Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1863)/Heft 34

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[529]
Martha.
Erzählung aus dem Leben.
Von A. Diezmann.
(Schluß.)

Im Hause Michel Gerber’s war dieses Pfingsten kein „liebliches Fest“. Martha’s Befürchtungen hatten sich nur zu bald verwirklicht. Eines Tages nämlich theilte ihr der Vater höchst vergnügt und in seiner besten Laune die, wie er meinte, für sie höchst erfreuliche Nachricht mit, daß sie bald – Braut sein werde. Er habe, erzählte er weiter, ohne auf das Erschrecken der Tochter zu achten, einen Mann für sie gefunden, den einzigen Sohn eines Bauern in einem zwei Stunden entfernten Dorfe, der beinahe so reich sei wie er, Michel Gerber, selbst. Alles sei zwischen ihnen, den Vätern, bald abgemacht gewesen, aber weil ihm, Michel, das Wohnhaus in jenem Gute nicht gefallen, habe er die Bedingung gestellt, daß dieses erst groß und schon neuaufgebaut sein müsse, ehe er seine Martha da einziehen lassen könne. Der Andere habe zwar Anfangs die Forderung zu hoch gefunden, aber doch nachgegeben, sobald er gemerkt, daß aus der Heirath nichts werde, wenn er jene Bedingung nicht eingehe. Gleich nach den Feiertagen werde denn angefangen das Haus einzureißen, und zum Ernte- und Hochzeitsfeste müsse das neue zum Beziehen fertig sein. Am zweiten Feiertage werde der Alte mit dem Sohne zur „Brautschau“ kommen.

„Stellen Sie sich vor,“ sagte Michel Gerber zu mir am ersten Feiertage, als nach dem Mittagsessen das Gesinde sich aus der Wohnstube entfernt hatte, in Martha’s Beisein, „kreideweiß im Gesicht stand das Mädchen vor mir, als ich ihr das sagte, an allen Gliedern zitterte sie, mir vor die Füße fiel sie und auf meine Kniee legte sie den Kopf, den sie nicht still halten konnte. So lag sie eine lange Weile, und ich wußte nicht, was es zu bedeuten haben sollte. Dann umklammerte sie meine Kniee mit ihren beiden zitternden Armen und fing an zu weinen, wie ich sie nur einmal weinen gesehen habe, – als ihre Mutter starb. Ich erschrak, denn ich glaubte, sie sei krank geworden. Aber nein! Eigensinn war’s, Trotz, Ungehorsam! Sie erklärte mir rund heraus, sie könne und werde den Mann nicht heirathen, den ich, ihr Vater, wohlbedächtig für sie gewählt habe. Verstehen Sie das?“

Ich war in so peinlicher Verlegenheit als Martha selbst, die todtenbleich da stand und die zitternden Hände auf die Lehne meines Stuhles stützte.

„Reden Sie ihr in das Gewissen,“ fuhr Michel fort. „Ich weiß, daß sie große Stücke auf Sie hält.“

Das Verhältniß zwischen Martha und mir war allerdings ein rein freundschaftliches, keineswegs ein Liebesverhältniß; man hätte aber recht wohl ein solches vermuthen können. Daß ein Liebesverhältniß zwischen uns hätte bestehen und die Ursache der Weigerung Martha’s sein können, kam dem stolzen Bauer gar nicht in den Sinn, weil er es geradezu für unmöglich hielt, daß ein junger Mensch wie ich die Augen zu der Tochter des reichen Michel Gerber zu erheben oder gar nach dem Besitze derselben zu streben wagen könne.

Den alleinigen und natürlichen Grund der Weigerung Martha’s mochte ich jetzt, im Beisein des Mädchens, nicht aussprechen, weil dies zu einer langen und weitläufigen Auseinandersetzung hätte führen müssen, die den hartnäckigen Bauer doch nicht überzeugt haben würde. Ich hielt es daher für das Beste, vor allem, wo möglich, Zeit zu gewinnen, und ich begann deshalb:

„Martha ist durch die für sie so wichtige Nachricht erschreckt worden, weil sie gar nicht darauf vorbereitet war.“

„Das ist nichts,“ fiel Gerber ein. „Die Kinder müssen jeden Augenblick bereit sein, den Eltern in Allem zu gehorchen, was von ihnen verlangt wird.“

„Auch ist sie ja so jung noch,“ bemerke ich.

„Jung soll sie heirathen, damit Alle sehen, wie gesucht die Tochter des reichen Michel Gerber ist. Wenn ich sie lange warten ließe, meinten die Leute wohl gar, es könne mit meinem Reichthum doch nicht so weit her sein.“

„Lassen Sie Martha nur noch einige Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.“

„Ah, alle Mädchen wollen heirathen, und je jünger, desto lieber. Sie brauchen sich also an den Gedanken daran nicht erst zu gewöhnen. Was das Heirathen eigentlich ist, wissen sie freilich nicht und sie können’s nicht wissen. Darum eben sollen die Eltern die Kinder verheirathen. Die haben die Erfahrung und meinen es auch gut. Nur die Mädchen in der Stadt glauben klüger zu sein als ihre Eltern und wollen darum bei dem Heirathen ihren eigenen Willen haben. Daher kommt’s, daß die Mädchen in der Stadt, wie man so oft hört, sogar beim Heirathen den Eltern ungehorsam sind. Das ist, Gott sei Dank! bei uns Bauern anders und besser, denn die Töchter der Bauern – und die Töchter der Fürsten, wie ich mir habe sagen lassen – nehmen gehorsam den Mann, den die Eltern für sie ausgesucht haben. Martha ist die Tochter eines Bauern, eines reichen Bauern, darum muß und wird sie gehorchen.“

„Vater! Lieber Vater...!“ fiel Martha flehendlich ein.

„Weißt Du,“ unterbrach sie Michel, „weißt Du, warum Dein [530] Vater ein reicher Mann ist? Weißt Du, was in der Bibel steht? „Der Segen der Eltern baut den Kindern Häuser, aber der Fluch der Eltern reißt sie nieder!“ Wir, Deine Mutter und ich, hatten einander nicht gesehen, als unsere Eltern ausmachten, daß wir ein Paar werden sollten. Wir gehorchten, wie sich’s ziemt, und sie gaben uns ihren Segen. Dieser Segen hat uns reich gemacht.“

„Die Mutter war .. nicht glücklich,“ wagte Martha einzuwerfen.

Ich erschrak über ihre Kühnheit und fürchtete schlimme Folgen davon.

Michel Gerber sprang in der That auf, als er diese Worte hörte, als würde er von dem Zorne, den sie in ihm erregten, emporgeschnellt. Er faßte einen vor ihm stehenden Stuhl mit beiden Händen, hob ihn empor und stieß ihn mit solcher Gewalt wieder nieder, daß er in Stücke zersprang.

„Mädchen,“ sagte er und seine Augen funkelten, „erinnere mich daran nicht. Sie hat’s gesagt, war aber doch eine reiche Frau, die reichste weit und breit, und konnte Alles haben, was sie sich wünschte. Ich meinte, solche Reden, wie ich von ihr gehört, hätten ihr Ende gefunden in ihrem Grabe. Hüte Dich, sie da herauszuholen und sie mir wieder zu bringen! .. Morgen ist Brautschau und dabei bleibt es!“

Er ging mit großen Schritten hinaus, und wir blieben allein, in welcher Stimmung, läßt sich leicht errathen.

Ich wäre am liebsten sogleich abgereist, denn es war mir unbeschreiblich peinlich, Martha so schmerzlich leiden zu sehen, ohne ihr irgendwie nützlich sein zu können. „In’s Gewissen ihr zu reden,“ wie es ihr Vater wünschte, vermochte ich nicht. Hatte ich aber auf der anderen Seite ein Recht, sie in ihrem Ungehorsam gegen den Vater zu bestärken, und durfte ich sie zum Ausharren in ihrer Weigerung ermuthigen? War es nicht immerhin möglich – wie sicher auch das Gegentheil zu sein schien – daß Martha den jungen Mann, dem sie ihre Hand geben sollte, mit der Zeit doch lieben lerne und mit ihm glücklich oder doch nicht so ganz unglücklich lebe, als sie jetzt fürchtete? Er hatte ja vielleicht auch Sinn für höhere Bildung, würdigte dieselbe an der, welche seine Frau werden sollte, und gab sich Mühe, allmählich sich zu ihr zu erheben, statt sie zu sich herunterzuziehen.

Ich sprach das gegen Martha aus, aber sie wehrte Alles heftig ab und bat mich so dringend, sie an dem morgenden „fürchterlichen“ Tage nicht allein zu lassen, sondern in ihrer Nähe zu bleiben, daß ich den Muth nicht fand, ihre Bitte abzuschlagen.

„Wenn ich weiß. daß Du da bist,“ sagte sie, „wenn ich Dich sehe, behalte ich nicht nur Muth, sondern auch Besonnenheit. Wenn ich ganz verlassen wäre, sagte oder thät ich vielleicht etwas, das meinen Vater heftig erzürnte. Und im Zorn ist er schrecklich; Du hast nur eine ganz keine Probe davon gesehen. Bleibe bei mir! Es geschieht übrigens morgen noch nichts Entscheidendes, und ich brauche da noch nicht Ja oder Nein zu sagen. Sie kommen nur, um mich anzusehen, und das muß ich ihnen wohl erlauben. Wer weiß? Vielleicht gefalle ich ihnen nicht, und sie treten zurück. Wahrscheinlich ist es freilich nicht, denn auf das Aussehen kommt hier wenig an, und leider werden sie es auch nicht wagen, meinen Vater durch den Rücktritt von dem „Handel“ zu beleidigen; aber eine Möglichkeit bleibt es doch. Bleibe also bei mir und rede mit Herrn Engel, daß auch er unten in der Stube aushalte, damit Deine Gegenwart auch den Argwöhnischen nicht auffallen kann,“ setzte sie mit einem freundlichen Blicke hinzu.

So blieb ich denn, und ich sah dem nächsten Tage in großer Spannung entgegen. Martha hielt sich seltsam gefaßt, und auch, als am Nachmittage des zweiten Feiertages die beiden Erwarteten in einem offenen Wagen erschienen, bemerkte ich keine auffallendere Veränderung an ihr, als daß sie noch etwas blässer wurde, als sie schon gewesen war. Der künftige „Schwiegervater“ war ein sehr beleibter Mann mit feisten rothen Backen und dicken wulstigen Lippen, der eine schwere lederne „Geldkatze“ um den Leib geschnallt trug. Sein Sohn, der zwanzig Jahre alt sein mochte, schien ganz das Ebenbild des Vaters zu werden. Er war groß und starkknochig und zeichnete sich namentlich durch unverhältnißmäßig starke und plumpe Hände aus, die man freilich selten sah, weil er sie meist in den Taschen seiner weiten Pluderhosen hielt. In seinem Gesicht lag leider gar nichts, was nur einigermaßen zu der Hoffnung hätte berechtigen können, daß er den Werth der Bildung Martha’s würdigen und versuchen werde, sich wenigstens einigermaßen zu ihr zu erheben.

Als sie in die Stube traten, kniff der Alte im Vorbeigehen Martha schmunzelnd in die Wange, der Sohn aber sah sie nur flüchtig von der Seite an. Den Hauslehrer und mich, die wir mit dem jungen Sohne Gerber’s an einem Tische saßen, zu dem auch Martha alsbald trat, beachteten Beide gar nicht. Daß es übrigens für den Vater wie für den Sohn bei dem Besuche Nebensache war, die Tochter des Hauses zu sehen, die Hauptsache vielmehr die genaue Besichtigung des Gutes, zeigte sich bald genug. Kaum war der Kaffee getrunken, der ihnen vorgesetzt wurde, so sprachen sie den Wunsch aus „herumgeführt“ zu werden. Als sie sich mit dem Hausherrn zu diesem Zwecke entfernten, flüsterte mir Martha zu:

„Wenn mir das Weinen nicht gar zu nahe wäre, kennte ich über den Bräutigam lachen. Hast Du sein dummes Gesicht beobachtet? Und seine Fäuste! Nein, der liebe Gott kann nicht wollen, daß ich einen solchen Menschen zum Manne nehme!“

Zum Glück forderte ihr Vater Martha nicht auf, ihn und seine Gäste bei dieser Besichtigung zu begleiten, denn sie gingen langsam und lange Zeit in allen Räumen umher, musterten jedes Pferd und jedes Rind einzeln mit Kennerblicken und besahen prüfend selbst die großen Getreide- und Futtervorräthe.

Als nach mehr als einer Stunde Gerber allein zurückkam, ging ich eben hinaus und da sah ich, daß die beiden Fremden, Vater und Sohn, im Gespräch noch im Hofe, vor der Thür, standen. Sie schienen zwar leise mit einander reden zu wollen, sprachen aber so laut, daß ich jedes ihrer Worte deutlich verstehen konnte. Daß ich absichtlich sehr langsam ging, als ich Einiges davon vernommen hatte, wird man wohl begreiflich finden.

„Schönes Vieh, Vater! Prachtvieh!“ sagte der Sohn begeistert. „So haben wir’s nicht. Und die Ställe! Schmucker sieht’s drin aus als in unserer Stube!“

„Und das Mädchen? he?“ fragte der Alte bedächtig und er schien sehr gespannt auf die Antwort zu sein, welche der Sohn geben werde.

„Na, die ist einmal dünn! Wenn ich sie mit meinen Fäusten angreife, zerbricht sie. Wie ein Wachspüppchen sieht sie aus! Und ihre Hände! Mein Daumen ist größer als so eine ganze Hand. Arbeiten kann die gewiß gar nicht.“

„Sie braucht’s nicht! Aber Clavier soll sie spielen.“

„Von dem Klimpern wird keine Kuh satt.“

„Und schrecklich viel hat sie gelernt. Sie soll mehr wissen als unser Pfarrer und Schulmeister zusammen.“

„Mir gefällt sie nicht, aber sie ist reich, und ich heirathe sie frischweg. Hat sie viel gelernt, nun von mir soll sie noch mehr lernen. Ich zieh’ sie schon, wie ich sie brauche und haben will. Macht’s meinetwegen gleich richtig. Ich gehe unterdeß noch einmal in den Stall und besehe mir die Pferde.“

Die beiden Väter begaben sich darauf in das „geheime Cabinet“ Michel Gerber’s, und hier brachten sie die Sache jedenfalls völlig in Ordnung, ohne aber Martha irgendwie zu den Berathungen zuzuziehen, welche sie da pflogen. Alsbald nach dem Abschlusse fuhr der dicke „Schwiegervater“ mit dem Sohne wieder fort, wie es schien höchlich befriedigt von der Besichtigung, obgleich der „Bräutigam“ die ganze Zeit über auch nicht ein Wort mit Martha gesprochen hatte. Diese theilte mir später mit, daß ihr Vater gegen Abend ihr gesagt habe, nach vierzehn Tagen würden sie nach dem Gute fahren, das sie künftig bewohnen werde. Sie hatte das, wie sie hinzusetzte, angehört, als sei sie dabei gar nicht betheiliget, so daß ihr Vater vielleicht glaube, sie habe den Widerstand gegen die Heirath aufgegeben. Mir kam die Ruhe des Mädchens unerklärlich vor, ja sie hatte etwas Unheimliches für mich. Als ich mich verabschiedete und sie allein mich eine kleine Strecke weit, nur wenige Schritte über das Dorf hinaus, begleitete, konnte ich nicht umhin, mich gegen sie darüber auszusprechen. Im Tone des unerschütterlichsten Glaubens antwortete sie mir:

„Verlaß Dich darauf, ich werde die Frau des Menschen nicht, der mir aufgedrungen werden soll. Ich vertraue fest auf Gott und meine gute Mutter im Himmel, die beide nicht zugeben werden, daß ich in solchem Unglücke untergehe.“

Sie reichte mir darauf in zuversichtlicher Ruhe die Hand und mit den Worten: „Was auch geschehen möge, bleibe mir gut!“ wendete sie sich rasch zur Umkehr. Ich aber setzte meine Wanderung [531] mit schwerem Herzen fort, denn ich konnte mich der schlimmsten Befürchtungen nicht erwehren. Wenn dieses Mädchen sich zwingen ließ, das Weib jenes rohen jungen Mannes zu werden, konnte ihr Schicksal nur ein sehr trauriges sein. Verharrte sie dagegen bei ihrer Weigerung, so ließ sich, nachdem Charakter ihres Vaters, nur eine gewaltsame Lösung des Conflictes erwarten, und es erfaßte mich ein Schauer des Entsetzens, als ich auf meiner einsamen Wanderung an eine solche Möglichkeit dachte.

Da ich der schließlichen Entwicklung des Dramas nicht selbst beiwohnen konnte, an Martha aber den innigsten Antheil nahm, so schrieb ich sofort nach meiner Heimkehr an Freund Engel, um ihn dringend zu bitten, mir so oft und so ausführlich als möglich über Martha und ihr Schicksal Mittheilungen zu machen. Aus seinen Briefen also entnehme ich das Weitere.

Martha war seit der „Brautschau“ stiller, ernster und blässer als je geworden, und jeden Tag vermißte man sie im Hause ein- oder auch mehrmals, auf kürzere oder längere Zeit, ohne daß man anfangs wußte, wohin sie ging. Die Leute im Dorfe freilich wußten es und wunderten sich nicht wenig, daß sie so gar oft auf dem Friedhofe sei. Sie trugen es endlich auch ihrem Vater zu, der ihr diese Gänge gern untersagt hätte, aber davon abstand, weil Martha nie mehr von der Heirathsweigerung sprach und sich also, seiner Meinung nach, vorgenommen hatte, gehorsam sich zu fügen, dann aber auch, weil sie, als er einmal von diesen Friedhofsgängen gesprochen, mit der ruhigsten Sanftmuth geantwortet hatte: „Laß mich doch immer dahin gehen, Vater! Ich bete da ja nur zu dem lieben Gott und rede mit der seligen Mutter. Das thut mir so wohl!“

So duldete Michel Gerber schweigend jene Besuche bei dem Grabe der Mutter Martha’s, so wenig sie ihm auch gefielen.

