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Die Gartenlaube (1863)/Heft 12

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Almenrausch und Edelweiß.
Aus dem bairischen Hochgebirge.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Die Gesellschaft folgte schweigend Evi’s Einladung und aß schweigend. Der Jäger saß neben dem Maler, denn die Sennerin hatte die Kriegslist gebraucht, den Bauernburschen in die Ecke des Heerdes zu postiren, so daß sie eine Art Feuermauer zwischen den grollenden Gegnern bildete.

„Nichts für ungut,“ unterbrach Gaberl nach einiger Zeit das unheimliche Schweigen, indem er sich entschädigend gegen Reinthaler wendete. „Sie glauben nit, was wir Jäger auszustehen haben! Es muß in der ganzen Welt kein solches Wildschützen-Nest geben, wie die ganze Ramsau. Keine Stunde ist unser Einer seines Lebens sicher … es ist kein Wunder, wenn es Einem dabei heiß aufsteigt!“

„Es ist freilich schlimm,“ entgegnete der Maler, „wenn der Sinn der Ungesetzlichkeit so sehr überhand genommen hat, aber begreiflich und entschuldbar bleibt es bei alledem, wenn die Bewohner einer so wildreichen und einsamen Gegend den Lockungen der Jagd nicht widersteh’n! Seh’n ihnen doch die Hirsche beinahe zu den Fenstern hinein! Es wird schwer halten, sie davon abzubringen, und mit der bisherigen Strenge wird es wohl am wenigsten gelingen!“

„Womit sonst?“ erwiderte der Jäger. „Man soll die Bauern wohl noch obendrein recht schön bitten, sie möchten doch so gut sein und das Wildern bleiben lassen?“

„Das nicht – aber man muß ihnen durch Belehrung das Unrechtmäßige, das Gesetzwidrige ihrer Handlungsweise begreiflich machen und die Strafen mindern. Bei einem Vergnügen, wie das Wildern, ist die strenge Strafe keine Abschreckung: sie ist eine Gefahr und darum noch ein Reiz mehr!“

„Warum nit gar! Für einen Wilddieb kann gar keine Strafe zu streng sein!“ grollte der Jäger. „Wenn’s mir nachginge, ich ließ sie heut’ noch auf Hirsche schmieden und todthetzen!“

„Eben deswegen,“ entgegnete Reinthaler ernst, „ist es gut, daß nicht, wie in frühern Zeiten, uns’re großen Herren bloße Jäger sind und daß daher nicht mehr die Jäger allein die Jagdgesetze machen! – Wie jetzt die Sachen steh’n, ist der Unglückliche, der sich zum Wildschießen hat verleiten lassen, wenn er dem berechtigten Jäger begegnet, in einer Art von Verzweiflungs-Zustand. Er hat nur die Wahl zwischen einer entehrenden langjährigen Strafe, die ihn und seine Angehörigen ruinirt, und zwischen einem noch größern Verbrechen, das ihm vielleicht Sicherheit und Straflosigkeit verschafft. Daher dieser immerwährende Krieg zwischen Jäger und Wildschütz, dieser stete Kampf auf Tod und Leben … Eine geringe Strafe würde der Mann ruhig über sich nehmen und das Handwerk zuletzt mit der Gefährlichkeit seinen Reiz verlieren!“

„Bilden Sie sich so was nicht ein,“ erwiderte der Jäger gereizt. „Da kenn’ ich die Bauern besser! Leben muß man unter ihnen, Herr Reinthaler, leben wie Unsereiner … Sie seh’n dieselben nur wie im Feiertaggewand! Aber es ist gut, daß es mit den geringen Strafen noch seine guten Wege hat!“

„Hoffentlich nicht mehr lange,“ war des Malers Antwort. „Die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher man einen Menschen höher anschlagen wird, als einen Hasen! Dann wird man sich mit dem nöthigen Schutze des Wildes begnügen, und Bauer und Jäger werden sich vertragen!“

„Das sind ja recht schöne Grundsätz’!“ sagte Gaberl noch giftiger. „Da ist es kein Wunder, daß die Bauern stützig werden, wenn die Stadtleut’ so daher reden! Hoffentlich bin ich nimmer auf der Welt, wenn das geschieht!“

