herein in sein luftiges Gemach, und wir konnten beim Schein einer Lampe das merkwürdige Gemisch von naturwissenschaftlichen Apparaten und Reisebedürfnissen verschiedenster Gattung erkennen, womit der kleine Raum ausstaffirt war. Inzwischen bereitete der Herr des Hauses selbst einen vortrefflichen heißen Punsch und röstete köstliche Brodschnitten, und bald hatten wir, auf weichem Heu behaglich gebettet und mit dicken Schaffellen warm bedeckt, alle Aengste unserer Gletscherfahrt vergessen. Nur wie ein leises Summen klang noch das Geplauder der nebenan in der Küche um das Heerdfeuer gestreckten Knechte zu uns herüber, bis uns neckische Traumbilder der Wirklichkeit um uns her entrückten.

Völlig gestärkt und wunderbar erquickt erwachten wir am andern Morgen, und jetzt im ermutigenden Lichte des Tages wollten uns selbst die überstandenen Abenteuer unserer Wanderung nicht mehr ganz so gefährlich dünken, wie gestern im unheimlichen Dunkel der Nacht, das alle Schrecknisse in’s Ungemessene steigert.

„Ja, ja,“ sagte Herr Dollfus, der schon völlig angekleidet und eisgerüstet vor uns stand, „gegen Neulinge gefällt sich der Gletscher in kleinen Tücken und Chicanen; wen er aber einmal kennt, dem hat er nichts an. Wenn wir hernach auf das Eis gehen, sollen Sie sehen, wie harmlos das Ding ist. Aber schauen wir zunächst, was das Wetter macht.“

Wir vollendeten unsere Toilette und traten vor die Hütte hinaus, die wir jetzt erst ordentlich in Augenschein nehmen konnten. Sie ist niedrig, aus Steinblöcken kunstlos zusammengefügt und ganz geeignet, den Unbilden des Wetters kräftigen Widerstand zu leisten. Hoch über dem Dache flatterte an langer Stange die französische Tricolore, das schon von so manchem müden Touristen mit hellem Jubel begrüßte Signal des gastlichen Gletscherpavillons. Etwa 7200 Par. Fuß über dem Meere gelegen, bleibt dieser noch um ziemlich 600 Fuß hinter der Höhe des durch das ganze Jahr bewohnten St. Bernhardhospizes zurück, erhebt sich jedoch um nahe an 1600 Fuß über das Jochhaus der Grimsel.

Noch war Alles in Nebelschleier gehüllt; ein scharfer Wind aber hatte sie bald zerzaust und auseinandergerissen. Zu phantastischen Wolkenbildern zusammengeballt, zogen sie, tief unter uns, über dem Gletscherfelde dahin. Ringsum ward der Blick frei, und welche Aussicht that sich auf! Wir erklommen eine nahe Felszinke und konnten nun den Gletscher nach allen Seiten überschauen, eingefaßt wie er ist von vielfach ausgezahnten Gneiswänden, deren pittoreske Contouren sich scharf vom tiefen Blau des Himmels abhoben. Kein Fleckchen Grün, kein Grashalm in dem ungeheuren Raume, welchen das Auge durchschweifte; nichts als Weiß und Grau und Blau! Es war ein Moment feierlich, erhaben, kein Wort reicht an seine Größe heran! Unvergeßlich, wie alle jene Morgen, die ich, durch meilenweite Eis- und Schneefelder von den Menschen und ihrem Treiben geschieden, in der majestätischen Ruhe und Einsamkeit des Hochgebirges erlebte! –

Seit den letzten zwanzig Jahren ist eine ganze bändereiche Literatur entstanden, die sich theils in streng-wissenschaftlicher, theils in populärer Fassung ausschließlich mit der Darstellung dieser höchsten Regionen des Erdlebens, insbesondere der Gletscher selbst beschäftigt. Indeß trotz aller jener Schilderungen, von denen manche als mustergültig anerkannt sind, findet sich der Laie gerade auf diesem Gebiet der Natur noch immer in arger Confusion und Begriffsverwechselung befangen, selten daß einmal ein Reisender, der nicht zum Handwerk gehört, in die Alpen kommt, ohne die sonderbarsten Vorstellungen von jenen höchsten Regionen mitzubringen. Wem nicht der eigene Augenschein vergönnt war, der kann sich einmal keine richtige Idee vom Wesen des Gletschers, von seinem Vorrücken und Zurückweichen, von den Schutt- und Trümmerwällen machen, die seine Ränder bedecken, und mengt nur zu leicht Gletscher und Firn und ewigen Schnee durcheinander. Um wenigstens dieser letztem Verwirrung zu entgehen, halte man daher fest, daß jeder Gletscher einem erstarrten Wasserstrome zu vergleichen ist, einem mitten in seinem Wälzen und Wogen jählings gefrorenen Katarakte, dessen Eismassen sich in gewisse Thäler der Hochalpen einbetten oder deren Abhänge bekleiden; daß unter Firn der Etymologie nach vorjähriger Schnee – „fern“: vorjährig – verstanden wird, der sich vom gewöhnlichen Schnee durch seine grobkörnige Oberfläche, seine Schwere und Massigkeit unterscheidet, und daß endlich diese oberste Staffel der Alpenwelt in drei bestimmte Zonen gesondert werden kann: eine untere, die des eigentlichen Gletschers, in welcher der den Winter über fallende Schnee während des Sommers völlig abschmilzt; eine mittlere, die des Firns, die etwa mit 8000 Fuß beginnt und die Speisekammer des Gletschers ausmacht, und eine obere, die des sogenannten ewigen Schnees, der Schneefelder oder des Hochschnees, welcher die höchsten Grate bedeckt und meist in pulverähnlichem Zustande bleibt. Diese oberste Region hat keine so feste Grenze, wie die der untern und mittleren Stufe; ihr Anfang schwankt zwischen 9000 und 10,000 Fuß. Prägt man sich diese Momente ein, so wird man jedenfalls vor dem Irrthum bewahrt bleiben, den wir allsommerlich von Hunderten und Aberhunderten von Touristen – auch reiseschriftstellernden in erklecklicher Zahl darunter – begehen hören, welche bei jeder weißbeschneiten Alpenspitze, die sie sehen, in Ekstase gerathen über die prachtvollen Gletschermassen, die sie vor sich entfaltet glauben. Wie gesagt, auf den höchsten Berggipfeln ist der Gletscher niemals zu suchen, immer in Einsattelungen, Thälern und Schluchten.

Der Unteraaregletscher ist ein gewaltiger Eisstrom, der in einer Länge von etwa zwei und einer Breite von drei Viertelstunden ein weites Thal erfüllt, das südlich von den zur Gruppe des Finsteraarhorns, des Matadors der Berner Alpen, gehörigen Zinkenstöcken, nördlich vom Miselengrate, einem Ausläufer der Wetterhörner, jener den grünen Mattengrund von Grindelwald überragenden Giganten, umrandet wird. Dies grandiose Gletscherfeld hatten wir jetzt vor uns, glitzernd und funkelnd in der immer entschiedener durchbrechenden Sonne. Wie aber soll ich das Panorama schildern, welches so klar und hell, wie es selten der Fall sein mag, dem Blick erschlossen war? Wie wir, in stummer Bewunderung des erhabenen Gemäldes, selbst keine Worte fanden, den uns überwältigenden Eindruck in seine Einzelwirkungen zu zerlegen, so vermag die Feder noch viel weniger eine Scenerie zu veranschaulichen, von welcher selbst der Pinsel des größten Landschafters nur ein mattes Abbild zu schaffen im Stande ist. Ich begnüge mich darum einige der Gipfel, der Hörner und Spitzen zu nennen, die uns unser alpengelehrter Wirth mit jenem freudigen Stolze zeigte, mit welchem Jemand die edelsten Schätze seines Besitzthums vorzuweisen pflegt.

Da starrt zuerst links das Finsteraarhorn in die blaue Luft, an das sich weiter gen Osten eine Menge weißer Spitzen anreihen, alle reichlich mit Gletschern bedacht. Sämmtlich münden dieselben in den großen Finsteraargletscher, der vereinigt mit dem vom Schreckhorn zufließenden Lauteraargletscher bei dem sogenannten Abschwung, dem südwestlichen Ende des erwähnten Schreckhorns, unsern Unteraaregletscher bildet. Fast alle jener beschneiten Gipfel sind jetzt mit den Namen berühmter Alpenforscher geschmückt. Die zierliche Pyramide, die sich dicht an das Finsteraarhorn anlehnt, ist das Studerhorn, nach dem bekannten Berner Geologen getauft; weiter nordwärts, gewissermaßen eine Fortsetzung des Finsteraarhorns, reckt das Agassizhorn seine Nadel in den Aether; der Kegel zwischen Studer- und Oberaarhorn heißt Altmann, nach einem früheren Beschreiber der Berner Gletscher. Neben dem etwas zurückstehenden Oberaarhorn kommen zwei beinahe gleichförmige Zinken zum Vorschein, beide in blendenden Schneetalar gehüllt, es sind die Grunerhörner, deren Taufpathe ebenfalls ein Alpenkenner früherer Tage ist. Ihnen folgt, immer in östlicher Richtung, der bizarre Gipfel des Scheuchzerhorns, dem man die Ehre erwiesen hat, den Namen des berühmten Züricher Naturforschers Conrad Scheuchzer[WS 1] führen zu dürfen; als der letzte dieser Reihe endlich glänzt das Escherhorn herüber, das nach dem genialen Bezwinger der wilden Linth und seinem Sohne, dem Züricher Geologen, betitelt worden ist. Tiefer unten, der Grimsel zu, erscheinen der Thierberg, der Grünberg und die bereits oben angeführten Zinkenhörner, der Scheidewall zwischen Unter- und Oberaargletscher. Zur Rechten begrenzen Hugihörner – dem Solothurner Bergkundigen geweiht – Lauteraarhorn und Schreckhörner den Gesichtskreis.

[536] Wir standen noch immer in schweigendem Staunen, wie eingewurzelt auf der majestätischen Schaubühne.

„Für jetzt genug, meine Herren,“ mahnte schließlich unser Führer. „Eine Tasse warmer Schafbouillon wird auch nicht zu verachten sein nach unserer Morgenpromenade. Mein Jakob wird ungeduldig, wenn ich den Producten seiner Kochkunst nicht pünktlich Gerechtigkeit widerfahren lasse.“ –

Drei volle Tage lebten und wanderten, staunten und lernten wir auf dem Gletscher, und so machten wir mit Herrn Dollfus noch manchen interessanten Gang. Unsere nächste Wanderung galt einer Ruine, den Trümmern einer Menschenwohnung auf dem Eise. Es war auch ein ehemaliges Gletscherpalais – das Hôtel des Neuchâtelois, jene Hütte, welche sich im Jahre 1840 die Neuenburger Naturforscher Agassiz, Desor, K. Vogt, Nicolet, H. Coulon und F. Pourtalès am Fuße des Abschwungs gegründet hatten, in der Nähe der Stelle, wo schon 1827 Hugi sein naturforschendes Einsiedelthum gelebt. Fünf Sommer lang war sie das Standquartier für alle jene wichtigen Untersuchungen, denen die Wissenschaft Agassiz’s geniale Theorie von der Gletscherbewegung verdankt und die den Unteraaregletscher zum Gletscher par excellence, zu einem classischen Boden in der Geschichte der Naturwissenschaft gemacht haben. Jetzt fanden wir nur noch spärliche Ueberreste von dem einstigen Studienhause übrig, die der Gletscher, welcher nach Dollfus’ Beobachtungen im Jahre um etwa 240 Fuß vorrückt, über 2000 Fuß tiefer in das Thal hinabgeschoben hat. Der colossale Felsblock, der das Dach der Hütte gebildet, war in sieben Stücke zerschmettert, und in wenigen Jahren wird auch die letzte Spur jener merkwürdigen Forschercolonie auf dem Eise verschüttet und verschwunden sein.