Je näher der Tag kam, an welchem sie mit ihrem Vater den ihr angekündigten Besuch an dem Orte machen sollte, den er als ihre künftige Heimath ausgewählt, desto länger verweilte sie auf dem Friedhofe. Am Freitag, zwei Tage vor der beabsichtigten Reise, blieb sie bis zur Nacht, obgleich gegen Abend ein schweres Gewitter mit heftigem Blitz und Donner über die Gegend gezogen war und selbst starke Regengüsse hatte niederströmen lassen. Michel Gerber ging unruhig in dem Hause hin und her. Nicht, daß er gefürchtet hätte, seine Tochter habe sich selbst ein Leid gethan, um der Heirath zu entgehen. Ein solcher Gedanke kam ihm gar nicht in den Sinn, denn es ging weit über sein Fassungsvermögen hinaus, daß Jemand sich selbst das Leben nehmen könne, um sich einer Heirath, einer reichen Heirath, zu entziehen. Aber konnte dem Mädchen nicht irgend ein Unglück geschehen, ein Unfall in dem Unwetter zugestoßen sein? Er bot sogleich mehrere seiner Leute auf die Vermißte zu suchen, und er selbst schloß sich ihnen an. Wie unwahrscheinlich es auch sein mochte, daß Martha noch immer auf dem Friedhofe sich befinde, gingen doch einige der Suchenden dahin und unter ihnen Gerber selbst. Die Gewitterwolken hatten sich fast ganz verzogen, und als man auf den Friedhof kam, trat sogar der Mond an dem reinen blauen Himmel hervor. Hell fiel sein Licht gerade auf das Grab, zu dem man sich wendete, und die goldenen Geländerspitzen um dasselbe her leuchteten in seinem Schimmer. Michel Gerber ging mit großen Schritten voran, so daß auch er zuerst das Entsetzliche gewahrte, das sie hier erblicken sollten. Da lag Martha, wie eine vom Sturme geknickte Blume, zusammengesunken, so daß ihre Arme und das Gesicht auf dem Grabhügel ruheten. Sie war völlig durchnäßt von dem heftigen Regen, der auf sie niedergeströmt. Michel trat hastig durch die offene Geländerthür hinein an das Grab, faßte zornig mit beiden Händen die daliegende Tochter und wollte sie so emporreißen, aber starr vor Entsetzen blieb er einen Augenblick, über ihr gebeugt, stehen, und man sah, daß die Kniee des starken Mannes und die Arme, welche die Tochter hielten, heftig zitterten. Darauf rief er laut mit bebender Stimme voll Jammer: „Mein Kind! Sie ist todt!“

Dann nahm er die Tochter, wie ein kleines Kind, auf den rechten Arm und ging mit ihr so rasch, daß ihm die Andern kaum folgen konnten, nach seinem nicht weit entfernten Hause zu. Sobald er in den Hof trat, rief er so laut, als es ihm bei der Angst möglich war, die ihm die Brust zusammenschnürte: „Pferde! Die besten! Schnell! Zwei Knechte müssen sogleich nach M. und Z. reiten und Aerzte holen! Laßt die Pferde laufen was sie können! Stürzt eins – einerlei! Laßt’s liegen und lauft vollends in die Stadt. Den Doctor holt ihr, wo er ist, vom Essen, vom Krankenbette, vom Spiel, aus seinem Bette! Postpferde soll er nehmen, Extrapost. Ich bezahl’s. Zehn Thaler dem, der mir zuerst einen Doctor in’s Haus bringt!“

Während er diese Befehle gab, schritt er weiter im Hofe hin, den starren Körper der Tochter noch immer auf dem Arme. So trug er sie in das Haus, die Treppe hinauf und rief dabei nach der alten Haushälterin. Im Zimmer Martha’s endlich legte er seine Last sanft auf das Sopha und nun überließ er die Tochter einigen der bestürzt herbeikommenden Mägde, damit sie ihr vorsichtig die nassen Kleidungsstücke auszögen, trockene Wäsche anlegten und sie in das Bett brächten. Er selbst lief wieder die Treppe hinunter, um die Knechte, welche nach Aerzten reiten sollten, zur Eile anzutreiben. Das war indeß nicht nöthig, denn als er in die Hausthür trat, jagte bereits einer der Knechte, der sich nicht einmal Zeit genommen hatte das Pferd zu satteln, in sausendem Galopp aus dem Hofe, durch die Einfahrt, hinaus in die Nacht, und gleich darauf folgte auch der andere. Michel Gerber sah ihnen nach und sagte mit einem tiefen Seufzer: „Gott sei Dank!“ Der Gedanke schon schien ihn einigermaßen zu beruhigen, daß doch die Boten fort wären und ein Arzt bald kommen müßte. Er ging dann wieder die Treppe hinauf, um nach der Tochter zu sehen. Sie war bereits ausgekleidet und in das Bett gebracht.

Michel Gerber setzte sich an das Bett Martha’s und ließ seine Blicke unverwandt auf dem leichenbleichen Gesicht derselben ruhen, aber lange gestattete ihm die Angst keine Ruhe. Er stand auf und trat an das Fenster, um zu horchen, ob vielleicht ein Wagen heranrolle, der den Arzt bringe, obschon keiner der reitenden Boten, selbst bei der größten Eile, die Stadt schon erreicht haben konnte. Nach einiger Zeit setzte er sich wieder an das Bett, um bald von Neuem aufzustehen und an das Fenster zu treten. So verbrachte er zwei qualvolle Stunden. Da vernahm er wirklich näher und näher kommende rasche Hufschläge. Er holte tief Athem, als sei ihm eine Last von der Brust gewälzt, und ging rasch aus dem Zimmer hinaus, die Treppe hinunter vor die Thür des Hauses. Eben sprengte einer der Knechte in den Hof und schwang sich vor der Thür von dem keuchenden, mit Schaum bedeckten Pferde.

„In höchstens einer Viertelstunde ist der Doctor da,“ sagte der Knecht. „Ich wartete nur, bis die Postpferde angespannt wurden, dann ritt ich scharf voraus.“

„Das vergesse ich Dir nicht, so lange ich lebe,“ sagte Gerber. „Die zehn Thaler hast Du verdient. Jetzt sorge für das Pferd.“

Nach kaum zehn Minuten erschien in der That ein Arzt und er wendete sofort, während man ihm erzählte, was geschehen, die zweckmäßigsten Belebungsversuche an. Leider schien alles Bemühen vergeblich zu sein, und der Arzt fing an ein bedenkliches Gesicht zu machen.

„Herr Doctor,“ sagte Gerber nach einer halben Stunde, „geben Sie mir meine Martha lebendig wieder und verlangen Sie viel Geld von mir dafür. Ich geb’s; ich kann’s geben. Und sie ist Braut.“

„Jetzt!“ äußerte der Arzt nach einer weitern Viertelstunde, und seine Züge heiterten sich etwas auf. Als Gerber dies sah und hörte, glaubte er, alles Schlimme sei vorüber. „Jetzt,“ fuhr der Arzt fort, „habe ich wirklich gefühlt, daß der Puls sich wieder regt. Nun dürfen wir hoffen!“

Die Bande des Todes, welche das Mädchen bereits umschlungen hatten, begannen in der That sich zu lösen, allmählich zwar und sehr langsam, aber doch immer merklicher und deutlicher.

„Sie athmet!“ sagte der Arzt nach einiger Zeit. „Ich fühle, daß die Brust leise sich hebt. Einen Spiegel!“

Gerber riß den ersten besten Spiegel von der Wand, ohne zu ahnen, was damit geschehen solle. Der Arzt hielt das Glas dicht vor den Mund Martha’s und sagte dann:

„Da! Sehen Sie den leichten Hauch daran? Sie lebt!“

„Gott sei’s gedankt!“ fiel der Vater andächtig ein. Und er beugte sich über die noch immer regungslos daliegende Tochter und sagte zu ihr, als könne sie ihn hören, in einem so weichen Tone, wie man ihn von dem starken Manne kaum hätte erwarten können: „meine Martha!“

„Sie wird gewiß auch bald die Augen aufschlagen,“ setzte die alte Haushälterin hinzu, und ihre Schmerzensthränen schienen sich bereits in Freudenthränen zu verwandeln. „Sehn Sie nur, Herr Doctor, wie die Wimpern leicht zucken!“

Es schien in der That, als wollten die Augen sich öffnen, als [532] sei aber die Last noch zu schwer, welche die Lider niedergedrückt hielt. Der Puls wurde auch, wie der Arzt versicherte, deutlicher und der Athem voller.

„Nun,“ sagte er, „glaube ich mich verbürgen zu können, daß sie nach einiger Zeit ganz in’s Leben und auch zum Bewußtsein zurückkehrt. Freilich,“ setzte er wohlweislich hinzu, um dem Vater nicht zu gewisse Hoffnung auf Rettung der Tochter zu machen. „freilich kann ich nicht wissen und voraussagen, was dann geschieht.“

Die günstigen Anzeichen hielten und mehrten sich. Allmählich kehrte eine gewisse Wärme in die Glieder zurück, und von den Lippen begann die bläulichweiße Leichenfarbe mehr und mehr zu weichen. Die Beengung der Brust lösete sich in Seufzern, und selbst die Augenlider öffneten sich, wenn auch zuerst nur, um sich alsbald wieder zu schließen. Michel Gerber stand in der gespanntesten und freudigsten Erwartung dabei. „Meine Martha!“ rief er noch einmal, und siehe da, die Tochter schien seine Stimme jetzt zu erkennen, denn sie that die Augen ganz auf und richtete sie auf den über sie gebeugten Vater. Dann blickte sie verwundert auch die Anderen an und in dem Zimmer umher.

So erholte sie sich mehr und mehr, sie kam endlich ganz zum Bewußtsein, fand die Sprache wieder und konnte selbst auf die Fragen antworten, was ihr auf dem Friedhofe begegnet sei.

Sie habe, erzählte sie, lange auf dem Grabe ihrer Mutter gesessen und an die Heirath gedacht, die ihr Vater wünsche, in die sie sich aber noch nicht finden könne; sie habe gebetet, geweint und darüber Alles vergessen. – Michel Gerber zog, als er das hörte, die Stirn in Falten, und der alte Zorn schien sich in ihm regen zu wollen, aber ein Blick auf die Tochter machte ihn bald wieder sanft und geduldig. Allmählich, erzählte Martha weiter, habe sie eine entsetzliche, unerträgliche Angst überkommen, so daß sie am Grabe der Mutter auf die Kniee habe sinken müssen. So habe sie die Hände gefaltet, nach dem Himmel hinaufgesehen und wohl halblaut gerufen: „Mutter! Mutter! Nimm mich zu Dir!“ In diesem Augenblicke habe sich der Himmel über ihr in Feuer aufgethan und eine Feuerwelle sie umgeben. Sie habe da wohl gar geglaubt, die Mutter, die sie so verzweiflungsvoll gerufen, steige im Himmelsfeuer zu ihr nieder, aber sie habe den Gedanken nicht ausdenken können, denn es sei plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag erfolgt, und sie wisse nicht, was weiter mit ihr geschehen sei.

Der Arzt, welcher die ganze Nacht am Bette der Kranken geblieben war, reiste am frühen Morgen mit dem Versprechen ab, im Laufe des Tages noch einmal zu kommen, befahl aber auf’s Strengste, die Kranke im Bett zu halten. Diese schlief später lange, anfangs sehr ruhig. Als sie erwachte, klagte sie über Beängstigung. Dazu trat bald wachsende Unruhe und stechender Schmerz in der Brust. Der Arzt erkannte, als er wiederkam, sofort die beginnende Brustentzündung. Die Krankheit steigerte sich schnell zu großer Heftigkeit. Es trat starkes Fieber und mit ihm Irrereden ein. In ihren Phantasten sprach Martha bald mit Angst und Entsetzen, bald mit Spott und unheimlichem Lachen von dem ihr bestimmten Bräutigam.

„Du bist bös, Vater,“ sagte sie einmal, „ich weiß es wohl, aber habe nur noch ein klein wenig Geduld mit mir. Die Mutter kommt auf einem feurigen Wagen aus dem Himmel und holt mich ab.“

Der Vater, der dies hörte, hatte offenbar einen schweren Kampf in seinem Innern zu bestehen. Seiner Liebe zu der Tochter, seinem Wunsche, die Geängstigte zu beruhigen und durch solche Beruhigung vielleicht zu schnellerer Genesung beizutragen, stand seine festgewurzelte Ansicht von dem unbedingten Gehorsam der Kinder, sowie seine durchaus nicht erschütterte Ueberzeugung entgegen, daß die Heirath, die er stiften wolle, doch das Glück Martha’s sei, welches sie nur nicht erkenne. Er konnte deshalb auch zu keinem Entschlusse kommen und tröstete sich in seiner peinigenden Unruhe einigermaßen dadurch, daß er sich sagte, wenn er auch eine Entscheidung nach dem Wunsche Martha’s aussprechen wollte, würde sie ihn jetzt, in dem Irrsinn, doch nicht verstehen; es bleibe ihm also noch Zeit.

Auch mit mir schien sich die Kranke in ihren Phantasieen zu beschäftigen. Niemand freilich von denen, die um sie waren, verstand oder ahnte dies, und ich allein konnte es errathen, als ich erfuhr, einmal habe ein gar freundliches Lächeln ihr Gesicht gleichsam verklärt und sie dann in schalkhaft bittendem Tone gesagt: „Ach nein! Nein! Nicht küssen!“

Da alle Mittel, die der Arzt anwendete, wirkungslos blieben, schüttelte er bedenklich den Kopf und er verhehlte es dem Vater nicht, daß seine Tochter jetzt in großer Gefahr schwebe. Michel Gerber hörte diese Worte an, als wären sie sein Todesurtheil.

Er saß den größten Theil des Tages und der Nacht am Bette der Kranken, und wenn er vielleicht auch nicht erkannte, daß die Schatten des Todes sich bereits über sie zu senken begannen, litt er doch nichts desto weniger Schmerzen, die tief in seine Seele griffen. Er fing allem Anscheine nach sogar an sich Vorwürfe zu machen und Reue zu empfinden, denn er sagte sich, wenn er die Tochter nicht hätte zwingen wollen zu einer Heirath, würde sie durch die Verzweiflung nicht zu dem Grabe der Mutter getrieben und also da auch nicht von dem Unfall betroffen worden sein. Der Stachel der Reue in seinem Herzen wurde allmählich so scharf, daß er sich mehr und mehr zu dem Versuche gezwungen fühlte, gut zu machen, was noch gut zu machen sei. Er benutzte denn auch wirklich einige der lichten Augenblicke im Zustande der Tochter, faßte die eine Hand derselben, die auf dem Bette lag, streichelte mit der andern die bleiche Wange der Kranken und sagte, während ihm die Thränen in die Augen traten:

„Meine Martha! Bleibe bei mir! Thu mir das Leid nicht an mich zu verlassen! Du sollst den nicht heirathen, den Du nicht haben willst.“

Um Martha’s Lippen spielte ein Lächeln; sie sah den Vater mit dankbarer Freude an und antwortete schwach:

„Ich danke Dir, Väterchen! Ich wußte wohl, daß Du mir nicht immer zürnen würdest. O, nun Du mir verzeihst, wird mir auch das Sterben leicht. Es that mir so weh, in dem Glauben von Dir zu gehen, Du grolltest mir.“

„Du wirst nicht sterben; Du wirst gesund werden und leben. und der liebe Gott wird für das Andere sorgen,“ fiel Michel ein.

„Ja, so möchte ich wohl leben,“ sagte Martha, „aber es ist zu spät, ich fühl’s. Sterben muß ich.“

Da stand Michel Gerber rasch auf, denn der Schmerz, der ihn ergriff, war stärker als er, der starke Mann. Er sank auf einen Stuhl und weinte laut und bitterlich. Aber die Sehnsucht nach der sterbenden Tochter trieb ihn bald genug wieder an das Bett.

Als er sich da wieder niedergesetzt hatte, hob Martha mit Anstrengung eine Hand nach seinem Gesicht, um ihn zu liebkosen. Dabei sah sie ihn mit einem so lieblich bittenden Blicke an, wie er vielleicht den Augen der Engel eigen ist, und sagte:

„Väterchen, versprich nur eine letzte Bitte zu erfüllen, die ich auf Erden an Dich zu richten habe.“

„Alles, Kind, Alles!“ sagte der Vater.

„Ich bin Dir darin immer gehorsam gewesen, daß ich mich in unsere Tracht kleidete, wenn sie mir auch lange nicht mehr gefiel. Ich fügte mich Deinem Wunsche, aber – sei nicht bös! – ein Mädchen in Altenburger Tracht sieht im Leben häßlich aus, im Tode aber, im Sarge, wird sie gar widerwärtig. Mir graut vor mir, wenn ich mir denke, so im Sarge zu liegen. Versprich mir – es ist die letzte Bitte Deiner Martha – wenn ich todt bin, mir ein weißes Kleid anlegen zu lassen und mir eine weiße Rose in die Hand zu geben.“

Sie schwieg, und Michel Gerber nickte nur wiederholt zum Zeichen, daß er thun wolle, wie sie wünsche, denn sprechen konnte er nicht.

Nach einer Pause begann Martha noch einmal:

„Laß auch den Freund Engel’s zu meinem Begräbniß holen, damit er mich auch im weißen Kleide im Sarge noch einmal sehe. Willst Du?“

„Ja, ja!“ sagte Michel Gerber tief aufseufzend. Er ließ dann den Kopf auf das Bett sinken und barg da sein von Thränen überströmtes Gesicht. Martha aber legte wie segnend ihre beiden Hände auf das Vaterhaupt, und ihre Lippen bewegten sich wie in stillem Gebete. Dann schloß sie die Augen. Einige Stunden darauf war sie – zu ihrer Mutter gegangen.