Der Jäger hatte seinen kurzen Pfeifenstummel angebrannt und qualmte seinen Zorn in mächtigen Rauchwolken aus; Mentel, der zuerst nicht übel Lust gehabt hatte, sich in’s Gespräch zu mischen und dem Jäger nach seiner Weise heimzugeben, unterließ es jetzt und sah mit Behagen auf Reinthaler; sein halb eifersüchtiger Unmuth gegen den Maler begann zu weichen, weil er für Bauern und Wildschützen so warm das Wort genommen. Jedes von den Anwesenden war eine Weile mit seinen eig’nen Gedanken beschäftigt, und ein minutenlanges Schweigen ruhte auf der Gesellschaft, daß man den Wasserquell hereinplätschern hörte, der draußen im Mondenschein in den Brunnentrog niederströmte.

Niemand ward Kordel gewahr, die schon einige Augenblicke an der Thüre stand und die gekreuzten Arme auf das Halbgitter der Thür stützend die Hütte überblickte. Sie hatte jetzt das Kopftuch abgenommen und sah so noch schöner, wenn auch noch blässer aus. Ein Streifen des Feuers reichte bis an ihr Gesicht und das rothe Busentuch ihres Mieders; die Umrisse ihrer Gestalt waren dunkel und hoben sich kräftig von dem grünlich-klaren Mondhimmel ab, der durch den unverdeckten Theil des Thürraumes sichtbar war.

„Hat Eins die Füß’ über’s Kreuz,“ rief sie endlich lachend, „daß Ihr Alle da sitzt, als wenn Ihr auf’s Maul gefallen wär’t? Das muß ich sagen, wegen der Lustigkeit ist es schon der Müh’ werth, daß man auf den Scharten-Kaser in’ Heimgarten geht!“

„Nur geschwind herein, Du lustige Gesellin!“ rief der Maler aufspringend. „Du kommst eben recht, um uns auf and’re Gedanken [178] und ein anderes Gespräch zu bringen! … Nimm nur gleich die Cither und spiel’ uns einen lustigen Ländler auf!“

„Mit der Cither wird’s nit viel sein!“ sagte Evi mit verlegenem Erröthen, indem sie das Instrument vom Sims herunterholte. „Die Hauptsaiten sind ab!“

„Das schadt nix“ drängte Kordel, die sich rasch zurecht setzte und sich den Drahtring an den Daumen drehte. „Wer gern tanzt, dem ist leicht pfeifen! Es muß so auch geh’n – und liegt nicht da droben hinter den Weidlingen (Schüsseln) eine Schwegelpfeifen? Der Mentel kann sie ja blasen, daß es lauter geht …“

„Ich hab’ eine Maultrommel bei mir,“ sagte der Jäger lachend und langte in die Tasche, während Mentel die Schwegel ansetzte und probirte.

„Das giebt eine Musik, schöner als bei mancher Kirchweih!“ rief Kordel wieder. „Frisch, Maler, mach’ den Anfang; zeig’, daß die Herrischen nit bloß gemalene Füß’ haben!“

Der Maler war lachend bereit und faßte Evi’s Hand. „Es soll schon geh’n,“ sagte er, „daß ich den Stadtleuten keine Schande mache – aber mit den Tanzschuhen bin ich schlecht bestellt!“

Die Hütten ist ja auch viel zu klein, sagte Evi, die sich leicht sträubte. „Wer kann denn auf dem Nudelbrett tanzen?“

„Es muß nit allemal Langaus geh’n,“ erwiderte Kordel und begann eine muntere neckische Tanzweise zu spielen. „Thut’s nur ein bissel Tellerreiben … es ist gewiß nit das erste Mal, daß im Scharten-Kaser getanzt wird!“ Mentel pfiff dazu die Schwegel, und der Jäger ließ, so gut es ging, seine Maultrommel darein summen; das Paar aber war zum Tanze angetreten, den Evi mit ungekünstelter Zierlichkeit, Reinthaler nicht ungeschickt ausführte. „Das geht prächtig,“ rief die munt’re Citherspielerin, „an dem Maler ist ein Bauer verloren ’gangen! Und jetzt geschwind, Numero Zwei – daß die Tanzerin warm wird und der Boden nit kalt! – Voran, Gaberl, wenn’st nit steif bist vom Gamsfangen!“