Ein höchst originelles Leben, das diese verbundenen Gelehrten auf dem Gletscher führten! Jedem war seine Arbeitsrolle zugetheilt. Agassiz „leitete als Haupt der Expedition das Ganze, empfing die Berichte der einzelnen Mitglieder und suchte sie in Einklang zu bringen.“ Er selbst hatte die thermometrischen, hygrometrischen, psychrometrischen (feuchtigkeitsmessenden) und barometrischen Beobachtungen übernommen, und Pourtalès war dabei sein Amanuensis. Desor untersuchte „die dem Eise selbst angehörigen Erscheinungen, seine Structur, sein Verhalten bei verschiedenen Zuständen der Atmosphäre, Natur und Ursprung der Moränen“, und Coulon ging ihm als Begleiter auf den anstrengenden Ausflügen zur Hand. Vogt, damals noch nicht der demokratische Redner und Reichsregent, aber schon der geistreiche Zoolog und – Gesellschafter, der er heute ist, lenkte dem rothen Schnee und den Thieren und Pflanzen, von welchen dessen Farbe herstammt, seine Aufmerksamkeit zu und zeichnete wacker. Nicolet endlich studirte die Flora des Gletschers und der umliegenden Berge. Sehr früh ward aufgestanden, zwischen vier und fünf. Mittlerweile hatten die Führer, die in einer andern Hütte hausten, das Feuer auf dem Eisblocke angezündet, der, mit einem großen Steine belegt, zum Heerde diente, um die Morgen-Chocolade zu kochen. Wohl war’s keine Kleinigkeit, sich aus den warmen Decken zu reißen und in die scharfe Frühluft hinauszutreten, um sich vor dem Hause in dem Wasser eines Kübels zu waschen, dessen Eiskruste jedesmal erst eingeschlagen werden mußte; allein statutenmäßig durfte Niemand liegen bleiben, wer nicht zufällig krank war. Darauf ging’s frisch an’s Werk, und während des Tages war das „Hôtel“ meistens verlassen. Der Mittagstisch vereinte die auf Eis und Fels Zerstreuten wieder: es war der Hauptmoment des Tages. Delikatessen gab es allerdings nicht, weder Gemüse noch Fische, denn in den kalten Gletscherbächen gedeihen die letztern nicht, doch treffliches Hammelfleisch und manchmal ein feistes Murmelthier oder gar ein Gemsenbraten. Lustig aber ging es immer beim Mahle zu, da „wurden die neuen Gedanken mitgetheilt, die alten gesichtet, besprochen und erörtert“, und des Scherzes und der Neckereien wollte oft kein Ende werden.

Häufig sprach auch ein Besuch ein, Bekannte, die über die Grimsel zogen, oder Neugierige, welche sehen wollten, was das Neuenburger Häuflein in seiner Eiswüste trieb, und nicht selten ein extravaganter oder lümmelhafter John Bull, welchem die Insolenzen indessen rasch genug und hier und da sehr drastisch ausgetrieben wurden. So hatte man denn Stoff zur Unterhaltung und Beobachtung auch nach dieser Richtung hin in Hülle und Fülle. „Als habe Jeder sein Ich abgelöst, um es seinen Freunden zur beliebigen Hinnahme anzubieten und das ihrige dagegen einzutauschen, so war es in unserm Hôtel des Neuchâtelois“ schreibt Vogt. „Selbst das geistige Eigenthum war Gemeingut, und was der Eine auf seinen Excursionen, der Andere in der Nähe der Hütte, Der mit Vergrößerungsbrillen und Jener mit dem Verstandesauge geschaut, das wurde gar bald einem Jeden bekannt, Jedem vertraut, und nach kurzer Zeit war oft dem Einzelnen nicht mehr möglich aus dem verschmolzenen Ganzen zu sondern, was ihm von Rechtswegen gehörte.“

Es weht uns heimelig und behaglich an, wenn man in Vogt’s „Im Gebirg und auf den Gletschern“ oder in Desor’s „Excursions et Séjour sur les glaciers“ die Schilderung jenes „Eldorado der Natürlichkeit“ liest; und wie die Mitglieder dieses merkwürdigen Gletscheretablissements selbst, deren Haupt lange schon jenseit des Oceans lehrt und wirkt, noch nach Jahren mit wehmüthiger Sehnsucht an ihre Eisidylle zurückdenken, so überkommt auch uns mächtig, fast unbezwinglich das Verlangen, aus unserer rastlosen, künstlichen, complicirten Existenz wieder einmal flüchten zu können in den erhabenen Frieden jener Hochalpeneinsamkeit, so oft wir, mein alter Freund und Landsmann und ich, uns in die Erinnerung an jene unvergeßlichen Augusttage im Pavillon Dollfus versenken und über unsere Gletscherpromenade und unsere Neulingsabenteuer lachen, – jenes Alpenheimweh, welches Den nie mehr verläßt, welchen der Zauber dieser herrlichsten Bergwelt der Erde einmal umstrickt hat.




Eines deutschen Technikers Lehr- und Meisterjahre.
Von Max Maria von Weber.
(Schluß.)
Der eigene Heerd. – Petrus und Paulus des Zeitgeistes. – Friedrich List und Gustav Harkort. – Deutschlands erste große Eisenbahn. Ihr Kopf und ihr Arm. – Studien jenseits des Canals. – Schöpfer des deutschen Bausystems. –Ein Dirigentenkleeblatt. – Die erste Fahrt. – Vom Gipfel abwärts. – Verkannt, verbittert und vergessen.

Drei Jahre Einsamkeit und Beschaulichkeit unter fernstehenden Cameraden im monotonen Quartierleben läutern und prüfen ihn. 1819 finden wir Kunz in Sachsen wieder, „in Ansehung von Talent und Tapferkeit“ nach zehnjährigem Lieutenantsdienste zum Premier-Lieutenant und Adjutanten ernannt. Acht Jahre folgen dann, wo er Oberlieutenant, und der bravsten und fleißigsten einer, ist und lernte – was er als solcher nicht brauchen konnte. Was er aber trieb und studirte, das wußte der alte Wasserbaudirector Wagner am besten. Er war des genial anstelligen, breitschultrigen Torgauer Officiers unvergessen. Die Rührigkeit der Faschinenmesser vor Zinna, das rüstige Schaffen der klingenden Spaten vor Siptitz, die Unermüdlichkeit des Rammschlags und des Kreischens der Pumpen an den Ravelins des Brückenkopfs – wenn des kleinen Kunz markige „Bravos“ und „Donnerwetters“ in der Luft schwebten – bauten jetzt sein Leben aus.

Der Friede hatte den Verkehr belebt, die große Wasserstraße Sachsens stieg an Werth, die Regierung wandte der Regulirung des Stromlaufs und der Sicherung der Ufer neue Kräfte zu, und als Ende der zwanziger Jahre der rasche Gang der Zeit die Lebensformen und den Ideenschritt des alten Wasserbaudirectors Wagner überflügelte, verlangte dieser selbst den kleinen Torgauer Lieutenant zum Gehülfen. 1827 wurde er, nach erfolgtem Austritte aus der Armee, mit dem Charakter eines Capitäns der Infanterie, zum Adjuncten des Wasserbaudirectors mit 800 Thaler Gehalt ernannt. Es fiel ihm nicht der leichteste Theil von dessen Pflichten zu. Aber sein ganzes Leben und Streben, von dem [537] Elende der Officiersprüfung an, durch zwanzigjährige Abhärtung der Seele und des Leibes, war ja nur niedere und hohe Schule, mit unerbittlich strengen Meistern, für seinen eigentlichen Beruf, den des Bautechnikers, gewesen, in den er nunmehr eintrat.

Das Hochgefühl dieses Bewußtseins war für den Preis einer Jugend nicht zu hoch erkauft. Nicht daß der damalige sächsische Staatsdienst einem Talente gestattet hätte, allzuhurtig die Falten aus den Flügeln zu schütteln. Immerhin galt es aber mit der Wissenschaft und Erfahrung gegen Naturkräfte zu kämpfen, die der „heilsam schaffenden Gewalt“ der Civilisation im ehrlichen Kampfe sich entgegenstemmten. Die Kraftempfindung hiervon mußte die lähmende Misère des Dikasterientreibens und des Streits mit der Jämmerlichkeit der eingepferchten Menschennatur übertragen.

Carl Theodor Kuuz gehörte zu den Glücklichen, die aus allem Ringen, mag es ein Gulliverkampf mit Liliputanern, oder ein ebenbürtiges Geistes-Turnier auf Tod und Leben sein, gekräftigt hervorgehen. Seine Antäusnatur fand überall die Mutter Erde, die ihm neue Stärkung verlieh. Den trefflichsten, kraftspendenden Boden schuf Carl Theodor sich selbst, als er, im Jahre 1828, an den selbstbegründeten, eigenen Heerd ein Mädchen führte, dessen Neigung schon lange sein guter Stern gewesen war. Wie genügsam mußte das edle Paar in Liebe zusammenrücken! Von den 800 Thalern Gehalt des Wasserbau-Adjuncten waren volle 300 jährlich zum Tilgen seiner alten und neuen Schulden à priori zurückzulegen. Sein spiritus familiaris, die Armuth, neckte den Redlichen, dem sein Amt so manche Nebenerwerbsquellen, deren Trübe den Dürftigen damals nicht zu schrecken pflegte, lockend zeigte, qualvoll. Nach einer im Jahre 1829 unternommenen, für die Erweiterung seines technischen Gesichtskreises wirksamsten Bereisung der Elbe und ihrer Zuflüsse bis zum Meere, wurde Kunz 1831 an des quiescirten, wackern Wagner Stelle zum Wasserbau-Director mit 1000 Thaler Gehalt ernannt.

Der Donner der Kanonen der Julirevolution, das Freiheitsgeschrei der Völker, das, wie Wellen um einen in die Fluth geworfenen Stein, von Paris aus sich über Europa hin verbreitete, waren die Weherufe, unter denen unsere Zeit ihren größten Sohn, den Genius der Association, gebar. Dem Geiste jeder Zeit geht die Erfindung, die er bedarf, voraus.

Verbrüderung, Verkehr war das Schiboleth der großen Staatswirthschaft geworden, und Georg Stephenson hatte seine Eisenbahn geschaffen! Der Zeitgeist sandte seine Apostel und Märtyrer aus. War der eiserne Brindley in Großbritannien Petrus gewesen, so wurde Friedrich List zum Paulus unter den Heiden Deutschlands, die ihn zehn Jahre früher flüchtig über den Ocean gejagt hatten. Sein Ephesus hieß Leipzig. Seine agitatorische und rhetorische Kraft ohne Gleichen schuf, mit Gustav Harkort’s Ansehen und andern offenen Intelligenzen und pekuniären Potenzen im Verein, die die weitaus großartigste bis dahin in Deutschland dagewesene Verlebendigung der Ideen der Zeit, die Leipzig-Dresdner Eisenbahn. Was vorher an Eisenbahnen bei Linz, Nürnberg, Prag, Dürrenberg etc. in Deutschland geschaffen worden war, konnte nach Tendenz, Dimension und technischem Charakter nicht einmal entfernt als Staffel gelten, die zur Erreichung der Höhe des Gedankens an diese Unternehmung gedient haben könnte!

Das war’s, was Kunzens großer Thatkraft bei der Sache so lockend und begeisternd anmuthete. Dem Manne, der alle seine Mußestunden mit warmem Eifer über den Büchern lag, die den Fortschritt der von ihm mit so viel Begeisterung gepflegten Ingenieurkunst lehrten, waren die großen Arbeiten von Wood, Gerstner, Dempry und Andern nicht entgangen.