Michel Gerber saß lange sprachlos und in sich zusammengesunken da; dann aber raffte er sich gewaltsam auf, um die Anstalten zur Beerdigung der Tochter zu treffen – ganz so wie sie es in ihrer letzten Bitte ausgesprochen hatte. Gleichzeitig erwachte aber auch in ihm der Stolz des reichen Bauers, der sogar in dem Begräbniß seiner verstorbenen Lieben Befriedigung sucht. Seine [533] Martha sollte ein Leichenbegängniß erhalten, wie es in dem Dorfe und in der Umgegend nie zuvor gesehen worden sei. Er selbst fuhr am Morgen des andern Tages nach der Stadt, um den theuersten Stoff, den er finden könnte, zum Grabkleide seiner Martha auszusuchen. Nach langer Wahl entschied er sich für schweren weißen Atlas, schon aus dem Grunde, weil er glänzte „wie Silber“. Auch den zweiten Wunsch der Tochter, der mich noch einmal zu ihr berief, erfüllte er gewissenhaft. So sehr ich mich aber auch beeilte, konnte ich doch erst erscheinen, als der Sarg bereits auf der Bahre im Hofe stand und die Leidtragenden in dem Hause versammelt waren. Der Zug ordnete sich bald. Voran wurde das Bild des Gekreuzigten getragen. Dann folgten die Schulknaben mit ihrem Lehrer und dem Geistlichen im Priestergewande. Hinter diesen kam die Bahre, mit Blumen geschmückt, von zwölf jungen Burschen getragen und von zwölf Jungfrauen umgeben, deren jede eine weiße Rose in der rechten Hand trug. Hinter dem Sarge ging, tiefgebeugt, fast gebrochen, Michel Gerber mit seinen Verwandten, die sämmtlich geladen und erschienen waren. Ihnen schlossen sich alle männliche Bewohner des Dorfes an. So bewegte sich der Zug langsam, unter dem Geläute der Glocken und dem Gesange der Schukinder, durch das Dorf nach dem Friedhofe, wo nicht nur alle Weiber und Mädchen des Dorfes, sondern auch viele Fremde von nah und fern bereits versammelt waren, denn alle wollten die Tochter des reichen Michel Gerber sehen, weil das Gerücht die Kunde verbreitet hatte, sie liege im Sarge „so schön wie eine Prinzessin“. Vor dem Geländer, welches das Grab der Mutter Martha’s umschloß, hielt der Zug und bildete einen Kreis. In diesem wurde die Bahre niedergelassen und der Sitte gemäß der Deckel vom Sarge genommen, damit Alle die Todte noch einmal sehen könnten. Als der Sarg geöffnet war, lief durch das laute Weinen umher ein Ah! der Bewunderung. Da lag Martha in dem weißen glänzenden Gewande, einen Kranz von weißen Rosen auf dem jungfräulichen Haupte, eine weiße Rose in der Hand, mit freundlichem Lächeln um den für immer geschlossenen Mund, und sie sah in diesem Schmucke, der ganz für sie geeignet war, so schön aus, daß die Versammelten kaum glauben konnten, es sei dieselbe Martha, die sie alle gekannt hatten. Ich selbst staunte bei dem unerwarteten Anblicke und bedachte bei mir, da Martha im Tode so schön sei, wie bezaubernd sie hätte erscheinen müssen, wenn das Geschick ihr gestattet, im blühenden Leben, in der Freude des Glücks, in einer ihr ziemenden Kleidung sich zu zeigen.

Der Geistliche hielt eine von warmem Gefühl eingegebene einfache Rede und sprach den Segen der Kirche über die Entschlafene. Darauf schloß man den Sarg von neuem, senkte ihn in den Schooß der Erde, und bald bildete sich darüber, neben dem Grabhügel der Mutter, jener der Tochter. Gerber stand die ganze Zeit über unbeweglich da und hielt sich an dem Eisengeländer an. Fast mit Gewalt mußten wir ihn endlich hinwegführen. Bei dem großen und reichlichen „Leichenessen“, das dem Herkommen gemäß in dem Trauerhause den Leidtragenden gegeben wurde, rührte er gegen seine Gewohnheit die Speisen kaum an. Nach Beendigung des Mahles, als die Uebrigen sich zur Heimkehr anschickten, nahm er mich bei Seite und sagte:

„Mit Ihnen habe ich noch zu reden, aber morgen erst; heute kann ich es noch nicht. Bleiben Sie bei mir.“

Ich blieb. Am andern Morgen führte mich Michel Gerber in sein „geheimes Cabinet“, ein einfaches, freundliches Stübchen.

„Erinnern Sie sich,“ begann er da, „daß der Schneider auf dem Tanzplatze mir einmal zurief: „Hochmuth kommt vor dem Falle?“ Jetzt, da mich das Unglück getroffen hat, sagen das die Andern nach. Ich hätte, heißt es, zu hoch hinaus gewollt mit der Martha, darum hätte Gott sie von mir genommen und mich so gestraft. Hätte ich das Mädchen erziehen lassen, wie die andern Mädchen im Dorfe erzogen werden, würde sie heute noch leben. Ich trüge also die Schuld an ihrem Tode. Sie haben Martha gut gekannt, und sie hielt viel auf Sie. Was sagen Sie? Habe ich Unrecht daran gethan, daß ich ihr Bildung geben ließ?“

Was sollte ich dem betrübten Vater sagen? Konnte, durfte ich ihm Alles geradezu vorhalten, was er an der Tochter gesündiget? So bald nach ihrem Verluste?

„Nein, Herr Gerber,“ antwortete ich nach einigem Nachdenken, „Sie haben sicherlich nicht nur nicht Unrecht, sondern im Gegentheil wohl daran gethan, daß Sie Martha eine gute Erziehung und höhere Bildung geben ließen; denn jede Art von Bildung ist eine Veredlung. Nur in der Verwendung der Bildung kann fehlgegriffen werden und wird gefehlt. Sie glauben, und Viele mit Ihnen, Bildung sei nichts weiter als Wissen, ein Ansammeln von mehr oder weniger Kenntnissen, ein Aneignen von Fertigkeiten. Das ist ein Irrthum, wenn auch ein verzeihlicher. Kein Theil, keine Kraft des menschlichen Geistes kann für sich allein ausgebildet werden, ohne daß die andern sich auch davon berührt fühlen, wie man kein Rad in einer Uhr z. B. in Bewegung setzen kann, ohne daß es in die andern eingreift und sie mit zu treiben beginnt. Hat das Gedächtniß Schätze des Wissens angesammelt, so fängt der Mensch, unbewußt vielleicht und ohne daß er es will, an, sie untereinander zu vergleichen; dadurch wird das Urtheil geweckt, und nach demselben bilden sich Ansichten über Recht und Unrecht, Gut und Böse, Schön und Häßlich. Der gebildete Geist läutert, reiniget und veredelt das Gemüth. Nun wissen auch Sie, Herr Gerber, daß Gleich sich gern zu Gleich gesellt. Der gebildete Geist verkehrt am liebsten mit dem gleich oder noch mehr gebildeten, und der geläuterte Geschmack sucht das Schöne und Edle. Unwissenheit und Rohheit verletzen sie und stoßen sie ab. Darum kann ein Gebildeter nun und nimmermehr unter Ungebildeten sich wohlbefinden, und wenn er gezwungen ist, immer unter solchen zu leben, wird er sich elend und unglücklich fühlen und endlich zu Grunde gehn.“

„Wenn die Bildung,“ fiel Michel Gerber ein, „nicht für Alle gleich gut und nicht überall gut ist, so taugt sie überhaupt nichts.“

„Das wäre eben so, als wenn Sie sagten, wenn ein Arzneimittel nicht jedem Kranken und nicht zu jeder Zeit helfe, tauge es überhaupt nichts.“

„So sind Sie also auch der Meinung, ich hätte der Tochter die Bildung nicht geben sollen, die sie hatte?“

„Keineswegs. Sie hätten Martha mit ihrer Bildung nur nicht dahin bringen sollen, wohin sie nicht paßte.“

„Ich hätte sie also nicht einem Bauer zur Frau geben sollen?“

„Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß jede gebildete Frau an der Seite eines ungebildeten Mannes unglücklich wird.“

„Dann hol’ der Teufel die Bildung!“ sagte Michel Gerber.

„Sie wollen die Sonne auslöschen, weil sie Ihnen einmal lästig ist, und vergessen ihre sonstigen unentbehrlichen wohlthätigen Wirkungen.“

„Das ist mir Alles zu hoch, sehen Sie. Martha hatte Sie gern, ich weiß es wohl, und ich glaube, sie hätte sich gar nicht gegrämt, wenn sie Ihre Frau hätte werden sollen. Ihnen hätte ich sie aber nicht gegeben, trotz aller Ihrer Bildung, weil Sie noch nichts sind und auch nichts haben. Die Hauptsache in der Welt ist und bleibt das Geld. Wer Geld hat und keine Bildung, wie ich z. B., ist ein ganzer Kerl und alle Welt hat Respect vor ihm; wer aber nur Bildung hat und kein Geld, ist doch nur ein halber Mensch. Also Geld und Bildung, wenn es sein kann. – Der Tod der Martha hat mich sehr erschüttert, sehr, aber ich überwind’s und dem Sohne lasse ich Bildung geben, wenn auch die Tochter vielleicht daran gestorben ist. Sie hatte viel von ihrer Schwachen Mutter. Der Junge wird mir an der Bildung nicht sterben, denn er hat meine Natur.“

Bald darauf verließ ich das Haus Michel Gerber’s, das mir öde und leer erschien, seit die nicht mehr darin waltete, die sein Schmuck gewesen war.

Ein deutscher Jude.
(Mit Portrait.)

Während die von Vielen längst todtgeglaubte deutsche Reichsverfassung vom 28. März 1849 mit einem Male in den Herzen des Volkes wieder auflebt und von einer zahlreichen, über ganz Deutschland verbreiteren Partei zu dem Panier erhoben worden ist, unter welchen sie den Kampf, der damals nicht ausgekämpft werden konnte, neuerdings aufzunehmen und früher oder später zu einem [534] siegreichen Austrage zu bringen gedenkt, während dessen geht von den Kämpfern jener früheren Zeit, von den ersten Urhebern und Vertheidigern der Reichsverfassung von 1849, Einer nach dem Andern dorthin, von wannen Niemand wiederkehrt, einem jüngeren Geschlecht die Erbschaft ihrer Anstrengungen, ihrer Hoffnungen und Enttäuschungen hinterlassend, sammt der Pflicht dankbarer Erinnerung an das, was Jene gethan, gelitten, erstrebt – wenn auch leider nicht erreicht haben.

Vor Kurzem ist wieder jener Aelteren einer, und wahrlich keiner der mindest Bedeutenden, geschieden. Es giebt Namen von stärkerem, weiterhin tönendem Klange, aber sicherlich keinen von reinerem, als den Namen Gabriel Riesser. Sei es denn Einem, der dem Verstorbenen längere Zeit und in einer der wichtigsten Epochen seines Lebens als Kampf- und Gesinnungsgenosse so nahe gestanden, wie Wenige, vergönnt, zu Riesser’s Ehrengedächtniß hier ein kurzes Lebens- und Charakterbild desselben zu entrollen! G. Riesser war geb. zu Hamburg am 1. April 1806. Aus jüdischer Familie stammend und viel zu ehrenhaft, um seinen Glauben eines äußeren Vortheils wegen zu wechseln (wie sehr auch seine aufgeklärte Gesinnung ihn über eine beschränkte Auffassung jenes Glaubens erhob) sah er sich alle Wege zu einer öffentlichen Wirksamkeit, wie sie seiner hohen geistigen Bildung entsprochen haben würde, versperrt. Um so eifriger warf er sich zum Verfechter eben der Sache auf, welche er nicht blos als seine eigene, auch nicht einmal blos als die seiner Glaubensgenossen, vielmehr als eine allgemeine Sache der Humanität, der Gerechtigkeit, des Fortschritts betrachtete, der Sache der Emancipation. Durch zahlreiche Schriften in dieser Richtung, in denen eben so sehr die edle Hoheit seines Charakters, wie die Schärfe seines Verstandes und die Macht seiner Beredsamkeit glänzend zu Tage trat, erwarb er sich einen wohlbegründeten Ruf als Schriftsteller, und unter seinen Glaubensgenossen weitverbreitete verehrungsvolle Sympathien.

Auf diese schriftstellerische Wirksamkeit für die Sache der Emancipation und daneben für andere, mehr oder minder damit im Zusammenhang stehende Fragen des Rechts und der Politik blieb die Thätigkeit Riesser’s im Wesentlichen bis zum Jahre 1848 beschränkt. Die denkwürdige Bewegung dieses Jahres rief ihn endlich auf einen größeren Schauplatz, wie er seinen Fähigkeiten und seinem von früh auf regen patriotischen Thatendrange entsprach. Riesser erschien beim Vorparlament zu Frankfurt und fand dort alsbald Gelegenheit, ebenso wohl für die bisher von ihm so beharrlich verfochtene Sache seiner Glaubensgenossen, wie für ein großes und wichtiges allgemeines Princip in Betreff der politischen Neugestaltung Deutschlands beredt und siegreich aufzutreten. Als die Versammlung darüber verhandelte, ob und wie weit die Wahlordnung für das zu berufende deutsche Parlament sofort festzustellen, oder was davon etwa den Einzelgesetzgebungen zu überlassen sei, ergriff Riesser das Wort und sprach die wenigen, aber gewichtigen Sätze, welche, indem sie den Kern der Sache trafen, für den Redner, der so scharf, klar und von dem höchsten Standpunkte aus diese Fragen angriff, sogleich allgemein die günstigste Meinung erweckten.

„Wir wollen,“ sagte Riesser, „der Localität überlassen, was der Form angehört, aber für Deutschland reserviren, was dem Geist angehört. Ich glaube, daß die Frage des directen oder indirecten Wahlmodus der Form angehört, und daß es dem Geiste keinen Abbruch thut, wenn die Staaten, denen es die Verhältnisse nicht möglich machen, daß direct gewählt wird, den indirecten Modus beibehalten; aber daß kein Census, keine Bedingung des Vermögens, des Standes, des Religionsbekenntnisses obwalte, ist Sache des Princips, des Geistes, und diese Frage dürfen wir der Localität nicht überlassen. Meine Herren, die Einheit Deutschlands soll nicht eine bloße Form sein, diese Einheit soll eindringen in die Gesinnung. Lassen Sie die aufgegangene Sonne Deutschlands leuchten durch alle Winkel und düsteren Schluchten, lassen Sie allenthalben jeden Unterdrückten, in seinem Rechte Zurückgesetzten fühlen, daß er in der Vertretung einer Nation von vierzig Millionen eine Stütze habe! Nach diesem Grundsatze mache ich den Vorschlag, daß die genaue Festsetzung des Wahlmodus den einzelnen Staaten überlassen bleibe, daß aber der Wahlmodus auf dem Grundsatze beruhen müsse, daß jeder volljährige Deutsche ohne eine Bedingung des Standes, Vermögens und Glaubensbekenntnisses Wähler und wählbar sei.“

Die Versammlung erhob diesen Vorschlag zum Beschlusse. Trotz dieses so glänzenden parlamentarischen Debüts Riesser’s beim Vorparlamente schien es gleichwohl, als sollte dem Parlamente eine so bedeutende Kraft entzogen bleiben. Obschon Riesser, im Bewußtsein seines uneigennützigen, nur auf das Gemeininteresse Deutschlands gerichteten Strebens, zugleich im Bewußtsein seiner Pflicht als berufener Anwalt seiner Glaubensgenossen, die von der zu schaffenden nahen Ordnung der Dinge auch für sich Gerechtigkeit hofften, sich nicht scheute, als Wahlcandidat für das Parlament öffentlich aufzutreten, hatten doch seine und seiner Freunde Bemühungen eine Zeit lang wenig Aussicht auf Erfolg. In Hamburg selbst durfte er, bei der socialen Stellung, die er dort einnahm, auf eine Wahl ins Parlament zur Zeit noch nicht rechnen. Auch gehörte Riesser nicht zu denen, die vor einer lebhafter erregten Wählerversammlung (wie es damals die meisten waren) mit tönenden Schlagwörtern und großen Versprechungen rasche Erfolge zu erzielen im Stande waren. Gewissenhaft bis zum Peinlichen, hätte er es nie über sich vermocht, Hoffnungen zu erwecken, die er nach seinen eigenen Kräften und nach den gegebenen Verhältnissen, wie er sie erkannte, nicht mit Sicherheit zu erfüllen sich getraute, oder Behauptungen zu verfechten, die er nicht mit vollster, genauest erwogener Ueberzeugung vertreten konnte. Ebenso war er persönlich zu bescheiden, um nicht da, wo er mit einem ihm politisch halbwegs Gleichgesinnten hätte concurriren müssen, lieber freiwillig zurückzutreten, als es auf den Rücktritt des Andern oder auf die Entscheidung der Wähler ankommen zu lassen. Doch erhielt er endlich ein Mandat von den Wählern des Herzogthums Lauenburg.

Im Parlament schloß Riesser sich dem linken Centrum, dem sogenannten Würtemberger Hof, an. Er gehörte zu dem Theile dieser Fraktion, der nach dem Septemberaufstand sich als besonderer Club im Augsburger Hofe constituirte. Sowohl in diesen engeren Kreisen, als in der Versammlung selbst nahm Riesser bald eine geachtete und hervorragende Stellung ein. Die Lauterkeit seiner Gesinnungen, die Wärme seines patriotischen und seines Rechtsgefühls, die aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtete, gewannen ihm schnell allgemeines Vertrauen, während die Schärfe und Klarheit seines Denkens selbst denen imponirte, welche an praktisch politischer und parlamentarischer Erfahrung ihm überlegen waren. Er ward in den wichtigsten Ausschuß des Parlaments, den Verfassungsausschuß, gewählt und von diesem unter Anderm mit der ebenso schwierigen, als bedeutsamen Berichterstattung über den Abschnitt der Verfassung „vom Reichsoberhaupte“ betraut. Er war eine Zeit lang Mitglied des Bureau’s als zweiter Vizepräsident. Seine Stimme wurde stets mit besonderer Aufmerksamkeit gehört und hatte ein nachdrückliches Gewicht in jenen kleinen Versammlungen von Mitgliedern der verschiedenen Fraktionen der Mehrheit, welche bei besondern Veranlassungen, z. B. bei der österreichischen und der Oberhauptsfrage, theils nur unter sich, theils auch im Verein mit den gesinnungsverwandten Männern des Reichsministeriums, die Lage der Verhältnisse und die jeweilig einzuschlagenden Wege beriethen. Endlich war er auch Mitglied der großen Deputation des Parlamentes, welche dem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die auf ihn gefallene Wahl zum deutschen Kaiser anzeigen und ihn zur Annahme der Krone auf Grund der Reichsverfassung vom 28. März 1849 einladen sollte. Als nach der abschlägigen Antwort des Königs die Deputation beschloß, demselben das Unheilvolle dieses Schrittes und die Unmöglichkeit einer Abänderung der einmal beschlossenen Reichsverfassung nochmals vorzustellen, war es Riesser, der nebst zwei andern Mitgliedern mit der Abfassung einer solchen Erklärung beauftragt ward.