Als die ersten Gerüchte von dem Plane eines Eisenbahnbaues zwischen Leipzig und Dresden an sein Ohr schlugen, hatte er die Gegend mit seinem genialen Blicke bereist, vor dessen Massen-, Höhen- und Tiefenschätzungen sich die Eisenbahnlinie zwischen den sanften Wellen des sächsischen Flachlandes hinwand. Dann war er mit seinen jungen Wasserbaugehülfen und Instrumenten gekommen, hatte das mit dem Instinct des Talents Gefundene geprüft, und fast auf den ersten Wurf war die Linie entdeckt, wie sie mit wenigen Abweichungen ausgeführt wurde. Ehe man ihn gefragt hatte, war seine Antwort fertig!

Noch hatte Kunz keine Eisenbahnschiene gesehen, als er, auf des verdienstvollen von Langenn Rath, mit Schönerer, Brendel, Lohrmann, Friedr. Harkort und Andern, zum technischen Ehrenmitgliede des Gründungscomité’s der Bahn ernannt wurde. Von dem Tage an war er der Arm des Unternehmenn, dessen Kopf Gustav Harkort, dessen Nervensystem bis zu seinem Ausscheiden List war.

Die Bearbeitung des von ihm vorgeschlagenen Bahntractes wurde ihm übertragen. Man wußte damals in Deutschland fast so gut als heute, wie die Erdwerke, Brücken, Durchlässe, Auf- und Abträge des Bahnkörpers auszuführen waren, man verstand es, das Ganze bis zur Bahnplaine herzustellen – was aber auf dieser liegen, stehen, fungiren, rollen sollte – davon hatte fast Niemand etwas gesehen.

Kunz war zu geistvoll, um nicht zu begreifen, daß es im ersten Augenblicke bei seinem Projecte ebensowenig, wie bei dem Projecte des Comité’s auf Kenntniß alles Details ankommen könne. Genug, wenn das Unternehmen überhaupt zu Stande kam!

Vorwärts war die Losung!

Ohne unpolitische und thörichte Scrupel that er daher seine Griffe in die Hypothesen über Preise und Constructionen, producirte er einen Kostenanschlag von 1,800,000 Thalern für seinen Bahntract. Eben so klar erkannte er aber auch, daß es für die technische Verlebendigung der Idee ohne Anschauung von schon ausgeführten Eisenbahnen und vor Allem ohne regsten Verkehr mit deren Schöpfern nicht abgehen könne.

Eine Reise nach England und Belgien, vom 17. Juli bis 15. August 1835 unternommen, sollte das geistige Material liefern; zugleich sollten Verbindungen angeknüpft, Schienen, Locomotiven, Wagen, kurz, die von England zu beziehenden Objecte bestellt werden. Solche Bestellungen pflegten damals die entscheidenden Techniker reich zu machen. Kunz blieb sein Familienkobold, die Armuth, und sein guter Geist, die Redlichkeit, getreu! Reich aber kam er mit Schätzen beladen zurück, die Andern zu Gute kommen sollten.

Das unermeßliche Panorama des Industrie- und Volkslebens Englands hatte sich, mit glänzenden Lichtern und tiefen Schatten, vor seinem scharf- und tiefblickenden Auge entrollt, seine stets den Typus der Freiheit von Herkommen und Schlendrian an sich tragenden Anschauungsformen hatten sich bis zur Großartigkeit entwickelt. Er kam als ein Mann zurück, wie ihn die Zeit brauchte; ein Mann, der sich nicht im Spinngewebe kleinherzigen deutschen Formenwesens fangen ließ und wenigstens in der neuen Sphäre der Eisenbahnen ein System edler Vertrauensverwaltung, raschen, selbstständigen Entschlusses an dessen Stelle zu setzen verstand.

Die Aufzeichnungen von der Reise zeigen in ihrer lebendigen Theilnahme für alles Große, sei es nun der Kölner Dom, ein Altarbild von Quintin Messis, die London Bridge oder der Wellenbrecher von Dover, daß Kunz schon damals das später so oft seinen Schülern eingeprägte Princip: „Kein halber Mensch kann ein ganzer Techniker sein!“ im ganzen Umfange selbst zur Erscheinung brachte.

In klarer Erkenntniß des Möglichen benutzte er die vier Wochen der Reise, die zur Sammlung gediegener Kenntnisse nicht ausreichen konnten, dazu, sich Quellen zum Schöpfen reinsten Wissens zu öffnen. Er trat mit Stephenson, Cubitt, Manby, Hawthorne, Kirtley, Lindley, Bery und besonders dem erfahrenen und liebenswürdigen Walker, dem Erbauer der Leeds-Selby-Bahn, in nahe Beziehung, orientirte sich in den Bezugsarten der hauptsächlichsten Materialien und sonderte mit dem Feingefühle des Genies das für deutsche Verhältnisse und die Kräfte der deutschen Technik, des deutschen Verkehrs und deutscher pecuniärer Kräfte Brauchbare aus der imposanten Masse der blendenden Erscheinungen britischer Kraft.

Er kam zurück mit der weisen Maxime, daß für Deutschlands werdendes Volks-, Industrie- und Handelsleben die wohlfeile, in allen Theilen auf Melioration und Ausdehnung construirte Eisenbahn-Anlageform die einzig richtige sei.

Er schuf daher, nach einer an sich unreifen Idee von Vignoles, nachdem sich das noch wohlfeilere amerikanische Plattschienensystem als zu unsolid gezeigt hatte, das Oberbausystem mit Schienen ohne Stuhlunterlagen und breitem, unmittelbar auf die Schwellen genageltem Fuße, nach dem der Weg der meisten deutschen Eisenbahnen ausgeführt worden ist und das, in Beziehung auf Preis und Stabilität, die Mitte zwischen dem englischen und dem amerikanischen Systeme hält. Er war es, der das noch jetzt in Deutschland übliche Princip der Hochlegung der Eisenbahnlinie im Terrain, so daß Tunnels und tiefe Einschnitte thunlichst vermieden und an ihrer Stelle die wohlfeilern Brücken erforderlich werden, selbstständig, [538] von der Praxis der Engländer und Belgier abweichend, zur Geltung brachte. Er widerstrebte, so lange es an ihm war, den Einflüssen der später durch den Bezug amerikanischer Betriebsmittel bedingten Betriebsformen und Constructionen der Stationen, indem er das Betriebsmaterial der Leipzig-Dresdner Bahn, ganz nach den so ungemein praktischen englischen Principien, mit kleinen Wagen von kurzem Radstande ausrüsten ließ, die eine so große Beweglichkeit und Handlichkeit gewähren. Diese construirte er, ebenfalls nach englischem Systeme, mit einer großen Anzahl kleiner Drehscheiben, die den Betrieb, ohne ihn, wie man sehr irrig meint, gefährlich zu machen, so sicher, geschmeidig und führig gestalten.

Von allen Nachtheilen, die dem deutschen Eisenbahnwesen anhaften, datiren neun Zehntel von dem Abweichen von diesem Principe. Es ist hier nicht der Ort, dies näher auszuführen.

Die Gesellschaft bedurfte einer Autorität zur Consolidirung der öffentlichen Meinung in Bezug auf die von ihr adoptirte Kunze’sche Linie über Würzen, Dahlen, Strehla (Riesa) und von da an auf dem rechten Elbufer über Oberau. Die Beziehungen der Reise trugen Früchte. Dem großen Ingenieur Walker war Kunz lieb geworden, und er verstand sich dazu, nach Sachsen zu kommen und die Linie zu prüfen. Der berühmte Engländer gewann, auf denselben Pfaden gehend, die der geistvolle Deutsche ihm vorgeschritten war, dieselben Ueberzeugungen. Er billigte Kunz’s Linie mit einer einzigen kleinen Abweichung.

Der nationalökonomische Fernblick der Männer, die an der Spitze des Unternehmens standen, ist nicht genug zu preisen. Was wäre die auf dem linken Elbufer geführte kürzere Leipzig-Dresdner Bahn gewesen, als eine Binnenbahn, bald ausgeschlossen aus dem großen Ost-West-Strome des europäischen Verkehrs!

Im November 1835 wurde Kunz zum Ober-Ingenieur der Bahn ernannt. Tüchtige und geistvolle Arbeitsgenossen wurden ihm zur Seite gestellt. Die Arbeiten begannen, und in kaum hoch genug zu schätzender und geschätzter Weise entwickelte sich unter den Händen des Mannes, der nie eine Eisenbahn hatte bauen sehen, wie durch Divination ein Organismus der Arbeiten, der selten an praktischer Brauchbarkeit von einem andern übertroffen worden, in seinen Hauptzügen für den Bau der meisten Bahnen noch mustergültig und, wo es geschah, meist nur zum Nachtheil der Sache verlassen worden ist. Die ganze Ueberzeugungskraft von Kunz’s persönlicher Autorität gehörte dazu, die vor der unerhörten Größe der Massen und Summen zurückschreckenden Bauunternehmer dazu zu bewegen, sich mit den gewaltigen Erd- und Felsenarbeiten zu befassen. Die Schnelligkeit der Herstellungen ließ die Dorfbewohner nach den Bauten hinauslaufen, „um sie wachsen zu sehen“. Die Brücken über die Elbe, die Mulde und das Zschöllauthal, der Viaduct bei Röderau, der Einschnitt bei Machern, der Tunnel bei Oberau wurden mit Armeen von Arbeitern gefördert, daß besorgte Polizeibeamte die Köpfe schüttelten. Die Gesichtspunkte für das Mögliche verschoben sich dem ruhigen Sachsenvölkchen. Die Eisenbahn schritt wie ein unwiderstehliches Etwas durch die Gemüther, so wie ihre mächtigen Dämme das Land wie Bergstürze verschütteten, ihre Tunnel und Einschnitte durch Fels und Höhen brachen.

Kein Geweck, kein Geschäft, kein Wissen, keine Kunst blieb unbeansprucht, Talente und Kräfte erstanden wie durch Zauber unter dem Blicke des geistvollen Mannes, der mit unerhörten Anstrengungen und Opfern an Lebenskraft sich zum Allgegenwärtigen auf der ganzen Linie seiner Thätigkeit machte, wie das Vertrauen des Directoriums ihn zum Allmächtigen gestempelt hatte. Vertrauen besitzen ist keine Ehre, und es nicht besitzen keine Schande, je nach der Capacität des Empfängers und Spenders. Nie ist Vertrauen besser placirt gewesen, als das des Directoriums der Leipzig-Dresdner Bahn zu Kunz.

Kein Genie ist seltener, als das des Regierens, weil es das Genie des Vertrauens einschließt. Es giebt keinen großen Dirigenten ohne das Genie des Vertrauens, das instinctiv und untrüglich Natur und Intensität jeder sich ihm bietenden Kraft erkennt. Der Verfasser, der das Glück hat fast alle bedeutenden Techniker der Zeit persönlich zu kennen, hat unter ihnen drei ganz hervorragende Dirigenten gefunden: Kingdom Brunel, August Borsig und Carl Theodor Kunz. Der Erbauer der Great Western-Bahn und des Leviathan, der Schöpfer der größten Locomotivenfabrik der Welt und der Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn hatten gleichmäßig die Fähigkeit, dem vor sie Hintretenden durch Hirn, Herz und Nieren zu blicken. Wo sie ihn hinstellten, da paßte der Mann. Sie waren eben Meister!

Kunz war ein Dirigent, ein Kraftausnutzer im vollsten Sinne des Worts. Das Leben hatte ihn dazu gemacht. Sein breitschultriger, gedrungener Körper kannte kein Ermüden, und das machte ihn oft unbarmherzig gegen Andere. Die Festigkeit, auf die der breitgewölbte Schädel mit frühergrautem Haar auf kurzem starrem Nacken deutete, ließ ihn schroff und unduldsam gegen Mattherzigkeit erscheinen. Sein Motto: „Ein fest durchgeführter Fehler ist zehn schwankend verfolgte Wahrheiten werth!“ ist das aller bedeutenden Leiter. Den Blick der kleinen, blitzenden Augen fühlte man in den Eingeweiden, und Betrüger und Lügner zitterten darunter. Wohl dem, dem er einmal Unrecht gethan hatte; er wurde nicht müde, es mit dem ganzen Aufwande seiner Liebenswürdigkeit gut zu machen. Dem Wackern unter seinen Leuten war er ein Schild, der sich lieber zerbrechen als jenen schädigen ließ.

Was Wunder, daß ihn seine Untergebenen liebten! Er aber liebte es mit ihnen tüchtig zu arbeiten und in ihrer Mitte, wenn Noth an Mann ging, wohl selbst einmal Hand anzulegen, aber auch fröhlich zu tafeln, und wenn sie dann, im Weine froh, von der Leber weg sprachen, da spitzte er das Ohr und nahm sich das Beste aus der ungewaschenen Wahrheit, die der Wein plauderte.

„Einen großen Fehler,“ pflegte er zu sagen, „kann jeder begehen und der kann ihm allenfalls verziehen werden, aber fünf Erbärmlichkeiten machen einen Wicht, den ich zum Teufel jage.“

Die Gebildeten, Strebsamen, Rüstigen unter seinen Technikern waren seine Jünger. Er stand in ihrer Mitte rathend, helfend, fördernd, strafend, wie etwa ein alter Künstler des 15. Jahrhunderts in Italien unter seinen Schülern gestanden haben mag, halb ihr Vater, halb ihr Fürst. „Das schlechteste Regiment,“ pflegte er zu sagen, „ist das nach Subalternansichten! Man muß sie halb hören, halb glauben und gar nicht befolgen! Wer nicht selbst weiß was Noth thut, mag das Dirigiren lassen!“

Die Arbeiten am Baue der Bahn förderte er mit unglaublicher Energie. Mit dem Blicke überall, ließ er den Vertrauenswerthen ungestört schalten, ohne ihn durch einen Wust von Anordnungen zu lähmen, durch dickleibige Instruktionen zu verwirren. Alle Formen des Transports, durch welche die Bewegung unerhört großer Massen in unerhört kleiner Zeit ermöglicht werden konnten, kamen, je nach der Localität, in passendste Anwendung. Hier wimmelten die von ihm erst einexercirten Colonnen der simpeln Schubkarrenführer in scheinbar wirren und doch so genau vorgeschriebenen Linien durcheinander, dort zogen in endlosen Reihen die pferdebespannten Kippwagen zunächst auf Bohlenbahnen, dann mechanisch construirte Karren auf Schienengleisen in karawanenartigen Zügen dahin. Endlich mußte selbst die Locomotive zur Massenbewegung starke Hand anlegen.

Die Form und Methode des Eisenbahnbaues selbst hat seit der Ausführung der Leipzig-Dresdner Bahn keine bedeutsame neue Seite und auch erst in der allerletzten Zeit mächtige neue mechanische Hülfsmittel erhalten.

Im Jahre 1837 konnte die erste Bahnstrecke von Leipzig aus, am 19. Juli 1838 eine Meile von Dresden aus befahren werden. Eisendröhnende, funkensprühende Mirakel rollten die Züge zwischen unabsehbaren Reihen Staunender hindurch, die dem herandonnernden Ungeheuer jauchzend entgegenwinkten und denen sein Vorüberbrausen den Athem versetzte! Die da auf den Zügen saßen, schauten stolz, als trüge sie der Zeitgeist selbst auf Feuerflügeln, auf die, welche unten standen, herab! – Auch von der Leitung des Marstalls der edeln Feuerpferde hielt Kunz’s Autorität fremdländischen Einfluß mit großer Kühnheit fern. Zaghaft vertraute man das wichtige Amt einem damals unerfahrenen jungen Deutschen, Heinrich Kirchweger, an, der jetzt zu den ersten Maschinentechnikern unserer Zeit gehört. Rasch folgte nun die Eröffnung von Strecke auf Strecke. Unsere Kinder, die das Eisenbahnwesen nicht jung gesehen haben, wissen nicht, wie die Erscheinung zu unserer Zeit uns ahnungsmächtig an die Herzen griff!! –

Das war auch die Glorienzeit in Kunz’s Leben, wo jeder Tag ihm neues Gelingen, neues Bewähren, neue Ehren brachte. Wäre er kein bescheidener Deutscher, kein deutscher Techniker gewesen, sie hätte ihn auch für alle Zeiten zum behaglich wohlhäbigen Genießer reichen Ruhms machen, seinen Namen in jeden deutschen Mund legen müssen. Die Compagnie honorirte seine Thätigkeit, im Sinne [539] der Zeit und der Anschauungsformen reich, mit 10,000 Thalern.[1] Das schienen dem Armgewohnten unerschöpfliche Schätze. Allzugutmüthig, wie alle großen Charaktere, half er über seine Kräfte. Von seinem angebornen und geschulten Geschmacke verleitet, begann er den Bau eines weit über seine Verhältnisse kostspieligen Wohnsitzes in reizendster Lage Dresdens. Hatte er doch Stephenson’s fürstlichen Landsitz zu Tapton gesehen! Ganz im Kleinen und Bescheidenen blos wollte er dem großen Engländer nachleben und vergaß nur dabei die Kleinigkeit, daß Leisten und Bezahlen in England ganz andere Begriffe als in Deutschland sind. Als der letzte Posten der Summe, die ihm unerschöpflich geschienen hatte, ausgezahlt wurde, war sie und noch weit mehr verausgabt, und – sein spiritus familiaris zeigte sich ihm wieder treu geblieben. Der Höhepunkt von Kunz’s Leben fällt mit der Vollendung der Leipzig-Dresdner Bahn zusammen. Vom 9. April 1839 an, sehen wir ihn, ungebeugten Nackens und Muthes, ungeminderten Talents, dessen Proportionen aber dem Prokrustesbette der neuen Verhältnisse, in die er trat, nur durch Abhauen von mächtigen Gliedern gemäß gemacht werden konnten, – abwärts steigen!

Das „Genie des Vertrauens“ der kühnen Bauherren der Leipzig-Dresdner Bahn hatte es überdauert, daß sich das veranschlagte Anlagecapital dieses Baues unter Kunz’s Händen verdreifachte; die Anschauungsweise der Leiter einer neuen Unternehmung konnte sich einer Wiederholung dieses Mißgriffs nicht accommodiren. Der Bau der Sächsisch-Baierischen Bahn wurde für den Meister eine Kette von Mißhelligkeiten, Differenzen und Kränkungen. Im erfolglosen Kampfe mit dem immer tiefer hereinbrechenden Ruin seiner Privatverhältnisse gohren die bitteren Elemente in dem alternden Manne empor, die das sonst so schön angelegte Bild seiner großartigen Natur jetzt oft verzerrten und edle Züge carrikirten. Sein Selbstvertrauen wurde um so schroffer zum Abweisen jedes Rathes, als er, zornig gegen sich selbst, immer deutlicher fühlte, daß die Motive seines Leidens zum großen Theile in ihm selbst ruhten. Mit Ingrimm sah er das Sinken seines Ansehens, und das Ringen um die Erhaltung der Grenzen seiner dictatorisch geübten Autorität brachte ihn in immer um so verletzendere Conflicte, je weniger er die Talente der meisten der Gegner, die ihn lähmten, den seinen ebenbürtig sah. Den Höhepunkt der Schmerzlichkeit erreichten dieselben, als, bei Gelegenheit der großen Frage, auf welche Weise die beiden tiefen Thäler der Göltzsch und Elster am besten für die Eisenbahn überschreitbar gemacht werden könnten, sein Wirken öffentlich verdächtigt und desselben, sogar in den sächsischen Kammern im Jahre 1848, mit Spott und Ironie gedacht wurde.

Schon 1844 hatte man, zur Lösung der Disharmonie zwischen seiner Seelenstimmung und den Nothwendigkeiten und Individualitäten des praktischen Eisenbahnlebens jener Zeit in Sachsen, seine unmittelbaren Beziehungen zu diesem ehrenvoll gelöst und ihn, als technischen Rath, in das Ministerium berufen. Doch Kunz war ein Mann der grünen Welt, aber nicht des grünen Tisches! Bericht und Referat hatten keinen Ausdruck für Kunz’s Talente. Selbst die Formen seines klaren, prächtigen Styls widersetzten sich spröde dem Canon behördlicher Darstellung. Er, der Meister im freien Befehlen, war außer Stande einen Beschluß formell correct zu Papier zu bringen. Er und sein jetzt auch verstorbener Chef, dessen Bildung eine der seinigen diametral entgegengesetzte gewesen war, dem vor allen die Wanderjahre in der Lehrzeit fehlten, sprachen in verschiedenen Idiomen. Die Hand, gewohnt den Degen zu führen und sich zum Befehl zu heben, verkümmerte geistig und körperlich beim Führen der Feder. Das edle Metall, das der alternde Meister noch in Haupt und Herz besaß, konnte in dem Reiche, in dem er jetzt lebte, nicht mehr gültig ausgemünzt werden. Die Folgen des Ringens in Leiden und des Leistens über alle Kraft stellten sich ein!

Gichtisch, verbittert, mit sich und der Welt zerfallen, deren Dankbarkeit zu preisen er allerdings keine Ursache hatte, selbst von denen verlassen, denen er Lebenspfade so gut wie jene erste Eisenbahn gebaut, sahen wir ihn die letzten Jahre unter uns wandeln. Einer der Besten und doch verschwunden, als sei er längst verstorben. So sahen wir ihn auch begraben! Der Leichenzug eines Vergessenen! Gegen den scharfen Nordost des zweiten Januar schritten wir dem prunklosen Sarge schweigend nach. Wenige, sehr wenige waren wir dabei, die ihn lieb gehabt. Von Hunderten, die ihm Alles dankten, waren nicht zehn da. Das Vaterland hatte kein Wort des Danks für einen seiner muthigsten, thatkräftigsten Söhne Er hat als Deutscher geleistet und gelitten. Drei Schollen der Erde, von der auf seinen Wink einst Berge wandeln gingen, deckten den Sarg des Erbauers der ersten großen deutschen Eisenbahn!




Aus den Rechtshallen des Mittelalters.
Zusammengestellt von George Hiltl.
2. Die Anwendung der gebräuchlichsten Folter- und Strafwerkzeuge.
I.

„Da Du leugnest und nicht willst bekennen in gütlicher Weise, so übergebe ich Dich in Kraft meines Amtes dem Freimann, auf daß er thue an Dir zum rechten Bekenntniß, mit Schrauben und Leitern, mit Stricken und Feuer oder dem, was ich Dein Richter für gut halte in der scharfen Frage.“

Mit diesen Worten oder Formeln gaben die Richter der alten Zeit, welche man so häufig sonderbarer Weise die gute zu nennen pflegt, jeden Versuch auf, den Delinquenten zu einem Geständnisse zu bringen. Sie überantworteten ihn demnach der scharfen Frage oder der Folter. Man möchte fast behaupten, die erste Veranlassung zu dieser scheußlichen Procedur, deren sich selbst Griechen und Römer bedienten, habe ein übertriebener Amtsehrgeiz gegeben. Wie häufig fand der Richter bei aller Gewissenhaftigkeit nicht das Geringste vor, welches gegen den Verklagten zeugte – wie oft aber auch mag es im persönlichen Interesse des grausamen Inquisitors gelegen haben – Etwas herauszubekommen, gleichviel ob wirklich ein Verbrechen vorlag oder nicht!

Hierzu war die Folter ein treffliches Mittel. Es mußte schon ein abgehärtetes Individuum sein, das mit Ruhe und Entschlossenheit den furchtbaren Vorbereitungen zusehen konnte, welche auf Geheiß des Richters der Henker machte, um den Körper des zu Fragenden auseinanderzudehnen, zu brennen oder zu quetschen.