Als Redner ist Riesser im Parlament nur selten, aber dann immer mit bedeutendem Erfolge aufgetreten. Nachdem er zuerst in einer rein formellen Frage, wobei er Gelegenheit hatte, seinen logischen Scharfsinn zu zeigen, die Aufmerksamkeit der Versammlung auf sich gelenkt, überraschte er dieselbe mit einer glänzenden Improvisation, worin er einen fanatischen Angriff des sonst freisinnigen, aber in diesem Punkte äußerst voreingenommenen Würtembergers Moritz Mohl auf die Ideen mit einer ebenso sachlich eingehenden, als von den höchsten Ideen durchwehten Beweisführung siegreich, unter dem lauten Beifall einer ungeheuren Mehrheit des Hauses, widerlegte.

Diese Rede kennzeichnet so ganz nicht blos den Standpunkt Riesser’s in der Judenfrage, sondern sein Wesen überhaupt und die Art seiner Beredsamkeit, daß wenigstens die Hauptsätze derselben hier eine Stelle finden mögen.

[535] „Ich nehme das Recht in Anspruch,“ sagte er, „vor Ihnen aufzutreten im Namen einer seit Jahrtausenden unterdrückten Classe, der ich angehöre durch die Geburt, und der ich – denn die persönliche religiöse Ueberzeugung gehört nicht hierher – ferner angehöre durch das Princip der Ehre, das es mich hat verschmähen lassen, durch einen Religionswechsel schnöde versagte Rechte zu erwerben. (Bravo!) Im Namen dieser unterdrückten Volksclasse gegen gehässige Schmähungen vor Ihnen das Wort zu ergreifen, dieses nehme ich in Anspruch. (Stimmen: Sehr gut!) Sie haben durch einen förmlichen Beschluß den nichtdeutschredenden Volksstämmen, die in Deutschland leben, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Rechte, Gleichheit alles dessen, was dem Deutschen Deutschland theuer macht, zugesichert. Sollen wir Juden es für unser Unglück erachten, daß wir deutsch reden? Sollen wir darum schlechter behandelt, soll uns die Freiheit vorenthalten werden dürfen, weil wir nicht in die Kategorie nichtdeutschredender Volksstämme gehören? Soll die Geschichte von Ihnen sagen, daß Sie mächtige Volksstämme, die zerstörend in die Geschicke Deutschlands eingreifen könnten, die gewaffnet und gerüstet vor Ihnen stehen, durch Verleihung gleicher Rechte haben versöhnen wollen, daß Sie für die drohende Gewalt nur milde Worte hatten, einer schwachen Religionspartei dagegen, die in bürgerlicher Hinsicht nichts will, als in Deutschland aufgehen – denn nur nach Denjenigen, die klar denken und lebendig fühlen und ein deutliches Bewußtsein ihrer Lage haben, können Sie diese, wie jede Masse beurtheilen – einer Classe, die keine Nationalität haben will, die ihnen von ihren Feinden aufgebürdet wird, die deutsch denkt und fühlt, mit Mißhandlungen entgegengetreten, und zu ihrem Nachtheil Ausnahmsgesetze bestehen lassen, während Sie andererseits alle Ausnahmsgesetze vernichten?“

Ganz anderer Natur und doch ebenso seinem innersten Wesen, seinem tiefen und unbestechlichen Gefühl für Recht und Wahrheit entquollen, darum auch eben so eindrucksvoll in ihrer Art, war die Rede, welche Riesser nach den traurigen Ereignisen vom 18. September, dem Angriff einer wüsten Rotte auf die Paulskirche, dem blutigen Morde Auerswald’s und Lichnowsky’s hielt – bei Gelegenheit eines vom Reichsministerium in das Parlament gebrachten Gesetzentwurfs zum Schutz der Versammlung.

„Deutschland,“ rief er der Versammlung zu, „wird durch eine blutige Herrschaft unter dem Vorwande der Freiheit niemals, auch nur einen Augenblick, regiert werden können; es bedarf für jetzt und für immer einer mäßigen, einer gerechten, einer sittlichen Regierung. Die Städte von München bis Königsberg, von Triest bis Hamburg werden den Abgeordneten der Blutherrschaft ihre Thore nicht öffnen, wie es einst Lyon und Nantes gethan. (Sehr gut! Lebhafter Beifall auf der Rechten und im Centrum.) Die Anarchie würde die Einheit Deutschlands unmöglich machen, und die Reaction, die nach Wiederholung solcher Schrecknisse – ich erinnere Sie an das warnende Beispiel des jetzigen republikanischen Frankreichs – die Reaction, die dann unvermeidlich wäre, würde die Freiheit und Einheit Deutschlands auf lange, lange Zeit vernichten.“

Riesser selbst, wie der bei weitem größte Theil des Würtemberger Hofs hatte in der Frage des Malmoer Waffenstillstandes mit Dänemark – der bekanntlich den Anlaß und Vorwand zu dem Frankfurter Aufstande gegeben – gegen die Majorität, für Verwerfung des Waffenstillstandes und Fortsetzung des Krieges gestimmt. Aber er protestirte feierlich gegen jede Solidarität seiner Partei mit der Partei des Aufruhrs.

„Wir, meine Herren,“ sagte er, „die wir in der Waffenstillstandsfrage gegen die Majorität des Hauses gestimmt haben, und die wir diese Abstimmung nicht bereuen und sie wiederholen würden, wenn die Frage sich erneuern könnte – wir müssen das Bündniß mit jener, großentheils erkünstelten Aufregung zurückweisen, welche eine schlechte Absicht an dieses Waffenstillstandsvotum geknüpft hat. Wir können in dem unredlichen Vorwand keineswegs den wahren Grund der vorgefallenen Gräuel erkennen.“

Eine dritte größere Rede Riesser’s – sowohl dem Umfange nach, als nach der Wichtigkeit des Gegenstandes wohl die bedeutendste unter allen – war sein Schlußwort als Referent über die Frage des Reichsoberhauptes. Sie ward, obschon sie fast zwei Stunden dauerte, mit gespannter Aufmerksamkeit angehört und von der Mehrheit des Hauses mit einem wahren Beifallssturm belohnt. Einzelnes daraus hier wiederzugeben, müssen wir uns versagen.

Nur über Riesser’s Verhalten in den letzten Wochen des Parlaments, nach erfolgter definitiver Ablehnung der Kaiserkrone von Berlin aus, sei noch Einiges bemerkt, weil gerade darin sich wieder sein ganzes Wesen ausprägt.

Ein wie großer Feind jedes ungesetzlichen, zerstörerischen Treibens Riesser war, haben wir aus seiner Rede über die Septemberereignisse ersehen. Aber nicht minder empörte sein sittliches und sein Rechtsgefühl der Gedanke, daß durch den bloßen einseitigen Widerstand einiger Regierungen oder Dynastien – gegenüber den dringlichen Wünschen der großen Mehrheit des deutschen Volkes und angesichts der drohenden allgemeinen Weltlage – das Werk der einheitlichen und freiheitlichen Neugestaltung Deutschlands vereitelt werden sollte. Die Ueberzeugung von der politischen Nothwendigkeit einer solchen Neugestaltung, von dem Rechte der Nation darauf, und von der sittlichen Verwerflichkeit einer Verkümmerung dieses Rechts war bei ihm so stark und lebendig, daß er zur Erreichung jenes höchsten Zieles selbst äußerste Maßregeln nicht schlechthin zurückweisen zu dürfen glaubte, und er that in dieser Richtung mehrfache Schritte, um Heinrich v. Gagern und die diesem anhängende große Partei des Parlaments zu gewinnen. Nur dann, als alle jene Bemühungen scheiterten, als die große conservativ-liberale Mehrheit des Parlaments, statt sich zu einem bestimmten Entschlusse des Handelns aufzuraffen, in Masse austrat, während auf der andern Seite die localen Aufstände in der Pfalz, in Baden und Sachsen, indem sie über die Reichsverfassung hinausgingen, die Lage vollends unrettbar verwirrten, erst da gab Riesser die Sache der Reichsverfassung und die Thätigkeit des Parlamentes verloren. Aber auch da nicht ohne die härtesten Seelenkämpfe und das tiefinnerste Widerstreben seines ganzen Selbst gegen einen solchen Gedanken. So tief ergriff der Schmerz darüber und der innere Widerstreit der Gefühle das Gemüth Riesser’s, daß sogar seine physische Natur in diesem Kampfe fast erlag, und er, von täglichen Krankheitsfällen erfaßt und zur Betreibung parlamentarischer Geschäfte unfähig gemacht, zuletzt sich genöthigt sah, die Versammlung zu verlassen und in einer Reise an den Rhein erst wieder neue Kräfte zu sammeln.

Auch jetzt noch wollte er den Faden nicht gänzlich abreißen, der seine letzten, wie auch immer schwachen Hoffnungen an das ihm so theure Verfassungswerk knüpfte: er behielt sein Mandat bei und somit sich die Rückkehr in das Parlament vor, indem er nur einem seiner vertrautesten Freunde und Parteigenossen die Vollmacht hinterließ, für den Fall, daß dieser sich veranlaßt fände auszutreten, auch seinen Austritt mit zu erklären.

Mit wieder gestärkter Kraft, wenn auch mit schwacher Hoffnung, fand sich Riesser auf dem Unionsparlamente zu Erfurt ein, diesmal von seiner Vaterstadt Hamburg entsendet. Er betrachtete es als eine schwere, aber nicht abzulehnende Pflichterfüllung gegen das Vaterland, auch zu diesem letzten Versuche der Herstellung einer nationalen Einheit die Hand zu bieten, wie sehr er auch von vornherein nicht blos die Möglichkeit des Gelingens, sondern selbst die Aufrichtigkeit des Wollens auf Seiten der Urheber dieses Experimentes bezweifelte.

Damit war Riesser’s parlamentarische Thätigkeit auf größerem Schauplatze zu Ende. Nicht so sein Interesse für die allgemeinen Angelegenheiten des Vaterlandes. Wo immer er mit Rath oder That denselben förderlich sein konnte, da fehlte er nie. So hat er namentlich der schleswig-holsteinschen Sache und der von ihrem Rückschlage Betroffenen sich jederzeit auf das Wärmste und Thatkräftigste angenommen.

Im Uebrigen lebte er jetzt wieder zurückgezogen dem engern Kreise der Pflichten seines Berufs und der Zwecke seiner persönlichen Ausbildung, an welcher fort und fort zu arbeiten, er niemals müde ward. Wie er schon vor 1848 in fast alljährlichen Reisen von mehr oder minder großer Ausdehnung nicht blos Deutschland nach allen Seiten, sondern auch die meisten andern europäischen Länder, insbesondere England, Frankreich, Italien, genau kennen gelernt, mit den Anschauungen ihrer politischen und socialen Zustände sich bereichert, mit vielen ihrer bedeutendsten Persönlichkeiten fruchtbare Bekanntschaften angeknüpft hatte, so unternahm er im Jahre 1857 zu dem gleichem Zwecke eine Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo er längere Zeit verweilte und auch von der deutschen Emigration in Newyork in ihren bedeutendsten Vertretern (selbst solche nicht ausgeschlossen, denen er daheim auf der politischen Arena feindlich gegenübergestanden) durch ein großes Festmahl geehrt ward. Die Resultate seiner amerikanischen [536] Studien, namentlich über die eben damals brennend werdende Sclavenfrage, legte er in mehreren, mit gewohnter Feinheit und Klarheit geschriebenen Aufsätzen in R. Haym’s „Preußischen Jahrbüchern“ (1. Bd.) nieder.

Als im Jahre 1859 die Wogen der öffentlichen Meinung in Deutschland wieder höher zu gehen anfingen, blieb auch Riesser, mit seinem so warm patriotisch schlagenden Herzen, davon nicht unberührt. Zwar die erste Anregung zu einem tätigen Wiedereingreifen in den Gang der Ereignisse im Sinne der alten Parteibestrebungen von 1848, von damaligen Genossen an ihn im April 1859 gebracht, fand ihn noch

Gabriel Riesser.

ungläubig in Bezug auf die Möglichkeit einer Erneuerung jener Bestrebungen: er sah die Anhänger der strengeren Einheitspartei zum Theil in sich selbst gespalten, unklar oder schwankend, die allgemeine Stimmung (er verweilte damals eben in Frankfurt a. M.) im ganzen Süden heftig gegen Preußen eingenommen, und glaubte daher, daß die Einheitspartei kaum in der Lage sein werde, die Initiative für eine Verbesserung der deutschen Verfassung zu ergreifen, daß sie abwarten müsse, ob eine solche Initiative von anderer Seite ergriffen, oder durch den Gang der Verhältnisse selbst angebahnt werden möchte, um sich dann, nach gewissenhaftem Ermessen, dem anzuschließen, „was sie als das annähernd Beste erkennen würde.“ Als jedoch die Entwicklung der Ereignisse und das Bedürfniß einer Einigung über die brennenden nationalen Anliegen schneller, als es anfangs geschienen, zu einer persönlichen Annäherung und Verständigung der Nationalgesinnten hindrängte, da konnte auch Riesser, seiner ganzen Natur nach, einer solchen nicht fern bleiben. Schon im Juli zeigte er sich der Betheiligung an einem gemeinsamen öffentlichen Auftreten im Sinne einer neuen Nationalpartei nicht abgeneigt. Der Eisenacher Versammlung vom 13. August, zu der man ihn eingeladen, war er verhindert beizuwohnen; doch schloß er sich den dort Vereinbarten an, wenn schon die Schwierigkeiten des Unternehmens ihm auch jetzt noch überwiegend, die vorhandenen Hoffnungen und Kräfte zu deren Ueberwindung aber zur Zeit wenig Erfolg versprechend erschienen.

Auf der Frankfurter Versammlung, wo der Nationalverein zu Stande kam, war Riesser gegenwärtig, ward auch in den Ausschuß des Vereins gewählt. Doch schied er im Jahre 1861 freiwillig aus diesem letzteren wieder aus, da andere berufsmäßige Pflichten ihn ganz in Anspruch nahmen und überdies das zunehmende Alter bei ihm in dem Bedürfniß einer größeren Sammlung und in einer wachsenden Scheu vor Unternehmungen, deren Ziel nicht klar abzusehen schien, sich geltend machte. Doch hat er, wie schon ein Brief von ihm aus dem Juli 1859 bewies, und wie auch die „Wochenschrift des Nationalvereins“ in einem warmen Nachruf auf ihn anerkennend bestätigt, der Bildung einer neuen Freiheits- und Einheitspartei durch Verschmelzung der Constitutionellen und Demokraten rückhaltslos beigestimmt, ja er schien damals zu wünschen, daß die Ersteren, gemäß ihren Traditionen von 1848, die Initiative der neuen, auf ähnliche Ziele gerichteten Bewegung ergreifen möchten.

In seinen letzten Lebensjahren ward ihm noch die Freude zu Theil, in seiner Vaterstadt die Rechte und Ehren zu erlangen, die ihm längst gebührt hätten, von denen ihn aber früher eine unduldsame Gesetzgebung ausschloß, und damit zugleich – was ihm ungleich wichtiger war – das Princip thatsächlich zur Geltung gelangt zu sehen, für welches er sein Leben lang gekämpft hatte. Nachdem er im Jahre 1858 als Advocat in Hamburg immatriculirt, bald darauf bei der Neubesetzung der Vicepräsidentenstelle im Handelsgericht mit auf die weitere Wahl gesetzt worden war, ward er im Jahre 1859 zum Mitgliede des Obergerichts gewählt, – der erste Jude, nicht blos in Hamburg, sondern in ganz Deutschland, der ein richterliches Amt bekleidete! Gleichzeitig führten die auf Grund der Verfassung vorgenommenen Wahlen ihn in die Vertretung Hamburgs, die Bürgerschaft, und das Vertrauen dieser Versammlung berief ihn auf den Vicepräsidentenstuhl.

Leider sollte diese ohnehin so verspätete Befriedigung ihm nicht lange unverkümmert bleiben; die Reibung politischer Parteien in dem engen Rahmen eines so kleinen Gemeinweseus nimmt nur zu leicht einen geschärften, und namentlich einen persönlichen Charakter an. So erging es auch hier: Riesser, in seinen Ansichten weniger wohl über das letzte Ziel und Maß der anzubahnenden Reformen, als über das schnellere oder langsamere Tempo derselben, von einer entschiedener vorandrängenden Richtnug überholt, ward auch persönlich bei Seite geschoben und bei der Erneuerung der Versammlung im vorigen Jahre nicht wieder gewählt – eine Zurücksetzung, die ihm, im Bewußtsein seines langen, redlichen, immer nur dem Edelsten gewidmeten Strebens, mir Recht tief schmerzlich sein mochte. Indeß war Riesser einer von Jenen, die das Gute und Rechte thun, weil es das Gute und Rechte ist, und weil sie gar nicht anders können, nicht aus eigensüchtigen Beweggründen, aus Eitelkeit oder Ehrgeiz, und so wird ihn eben jenes innere Bewußtsein auch über die Verkennung, die ihm hier widerfuhr, erhoben und getröstet haben. Seinen Manen ward vollste Genugthuung dafür zu Theil durch das ehrende Gedächtniß, welches ihm die Bürgerschaft Hamburgs, ohne Unterschied der Parteien, in einem so glänzenden Begräbnisse, wie lange dort nicht gesehen worden, seine Glaubensgenossen in Frankfurt aber durch eine Stiftung widmeten, die seinen Namen verewigen soll – diesen Namen, der überdies mit der Geschichte der edelsten Toleranz- und Humanitätsbestrebungen, mit der Geschichte der Emancipation in Deutschland und zugleich mit der Geschichte der deutschen Einheitsbestrebungen und des deutschen Verfassungswerkes von 1848 unauflöslich verknüpft ist.