Selbstbekenntnisse mußten erpreßt werden, und die Werkzeuge dazu, von denen hier eine verhältnißmäßig nur geringe Zahl besprochen werden kann, prangten bald in jedem Gerichtshofe. Noch furchtbarer aber trat die Folter unter die geängstigte Menschheit, als jener entsetzliche Wahnglaube, der Satan könne in unmittelbaren Verkehr mit gewissen Personen treten, einer geistigen Pest zu vergleichen, die Gemüther befiel und ansteckte. Ein neues, nicht gekanntes Verbrechen war die Zauberei oder der Hexenunfug nun eben nicht; aber je weiter die Jahrhunderte fortschritten, desto mehr bildete sich die Ueberzeugung aus: teuflische Bündnisse und Vereinigungen könnten stattfinden.

Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert dauerte der Wahnglaube fort, dessen letzten Opfer, eine Hexe, 1793 gefallen ist. Damit war aber der Gebrauch der Folter selbst noch nicht gefallen, denn noch im Jahre 1818 gab es in Deutschland Gerichtstage, bei denen sie angewendet wurde. Die bei weitem größte Anzahl der mit Folter Bestraften und ihren Qualen Erlegenen besteht indeß aus Hexen und Zauberern. Bei dem Verbrechen der Zauberei bedurfte es des eigenen Bekenntnisses, und das zu erlangen, bereitete man den Opfern die ausgesuchten Qualen der Folter. Zauberer zu überführen, war ein Triumph des Richters. – Betrachten wir daher die Vorgänge, welche bei Zaubereiprocessen stattfanden. Sie sind außergewöhnlicher Art, und doch sind zugleich die Grade und Werkzeuge der Folter dieselben, wie bei andern Verbrechen.

[540]

Fig. I. Der Stock.

Figur I. zeigt den sogenannten „Stock“. Mittelst der zu beiden Seiten angebrachten Charniere öffneten sich durch Auseinanderklappen die schweren Holzbalken. Der Gefangene mußte durch die in denselben befindlichen Löcher seine Beine stecken, welche so, bis zu Anfang der Wade, über den Knöcheln von dem Holze eingeschlossen waren. Alsdann wurden seine Arme durch zwei auf dem obersten Holzbalken angebrachte Eisenreifen geschoben, unmittelbar über den Handgelenken gefesselt und der Geschlossene auf solche Weise in eine gekrümmte Stellung versetzt, welche es bewirkte, daß sein Oberkörper fast die Zehen seiner Füße berührte. In dieser peinlichen, schmerzhaften und furchtbar beängstigenden Lage ließ man ihn bis kurz vor dem Beginn des Verhörs. Die Stöcke wurden dann geöffnet, und der Angeklagte erschien wankend, fast des Gebrauches seiner Glieder nicht mächtig, vor dem Richter.

„Sonderlich gut seind die Stöck wider die, so mit Teuffels-Künsten umgehen,“ sagt der alte Criminalist Döpler. Für leichtere Vergehen bestand die sogenannte „Fiddel“ (Figur II). In dieses Strafinstrument spannte man Hals und Hände.

Fig. II. Die Fiddel.

War nun auch die Situation eine schmerzhafte und peinliche, so standen die Qualen doch in keinem Verhältnisse zu denen des Stockes, namentlich bezüglich der beängstigenden Pressung des Körpers, welche bei dem „Stock“ so arg war, „daß der also zusammengezogene Reus, wie ein Reiffen an die Wand gehänget werden kunnte“.

Die scharfe Frage oder Folter, lief nach peinlicher deutscher (sächsischer und bambergischer, auch Carl’s V.) Halsgerichts-Ordnung durch folgende Grade: 1) Anlegung der Daumenschrauben oder Stöcke; 2) das Schnüren; 3) die Leiter mit Kloben, Corden und Siemen; 4) die Beinschrauben; 5) das Feuer.

Die Anwendung aller dieser Grade wird am anschaulichsten, wenn wir es versuchen einem peinlichen Verhöre beizuwohnen, in dessen Verlauf die gebräuchlichsten Instrumente in Thätigkeit gesetzt werden. Es sei hier noch bemerkt, daß es Verfahrungsarten des 17. Jahrhunderts sind und zwar aus dem letzten Viertel desselben, also durchaus nicht einer altersgrauen Vorzeit entnommen; ferner daß zu jener Zeit an Büchern kein Mangel war, welche Hexen- und Teufelskünstler-Processe erläuterten und jungen Rechtsgelehrten zum Leitfaden bei Folterverhören dienten, etwa so, wie man heutzutage die Lehre vom Wechselrecht, das Verfahren in Exmissions-Klagen nach dem allgemeinen Landrechte und dergleichen juristische Werke angekündigt findet.




Wir betreten also eine Folterstube. Wir versetzen uns in das Jahr 1693, zur Zeit des Juni-Monats. Inquisitin, eine Hexe, ist aus dem Stock entlassen und steht zitternd vor ihrem Richter. Schreiber, Amtsbote und Wächter, zwei Beisitzer und ein Gerichtsdiener sind zugegen. Es ist 3 Uhr Morgens. Die Folterkammer ist nur durch ein Fenster halb erhellt. Eine Lampe brennt auf dem Gerichtstische und beleuchtet nothdürftig den engen Raum, in dessen Hintergrunde sich verschiedene, nicht deutlich erkennbare Gegenstände aufgestapelt befinden. Wenn es draußen heller wird, werden sie schon kenntlich sein! – – Dem Richtertische gegenüber ist eine Thür. –

Es herrscht das Schweigen des Grabes. Fast meint man das Rauschen des Sandes hören zu können, welcher durch die Gläser einer Sanduhr läuft, die vor dem Schreiber auf dem Gerichtstische neben einer Glocke und einem Crucifixe steht. Die Mauern der Kammer sind ungeheuer dick, geschwärzt von Rauch, die Thüren, aus Eichenbohlen mit Eisen beschlagen, lassen keinen Ton hindurch, denn: „die Orthe da die Tortur vorgenommen wird, sollen abgelegen sein, auf daß keine Leuth hinzulauffen, damit der Richter die Urzichten des Hexen-Volckes geheim halten kann. Die Gewölber sollen dick sein: damit der Inquisiten Geschrei und Winseln den Umherwohnenden nicht beschwerlich falle.“

Die Inquisitin schaut sich entsetzt um. Sie klappert mit den Zähnen – Hunger, Angst und Frost, die quälende Gewalt des „Stockes“ haben sie einer Sterbenden gleichgemacht. Der Richter ergreift die Glocke und läutet. Alle erheben sich von ihren Sitzen.

Der Richter: „Es ist drei und ein halb Uhr Morgens nach puncto drei umgewendetem richtigen Stundenglase.“

Der Schreiber: „Es ist so wie Ihr saget, Herr Richter.“

Richter (zur Angeklagten): „Anna Wettermacherin,[2] Du erinnerst Dich, wie Du vor etlichen Wochen auf eingeholtes Erkenntniß, verdächtiger Hex- und Zauberei halber, durch die Du sehr beschrieen Dich gemacht hast, gefänglich gesetzet bist. Ob wir nun schon vermeinet, Du würdest stark bei dem ersten Verhör in Dich gegangen sein, Dein Gewissen erleichtert haben, bekennet wie Du Dich vom Satan verführen lassen, welche Unthaten Du begangen, damit Deine Seele vom ewigen Verderben gerettet und zum Bunde, den Du in der Taufe mit Jesu Christo gemachet, zurückgeführt werde, so haben wir leider doch das Gegentheil verspüret, dieweilen Du alles trotzig leugnest und verneinst, wiewohl alle Indicia der Hexerei wider Dich vorhanden sind. Du bist von dem Amtsdiener in Deinem Hause zu Drachenstädt in Beisein des Schulzen besuchet worden und hat man gefunden 1) in Deinem Mieder einen zusammengewickelten Zettul mit allerlei Charakteres und Kreuzen darauf gemalet; 2) im Querband Deines Rockes drei Pulver, ein weißes, ein rothes und schwarzes in Papier gewickelt, und in Deinem Keller 3) drei Scherben (Töpfe) mit gekochten Kräutern, ferner eine Schachtel mit Knochen von kleinen Kindern und einen zugedeckten Topf, darinnen eine grausame(!) große, rothbunte Kröte lebendig sich befunden, welche das Maul aufgesperret, hernach aber verschwunden.(!)

Fig. III. Die Daumenschrauben.

Es haben nebenbei die eidlich erhärteten Zeugen so viel verdächtige Dinge wider Dich ausgesaget, daß Dich Niemand für unschuldig halten kann(!), welches denn der Schöppenstuhl zu Peinhausen auch wohl überleget und Dir, so Du nicht bekennen willst, die Tortur oder scharfe Frage zuerkannt hat, so Du nicht in Güte Dein Bekenntniß thuest. Wir haben Mitleiden mit Dir, daß Du [541] Dich so schändlich von dem bösen Feind in sein höllisches Jäger-Netze hast ziehen lassen. Gieb Gott die Ehre und lege ein Bekenntniß ab. Traue dem Satan nicht, wenn er Dir etwa einbläset, Du solltest Nichts bekennen, er wollte Dir schon helfen; er ist von jeher ein Lügner und Betrüger gewesen. Lasse Dir Deine Glieder nicht durch die Folter zerreissen und verkrüppeln, sondern bekenne, ohne Dir grausame Schmerzen gemacht zu haben.“

Begreiflicherweise stellt die Inquisitin Alles in Abrede. Ihre Entgegnungen sind auch ganz vernünftig, Pulver, Knochen und namentlich die Erscheinung der großen Kröte erklärt sie auf die natürlichste Weise, wie sie eben Jeder erklären würde.

Aber die scharfsinnigen Richter begnügen sich nicht damit, sie lächeln ungläubig und geben sich durch Winke zu verstehen, daß ihrer Verschmitztheit die Inquisitin noch lange nicht gewachsen sei.

Der Richter: „Dieses Alles hast Du im vorigen Verhöre schon aufgebracht. Aber es stecken noch andre Dinge dahinter. Antworte mir auf die Articul Nr. 1. Bist Du zeither eine Hexe und Zauberin gewesen?“

Fig. IV. Das Schnüren mit den Banden.

Illa (die Angeklagte wird in den Protokollen so bezeichnet): „Nein, ehrliche Frau und keine Hexe.“

Der Richter läutet. Jetzt öffnet sich die kleine, dem Tische gegenüber befindliche Thür, und der Scharfrichter mit seinen Knechten tritt in das Gemach; letztere legen eine Menge eiserner Geräthschaften, Schnüre und Holzrollen zurecht.

Richter: „Meister Hans! Dieses trotzige und verstockte Weib will sich nicht durch Zureden gewinnen lassen; so übergebe ich sie Dir, dem Urtheil gemäß zu verfahren.“

Der Scharfrichter mahnt die Inquisitin zu bekennen. „Er hätte schon viele solcher blanken Mütter und Belials-Schwestern in Händen gehabt, aber sie hätten bekennen müssen, wenn er sie angegriffen hätte.“

Illa: „Ei, Meister Hans, meint Ihr ich sei eine Hexe? ich bin so rein wie die Sonne von Zauberei.“

Scharfrichter: „Dieses sind mir die Rechten, die so rein sein wollen. Mit Gottes Beistand (sic) wird man schon erfahren, wie rein von Hexerei Du bist.“

Die Knechte rücken nun den Marterstuhl zurecht, legen die Daumschrauben aus, breiten die Schnüre, Kloben und sonstigen Instrumente aus einander, alles absichtlich mit großem Geräusch. – Schon bemächtigt sich der Angeklagten eine entsetzliche Furcht, sie blickt mit halbverdrehten Augen die schauerlichen Vorbereitungen an. Dann senkt sie den Blick zur Erde. Soll sie aussagen? es ist der unvermeidliche Feuertod. Sie fühlt sich unschuldig, die düstre Anklage ist ihr fremd. Irgend ein neidisches Weib hat sie in die Hände der Richter geliefert. – Sie will versuchen, wie lange sie die Marter ertragen kann, die ihrer wartet. – Alles Ermahnen des Richters ist umsonst.

Richter: „Meister Hans, leget der Sünderin die Daumschrauben an.“

Diesen ersten Grad der scharfen Frage (Fig. III) vollzieht der Scharfrichter auf folgende Weise: Der Inquisit wird auf einen Schemel gesetzt und die Arme ihm rückwärts gezogen. Darauf muß er die Daumen zwischen die nach innen mit Zacken versehenen Eisen A und B legen. Die Knechte halten die Arme, und der Meister schraubt mittelst des Schlüssels C die Eisen A und B so aufeinander, daß sie die Daumen pressen.

Wird die Procedur stehend vollzogen, so hält ein Henkersknecht den Inquisiten.

„Daß man die Daumen also strafet, geschiehet billig deshalb, weil sie die meiste Stärke besitzen und in vielen delictis, sonderlich aber beim Diebstahl das meiste beim Zugriff thun. So man die Daumenstöcke ansetzet, soll man Acht haben, daß man sie oft versetzet, denn sonst verstocket das Geblüt und der Sünder empfindet nicht Schmerzen genug“ – so belehrt eine Gerichtsverordnung aus der herrlichen, guten alten Zeit!! – –

Die Inquisitin schreit entsetzlich. „Au, verdammt – wie drücket das Schelmending so arg!“

Der Richter verbietet ihr das Fluchen.

Scharfrichter: „Das ist nur Anfang und Kinderspiel. Es thut noch ganz anders.“

Er schraubt die Eisen noch fester zusammen. Inquisitin schreit und verschwört sich hoch und theuer, daß sie keine Hexe sei. Der Richter fordert sie auf die Wahrheit zu bekennen, worauf der Henker die Schrauben lüftet.

Das Schnüren mit den Banden. Inquisitin holt tief Athem und fragt, was sie bekennen solle. Jetzt schon sind ihre Augen gräulich anzusehen!! – (Armes Wesen! die schmerzverzerrten Blicke nehmen die Richter für eine durch teuflische Gewalt hervorgebrachte Umwandlung.)

Richter: „Herr Actuar, betet das bei Hexenfoltern übliche Gebet.“

Der Actuar betet. Da die Inquisitin verstockt bleibt, befiehlt der Richter, zum „Schnüren mit den Banden“ zu schreiten.

Dieses Torturverfahren, bei welchem das Fig. IV abgebildete Werkzeug angewendet wurde, bestand im Zusammenbinden der Arme. Wie bei den Daumenstöcken, zog man dem Inquisiten die Arme nach rückwärts. Einer der Knechte hielt die Hände zusammen, um die Bewegung zu hindern, der Zweite umfing von hinten die Taille des Inquisiten, damit derselbe nicht ausweichen konnte. Der Meister legte nun die sehr festgedrehte Schnur in Form einer Schlinge um das Handwurzelgelenk und wand das herabhängende Ende um beide Arme, aber dergestalt, daß zwischen jeder Umlage immer ein Finger breit Zwischenraum blieb. Aus diesem Zwischenraum quoll, sobald mittelst des hölzernen Handgriffes die Schnur angezogen wurde, das Fleisch hervor. Der Henker zog nun mit einem kräftigen Ruck die Schnur gegen sich, wodurch dieselbe, einer stumpfen Schneide gleich, in das Fleisch des Armes drang und furchtbare Schmerzen verursachte. Nach dem ersten Rucke ließ er ein wenig nach und indem er, die Bewegung des Sägens machend, seine Schnüre vor- und rückwärts zog, bewirkte er zugleich, daß kein Theil der Arme, vom Handwurzelgelenk bis zum Ellnbogen, von den Berührungen der Schnüre verschont blieb, welche stets auf andere Stellen übersprangen.

Fig. V. Die Leiter.

Diese Torturart blieb lange in Anwendung. Ein in Hannover veröffentlichtes Buch behandelt in ausführlicher Weise diese Procedur. Es ist betitelt: „Vom Schnüren Anfang.“ Die Halsgerichtsordnung der Kaiserin Maria Theresia v. J. 1769 enthält saubere Kupferstiche, welche alle Griffe und Stadien des Schnürens darstellen. In den Verordnungen dazu steht: „Es hat der Freymann darauf zu achten, daß er zwei Knebeln mit Schnur bei sich habe, falls die eine reißet (!). Dann aber (wie milde!) soll der Inquisit nicht so hoch gepeinigt werden. Denn da nach dem Gesetz die erste Schnur vierzehn Mal umgelegt werden soll, so soll nach Reißung einer Schnur die neue nur zehn Mal umgelegt werden.“ Ferner: „Zeichen der höchsten Grade dieser Tortur sind: Wenn das Fleisch zwischen den Schnuren blau(!) und blutig(!) emporsteigt, oder wenn (beim

[542] Rückwärtsziehen der Arme) beide Arme aneinanderstoßen. – Wenn der Inquisit scharf anzugreifen ist, so sollen zwei Freymänner die Schnur hin- und herbewegen, wodurch die Nerven besonders irritirt werden.“ – Entsetzliches Verfahren, welches 1769 in die Welt geschleudert ward, zu einer Zeit, wo Lessing bereits seine „Minna von Barnhelm“ und den „Laokoon“ vollendet hatte!

Wenn der Henker nun mit dem Schnüren anhebt, so ertönt ein fürchterliches Jammergeschrei. Die Inquisitin bittet um Gnade. In ihrer Pein ruft sie: „Ach, was soll ich thun, was soll ich lassen? Du liebes Göttchen, gieb es mir ein.“

Richter: „Wen meinst Du mit dem Worte Göttchen?“

Illa: „Ich weiß es nicht. Höret nur auf, ich will Alles sagen, was ich weiß. Ich weiß nur einen Segen, den ich von meiner Großmutter gelernt.“

Richter: „Wie lautet derselbe?“

Illa: „Lasset den Meister Hans aufhören, denn ich kann es vor Schmerzen nicht aushalten.“

Der Richter befiehlt dem Scharfrichter, mit dem Schnüren innezuhalten.

Inquisitin: „Ich habe einen Segen wider die kalte Gicht von meiner Großmutter gelernt, nämlich: ‚Turteltäubchen ohne Gallen, kaltes Gichtchen, du sollst fallen.‘ Weiter weiß ich nichts zu sagen.“

Richter: „Meister Hans, ziehet die Schnüre an!“

Inquisitin verbeißt den Schmerz und beginnt mit dem Maule zu pröpeln(!).

Richter: „Weshalb bewegst Du das Maul?“

Illa: „Ich bete.“

Richter: „Warum nicht laut?“

Inquisitin schreit laut: „Ich bin ein Christenweib, man wird nichts aus mir herausbringen.“

Der Richter ermahnt sie mit aller Macht der Rede, ebenso der Actuar und der Scharfrichter, da Inquisitin aber verstockt bleibt, so befiehlt der Richter (gerade als die Uhr auf halb fünf zeigt), die Sünderin zum dritten Grade der scharfen Frage, zur Leiter zu führen.

Dieser sehr scharfe Torturgrad, dessen Werkzeug unter Fig. V abgebildet ist, hat sich leider ebenfalls lange Zeit erhalten. AA ist eine starke Leiter von zwanzig Sprossen, ward schräg gegen die Wand gestellt. Die Walze B, welche sich in DD mittelst der Handgriffe E drehen läßt, hat einen starken eisernen Ring bei C. In diesen Ring wurde das Ende des sechs Ellen langen Strickes F festgeknotet. Der oben im Stricke F befestigte Holzknebel ward dem Inquisiten über die Fußblätter gelegt, sodann umschlang man die Knöchel mit dem Stricke, wodurch der Knebel fest angezogen und zugleich die Füße oberhalb der Knöchel zusammengeschnürt wurden, das mit der Walze verbundene Ende des Strickes hing zwischen den Füßen herab. Während dies geschah, stand der Inquisit auf den Sprossen der Leiter. Man knebelte ihm nun die Hände auf den Rücken und band sie dann an die oberste Leitersprosse. War der Körper in solcher Weise oben und unten gefesselt, so gab der Scharfrichter-Meister ein Zeichen, worauf der an der Walze bei den Handgriffen E stehende Knecht langsam zu drehen begann. Der Körper des zu Folternden ward nun auseinandergezerrt. Um zu verhindern, daß der Inquisit sich mit den Hacken gegen die Sprossen stemme, tritt einer der Knechte hinter die Leiter und schiebt den Körper nach vorn, während der Meister zur linken Hand des Inquisiten auf den Sprossen stand, seinen linken Arm unter den Rücken des zu Folternden schob und mit der rechten Hand den Körper, am Hosenbunde anfassend, aufhebt, damit ein zu schnelles Hinabgleiten vermieden werde. Der die Walze B dirigirende Knecht mußte seine Augen auf den Richter geheftet haben; es geschah nämlich nach jeder Frage, wenn die Antwort des Inquisiten ein Leugnen enthielt, eine Umdrehung. Die Aufgabe des Knechtes war, die Walze nach jeder Wendung so fest zu halten, daß die aufgewundenen Stricke nicht zurückwichen.

Der Richter commandirte: „Ziehet an!“ worauf die Drehung erfolgte. „Doch soll,“ sagt die theresianische Gerichtsordnung, „der Grad der Folter nicht über fünfzehn Minuten dauern.“ Diese scheußliche Auseinanderzerrung des menschlichen Körpers bewirkte am häufigsten Bekenntnisse, denn der Schmerz war es nicht allein, der solche erpreßte. Der Gemarterte litt an unaussprechlicher Seelenangst. Sämmtliche Muskeln, Knochenbänder und Sehnen renkten sich aus, und wenn der Strick ganz um die Walze gewickelt war, erschien der Körper um ein Beträchtliches länger, als in natürlichem Zustande. „Es soll,“ sagt die Halsgerichtsordnung Carl’s V., „der hartnäckige Inquisit also auseinandergezogen werden, daß man durch seinen Bauch ein Licht scheinen sieht, welches hinter ihm gehalten wird.“

Nach der theresianischen Gerichtsordnung waren die höchsten Grade der Tortur folgende, 1) Wenn die Hände des Inquisiten über dem Kopfe zu sehen; 2) wenn die Schulterhöhen unterwärts gestellt sind; 3) wenn die Achselhöhlen verloren; 4) wenn die Flechsen des Brustmuskels sammt der Haut also angespannt sind, als ob sie reißen wollten und die Haut glänzend ist; 5) wenn bei der Achselhöhle ein Schnapper oder Kracher (sic) zu hören ist, welches ein Zeichen, daß durch die bisherige Anspannung der Kopf des Armbeins von der Fläche der Articulationshöhle sich gehoben habe, nach welchem Schnalzer nicht mehr angezogen werden darf.“

Dies war also der höchste Grad, bei weichem buchstäblich die Gelenke des Unglücklichen in ihren Fugen krachten. Eine Verschärfung war der „Kloben“ oder „Siemen“, welcher über die Handgelenke gelegt wurde und neben der Auseinanderzerrung noch ein sehr schmerzhaftes Pressen bewirkte.

„Doch soll der Kloben, so wie der Bock (eine Art Daumschrauben, in welche auch zugleich die Zehen(!!) gepreßt wurden, so daß der Eingespannte wie bei Fig. I, dem Stock, kreisförmig zusammengebogen war), nur bei Hexen, Zauberern und Andern, so ein Pactum mit dem Teufel gemacht haben, angewendet werden.“ Gerichtsordnung Carl’s V.

Die Inquisitin liegt also auf der Leiter, deren Mechanismus wir soeben beschrieben. – Sie leugnet hartnäckig, eine Hexe zu sein. „Ziehet an!“ ruft der Richter. Der Knecht hebt die Walze an und macht eine Wendung. Inquisitin schreit: „Ach, helft mir!“ Scharfrichter preßt die Kloben, und da sie immer leugnet, so zieht der Knecht weiter.