Aus dem Schweizer Schützenfest zu La Chaux de Fonds.

Wir haben unseren Lesern in Nr. 32 und 33 die Erinnerungen eines begeisterten Festgenossen von La Chaux de Fonds mitgetheilt, der umstehende Holzschnitt führt sie vor das Bild eines der bewegtesten Augenblicke dieses Volksjubels der freien Schweizer und ihrer deutschen, italienischen und französischen Gäste. Unter der Schaar unserer Landsleute werden die hervorragendsten von ihren Freunden und Bekannten wohl leicht herausgefunden werden. Die Portraitähnlichkeit derselben mag zugleich die Authenticität unserer Abbildung bezeugen.

[537]
Die Leiche des Ministers Schwarzenberg.
Historische Episode von Georg Hiltl.

Anno 1641 den 4. Monat ist weiland der hochwürdige, hochwohlgeborne Herr, Herr Adam Graf zu Schwarzenberg, des ritterlichen St. Johanniterordens in der Mark, Sachsen, Pommern und Wenden Meister, des königlichen Ordens St. Michaelis in Frankreich Ordensritter, Herr zu Hohenlandsberg und Gimborn, Churfürstlich Brandenburgischer Statthalter in der Chur-Mark, Geheimter Rath und Oberkammerherr auf der Vestung Spandow, in Gott seelig entschlafen und hier in dieser Kirche beigesetzet.

R. I. P.

So lautet die Inschrift eines Epitaphiums, welches man in der St. Nicolaikirche zu Spandau bei Berlin in dem Gange vor der sogenannten Ribbeckischen Gruft gewahrt. Unter diesem Steine ruhte ein Mann, der in wilder Zeit ein sorgenvolles Leben geführt, einen Staat gelenkt, einen Fürsten beherrscht hatte; dessen Name verlästert und verwünscht, mit Flüchen vereint genannt wurde, dem es nicht vergönnt war, die Ruhe des Grabes zu genießen, denn selbst den Stein, der den Eingang seiner Ruhestätte bildete und verdeckte, hat man hinweggerissen; die Leiche ist unter den Quadern zu Staub geworden, welche der kothige Fuß der Kirchenbesucher tritt, und heut weiß Niemand recht mehr zu sagen, wo Schwarzenberg, der mächtige Minister, hinabgesenkt ward, selbst die Votivtafel ist an fremder Stelle eingemauert. Ohne sie wüßte man vielleicht gar nicht, daß der Entschlafene hier seine ewige Stätte gefunden.

Schwarzenberg ist ein verhängnißvoller Name für die Geschichte Preußens. – In der Brüderstraße (Nr. 1.) zu Berlin steht noch heute ein stattliches Gebäude, welches dereinst dem gefürchteten Minister zu eigen war. Von hier aus gingen seine Machtsprüche. Der Graf Schwarzenberg hatte mehr Feinde, als wohl jemals ein Staatsbeamter aufweisen konnte. Es gab keine Art von Schändlichkeit, deren man ihn nicht für fähig gehalten hätte. Vieles ist ihm angedichtet worden, Vieles übertrieben. Wer so unumschränkt in der Macht dagestanden, hatte nothwendigerweise die furchtbarsten Verantwortungen übernommen, und nach seinem Tode haben bis auf die neueste Zeit geistvolle Schriftsteller ihn verdammt, sorgsame Durchsucher der Archive dagegen allerlei aus dem Staube der Acten hervorgebracht, was zur Rechtfertigung für ihn dienen sollte und konnte.

Ist nun auch den Freunden greller Malerei so manches Motiv für die Darstellung eines verhaßten Ministers genommen, es bleibt genug übrig, um Schwarzenberg’s Charakter in einem sehr zweideutigen, ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen.

Freilich war die Zeit, in welcher sein Wirken stattfand, eine furchtbare. Der dreißigjährige Krieg fand in Brandenburg einen schwachen Fürsten, Georg Wilhelm. Freie Hand behielt der Minister, dessen Schritte der Fürst stets billigte und guthieß. Nur feige und halbe Maßregeln bezeichneten die Laufbahn Schwarzenberg’s. Im Jahre 1640 sahen die Bürger Berlins ihre Vorstädte in Flammen auflodern, weil der Oberste Stahlhans mit einer Abtheilung schwedischer Truppen sich näherte. Ohne Widerspruch betrieb sogar der Minister die Brandschatzungen der kaiserlichen Besatzungen, welche dem Berliner und Teltower Kreise in sechzehn Monaten 300,000 Thaler kosteten.

Minister eines protestantischen Fürsten, war Schwarzenberg in der Zeit des Glaubensstreites katholisch geblieben, ein Freund und Rathgeber des Kaisers, also Gustav Adolph’s Todfeind, der dem Grafen alles Unheil zuschrieb, welches über Brandenburg gekommen. „Dieser Niger (Schwarze),“ sagte der König, „bringt alles Elend über seinen Herrn. Die Brandenburger sollten den Grafen fenestriren oder ihm den Hals entzwei schlagen.“ – So sprach Gustav zu den Abgesandten im Jahre 1627.

Steuern, welche sich in der Folge nicht rechtfertigen ließen, schrieb der Minister aus. Durch die Straßen Berlins rollte der „Pfandwagen“, wie man ihn nannte, der den Bürgern das Hab und Gut wegnahm, um es zum Verkaufe zu fahren. Begleitet wurde dieses traurige Fuhrwerk von einer Schaar händeringender Weiber und jammernder Kinder, welchen man ihr Bestes genommen, um die Contributionen zu zahlen, und die laute Verwünschungen gegen den Minister ausstießen.

Gegen diese Maßnahmen galt kein Einspruch. Schwarzenberg – oder der Kurfürst – es war Eine handelnde Person. Ein Nicken des Kopfes, und der mächtige Graf hatte entschieden. – Sein Gehalt betrug nur 2300 Thaler, aber er erwarb ungeheuere Besitzthümer. Wie? Schwarzenberg machte wucherische Geschäfte. Er benutzte die Geldverlegenheiten des Kurfürsten, der Beamten, ja selbst der Städte und lieh Summen gegen Verpfändung von liegenden Gründen. Damit keine Art der Verdächtigung ihm erspart würde, ging im Volke das dumpfe, im Auslande laut nacherzählte Gerücht umher: Schwarzenberg sei ein Giftmischer; er habe dem jungen Kurprinzen zwei Mal nach dem Leben durch Gift getrachtet; es sei ein Meuchelmörder gedungen, um die Hoffnung des Landes, den Prinzen Friedrich Wilhelm, aus dem Hinterhalte hervor, auf der Jagd zu erschießen. Als dies Alles vereitelt, sei es endlich der Minister gewesen, der versucht habe, den Prinzen in schlechte Gesellschaft zu bringen, damit er durch Ausschweifung untauglich für die schweren Geschäfte der Regierung werde. – Alle diese letztgenannten Beschuldigungen sind erwiesen unrichtig und von dem Kurprinzen, nachmals Friedrich Wilhelm dem großen Kurfürsten, selbst für Erdichtungen erklärt, wobei freilich nicht erwiesen werden kann, wie viel auf Rechnung der Großmuth des edlen Fürsten zu setzen ist, der auch seinen Feinden leicht verzeihen konnte. – Beladen mit dem Hasse des Volkes, verdächtig dem Kurprinzen, ohne Freunde, nur bezahlte Subjecte um sich, so stand Graf Schwarzenberg da, als am 21. November 1640 sein Beschützer, der Kurfürst Georg Wilhelm, die Augen auf immer schloß.

Aus dem Spandauer Thore zu Berlin rollte eine schwerfällige, dicht verschlossene Kutsche. Sie war aus dem Hause Nr. 1 der Brüderstraße gekommen. Auf dem Bocke saß mit verdrießlicher Miene der ärmlich gekleidete Kutscher. Er hatte noch vor kurzem in glänzender Livree die brausenden Pferde gelenkt. Er mußte die gestickten Kleider ablegen, Mietspferde vor einen ganz schäbigen Reisewagen spannen und bei einbrechender Nacht aus den Thoren zu kommen suchen, denn er führte den verhaßten Minister in der Kutsche, und man fürchtete die Volksjustiz, wenn der Wagen und sein Inhalt erkannt würden.

Der Graf Schwarzenberg hatte nach Spandau zu fahren befohlen. In Berlin hielt er sich nicht sicher. Es trieb ihn nur das böse Gewissen – mögen seine Vertheidiger sagen was sie wollen – denn der junge Kurfürst zeigte gar keine Neigung, die üblen Gerüchte, welche den Minister verfolgten, näher zu prüfen. In Spandau glaubte sich der Graf sicher. Dort befand sich als Commandant der Obrist Moritz von Rochow[WS 1], der auf Schwarzenberg’s Veranlassung mit der ganzen Besatzung dem Kaiser einen Eid der Treue geleistet hatte.

Schwarzenberg hatte es vielfach ähnlich zu drehen gewußt und die Besatzungen sämmtlicher märkischen Festungen den Eid leisten lassen, der Majestät des Kaisers zu gehorsamen. Unter solchen Vasallen hielt der Graf seine Person für ungefährdet.

Sei es nun, daß die großartigen Unternehmungen, welche ihn beschäftigten, oder ein Zartgefühl, den Diener seines verstorbenen Vaters nicht sogleich zur schweren Rechenschaft zu ziehen, den Kurfürsten bewogen, die Ruhe des Geflüchteten nicht zu stören – genug, Schwarzenberg blieb vorläufig unangetastet. Ja, einige Male zog der junge Herrscher ihn sogar zu Rathe, als es sich um Auskunft über gewisse Finanz-Angelegenheiten der vorigen Regierung handelte.

Aber eine mächtigere Hand griff nach ihm. Fast ein Jahr lang hatte er unter Furcht und Hoffnung zugebracht. Seine Gesundheit war zerrüttet.

Man fürchtete ihn nicht mehr. Eine Rotte Soldaten drang in sein Haus und forderte einen rückständigen Sold. Es waren Fußknechte des Rochow’schen Regiments. Der Minister hatte sie geworben, er war ihnen noch Geld schuldig. Gegen Rochow durfte er sich nicht beschweren, denn dieser Mann war nach seiner Ansicht der Hauptbeschützer. Der kränkliche Minister zahlte mit zitternden Händen 300 Thaler als Abschlagsumme. – Zwei Jahre früher hätten die Soldaten die Galgen der Berliner und Spandauer Hochgerichte geziert.

Droh- und Spottbriefe trafen täglich ein. Wenn er ausfuhr, spieen die Vorübergehenden seine Kutsche an, und Abends erschallten Schelmenlieder aus der Gasse vor seinem Hause.

Ende Februar des Jahres 1641 erhielt der Exminister einen [538] Brief aus Regensburg. – Er hat Niemandem diesen Brief gezeigt. Er las ihn, faltete ihn zusammen, sein bleiches Gesicht nahm eine grünliche Farbe an, seine Zähne schlugen zusammen, er ließ sich in sein Arbeitscabinet tragen und blieb allein. – Nachts sah man das Fenster erleuchtet, und hinter den herabgelassenen Vorhängen huschte und wankte der Schatten der Figur Schwarzenbergs hin und her. – Dabei rauchte der große, unheimliche Kamin des Zimmers. Der Graf schien viele Papiere zu verbrennen. – Am folgenden Tage befand er sich sehr angegriffen.

Man raunte einander zu, der Brief sei eine Warnung gewesen und habe den Grafen darauf vorbereitet, daß man eine Untersuchung seiner Amtsführung beabsichtige.

Schwarzenberg ließ wiederum einige Tage verstreichen. Er lauschte angstvoll; in seinem Hause zu Spandau sich abschließend, glich er dem Wild, welches im einsamen Gehäge versteckt die Tritte des verfolgenden Jägers behorcht und kaum zu athmen wagt. – Keine Maßregel gegen ihn erfolgte.

Alle Welt war gespannt auf den Ausgang, denn seine Feinde, besonders der wüste Oberst von Burgsdorf, schürten das Feuer gegen ihn mächtig an. – Da rollt eine Equipage vor das Haus des Grafen. Es ist der kurfürstliche Kriegsrath von Zastrow. Kommt er den Minister zu verhaften? Der Beamte zeigt das leutseligste Wesen, er ist voller Höflichkeit gegen den Grafen. Im Cabinete Schwarzenberg’s hat er mit diesem eine Unterredung, die Angelegenheiten der kurfürstlichen Armee betreffend. Vielleicht aber ist es nur ein Vorwand! Schwarzenberg athmet freier; würde der Kriegsrath mit solcher Freundlichkeit ihm entgegenkommen, wenn er Schlimmes brächte? Der Exminister will sogleich eine entscheidende Probe wagen. Noch erlaubten ihm ja seine unbeschränkten Einkünfte eine glänzende Tafel zu führen. Er ladet den Kriegsrath zu Tische. Herr von Zastrow nimmt die Einladung dankbar an. – „Er würde nicht an meinem Tische speisen, wenn er mit dem Verderben gegen mich heraustreten wollte,“ tröstete sich der Graf.

„Auch Judas speiste am Tische des Herrn,“ murmelten die vertrauteren Diener.

Die Tafelgenossen bestanden aus den täglichen Gesellschaftern des Exministers und aus Officieren der Garnison. Schwarzenberg konnte sich nicht so schnell von seiner früheren Lebensweise entfremden, er liebte es noch, einen kleinen Hofstaat um sich zu halten. Er hatte seine vier Trabanten, seine Schenken, seine Pfeifer; ein adliger Kammerjunker verwaltete das Amt eines gräflichen Vorschneiders.

Während der Tafel beobachtete der Graf ängstlich jede Bewegung des Herrn von Zastrow. Der Beamte war gemessen, aber freundlich. Desto ungestümer betrug sich die übrige Tischgesellschaft. Es schien, als sei die kleine Festung Spandau neutrales Gebiet in kurfürstlichen Landen. Die Herren prahlten mit ihrem kaiserlichen Eide, und fast konnte man glauben, die Anwesenheit des Staatsbeamten habe die Tischgenossen des Ministers in eine gereizte Stimmung versetzt, welche sich in vollständigen Ausforderungen Luft machte. – Schwarzenberg saß auf Nadeln.

Plötzlich trat die Katastrophe ein. Der gräfliche Vorschneider, Herr von Lehndorf, Kammerjunker, aus Preußen gebürtig, trank dem Kriegsrathe mit großem Ungestüme einen Humpen Wein zu und forderte ihn auf, Bescheid zu thun. Zastrow lehnte mit feinem Lächeln die Einladung ab, indem er bemerkte, daß er solche große Quantitäten Wein nicht trinke.

„Dann sind Sie ein unvermögender Hundsfott,“ schrie der Kammerjunker, indem er den Humpen mit solcher Heftigkeit auf den Tisch niedersetzte, daß der Wein, über den Rand des Trinkgefäßes spritzend, das Gedecktuch besudelte. – Tödtlich erschrocken sprangen Alle von ihren Sitzen.

Schwarzenberg wollte sich erheben, er sank zurück in den Sessel. Aber bevor er noch einen zweiten Versuch zur Erhebung machen konnte, fiel schon die feine Hand des Kriegsrathes, aus der Spitzenmanschette hervorkommend, mit gewaltiger Wucht auf die linke Wange des Herrn von Lehndorf, und der klatschende Schall einer ungeheuren Ohrfeige tönte durch das Gemach. Ein Kreischen sämmtlicher Anwesenden überhallte die donnernden Worte des Herrn von Zastrow. – Ein Edelmann geohrfeigt! – Welche Rache wird er nehmen? – Sie erfolgte augenblicklich; blitzschnell riß der Kammerjunker den Degen aus der Scheide, der hinter ihm an der Stuhllehne hing, wie das in jener Zeit Gebrauch war. Die Klinge fuhr, von sicherer Hand gelenkt, über den Tisch und dem unglücklichen Kriegsrathe mitten durch die Brust. Ein stöhnender Schmerzenslaut, eine Fontaine von Blut, die hochaufsprudelte und rings umher die Speisen, Getränke und Gefäße benetzte.

Zastrow schlug mit beiden Armen in die Luft, dann stürzte er vornüber mit seinem Oberkörper die Tischplatte deckend. Gläser, Schüsseln und Leuchter fielen klirrend durcheinander. Auf der gräflichen Tafel lag ein Todter inmitten einer Lache von Blut. – Neben ihm ein Sterbender – der Graf Schwarzenberg – den das entsetzliche Ereigniß dem Grabe nur desto schneller näher gebracht hatte. – Die Verwirrung war ungeheuer. „Mord! Mord!“ heulten die Einen, „Aerzte! Hülfe!“ die Andern. Lehndorf stand versteinert, denn die Trunkenheit, welche sich offenbar seiner Sinne bemeistert hatte, war einer grauenhaften Ernüchterung gewichen. Plötzlich aus seiner Erstarrung erwachend, stieß er einen Schrei aus und stürzte aus dem Zimmer. Er kam aber nur bis zur Treppe. Hier ward er in Verhaft genommen und als ein Diener Schwarzenberg’s in dessen eignem Hause in Gewahrsam gehalten. [1]

Der Exminister verfiel in ein heftiges Fieber. Zastrow’s Leiche ward noch denselben Tag nach Berlin geführt. „Da fährt der Leichnam des Gemordeten,“ hieß es in der Stadt und auf dem ganzen Wege. „Lehndorf hat ihn todtstechen müssen, weil er zuviel vom Schwarzenberg gewußt hat.“

Man sah den Grafen nicht wieder. Nur die in Spandau anwesenden kurfürstlichen Räthe waren Zeugen seines Verscheidens, welches am 24. März (neuen Styls) 1641 erfolgte. Von seinen Freunden ließen sich nur wenige blicken.

Abends drängten sich große Menschenmassen vor der Hausthüre der gräflichen Wohnung. Auf dem Flure stand ein geschlossener Sarg, den eine schwarze Sammetdecke halb verhüllte. Viele Lichter und Crucifixe umgaben ihn. Da lag der Herr Graf Adam von Schwarzenberg im prächtigen, eichenen Todtenschrein, und von all seinem Wirken und Treiben sprachen nur Diejenigen noch, die durch ihn verloren oder gewonnen hatten, und die, welche ihn verwünschten. – Wo aber war er nach dem schrecklichen Auftritte an seiner Tafel hingekommen? Er war, wie gesagt, nicht wieder zum Vorschein gekommen. Man hatte sein Haus mit Wachen umstellt, aber Viele behaupteten: In der Nacht kurz vor seinem Ableben sei eine schwarze Kutsche an dem Hintergebäude vorgefahren, ein Mann, ohne Zweifel der Exminister, sei hineingehoben worden, bewaffnete Reiter hätten den Wagen escortirt, und so sei es fortgegangen, hinaus, tief in den Wald hinein, der zwischen Berlin und Spandau sich erstreckte. Im Gehölze habe die Kutsche gehalten. Nach einer Stunde sei der Zug wieder zurückgekommen; man habe, an der Hinterthür der gräflichen Wohnung angelangt, einen schweren Gegenstand aus dem Wagen gehoben und in’s Haus geschleppt. Danach seien die kurfürstlichen Räthe ausgestiegen, dieselben, welche beim Ableben des Grafen zugegen gewesen sein wollten. Um 6 Uhr Morgens des folgenden Tages habe es geheißen:

„Graf Schwarzenberg ist am Herzschlage gestorben.“

„Wir wissen besser, woran wir sind,“ sprachen die kannegießernden Bürger auf der Bierbank. „Der junge Kurfürst hat Gerechtigkeit geübt gegen den Frevler, und im Spandauer Forst ist er bei Fackellicht enthauptet worden.“

So ging die Sage. Die ärztlichen Leichenbefunde hielt man für fingirt, ebenso die Berichte der Räthe an den Kurfürsten und dessen Antwort. Die Leiche ward dem Sohne zum ehrlichen Begräbniß übergeben, und die Hinterbliebenen hatten bereits alle Vorkehrungen getroffen, nach abgehaltenen Exequien die sterbliche Hülle nach Wien zu schaffen, woselbst die väterliche Gruft sie aufnehmen sollte. – – –

An einem Sonntage des Jahres 1755 gingen ein hoher Officier und eine Dame nach beendigtem Gottesdienste durch die Nicolaikirche zu Spandau. Es waren der Prinz August von Preußen und seine Schwester Amalie, Geschwister Friedrich’s des Großen. Sie betrachteten die Gemälde, die Inschriften und Zierrathen, welche die Kirche enthält. Der Prediger Schulz begleitete sie. In [539] dem Seitengange angelangt, wies Schulz auf eine in Mannshöhe festgemauerte Steinplatte, welche die zu Eingang dieses Aufsatzes stehende Inschrift trägt. „Dies hier,“ begann der Prediger, „ist der Denkstein von dem Grabe eines sehr gefürchteten und verhaßten Mannes. Es scheint fast, als sollte er im Grabe keine Ruhe finden für Alles, so er verschuldet. Dort, wo das Crucifix steht, also mitten in der Kirche, liegt sein Leichnam. Aber man hat ihn nicht respectirt, sondern 1722 bei Reparatur der Kirche tiefer in das Gewölbe gesenkt und darüber hinweg die neuen Quadern gelegt. Die Votivtafel ist fortgenommen und hier eingemauert worden, weil die Flügelthüren, welche sie bedeckten, hinderlich waren.“

„Schwarzenberg?“ rief der Prinz, der die Inschrift gelesen hatte. „Sonderbar. Wie kommt Schwarzenberg’s Leiche in die Nicolaikirche zu Spandau?“

„Je nun,“ lächelte die Prinzessin, „weil sie jedenfalls hier beigesetzt wurde. Was ist da zu verwundern?“

„Ich habe zur Verwunderung meinen besondern Grund,“ entgegnete der Prinz. „Unser Bruder, der König, schreibt ausdrücklich in seinen Mémoires de Brandebourg, daß der Minister Graf Schwarzenberg vor seinem Ableben nach Wien gegangen und dort gestorben sei. Sollte sich diese Abreise nach der Kaiserstadt nicht feststellen lassen? und hat der König nie seine Aufmerksamkeit dieser Tafel zugewendet? Hier ist ein Räthsel.“

„Vieles ist räthselhaft in dieser ganzen Sache,“ bemerkte Schulz. „So dürfte Ew. königlichen Hoheit vielleicht auch noch das Gerücht unbekannt sein, welches behauptet, Schwarzenberg sei auf Befehl des großen Kurfürsten geköpft worden und liege hier mit zerhauenem Halse in der Gruft.“

„Und hat man nie einen Versuch gemacht, hinter die Wahrheit zu kommen? die Gruft zu öffnen?“

„Nein. Denn erstens bedürfte es dazu höherer Erlaubniß, dann aber bringt man die Eröffnung mit einer anderen Sage in Verbindung, nach welcher dem Grafen dereinst prophezeit worden sein soll, er werde im Sarge keine Ruhe finden. Seitdem nun die erste Störung der Leiche im Jahre 1722 erfolgt ist, soll der Minister in seinem ehemaligen Hause spuken.“

„Wo ist die Gruft?“ fragte der Prinz.

„Dort am Taufsteine.“

Alle Drei traten auf die bezeichnete Stelle. „Hu!“ rief die Prinzessin, „fort von hier. Es ist, als zöge ein Schauer herauf aus den Gewölben.“

„Die Sache ist höchst interessant,“ bemerkte Prinz August. „Noch heute muß ich dem Könige davon Anzeige machen.“

Noch an demselben Abende um 11 Uhr erschien in Spandau ein Läufer des Königs. Er ließ durch den Küster sich die Kirche öffnen, mit einer Laterne die Votivtafel beleuchten, copirte genau die Inschrift und überbrachte sie dem Könige nach Charlottenburg.

Zwei Tage darauf erschallen die Wölbungen der Kirche von den Schlägen der Hämmer arbeitender Maurer. Die Quadern sind hinweggeräumt. Die Uebermauerung des Gewölbes liegt bloß. Nur wenige Steine sind hinweg zu nehmen, endlich fallen diese auch hinunter, durch die Oeffnung gewahrt man einen Sarg mit Handgriffen. Modergeruch dringt den die Gruft Umstehenden entgegen, eine kalte, eisige Luft haucht sie an. Erwartungsvoll schauen der Prinz August, sein Adjutant, der Oberprediger und der kecke Page Fritz von Dequede in die Höhlung. Birgt der Sarg wirklich den Todten, oder ist es nur eine Scheinbeerdigung gewesen? Die Handwerker, Zimmergesellen und Maurer, sind ebenso geschäftig als neugierig. Dergleichen Arbeiten haben sie selten vor. Schon sind zwei Gesellen in die Gruft gesprungen, jetzt naht der Augenblick, der Deckel kreischt beim Abheben, Myriaden von Gewürm flüchten nach allen Seiten, Staub wirbelt in grauen Wolken auf und füllt gleich einem Nebel die Höhlung. Als er sich verzogen, gewahrt die Versammlung die langgestreckte, mit Flittertand bekleidete Leiche. Ernst, ruhig, fast drohend liegt sie da.

„Herr Graf von Schwarzenberg, Sie sind also in der Mark geblieben. – Sie haben dem Mächtigsten nicht entrinnen können. – Sie konnten nicht ruhen in der Gruft Ihrer Väter. – Sie blieben unter Ihren Feinden, und jetzt – jetzt sind Sie eine willkommene Beute für die Neugierde. Sie bereiten einen interessanten Tag – gestatten müssen Sie es, daß Ihre Gebeine untersucht werden. Ihre gewaltige Macht kann Nichts mehr hindern.“

Die Leiche lag in einem mit violettem Sammet ausgeschlagenen Sarge, der reich mit goldenen Tressen besetzt war. Die Kissen trugen Ueberzüge aus weißem Taffet. Eine prächtige spanische Kleidung, ganz aus Drap d’Argent bestehend, hüllte die Leiche ein. An der linken Seite ruhele ein stählerner Degen, den eine goldene Schleife zierte. Ein schwarzsammtener, mit goldener Stückschnur umwickelter Hut, Strümpfe von fleischfarbener Seide und dicke schwarzlederne Schuhe. Alles sehr wohl erhalten, bildeten den übrigen Theil der Grabestoilette.

„Zurücktreten!“ befahl der Prinz. Alle Handwerker entfernten sich. August, sein Adjutant und der Page traten dicht an die Gruft. Der Prinz stützte sich auf seinen Stock und betrachtete schweigend die noch kenntlichen Züge des Todten, der, als böser Engel eines hohenzollerschen Fürsten verrufen, nun vor dem Nachkommen lag, eine morsche, zerbrechliche Masse. – Unter solchen Gedanken hatte der Prinz nicht bemerkt, daß der Page Dequede in die Gruft gesprungen war und den Sarg durchsuchte. Als er es gewahrte, rief er:

„Dequede, kommen Sie herauf.“

„Hoheit, lassen Sie mich noch einen Augenblick weilen. Es ist höchst interessant.“

Es war ein eigenthümliches Bild. Die über hundert Jahre alte Leiche des Ministers, daneben der frische, kecke Knabe in der reichen Uniform der königlichen Leibpagen, das von Gesundheit strotzende Gesichtchen unter einer fein gepuderten Perrücke trotzig in die Luft streckend, ganz unempfindlich gegen die Miasmen der Leichenhöhle.

Und wer war dieser Knabe? Ein von Dequede. – Sonderbares Spiel des Zufalls! – Der Urgroßvater dieses Pagen war einer der Wenigen gewesen, welche das Ende des Ministers gesehen. – Der kurfürstliche Rath von Dequede hatte die letzten Seufzer Schwarzenberg’s vernommen, hatte sein Auge brechen sehen – der Urenkel durchsuchte die Leiche, befühlte mit jugendlichem Uebermuthe die Stoffe der Kleider und faßte plötzlich – das Haupt des einst Allmächtigen. Die morschen Knochen sprangen auseinander, die trockenen Bänder ließen nach, die Leiche ruckte ein wenig und in den Händen des Pagen lag das Todtenhaupt des Grafen von Schwarzenberg.

„Sehen Sie, Hoheit, hier ist der alte Herr. Er beißt nicht,“ rief der Knabe mit muthwilligem Gelächter und hielt den Schädel empor.

„Pfui, Fritz! Abscheulich!“ rief der Prinz. „Legen Sie das sogleich wieder hinein und dann vorwärts. Wir haben genug gesehen.“

„Nun, so lieg Du da,“ rief der Knabe, setzte den Kopf auf die Brust der Leiche und sprang mit einem lauten „Hopp“ aus der Grube.

Prinz August war beim Heimfahren sehr still und ernst. „ Wissen Ew. Hoheit.“ begann plötzlich der Adjutant, Herr von Hagen, „was mir recht lebhaft vor den Sinn gekommen ist, als wir heute an der Gruft standen und Dequede mit dem Schädel spielte?“

„Nun?“

„Im Jahre 1741 war ich in London bei der Gesandtschaft, da gaben sie ein Komödienspiel, worin ein Prinz vorkommt, der am Grabe Unterhaltungen mit einem Todtengräber führt, auch Schädel betastete und sehr gute Dinge über die Vergänglichkeit des Irdischen vorbrachte.“

„Ich kenne das Stück“ sagte der Prinz. „Es heißt Hamlet, von dem Dichter Shakespeare.“

„Richtig, Hoheit! Hamlet. – Na, das Stück fiel mir ein. Den Dichter habe ich vergessen, denn wir behalten nur gut die Namen von Generalen oder Schlachttagen, aber der Schauspieler, der den Prinzen spielte, war der berühmte Komödiant Garrick. Er spielte das sehr schön, als er sagte, wie lumpig doch eigentlich der ganze zurückbleibende Plunder bestellt ist, und damit einen meinte, den er früher gekannt hatte. Der Herr von Helmborn, der neben mir saß, verdeutschte es mir, und heute fiel mir Alles wieder ein.“

„Hamlet hat sehr Recht,“ antwortete der Prinz. Schweigend fuhren sie weiter. – Als der Prinz und seine Begleiter die Kirche verlassen hatten, eilten die Arbeiter an die Gruft. Mit Staunen betrachteten sie die gräfliche Leiche.

„Na,“ schrie plötzlich ein junger Maurer, „da haben wir’s ja. Es ist keine Redensart, daß Schwarzenberg geköpft worden ist. Da liegt der heruntergehauene Kopf auf der Brust, wie es immer gemacht wird.“

„Richtig,“ riefen die Anderen, „da liegt er.“

[540] „Kinder,“ sagte der Polirer, „es war heute ’was Merkwürdiges. Nach Feierabend können wir auf der Herberge nun die genauesten Nachrichten von dem geköpften Grafen erzählen.“ Singend und pfeifend gingen sie wieder an die Arbeit. Bald war die Gruft geschlossen, und jedermann schritt über die Quadern. Zwei Mal war Schwarzenberg’s Grabesruhe gestört worden. – – –

Am 20. August 1777 gingen auf dem Platze vor der Nicolaikirche zu Spandau zwei Männer auf und nieder. Der Aeltere trug die Uniform eines Regimentschirurgus, der jüngere, etwa 29 Jahre alte Mann war in Civilkleidung. Er hatte ein sehr heiteres, frisches Antlitz, kräftige Körperformen und zeigte große Beweglichkeit. Der Chirurgus war der Herr Laube, der Civilarzt der Stadtphysikus Heim. – Damals stand er an der Schwelle seiner segensvollen Laufbahn. Wer hat den Namen des alten Geheimrathes Heim nicht nennen hören, vereint mit Dankesworten und in Begleitung irgend eines originellen Charakterzuges? Des alten Heim, der jährlich 4000 arme Kranke unentgeltlich behandelte und sie theilsweis unterstützte?

Heim sah inmitten des Gespräches nach der Thurmuhr der Nicolaikrche. „Gleich acht Uhr,“ sagte er zu Laube. „Nun muß der Oberst doch bald anlangen.“

„Irre ich nicht, so biegt er eben dort um die Ecke,“ entgegnete der Chirurg.

Wirklich kam auf die Kirche zu der Oberst von Kalkstein in Begleitung des Küsters und eines Haufens von Arbeitern, welche verschiedene Werkzeuge trugen. Bei Heim und Laube angekommen begrüßten sich die Herren.

„Nun,“ sagte der Oberst, „schreiten wir zum Werke. Ich bin doch neugierig, ob wir es ausfindig machen werden, daß er hingerichtet wurde.“

„Ich zweifle daran, Herr Oberst,“ sagte Heim.

„Ich kann Ihnen mein Wort darauf geben,“ entgegnete Kalkstein, „daß ich gestern noch den Maurer gesprochen habe, der vor 22 Jahren beim Ausbrechen des Gewölbes thätig gewesen ist und der mir betheuert hat, daß der abgehauene Kopf neben der Leiche gelegen habe.“

„Wollen sehen,“ lächelte der Physikus.

„Wenn’s gefällig wäre,“ unterbrach der Küster, welcher unterdessen die Kirche geöffnet hatte. Die ganze Versammlung trat in das Gotteshaus.

Und zum dritten Male ward der Schlaf des Grafen Schwarzenberg gestört. Wieder dröhnten die Schläge gegen die Wölbung der Gruft und hallten unheimlich in der hohen Kirche; gleich langanhaltendem Aechzen tönte das Knirschen der Eisen zwischen dem Gestein, als die Arbeiter die Quaderstücke aushoben. Auch das Publicum zu diesem seltsamen Schauspiele hatte sich geändert – kein Prinz mit Adjutanten und Pagen wartete der Oeffnung. Einfache Soldaten und Aerzte wollten die Wahrheit erforschen und Gewißheit haben, ob der Henker den hochgräflichen Hals zerhauen; denn die Sage war fast zur Geschichte geworden und hatte ihren Platz in einem der berühmtesten Werke gefunden: daß der Graf Schwarzenberg enthauptet worden sei.[2] – Wieder plumpten die Steine hinunter in die Höhlung – wieder stieg und senkte sich der Staub – da sah man die Leiche, die drei Mal beunruhigte. Im offnen Sarge lag sie, der zertretene Deckel neben demselben noch von 1755 her. Die Arbeiter hatten damals es gar nicht für nöthig gehalten, den schützenden Deckel wieder aufzulegen. Aber die Leiche hatte sich nicht verändert, sie war vollständig da, wie sie vor 22 Jahren sich ihren Störern gezeigt hatte, gleichsam als wollte sie sagen: „Ich bleibe hier zur Nachsuchung, rechtfertigt mich vor den Lebenden.“ – Der Kopf lag neben dem Hute, wie Dequede ihn niedergelegt. Der Degen war von Rost zerfressen, die dicken Sohlen der Schuhe zerplatzt.

Heim war schon in der Gruft und begann seine Untersuchung. Für den Arzt war der mächtige Graf eine Leiche, wie er deren hundert auf dem Secirtische vor sich gehabt hatte.

„Sehen Sie,“ rief Kalkstein herab, „da liegt wahrhaftig der abgeschlagene Kopf.“

„Ruhig Blut!“ entgegnete Heim. „Das beweist Nichts. Der Schädel kann vom letzten Male her dahin gelegt sein. Erst die Halswirbel, Laube. Erst die untersuchen.“

Beide Mediciner wühlten in dem Sarge umher, hoben die Leiche hoch, verrückten die Kissen und fuhren unter die modernden Kleider.