„Da verhänget es der höllische Verführer, daß die Inquisitin alsbald die Augen zuthuet und in tiefen Schlaf verfället, alswobei sie schnarchet gleich einem Menschen, der in tiefem Schlafe liegt, welches der sogenannte Hexenschlaf ist.

Der Scharfrichter aber beräucherte sie mit Teufels-Dreck, Weihrauch, rothen Dosten und schwarzem Kümmel, hielt ihr auch angezündeten Schwefel unter die Nase, da sie gleich aufwachte und das Maul gräulich flerrte.“[3]




Wenn wir einmal sterben.
Von Friedrich Gerstäcker.

Oft, wenn ich in meinem Zimmer sitze und mein Blick über die aus allen Welttheilen zusammengetragenen Gegenstände schweift, die mir so lieb sind, weil sich an jedes einzelne eine andere, oft freudige, oft bittere Erinnerung knüpft, fällt mir eine Scene aus früherer Zeit ein.

In einem großen alten Hause in ** hatte ein alter Herr viele lange Jahre hindurch so abgeschlossen gelebt, daß er mit Niemandem da draußen – wenigstens nie direct – in Berührung kam. Eine alte Haushälterin und ein alter Gärtner besorgten seine Arbeiten, und nur Abends, wenn in dem obersten Erkerstübchen, wo die alte Haushälterin schlief, Licht angezündet wurde, sah man, daß die Leute drinnen noch lebten, denn sonst ließ sich den ganzen Tag keine Seele weder an einem der dicht verhangenen Fenster noch in der Thür blicken.

Der Eigenthümer selber verließ seine Wohnung nie – einen Tag im Jahr ausgenommen – am ersten Weihnachtsfeiertag, [543] und dann auch nur – mochte es wettern und stürmen, wie es wollte – um hinaus auf den Gottesacker zu gehen und daselbst ein Grab zu besuchen. Allerdings hatten sich die Müßiggänger in der Stadt schon die größte Mühe gegeben, um herauszubekommen, wer unter dem kleinen einfachen Hügel ruhe, an dem der Greis eine volle Stunde betete – aber vergebens. Kein Kreuz, keine Tafel kündete den Namen. Der frühere Todtengräber war gestorben, aus dem Buch, das er mit wunderlichen Zeichen und Figuren geführt, ließ sich nichts Bestimmtes mehr herausfinden, und die Leute sahen sich gezwungen, ihre eigenen Geschichten darüber zu ersinnen. Es läßt sich denken, daß die abenteuerlichsten Gerüchte die Stadt durchliefen – aber auch nur eine Zeit lang. Wie der alte Herr Jahr nach Jahr das Nämliche trieb, dabei Niemandem etwas in den Weg legte, wurde man es endlich müde, sich um ihn zu bekümmern, und erst sein Tod erweckte die schon fast vergessenen Gerüchte von Neuem – allein auch sein Tod brachte keine Aufklärung über sein früheres Leben.

Wie es mit dem Testament gewesen war, weiß ich nicht mehr, nur soviel erinnere ich mich, daß die Erben keineswegs zufrieden sein mußten, denn große Legate waren den Dienern vermacht, und die außerordentlich einfache und dadurch fast werthlose Einrichtung des Hauses sollte in dessen Räumen selber öffentlich versteigert werden.

Nach alle dem läßt es sich denken, daß ein großer Theil der Bewohner von ** neugierig war, die Räume zu betreten, die bis jetzt von dem alten wunderlichen Mann als unnahbares Heiligthum verschlossen und verriegelt gehalten waren. Die von dem Magistrat herbeorderten Beamten hatten wirklich ihre Noth, die zudringlichen Gaffer in ihren Schranken zu halten, damit sich im Gedränge nicht auch verworfenes Gesindel mit einschlich und die Hand an fremdes Eigenthum legte.

Stube nach Stube wurde deshalb nur derart geöffnet, daß man eine andere erst aufschloß, wenn die in der einen befindlichen Gegenstände verkauft und ihren jetzigen Besitzern überwiesen waren. Dadurch bekamen es die Neugierigen endlich satt, sich nur herumstoßen und drängen zu lassen, ohne weiter etwas zu sehen, als öde Zimmer und altmodische Möbel und Schränke. Nach und nach verliefen sich die Meisten und es blieben fast nur Solche zurück, die wirklich Lust zu kaufen hatten.

So gelangten wir endlich, nachdem eine Masse von Schränken, Tischen, Stühlen, alten Bildern, zu Spinneweb gewaschenen Gardinen und hundert andern Kleinigkeiten verkauft oder vielmehr um einen Spottpreis verschleudert waren, in die Studirstube des alten Mannes – wenn ein Platz so genannt werden kann, in dem ein nur wenig benutzter Schreibtisch und ein kleines dürftiges Regal mit einigen zwanzig, meist französischen und holländischen Büchern stand.

Der Verstorbene war augenscheinlich kein Gelehrter gewesen, das aber hier jedenfalls der Platz, wo er seine meiste Zeit, die langen Jahre seiner Einsamkeit, träumend und durch nichts gestört verbracht, und es überkam mich ein eigenes und drückendes Gefühl, als ich die kalten, gleichgültigen Gesichter sah, die sich hier jetzt mit prüfenden Blicken in dem engen Raum umschauten und die Gegenstände taxirten. Es war mir, als ob ein Grab entweiht würde, das Grab einer Seele, deren Träume bis jetzt hier eingesargt gewesen.

Aber was kümmerte das die Käufer oder den Auctionator, der Stück nach Stück ruhig und gleichmüthig unter den Hammer brachte! Vor dem Tische stand, ein alter, mit Leder überzogener Lehnstuhl, über dem Tische hing ein kleines, ziemlich mittelmäßig ausgeführtes Bild, eine Landschaft mit einer alten knorrigen Eiche im Vordergrund, die an dem Ufer eines Weihers stand. Unter der Eiche lag ein Frauenhut und ein Brief. In dem Lehnstuhl war der alte Mann gestorben, und auf dem Tische stand ein kleines flaches Mahagonikästchen.

Ein Jude kaufte den Tisch, den Lehnstuhl und nachher das Kästchen auch, das Bild, da Niemand darauf bieten wollte, bekam er zu. In dem Kästchen stak der Schlüssel, er öffnete es, es lagen einige Sachen darin, und er wühlte mit der Hand darin herum. Als ihm das Kästchen zugeschlagen war, drehte er es um und schüttete den Inhalt auf den Boden. Es enthielt auch nichts Aufhebenswerthes: ein paar trockene, schon fast verkrümelte Blumen, ein Stückchen Holz mit ein paar dürren Blättern, ein paar Streifen vergilbtes Papier mit unleserlichen Zügen, ein kleines Stück blauseidenes Band, einen zerschnittenen Handschuh und noch eine Anzahl anderer, ebenso werthloser verwitterter Dinge. Was sollte der Käufer mit dem Plunder machen? er wurde später mit dem übrigen Staub und Gerumpel hinausgekehrt, und doch war er das Heiligthum eines ganzen Lebens gewesen.

Und wenn wir einmal sterben?

In meinem Zimmer hängen eine Unmasse von werthlosen Dingen, Waffen aus allen Welttheilen von Stein, Holz, Stahl, Wallroß- und Haifischzähnen, und wenn ich einmal sterbe, finden sie vielleicht ihren Weg in ein Naturaliencabinet, wo denn der Aufseher mit Hülfe des Katalogs den Besuchern erklären kann: das Stück stammt dort, jenes von da her, diese Waffen führen die australischen Eingebornen, jene sind auf den Südseeinseln, in Afrika, in Californien, in Südamerika, in China, in Java daheim – das bleibt Alles, denn die Erinnerung ist todt, die ihnen jetzt Leben verleiht.

Jenes alte lederne Jagdhemd, mit seinen indianischen Ausfranzungen, habe ich aus selbsterlegten Hirschdecken auch selber gegerbt und genäht und manches lange Jahr getragen; jenes alte Messer führte ich zweiundzwanzig Jahr in Freud und Leid; jene Bolas holte ich mir aus den chilenischen Cordilleren, und wie der Blick darauf fällt, sitze ich wieder bei dem tollen Trinkgelage jener Stämme, sehe die mit trübem Aepfelwein gefüllten Kuhhörner im Kreis herumgehen und die junge dicke Kazikentochter mir gegenüber, die mir jenes Diadem von bunten Perlen gab. Die Lanze dort schleuderte einst ein australischer Wilder nach mir; jene Mumienhand steckte mir ein junger ägyptischer Epigone unter den Tempelsäulen von Karnak in die Tasche, da ich sie ihm nicht um den üblichen Sixpence abkaufen wollte; jenen Bogen erhandelte ich von einem kalifornischen Indianer um selbstgegrabenes Gold aus seinen Bergen. Mit diesen Stücken trockenen Guiavenholzes rieb sich ein bildschönes Mädchen auf Tahiti einst Feuer, um ihre Cigarre daran anzuzünden; jenen Wallfischzahn brach ich selber aus dem Kiefer eines frischgefangenen Cachelot; den Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß arbeitete ich mir inmitten eines furchtbaren Sturmes am Cap Horn; das Hirschgeweih da oben holte ich mir aus der Vandong-Ebene in Java, und jene kleinen ungeschickt geschnittenen Figuren aus vegetabilischem Elfenbein kaufte ich auf dem Markt zu Quito.

Und welche Unzahl von Kleinigkeiten, die ein Anderer unbedingt zum Kehrichthaufen verdammen würde, bilden die Schätze, die ich um mich her aufgehäuft! Vier Steinbrocken, die jeder Geologe verächtlich bei Seite werfen würde: ein gewöhnliches Stück Kalkstein mit ein paar dunklen Flecken darauf – die Schweißtropfen meines ersten starken Gemsbocks, den ich hoch am Karwendelgebirg in Tyrol in voller Flucht durch’s Herz schoß; ein gewöhnlicher Kieselstein, aus den Wassern des Pozuzu in Peru – die Erinnerung an den Uebergang jenes reißenden Bergstroms, an einer einzelnen wilden Rebe; ein kleines Stück Granit vom 16,000 Fuß hohen Gipfel der Cordilleren in Peru; ein anderes verwittertes Gestein vom höchsten Paß der La Plata-Staaten nach Chile; eine gelbe Feder vom Kopf eines Kakadu, des ersten, leider nicht des einzigen, den ich im australischen Wald erlegen und verzehren mußte, um nicht zu verhungern; ein langes Stück Koralle, das ein australisches Mädchen als einzigen Schmuck und Kleidungsstück durch den Nasenknorpel trug; ein rothes Band, das ich, in dem jetzt verschütteten Mendoza, im Knopfloch fuhren mußte, um unter Rosas’ Regierung einen Paß auf der Polizei zu bekommen; der alte hölzerne Quirl und Löffel, mit dem ich in Ecuador tagtäglich, lange Monate hindurch, meine Chocolade quirlte und rührte; selbstgewaschenes Gold aus Californien; Silber aus Cerro de Pasco, der höchsten Stadt der Welt; Wüstensand aus Aegypten; künstliche Federblumen aus Brasilien, und was mein Schreibtisch an geheimen Schätzen birgt, an trockenen Blumen und an Liebeszeichen aus der Jugendzeit, Du lieber Gott, was Anderes ist das, als was der Trödler dort in dem alten Haus, aus jenem Mahagonikasten auf die Erde schüttete: Plunder – und doch ein Lebensalter hindurch mit dem eigenen Herzblut erkauft und gehegt und gepflegt!

Und wer von uns Allen hat nicht solche Liebeszeichen, wem von uns Allen ruft nicht ein Band, ein trockenes Blatt, ein alter, wieder und wieder gelesener Brief alle Liebe und, wenn auch schmerzliche, Erinnerungen in der Seele wach? und wenn wir einmal sterben? dann kommen rauhe Hände und zerstören diese „Leichen [544] unserer Erinnerung“, denn das Leben fehlt ihnen, was ihnen diese für uns eingehaucht.