„Wie viel Wirbel haben Sie, Laube?“ fragte Heim.

„Viere, Herr Physikus.“

„Ich habe nur zwei, sieben müssen wir haben. Sollte einer fehlen, so wäre am Ende die Hinrichtung kein Märchen.“

Sie suchten weiter.

„Halt,“ rief Heim, „hier ist Nummer sieben. Ganz und wohl erhalten. Herr von Kalkstein,“ rief er hinauf, „sieben Halswirbel sind da. Schwarzenberg ist ehrlich gestorben.“

Kalkstein stieg jetzt ebenfalls in die Gruft.

„Alles in bester Ordnung,“ sagte Heim. „Da sehen Sie 7 Halswirbel, 12 Rücken- und 5 Lendenwirbel. Leiche ist gut erhalten. War balsamirt. Können noch die Kräuter deutlich erkennen, in der Bauchhöhle ist viel Myrrhen und Aloe, davon die röthliche Farbe der Leiche. Hier im Kopf – da sehen Sie Lavendel und Lorbeer.“ Bei den letzten Worten zog der Arzt sein Taschenbuch heraus und notirte: Corpora vertebratum colli, auch die processus obliqui ascendentes und descendentes nebst den processus spinosi vollkommen und unbeschädigt und fest, welches an einigen keineswegs hätte sein können, indem bei der Enthauptung wenigstens zwei dieser Knochen beschädigt werden müßten. Punktum. Schwarzenberg ist nicht decapitirt, und in Zukunft wird wohl das Märchen nicht mehr auftauchen, wenigstens können wir Herrn Ouvrier ad absurdum führen.“ [3] Heim klappte sein Taschenbuch zusammen.

„Und nun,“ sagte Kalkstein, „mag der alte Herr in Frieden ruhen. Sie werden ihn nun wohl nicht mehr stören.“

Ein sausender Luftzug fuhr durch die Kirche, welche bereits halb dunkel geworden war, denn die Dämmerung senkte sich hernieder, die Fenster klirrten, und Wetterleuchten erhellte die Schiffe des Gotteshauses; es war ein heißer Augusttag gewesen. Bewegt blickten die Männer in der Gruft einander an. Der alte Regimentschirurg hatte die Hände gefaltet und betete. Er war das von früher her im siebenjährigen Kriege so gewöhnt. Kalkstein aber sah dem jungen Stadtphysikus zu, der den Kopf des Grafen an die richtige Stelle legte und den Sarg wieder in Ordnung brachte.

Sie stiegen endlich alle Drei heraus. Die Kirche war ganz finster geworden. Die Arbeiter hatten Laternen angezündet, deren Schein an den hohen Pfeilern auf und nieder hüpfte.

„Schließt mir das Grab gut und setzt den Deckel wieder über die Leiche. Es soll Euer Schaden nicht sein. Gute Nacht!“ Mit diesen Worten verließ Kalkstein mit den beiden Aerzten die Kirche. Draußen athmeten sie hoch auf. „Wie nichtig – wie erbärmlich ist der Mensch!“ moralisirte der alte Oberst.

„Wie wenig bleibet ihm von aller Hoheit, so er im Grabe ruhet!“ setzte der ergraute Regimentschirurgus hinzu.

„Ja,“ lächelte Heim, „er kann noch froh sein, wenn er im Grabe Alles behält, was er mit hineingenommen hat.“

„Wie meinen Sie das, Herr Kreisphysikus?“

„Ei,“ lachte der junge Arzt, „sehen Sie, weil ich mir von dem alten Herrn da unten ein Andenken mitgenommen habe.“ Bei diesen Worten zog Heim eine Hand voll Knochen aus der Rocktasche. „Es sind die sieben Halswirbel Sr. Erlaucht des Herrn Grafen von Schwarzenberg, die von nun an in meiner Sammlung anatomischer Gegenstände prangen werden.“

„Herr,“ rief der alte Chirurgus zurückweichend. „Wissen Sie nicht, daß der Minister umgehen, spuken soll? Wenn er – –“

„Pah! lieber Regimentschirurgus! Sie, ein Arzt, glauben an Geister? Er soll nur kommen, der Alte, wird mich freuen, seine Bekanntschaft zu machen. Gute Nacht, meine Herren; wahrscheinlich werde ich in einer Stunde herausgeklingelt; ich habe drüben auf dem Kietz eine Entbindung zu erwarten. Gute Nacht.“ Der Physikus grüßte, schob die Halswirbel in seine Tasche und trat dann schnellen Schrittes den Rückweg an.[4]

Schwarzenbergs Grabesruhe ist nicht wieder gestört worden.



[541]

Eröffnung des Eidgenössischen Freischießens in La Chaux de Fonds, den 12. Juli 1863.
Nach der Natur aufgenommen von H. Jenny.
Vier alte Schweizer aus den Urcantonen.       Dr. Carl Grün.       Dr. Heineken.       Fabricius.
Statue des Malers Leopold Robert auf dem Platz gleichen Namens.
Platzreitende Guiden.                    Cadettenspaliere.

[542]
Erinnerungen an das dritte deutsche Turnfest zu Leipzig.
1.
Keine vollständige Beschreibung – nur Erinnerungen. – Der Empfang der Gäste. – Thränen. – Ankunft der Schleswig-Holsteiner. – Im Schützenhause. – Ostpreußen und Südbaiern. – Am Sonntag Vormittag. – In und an der Festhalle. – Ueberall Verbrüderungen.

Das waren herrliche Tage, die Leipzig und seine Gäste jetzt durchlebt haben.

Schon einmal sah man Deutschlands Söhne aus allen Gauen nach unserer Stadt ziehen; aber zu jener Zeit galt es nicht die friedliche Feier eines Freudenfestes, damals galt es die Befreiung unseres geknechteten Vaterlandes vom Drucke tyrannischer Fremdherrschaft. Die kampfesmuthigen Männer, welche in jenen Tagen zur blutigen Auferstehungsfeier deutscher Freiheit nach Leipzigs Fluren zogen, zählten nach Hunderttausenden, und viele Tausende von ihnen sollten das glorreiche Ende des heiligen Kampfes, den sie mit ihrem Bluten gewinnen halfen, nicht mehr sehen; aber sie starben freudig, denn sie gingen mit dem Bewußtsein hinüber, durch ihren Tod das neue Leben das Vaterlandes begründet zu haben.

Wie anders jetzt! Wieder waren es deutsche Männer und deutsche Jünglinge, die von allen Seiten hieher strömten. Die Vaterlandsliebe, welche die Kämpfer jener großen Zeit zu unsterblichen Helden weihte, sie beseelte auch die Festgenossen, die in Leipzigs Mauern einzogen; aber es galt jetzt keinen Kampf auf Leben und Tod, man wollte nur ein Fest der Liebe und der Eintracht, ein Verbrüderungsfest aller deutschen Stämme feiern.

Eine ausführliche Beschreibung dieses herrlichen Festes zu geben, ist hier wohl nicht möglich, denn sie müßte viele Bogen füllen, wenn sie nur einigermaßen den vorhandenen Stoff eingehend behandeln würde. Es sind daher auch nur, wie der Titel dieses Aufsatzes besagt, Erinnerungen, Erlebnisse, die ich, noch bewegt von dem mächtigen Eindrucke des Festes, hier niederlegen will. So manchem Festtheilnehmer werden die einfachen Schilderungen mangelhaft erscheinen, weil er vielleicht Momente darin vermißt, die gerade für ihn von unvergeßlicher Bedeutung waren. Von den Festgenossen aber will ich meine anspruchslose Arbeit auch nur als das leichte Gewebe betrachtet wissen, in welches sie die glänzenden Perlen ihrer eigenen Erinnerungen einfügen und dadurch das Ganze erst zu einem für sie werthvollen Angedenken gestalten mögen.

Wenn man von Seiten des Festausschusses auch eine sehr große Theilnahme der auswärtigen Turner am Feste vorausgesetzt hatte, so glaubte man damit, dieselbe auf die Zahl von ungefähr zehntausend anwachsen zu sehen. Es erwies sich aber sehr bald durch die massenhaft eingehenden Anmeldungen, daß jene Annahme weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben sollte, denn die Zahl der auswärtigen Festgenossen stieg bis auf sechszehntausend! Dazu kamen noch etwa viertausend Turner Leipzigs und der nächsten Dorfgemeinden, also zusammen nicht weniger als zwanzigtausend Festtheilnehmer!

Ueber die anfänglich schweren Sorgen des Wohnungsausschusses und wie dieselben mit jedem Tag leichter wurden und endlich in die Freude vollendetster Befriedigung ausschlugen, ist bereits Allgemeines und Einzelnes berichtet, weshalb wir hier sogleich zum Feste selbst übergehen können.

Am Morgen des Sonnabends (1. August) strahlte die Stadt im vollen Festschmucke, und die Spannung der Einwohner hatte ihren Höhepunkt erreicht, denn auf diesen Tag war ja das Eintreffen der Festgäste bestimmt, und den sehnlich Erwarteten schlugen alle Herzen schon jetzt lebhaft entgegen. Das Quartierbureau war auf dem reich geschmückten Rathhause eingerichtet worden, und unten auf dem Marktplatze wogten schon seit früher Morgenstunde dichte Massen auf und nieder, die ankommenden Turnerzüge, die ihre Gäste brachten, sehnsüchtig erwartend. Inmitten der Menschenmenge war jedoch ein großer freier Raum offen gehalten, der durch die 800 jugendlichen Turnschüler Leipzigs mit nicht genug anzuerkennender Energie begrenzt wurde; denn diese Knaben hatten der Aufforderung ihrer Lehrer, den eintreffenden Gästen als Führer nach ihren Wohnungen zu dienen, jubelnd Folge geleistet. Auf den fünf Bahnhöfen der Stadt waren aber Deputationen des Wohnungsausschusses und Musikchöre zum festlichen ersten Empfang der Festgenossen aufgestellt, und lauter, heilverkündender Jubel erschallte von allen Seiten, als in früher Morgenstunde die ersten zwar noch schwachen Züge der eintreffenden Turner mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen ihren Einzug in die Stadt hielten. Ihnen war es vergönnt, im Laufe des Tages Zeuge der sich immer mehr steigernden Herzlichkeit des Empfanges der ununterbrochen eintreffenden Zuzüge sein zu können, nachdem sie in den ihnen angewiesenen Wohnungen von Seiten ihrer freundlichen Wirthe auf das Freudigste begrüßt worden waren.

Wer aber möchte im Stande sein, die Gefühle der anlangenden Festgäste oder des ihrer an allen Bahnhöfen massenhaft harrenden Publicums in Worten wiederzugeben? Wer von den lieben Festgenossen wußte sich die Thränen zu erklären, die so vielen unter ihnen im Augenblicke der Ankunft bei all dem Jubel in die Augen traten? Das Willkommen, welches Allen ohne Ausnahme zugerufen wurde, kam aus aufrichtigem Herzen und fand um so leichter den Weg zum Herzen der Ankommenden, von denen so Viele im überwältigenden Hochgefühle dieser Augenblicke sich oft nur durch Schwenken der Hüte, oder mächtig hervorquellende Freudenzähren äußern konnten. O, versucht es nur, wenn Ihr nicht Zeugen oder Theilnehmer solcher Auftritte gewesen seid, diese Thränen zu bespötteln! Nicht rasche feurige Jünglinge allein waren es, auch über die Wangen ergrauter und in des Lebens Stürmen hart geprüfter Männer sah man diese Zähren rollen, aber fragt sie, ob sie sich dieser gewiß unvermutheten Gefühlsäußerung schämen, und Ihr werdet ein offenes Nein zur Antwort erhalten. Wie oft ist an jenem Tage gewiß insgeheim von verschiedenen Turngenossen sowohl aus dem leicht erregbaren Süden als auch aus dem ruhigen überdenkenden Norden auf dem Wege zur Stadt die Frage gestellt worden: Was haben wir gethan, daß Ihr uns wie Sieger nach einer gewonnenen Schlacht empfangt? Und hier ist die Antwort darauf: Brüder, wir feierten ein wahrhaft deutsches Fest; wir betrachteten Eurer Kommen als einen Beweis der echten treuen Vaterlandsliebe, und ist ein solcher friedlicher Sieg nicht weit eher eines Triumphzuges würdig, als die Niederwerfung eines Volkes, das wir nur aus diplomatischen oder dynastischen Gründen als Todfeinde zu betrachten gezwungen sind? Warum giebt es überhaupt auf Erden noch einen anderen Kampf als den der Seelengröße um die höchste Achtung?

Man glaube übrigens nicht, daß nur die Ankommenden jene überwältigende Regung fühlten; auch die harrenden Empfänger fühlten sich mächtig bewegt, und oft hatten Viele im ersten Augenblick für die Festgäste wohl auch nur den stummen Händedruck und das feuchte Auge als Willkommen, weil das, was das Herz bei solchen Begegnungen fühlt, viel zu erhaben scheint, um sich mit den alltäglichen Worten ausdrücken zu lassen. Der herzliche Empfang wirkte aber auch maßgebend auf die Festbestimmung der Gäste, die sich hier doch auf der Stelle wohl fühlen mußten, wo man sie mit so viel Herzlichkeit empfing.

Oft brachten die Extrazüge auf den Eisenbahnen tausend und noch mehr Turner auf einmal nach der Feststadt, und in stattlicher Reihe ging es dann hinein zur Stadt, ein Musikchor an der Spitze des Zuges. Besonders in den Abendstunden von sechs bis zehn Uhr trafen ohne Unterbrechung von allen Seiten die Turner ein, und man kann mit Bestimmtheit annehmen, daß in jener kurzen Zeit allein acht- bis zehntausend unserer Festgäste hier anlangten.

Unvergeßlich bleibt mir die Ankunft der Schleswig-Holsteiner. Als der sie bringende Extrazug signalisiert wurde, war das Publicum von dem zur Bequemlichkeit der Ankommenden immer frei gehaltenen innern Raum des Bahnhofs nicht mehr zurück zu halten, und Alles fluthete herein. Mit dem Liede „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ wurde der herannahende Zug empfangen, und tausend Hände streckten sich den geknechteten Landeskindern entgegen, ihnen treue Hülfe in der Stunde der Gefahr verheißend. Aber hat denn diese Gefahr seit einer langen Reihe von Jahre für sie auch nur einen Augenblick aufgehört? Sinnen nicht in derselben Stunde schon dänische Schergen eifrig auf die Rache, die sie an allen den Theilnehmern unsres großen Festes bei deren Rückkehr auszuüben gedenken? In den Thränen, welche die Schleswig-Holsteiner bei ihrer Ankunft hier vergossen, konnte man neben der freudigen Rührung wohl auch noch einen bittern Vorwurf für ganz Deutschland finden. Der Trauerflor, der noch immer die von ihnen entfaltete Fahne [543] überschattet, ist ein herzzerreißender Hülferuf, an ihre deutschen Brüder gerichtet, und ein Fluch für die niedrige auswärtige Diplomatie, welche im fernen Amerika oder in Asien weniger geknechteten Völkern mit scheinheiligem Edelmuthe Hülfe bringt, während sie hier der Knechtschaft eines hochherzigen Volkes den verdammenswerthesten Vorschub leistet. Einige der Schleswig-Holsteiner stimmten auf ihrem Zuge nach der Stadt das Lied an: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ allein die stürmischen Zurufe des Publicums übertönten dieses heilige Zeugniß schmerzlicher Ergebung in ein unverdientes Schicksal, aber zugleich auch eines noch ungebrochenen Muthes. Ein Schleswiger äußerte zu einem sein inniges Mitgefühl lebhaft ausdrückenden Begleiter bitter lächelnd: „Wer kann dafür, daß wir keine Mexicaner sind?“ – Möge die Liebe, welche bei dem Feste dem schmachvoll unterdrückten Bruderstamme von allen Seiten so lebhaft entgegengebracht wurde, ein Beweis des tiefen Mitgefühls sein, das mit Sehnsucht der Gelegenheit harret, wo es zur kräftigen, helfenden That werden darf!

Auch die deutschen Brudervölker wurden auf das Herzlichste begrüßt, von welcher Seite her sie auch immer kommen mochten. Mit jedem ankommenden Zuge wuchs auch die Begeisterung der Einwohnerschaft, und wie Mancher bereuete jetzt, daß er aus irgend einem Grunde sich nicht zur Aufnahme von Turnern gemeldet hatte. Viele suchten diese Saumseligkeit jetzt dadurch gut zu machen, daß sie an die auf dem Markte aufgestellten und der Auslieferung der Festzeichen harrenden Turner herantraten und alle Ueberredungskunst anwandten, um Gäste mit sich heim zu nehmen, welche schon anderen Wirthen, die sich früher gemeldet, zugewiesen waren. Zuweilen gelangen wohl auch solche ungerechte Bestrebungen zum großen Leidwesen der jetzt daheim vergeblich auf ihre Gäste harrenden Wirthsleute, die nun oft auch bei dem Wohnungsausschusse ihre Klagen anbrachten. Am betrübtesten gebehrdete sich ein biederes Ehepaar, das bis zur sinkenden Nacht bei jedem auf dem Marktplatze eintreffenden Zuge die Reihen auf und ab nach seinen „vier Berlinern“ forschte, welche es sich in’s Quartier erbeten hatte. Die drei großen Berliner Extrazüge waren jedoch längst eingetroffen, und die sehnlichst erwarteten vier Söhne der Spreestadt mochten jedenfalls anderen wirthlichen Verlockungen nicht widerstanden haben, denn endlich gingen die betrübten Eheleute ohne Turner heim; sie haben aber aus Rache gleich am nächsten Morgen sich an einem anderen Bahnhofe postirt und dafür fünf als Nachzügler eintreffende Oesterreicher gekapert. Man sieht hieraus, wie rasch nationale Sympathie umzuschlagen vermag.

Die Fahnen der Vereine wurden stets nach dem großen Saale des Schützenhauses gebracht und hier von künstlerischen Händen entsprechend aufgestellt. Mehr als hundert Fahnen waren stets dicht bei einander gruppirt, und nahe an sechshundert Stück überhaupt abgeliefert worden. Die Schleswig-Holsteiner Fahne aber hatte für sich allein einen Ehren- oder wohl auch Trauerplatz in der Mitte des Saales erhalten; man mochte fühlen, daß der schwarze Flor sich unter den übrigen Fahnen gar zu betrübt ausnehmen würde, und man wollte vielleicht auch diese Mahnung an eine Blutschuld den hier anwesenden Söhnen Deutschlands recht deutlich vor Augen halten.

Von unbeschreiblichem Eindrucke war die officielle Empfangsfeierlichkeit in der achten Abendstunde des Sonnabends. Der wahrhaft glänzend eingerichtete und zauberisch erleuchtete Garten des Schützenhauses diente den eintreffenden Turnern als erster allgemeiner Versammlungsort. Hier fand die herzliche Begrüßung der Festgäste durch den Bürgermeister Dr. Koch, so wie durch den Vorsitzenden des Festausschusses, Bassenge, statt. Die aufrichtig gefühlten Worte wurden durch den Vorstand des Fünfzehnerausschusses, Th. Georgii aus Eßlingen, der zum Festpräsidenten erwählt worden war, eben so herzlich als patriotisch erwidert. Dem großen Vaterlande, der Turnerschaft, der Feststadt galten die mit Jubel aufgenommenen Worte, und nach dieser kurzen Feierlichkeit entfaltete sich hier ein reges Leben, wie es vorher wohl Niemand mochte vermuthet haben. Es waren ungefähr sechs- bis achttausend Turngäste in diesen Räumen versammelt, und unaufhörlich wogte diese Menge auf und ab. Hier fanden sich alte Freunde ganz unvermuthet, dort wurden neue Freundschaften schnell, aber trotzdem gewiß für die Dauer geschlossen. Ein engeres Beisammensein aller einzelnen Nationalitäten unseres Vaterlandes war nicht wohl zu denken, und wie rasch und aufrichtig befreundeten und verbrüderten sich hier die Vertreter aller Volksstämme! An einem Tische zum Beispiel saßen Ostpreußen und Südbaiern beisammen; sie erzählten sich ihre lustigen Reiseerlebnisse und fanden bald an einander das innigste Gefallen. Ein allgemeiner Brüderschaftstrunk wurde vorgeschlagen und von jeder Seite jubelnd aufgenommen. Der Weihekuß für Alle wurde zwischen dem ältesten Preußen und dem ältesten Baierländer ausgetauscht, und Letzterer konnte bei dieser Gelegenheit nicht umhin, Jenem zuzurufen: „Herzbruder, das gilt für die Ewigkeit! Aber ich hätte mir nimmer träumen lassen, daß Ihr im abscheulichen Norden droben dennoch so kreuzbrave Leut’ wäret. Nach unsern Zeitungsblättern freilich müßtet Ihr ganz anders ausschauen.“ „Für Menschenfresser haben wir Euch zwar nicht gehalten, aber so etwas halbwegs Duckmäuseriges stellten wir uns in Euch schon vor,“ entgegnete eben so offen der Preuße. „Jetzt sehen wir aber auch unser Unrecht ein und von Herzen bitten wir Euch um Verzeihung. Her mit der Hand!“ Allein der Baier bot die verlangte Hand nicht dar, dagegen zog er den neuen Freund an seine Brust, und die dabeisitzenden Genossen riefen wie aus einem Munde: Hoch unser ganzes, großes Vaterland! Und wie viele solcher erhebender Auftritte konnte man an jenem Abende sehen! Wie umdrängte man die anwesenden Vertreter des Londoner deutschen Turnvereins, von denen jedoch einige als Engländer blos erst deutsch zu turnen verstanden, aber nicht im Geringsten deutsch sprechen konnten. Mit Liebe und verdienter Hochachtung begegnete man den Siebenbürgen, welche nach einer fast wochenlangen Reise am ersehnten Ziele angelangt waren und hier den Beweis gaben, daß deutsche Sitte und Vaterlandsliebe auch mitten unter dagegen ankämpfenden Nationen sich bei edlem Charakter unverkürzt und unveränderlich zu erhalten vermag.

Gegen 11 Uhr Nachts kam erst noch die Mehrzahl der österreichischen Turner im Schützenhause an, nachdem sie vor etwa einer Stunde mit einem großen Extrazuge von Dresden her eingetroffen und so rasch als möglich ihre Quartiere in Empfang genommen hatten. Ihr Erscheinen erregte allgemeinen Jubel, der sich auch schon am Bahnhofe und bei ihrem mit Fackeln geleiteten Einzuge in die Stadt zu erkennen gegeben hatte.

Die Zuzüge dauerten am Sonnabend bis tief in die Nacht hinein, und immer suchten die Ankommenden noch die versammelten Turngenossen im Schützenhause auf, um an der allgemeinen Freude brüderlichen Beisammenseins wenigstens noch einen kurzen Antheil zu haben. Die an jenem Abende verlebten Stunden aber werden in eines Jeden Erinnerung fortleben, und Mancher wird sich in ihnen gewiß noch für trübe Tage in späteren Jahren Trost und Kraft suchen.

Der Sonntag Morgen bot ebenfalls freundliche Bilder in Menge überall dar. Der durch alle Straßen früh um 5 Uhr ertönende musikalische Weckruf fand so viele der Gäste eben nur in dem ersten Schlummer, und so Mancher mag vielleicht die ihn nur auf Augenblicke halbdeutlich umgaukelnden Töne für Bruchstücke einer Serenade gehalten haben. Der Weckruf wurde also in den meisten Fällen blos zu einem Wendepunkt für die unmittelbar darauf sanft fortträumenden Festschläfer.

Wo im Laufe des Vormittags auf der Straße und auf öffentlichen Orten Turner oder deren Wirthe einander trafen, da gab es immer blos dieselben Fragen, nämlich von Seiten der Ersteren: „wie gefällt Dir Dein Wirth?“ und von Seiten der Letzteren: „wie gefallen Dir Deine Gäste?“ Und immer wieder hörte man glücklicher Weise blos die beiden Antworten: „Ich hätte ein besseres Unterkommen gar nirgends finden können!“ oder: „meine Turner sind prächtige Leute, es thut mir nun doch leid, daß ich anfangs nicht noch mehr für mich ausdrücklich bestellt habe.“ – Diese allgemeine gegenseitige Zufriedenheit machte die Feststimmung zu einer wahrhaft gehobenen, die bis zum Ende der herrlichen Festtage unverändert anhielt.

Die Vormittagsstunden des Sonntags wurden hauptsächlich der Besichtigung der glänzend geschmückten Stadt gewidmet. Besonders war der Schmuck an Guirlanden und Fahnen ein überreicher, und in einzelnen gar nicht etwa sehr langen Gassen und Straßen zählte man 4 bis 500 Fahnen. Einen prächtigen Anblick gewährte das wahrhaft geschmackvoll verzierte, altehrwürdige Rathaus, und hier war der Glanzpunkt wieder eine unmittelbar unter der Thurmuhr angebrachte große rosettenartige Decoration, welche auf schwarz-roth-goldenem Grunde ringsherum und fast der Eintheilung der darüber befindlichen Uhr entsprechend das Wort „Willkommen“ enthielt. Diese Decoration ward zu beiden Seiten von Fahnen in [544] den Farben aller Bundesstaaten umgeben, und so ergab sich hieraus die höchst sinnige Erklärung des Ganzen von selbst: daß nämlich die hier zusammenströmenden deutschen Männer ohne Unterschied des engeren Vaterlandes in den Mauern Leipzigs und unter dem Schutz seiner Behörde zu jeder Stunde willkommen seien. Die Süddeutschen, welche Meister sind in der Kunst, ihre heimischen Volksfeste durch die sinnreiche Anbringung prächtiger Kernsprüche nicht wenig zu heben, werden freilich einen gleichen Schmuck hier fast allgemein vermißt haben, doch steht hierin unseren süddeutschen Brüdern längere Erfahrung und öftere Gelegenheit zur Erprobung solcher Künste zur Seite.

Besonders glanzvoll ausgestattet war der Eingang der Grimmaischen Straße, und einen nicht weniger günstigen Eindruck machte die Ausschmückung der Petersstraße, die zu beiden Seiten fortlaufende Reihen blumenumwundener und mit Flaggen gezierter hoher Masten zeigte. Viel Beifall fand die Festdecoration eines Eisenhändlers, welcher aus den verschiedensten eisernen Werkzeugen ein großes Tableau zusammengesetzt hatte, in dessen Mitte vier eiserne Winkelmaße die vier turnerischen F bildeten. Jahn’s und Arndt’s Büste waren zu beiden Seiten angebracht, und ringsherum zog sich als Inschrift der Anfang des Arndt’schen Liedes:

Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte!

Eine ebenso originelle Verzierung hatte, in einem nur wenig von den fremden Gästen betretenen Hausdurchgange, ein Eierhändler angebracht. Zwischen grünen Blättern glänzten lange Guirlanden von – Eiern in der Reihenfolge von schwarzer, rother und goldener Färbung. Diejenigen aber, welche diese seltsame Verzierung lächelnd betrachteten, ahnten vielleicht nicht, daß in jenem unscheinbaren Durchgange ein wahrhaft großartiger Eierhandel betrieben wird, der von Jahr zu Jahr zunimmt, und schon jetzt setzt der einfache, bescheidene Mann jährlich gegen 2½ Millionen Stück Eier um, die aus Schlesien, Westphalen und Thüringen hierher geliefert werden.

Auch am Sonntage trafen noch immer Turngäste ein und zwar darunter viele, die sich erst nachträglich entschlossen hatten. So wurde z. B. von den Nürnbergern Turnern der herliche und glänzende Empfang am Sonnabend Nachmittag voller Freude telegraphisch nach ihrer Heimath gemeldet, und dort entschlossen sich in Folge dessen noch eine Anzahl Nachzügler, auf der Stelle zu ihren Turngenossen in die Feststadt zu eilen. Nicht ohne einige Sorge wegen des Unterkommens, da sich sich vorher nicht angemeldet hatten, trafen sie hier am Sonntag ein, aber noch ehe sie den Weg vom Bahnhofe bis zur inneren Stadt zurückgelegt, waren sie auch sämmtlich bei freundlichen Bürgern, die sich sofort auf der Straße zu ihrer Aufnahme freudig erboten hatte, vortrefflich untergebracht. Mag auch die glänzende Aufnahme, welche die Nürnberger vor zwei Jahren den fremden Sängern bei ihrem großen Feste bereiteten, von Manchem als Grund für die Vorliebe für die biederen Bürger der alten Reichsstadt angeführt werden, so sind doch noch eine Menge ähnlicher Beispiele, welche andern Landeskindern begegneten, bekannt geworden, und der Wohnungsausschuß mußte oft genug die betrübte Klage einzelner Quartiergeber hören, daß die ihnen zugesicherten Turner nicht erschienen seien und höchst wahrscheinlich von anderen zungenfertigen Turnerfreunden ihren rechtmäßigen Wirthen abspenstig gemacht worden wären. Diese Klagen waren gewöhnlich nur durch zugesagten raschen Ersatz zu stillen.

Während auf dem im Schützenhause abgehaltenen Turntag Vereinsangelegenheiten besprochen und als Ort für das nächste allgemeine deutsche Turnfest 1866 Nürnberg gewählt wurde, fand draußen in der früher schon ausführlich beschriebenen Festhalle das erste große Festmahl statt, welches außerordentlich zahlreich besucht war. Die dabei ausgebrachten Toaste haben die verschiedenen politischen Tagesblätter schon berichtet, und es genügt deshalb wohl auch nur die Bemerkung, daß alle von Begeisterung für das große, allgemeine Vaterland durchweht waren. Dem Könige von Sachsen, der beim Fest leider nicht erschien, übersandte die Turnerschaft Deutschlands auf telegraphischem Wege ein aufrichtiges Gut Heil und erhielt dafür auf gleiche Weise einen Dank zurück.

Weit über funfzig telegraphische Festgrüße, darunter deren aus Amsterdam, Triest, Reval, Worms, Memel, u. s. w., gingen während der Festtafel ein, aber bei Ausdehnung der Festhalle und der Menge an Theilnehmern verhallte so manches bedeutende Wort, so mancher tief-ernste Gruß ungehört, oder war nur für die der Rednerbühne zunächst Sitzenden vernehmbar. Dagegen war der gesellige Verkehr zwischen den Festgenossen ein ungemein belebter, und als die charakteristische Seite des sich schon jetzt immer herzlicher gestaltenden festlichen Verkehrt muß hervorgehoben werden, daß nicht etwa ein ängstliches Bestreben nach der ausschließlichen Vereinigung von Landsmannschaften hervortrat, sondern daß man grade mit richtigem Takte die nationale Bedeutung einer solchen großartigen Zusammenkunft in dem innigsten Verkehr der sonst durch weite Länderstrecken von einander getrennten Festgenossen suchte. Man darf in dieser Hinsicht wohl blos an das echt freundschaftliche Band erinnern, welches während der ganzen Festtage die Schleswig-Holsteiner mit den Tyrolern vereinigte; doch gab es solcher Beispiele im Großen und Einzelnen noch viele, während von einem selbstsüchtigen Abschließen oder einem stolzen Zurückziehen auch nicht die geringste Spur zu bemerken war.

Wie fast bei allen großen Festen die Turner und Sänger sich einander mit brüderlicher Hülfe unterstützen, und wie auf diese Weise eine Art von Zusammengehörigkeit Beider sich herausgestellt hat, so waren auch die Sänger Leipzigs (900 an Zahl) zusammengetreten, um durch eine große musikalische Aufführung in der Festhalle am Sonntag Abend den gesammten Festgästen eine Huldigung darzubringen. Ein für diese Gelegenheit eigens bestimmter Festgruß eröffnete die musikalische Feier, welche den Gästen meistentheils die vorzüglichsten Compositionen anerkannter deutscher Tondichter vorfürhte. Leider verhinderte jedoch die auf akustische Wirkung nicht berechnete Bauart der Festhalle die von der Sängertribüne entfernter Sitzenden, den musikalischen Vorträgen zu folgen; dagegen wurde von dem näher befindlichen Festpublicum den Sängern enthusiastischer Beifall gezollt.

Während des ganzen Tages war aber auch draußen auf dem kolossalen Festplatze und in den verschiedenen hier errichteten Restaurationen ein außerodentlich reges Leben. Ueberall sah man die Turngenossen im freundschaftlichen Verkehr mir den Bürgern und deren Familien; auf Aller Mienen war mit glänzenden Zügen zu lesen, welch herzliches Wohlgefallen man aneinander fand. Die Turner gaben fortwährend ihre ungeheuchelte Freude über die ihnen von allen Seiten entgegengebrachten Aufmerksamkeiten zu erkennen, und die Bewohner der Stadt erklärten ebenso offen, daß auch selbst ihre kühnsten Erwartungen durch das Fest schon jetzt übertroffen seien. Wo war nun die Scheu hin, welche noch vor so kurzer Zeit mancher Bedenkliche vor dem Feste gehabt hatte? Wenn es aber wirklich hier und da immer noch erst halbbekehrte Gegner des schönen Festes geben mochte, so sollte auch für diese am morgenden Tage das Stündlein der reuigen Umkehr schlagen.[5]




Kleiner Briefkasten.

Leop. W–r in Heidelberg. Alle Anerkennung Ihrer braven patriotischen Gesinnung; ringen Sie nach einer gleichen wissenschaftlichen Tüchtigkeit, und Sie werden nicht für den „verlassenen Bruderstamm“ allein ein guter Kämpfer werden. Mit Gedichten, und namentlich solchen, deren gesuchte und schwerfällige Reimart nicht einmal einen poetischen Genuß, geschweige gar zur That entflammende Begeisterung aufkommen läßt, wirkt man Nichts für die ernste Sache.

M–n in H. Wenden Sie sich nach Prag oder Reichenberg, wo man Ihnen gern die Bezugsquellen der geschmackvollen österreichischen Turnanzüge nennen wird.

E. M. bei Helmstedt. Für einen „sechzehnjährigen Bauernknaben“, wie Ihr Brief versichert, sind allerdings Ihre Arbeiten aller Anerkennung werth; wenn auch die „Gartenlaube“ noch keinen Gebrauch davon machen kann, so muß sie wenigstens den Wunsch aussprechen, daß sich für Sie eine wohlthätige Hand finden möge, die Sie auf den entsprechenden Lebensweg führt.


L. in Z. Wie oft sollen wir wiederholen, daß die Redaction der „Gartenlaube“ Gedicht-Manuscripte niemals zurückschickt? Sollen wir die Couvertfabriken und die Post reich machen?


Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Herr von Lehndorff, berichtet Loccelius, wurde in Hafft genommen, aber den Tag nach des Grafen Ableben, bei dem vorgehenden Geläuf in einem Kasten, als wenn’s Kleider wären, von des Obersten Goldacker Lakaien herauspartirt, auf ein bestelltes Pferd gesetzet, und also davongebracht. Doch hat er der göttlichen Strafe nicht entgehen können, und ist unlängst hernach in einem rencontre von denen Schwedischen in der Lausitz erschlagen worden.
  2. Der Feldprediger Ouvrier hatte die Nachricht von der Enthauptung in Büsching’s Wöchentlichen Nachrichten veröffentlicht. Namentlich in Folge dieses Aufsatzes ward die Gruft noch ein Mal geöffnet.
  3. Heim’s Gutachten trug besonders zur Beseitigung des Gerüchtes von der Enthauptung bei. Daß die Leiche des Ministers in Spandau blieb, veranlasste der Sohn. Graf Schwarzenberg der Jüngere wollte anfangs die sterblichen Reste nach Wien führen. Indessen unterblieb die Wegführung, weil die Straßen durch die Schweden, die den Grafen glühend haßten, zu unsicher waren.
  4. Die sieben Halswirbel fanden sich noch nach Heim’s Tode in seiner Sammlung vor.
  5. Die auf das Turnfest bezüglichen Illustrationen werden in zwei bis drei Wochen erscheinen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Moritz von Rechow