Und können wir uns deshalb von ihnen trennen? Nein, es ist nicht möglich, denn sie bilden einen Theil, und zwar den edelsten Theil unseres Selbst, sie sind die kleinen unscheinbaren, aber trotzdem unzerreißbaren Glieder jener Kette, die uns an die Heimath binden, sie sind die Tröster in mancher bitteren, sorgenschweren Stunde, die Märchenerzähler unserer eigenen Jugend, und wie der Mensch, wenn ihm die Hoffnung genommen würde, zum Selbstmörder werden müßte, und wie er deshalb die Hoffnung hegt und pflegt, weil er mit ihr die Brücke zu seiner Zukunft baut, so hält er auch die kleinen Zeichen fest als theuere Gaben der Vergangenheit.

Wohl wäre es besser, wir selber vernichteten diese kleinen unscheinbaren Liebesboten, wenn wir einmal fühlen, daß unser Ende naht; aber wer fühlt das? Wer mag es sich bis zum letzten entscheidenden Augenblick wohl eingestehen: Jetzt ist’s vorbei, jetzt weist der Zeiger auf die letzte Stunde? Nicht Einer aus Tausenden. Noch mit zitternder Hand, mit schon halbgebrochenem Auge fällt unser Blick darauf, und wenn wir dann sterben, dann fliegt mit unserer Seele auch die Seele unserer Reliquien – Gott nur weiß wohin, und unsere Leichen werden Staub.




Blätter und Blüthen.

Ein Project. Nachdem zahlreiche unterseeische Telegraphenkabel die durch Meere getrennten Länder durch Gedankenbrücken verbunden haben, nachdem sogar die Herstellung einer directen telegraphischen Verbindung der alten und neuen Welt selbst dem gemeinsten Menschenverstande kein Hirngespinnst mehr zu sein scheint, fängt man an, die Welt auf neue Wunder der Technik vorzubereiten. Eine mächtige Brücke ist über den Niagara geschlagen – warum soll nicht eine mächtigere Frankreich mit England verbinden? ein Tunnel durch die harten Felsenmassen des Mont-Cenis schreitet seiner Vollendung entgegen – warum soll es unmöglich sein, einen unterseeischen Eisentunnel durch die beweglichen Wassermassen des Canals zu legen? Die Landenge von Suez wird durchstochen und so die Landenge in eine Meerenge verwandelt – warum soll das zwischen Dover und Calais eingeengte Meer nicht durch eine Brücke in eine Landenge verwandelt werden können? Bereits liegt dem englischen Parlamente ein Dutzend Pläne zur Prüfung vor; englische und französische Ingenieure wetteifern in Großartigkeit und Kühnheit der Entwürfe und – der Kostenanschläge. Die Kosten sind für die Ausführung eines der Projecte, welches sogar nicht einmal das vortheilhafteste zu sein scheint, auf nur 583 Millionen Thaler veranschlagt worden. Bedenkt man hierbei, daß in den allermeisten Fällen die hinterher verausgabten Summen fast die Höhe des vorausberechneten Anschlags erreichen, so ergiebt sich die runde Summe von tausend Millionen Thaler für den Bau einer Brücke. Eine kleine Rechnung zeigt, daß in diesem Falle jeder laufende Fuß der neuen Brückenanlage sich auf circa 6000 Thaler berechnet – sicherlich der höchste Preis, welchen je eine Brückenanlage gekostet hat. Andere der vorliegenden Projecte sind allerdings weniger kostspielig; es findet sich unter ihnen ein 43-, ein 54-, ein 67-, ein 80- und ein 100-Millionen Project. Man sieht, alle Preisabstufungen sind vertreten, und es dürfte wahrlich nicht unangemessen sein, ebensoviel für einen großen Fortschritt in der Vereinigung der Völker zu verausgaben, als manche Entzweiung derselben – abgesehen von dem schwer zu schätzenden Verlust an Menschenleben – schon gekostet hat.

Bei der Lösung des Problems einer Eisenbahnverbindung zwischen Dover und Calais stellen sich zunächst zwei mögliche Wege dar, welche zum Ziele führen können: eine Verbindung der beiden Küsten über dem Wasser durch eine Riesenbrücke, welche jedoch nach einem der gewöhnlichen, nur der Großartigkeit des Unternehmens gemäß modificirten Systeme erbaut werden würde; oder eine Verbindung unter dem Wasser durch einen Tunnel. Der erstere Weg, die Erbauung einer Mammuthbrücke, ist von einem Engländer verfolgt worden. Derselbe projectirt 190 obeliskenförmige Pfeiler, aus großen zusammenverbundenen und verankerten Gebirgsstücken gebildet, als kleine Inseln aus dem Meere hervorragend, mit auf ihnen ruhenden Thürmen von 100 Fuß Durchmesser und 260 Fuß Höhe. Auf diesen Thürmen ruht dann die eigentliche Röhrenbrücke, welche für sich selbst wieder eine Höhe von 50 Fuß hat und für die Schienengeleise 30 Fuß Breite darbietet. Man denke sich diese kolossalen Durchfahrtsöffnungen von 260 Fuß Höhe und etwa 800 Fuß Breite, welche eine ganze Anzahl der größten Kriegsschiffe zugleich passiren lassen! Man versetze sich auf ein Schiff, welches in der Mitte des Canals eben vor diesem Riesenbau angelangt ist; die unabsehbare Reihe der Brückenöffnungen, nach beiden Seiten hin immer kleiner werdend und endlich am Horizont verschwindend; das elektrische Glockenspiel verkündet mitten auf dem Meere, daß der Zug in Dover eben abgelassen wird; bald zeigt ein in fernster Ferne aussteigender Rauch den nahenden Zug an; der Zug braust heran, braust vorüber, und bald ist auch der Rauch der Locomotive wieder verschwunden.

Dieser englische Urheber steht vereinzelt mit seinem Brückenproject; die andern elf Ingenieure wollen dasselbe Ziel durch Tunnels theils mitten im Wasser, theils am Boden des Meeres, theils, ähnlich dem Tunnel unter der Themse, unterhalb des Seebettes erreichen. Merkwürdiger Weise sind sämmtliche drei Urheber des Planes eines unterhalb des Seebettes angelegten Tunnels Franzosen; die englischen Techniker scheinen sich der immensen Schwierigkeiten, welche sich der Vollendung des Themsetunnels entgegensetzten, noch zu lebhaft zu erinnern, um diesen Plan in ungeheuer vergrößertem Maßstabe für ausführbar zu halten. Das Project von Moustome de Gamond, schon im Jahre 1856 bis 57 entstanden, ist schon früher einer Commission ausgezeichneter Ingenieure zur Prüfung vorgelegt und als ausführbar befunden worden. Es besteht in der Bildung von dreizehn in einer Reihe zwischen den beiden Küsten liegenden Inseln durch Ausschüttung verschiedener Materialien in das Meer; in jeder dieser Inseln soll dann ein senkrechter weiter Schacht bis unter den Meeresboden geführt, und von diesen nun leicht zugänglichen Stellen ans sollen dann die eigentlichen Tunnelarbeiten in gewohnter Weise nach zwei entgegengesetzten Richtungen hin begonnen und vollendet werden. – Ein vierter Franzose will einen gewöhnlichen Wasserbau auf dem Boden des Meeres ausführen, d. h. einen aus Steinen gewölbten Tunnel mit Hülfe von vierzig Taucherschiffen eigener Erfindung und 1500 arbeitenden Matrosen erbauen.

Die übrigen sieben Urheber, nämlich zwei Franzosen und fünf Engländer, kommen darin überein, daß die Eisenbahnverbindung am zweckmäßigsten durch eine Reihe luft- und wasserdicht aneinander befestigter und in das Meer versenkter eiserner Röhren geschehe; doch wie dies auszuführen sei, darin weichen auch diese von einander ab. Nach dem schon anfangs erwähnten Tausend-Millionen-Project soll sich ein einundzwanzig englische Meilen langes Rohr von Eisenblech oder Gußeisen von der Höhe der Küsten in sanft abfallender schiefer Ebene hinabsenken nach dem Meeresboden in der Mitte zwischen Dover und Calais; eine am Lande stehende große Dampfmaschine soll den Eisenbahnzug die schiefe Ebene heraufbefördern. Ein anderer Constructeur will das eiserne Riesenrohr in einer gewissen Tiefe unter dem Wasser schwebend erhalten; da das mit Luft gefüllte Rohr das Bestreben hat, auf der Oberfläche des Wassers zu schwimmen, so sollen schwere Ankergewichte dasselbe mittels Binden in der Tiefe des Wassers zurückhalten. Endlich ist auch noch die am wenigsten abenteuerlich erscheinende Idee ausgeführt worden, ein schmiedeeisernes Rohr bis auf das Seebett hinab zu versenken und es dort durch schwere Felsstücke oder mit Steinen angefüllte Kästen, welche ebenfalls versenkt werden, festzuhalten. Ein dermaßen über dem Rohre aufgeschütteter Damm würde dann, Dank den durch Ebbe und Fluth bewirkten Strömungen, mit Seesalz durchdrungen werden und bald eine feste, zusammenhängende Masse bilden. Die Röhrenmündungen werden durch besondere Erdtunnels mit den Landstationen verbunden.

So sind denn alle Möglichkeiten der Construction erschöpft worden. Es liegt mir nicht ob, eine Kritik der verschiedenen Projecte zu geben; ich wollte nur auf eine neue unübertroffene geistige Kühnheit im Entwerfen industrieller Anlagen aufmerksam machen. Vielleicht ist es einem künftigen Geschlecht vergönnt, das mit Augen zu schauen, was wir jetzt als ein Wundermärchen zurückzuweisen so leicht geneigt sind.

Dr. R. Herzberg.

Carl Maria von Weber.

Ein Lebensbild

von

Max Maria von Weber.

Unter diesem Titel ist in dem unterzeichneten Verlage so eben der 1. Band einer Biographie von Carl Maria v. Weber erschienen, die dessen Sohn zum Verfasser hat. Derselbe ist bei Ausarbeitung dieses wichtigen Buches mit großer Objektivität verfahren und sein Werk nichts weniger als eine Lobschrift auf seinen Vater. Außer den Familientraditionen, Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen, die sich schon in seinem Besitze befanden, hat er durch siebenjähriges, unablässiges Sammeln ein ganz ungemein reiches, noch nie veröffentlichtes Material an Correspondenzen und Mittheilungen zusammengebracht, das ihm theils auf deshalb unternommenen zahlreichen Reisen, theils auf briefliche Aufforderungen von Behörden und Privatleuten mit einer Bereitwilligkeit geliefert worden ist, durch die sich das warme Interesse an dem volkthümlichen Componisten und der pietätvollen Unternehmung de« Sohne« deutlich documentirt hat.

Das Werk erscheint in zwei je 30–36 Bogen starken Bänden, von denen der erste die Darstellung der Jugend-, Lehr- und Wanderjahre, der zweite die der Meister- und Jochjahre enthält, und ist mit zwei Stahlstichen, dem vortrefflichen Portrait des Meisters und einer Abbildung seines Denkmals, geziert. Jeder Band kostet 2 Thlr. 15 Ngr.

Ernst Keil in Leipzig.

Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Noch viel später hat sie edelherzig den Verdienten mehrfach durch reiche Ehrengeschenke erfreut.
    D. Verf. 
  2. Die Namen der Personen und Ortschaften sind fingirt, da das Ganze ein zu jener Zeit gebräuchliches Schema für Protokolle bei Hexenfoltern ist. Die Indicien: Pulver, Kröte, Knochen etc., sind fast stets dieselben.
  3. Dieser Vorgang, sowie die nachfolgenden, müssen häufig beobachtet worden sein, da sie sich in den meisten Protokollen aufgezeichnet finden und, gewissermaßen als zum Gange der Procedur gehörig, den jungen Richtern ein genaues Verfahren bei solchen Zwischenfällen in bestimmter Form vorgezeichnet wird.

Anmerkungen (Wikisource)