Der Jäger sprang auf. „Ich bin gerad’ so steif, wie meine Gambs – wer’s mit mir aufnehmen will, der kommt zu kurz …“ Er hatte Evi rasch und keck ergriffen und tanzte mit dem sichtbaren Bemühen, es recht schön zu machen, ein Gemisch, das nicht ländlich und nicht städtisch war. Mentel hatte die Schwegel weggelegt; er wollte seinem Feinde nicht zum Tanze spielen und entschuldigte sich damit, daß er den Ländler, den Kordel spielte, nicht kenne. Reinthaler half dafür aus; er war oft und lang in der Gegend und mit den Vergnügungen ihrer Bewohner vertraut geworden.

„Sakra!“ rief Kordel, als sie endete. „Der Jäger tanzt justament wie ein Frackischer! Was meinst, Mentel, – ob Du Dir nachzutanzen ’traust?“

„Herrisch bring’ ich’s freilich nit zuwegen,“ sagte Mentel spöttisch, „aber was ein Bauer kann, werd’ ich wohl zeigen!“

Kordel begann, und das Paar führte seinen ländlichen Tanz, so gut der enge Raum es gestattete, in allen eigenthümlichen zierlichen Eigenheiten und Wendungen so gelungen aus, daß Reinthaler vor Vergnügen die Schwegel weglegte, um dem schönen Paare besser zusehen und Beifall klatschen zu können. Auch die summende Maultrommel verstummte, aber nicht aus Vergnügen, sondern aus Aerger. Zuletzt hatte Mentel Evi’s eine Hand gefaßt und ließ sie, während er selbst auf seinem Platze sich stampfend und springend drehte, um sich herum kreisen; mit der andern Hand schwang er juchzend den Hut, und wenn Evi auch mit niedergeschlagenen Augen, wie es die Sitte will, dahin tanzte, zeigte doch die höhere Röthe ihrer Wangen, daß es ihr nicht entging, wie bedeutungsvoll er dabei den Strauß an seinem Hute zu wenden und zu zeigen wußte.

Als der Tanz geendet und Kordel’s und Reinthaler’s Lob erschöpft war, nahm Alles wieder auf dein Heerde und um ihn Platz; eine freiere, versöhnlichere Stimmung war eingetreten und gab sich bald dadurch kund, daß die Lust zum Gesange sich regte. Allerlei Lieder ertönten, kurz und lang, munter und traurig, einstimmig und vielstimmig. Alle waren hochvergnügt, besonders Kordel, über deren bleiche Wangen die Freude einen rosigen Schimmer hauchte. „Das ist einmal ein richtiger Abschied von der Alm!“ rief sie, „aber wir müssen doch ein End’ machen, morgen ist auch ein Tag, und da heißt’s früh auf sein. Die Evi nehm’ ich mit in mein’ Kaser, damit ich auch eine Cameradschaft hab’ – die Manderleut’ werden schon zurechtkommen mit einander. Zuvor aber singen wir noch Eins zur guten Letzt!“

Ein langes Lied ward gesungen, die Geschichte eines Liebespaares erzählend, das trotz alles Mißgeschicks mit unerschütterlicher Treue an einander hing, ohne das Ziel der Vereinigung zu erreichen. Es schloß mit einer allgemeinen Betrachtung.

„Und Aepfelblüh’ und Weichselblüh’
Wachst niemals auf Ein’ Stamm:
Was für einand’ nit b’schaffen is,
Das kommt auch niemals z’samm’!“

Man trennte sich dann. Unter Lachen wurde der Jäger Gaberl über die Leiter hinauf im Heuboden oberhalb des Stalles untergebracht und der Maler feierlich in das gewöhnliche Lager der Sennerin eingewiesen. Es war der Kreister, eine Bettstelle, hoch mit Heu gefüllt, das mit einem weißen Tuche bedeckt und mittels desselben niedergebunden war. „Ich bleib’ gleich da auf der Heerdbank liegen,“ sagte Mentel und lehnte sich an die Thür, als die „gute Nacht“ rufenden Mädchen in’s Freie hinausgetreten waren. Man hörte sie noch von ferne juchzen und jodeln; der Bursche horchte, und als sie verstummten, sang er ihnen erwidernd nach:

„Und Aepfelblüh’ und Weichselblüh’
Wachst niemals auf Ein’ Stamm:
Aber Almenrausch und Edelweiß,
Die g’hören dennerst (dennoch) z’samm’!“




2. Tochter und Mutter.

Der Abend des nächsten Tages ging noch schöner zu Ende. Wohl lag drüben auf der Schattenseite der Ramsau – von den Bewohnern die Schadseite genannt – schon tiefe, an Dunkelheit grenzende Dämmerung; aber gegenüber dehnte sich noch das breite Lattengebirge hell besonnt vom todten Mann an bis zum Schwarzeck, wo die meisten Häuser zusammengedrängt liegen; hinüber bis zur Mordau und gegen den einsamen Taubensee hinan. Saftvoll glänzten die grünen Hänge, durchschnitten von braunrothen Ackerstreifen, unterbrochen und geschmückt mit breiten Säumen und Flecken von Ahorn und Buchen mit ihren herbstlich gelben und gerötheten Wipfeln, eingerahmt von schwarzen Tannenrändern, über denen der klare Himmel mit seinen auftauchenden Sternen ruhte. Die Luft war rein und klar und trug mit voller Schärfe jeden Laut die Höhen hinan, bald den vereinzelten Ton einer verspäteten Heerdenglocke, bald das feierliche Abendläuten vom Ramsauer Kirchthurme. Sichtbar war es hohe Zeit, daß man von den Almen abgetrieben und das Vieh sicher untergebracht hatte, denn diese klare, kühle Helle verkündete, daß der Winter bald und rasch seinen Einzug halten werde.

Auch auf dem breiten, tief eingeschnittenen Ledergraben ruhte noch der Sonnenschein und durchbrach das Blattgewölbe der Buchen, die zu beiden Seiten hoch und schlank wie Säulen emporstiegen. Darunter, nur stellenweise erhellt, rauschte im Dunkel der klare Bergbach nieder, bald in weißen Schaum gelöst über eine Höhe stürzend oder sich an glatt gespülten Felsblöcken brechend, bald, aufgehalten durch sie, sich zu kleinen Tümpeln ansammelnd, in denen die Forelle haust, bald wieder wie nach kurzem Besinnen sich zu neuem Sprung und Sturz aufraffend. Etwa auf dem vierten Theil der Berghöhe erweitert und öffnet sich der am Gestade aufkommende steinige Pfad zu einer kleinen waldumfangenen Rasenblöße, in deren Mitte die Mühle stand. Sie war hart an den Graben angebaut; fast in gleicher Höhe mit dem niedrigen Dache stieg der hölzerne Mühlschuß empor, der einen Theil des Bergbachs auf die Schaufeln des schadhaften Triebrads fallen ließ, um ihn dann wieder in das allgemeine Rinnsal zu leiten. Das unansehnliche Gebäude sah braun, verwittert und herabgekommen aus; es war fast ganz aus Holz gebaut, und nur ein Theil des Erdgeschosses bestand aus roh übertünchtem Mauerwerk. Die kleinen Fenster schimmerten in der Abendsonne; die Büsche und Wipfel leuchteten, das Wasser am Mühlschuß flimmerte und rauschte, Friede und Anmuth schienen rings ihren Wohnsitz aufgeschlagen zu haben, und dennoch machte das kleine Gehöfte in der lieblichen Umgebung keinen freundlichen Eindruck: er wurde verscheucht durch die überall unverkennbaren Spuren hoffnungslos verkommender Armuth.

Auf der Bank vor dem Hause saß ein Weib und war beschäftigt, Werg an den Rocken zu legen. Es war eine schlanke, fast magere Gestalt in unscheinbarem bäuerischem Kittel, verschossenem Mieder und unsauberen Hemdärmeln. Schwarze, stark mit Grau gesprengte Haare hingen ungepflegt und unordentlich um den [179] Kopf und das hagere Gesicht mit faltigen hängenden Wangen, deren unnatürliche Röthe unwillkürlich den Verdacht erweckte, als ob sie ihren Ursprung zerstoßenen Ziegelsteinen oder dem Safte rother Rüben danken. Von Zeit zu Zeit schossen unter den starken Augenbrauenbüscheln scharfe graue Augen nach allen Seiten herum, wie wenn sie Jemand suchten oder erwarteten.

Nebenan am Rande des Rinnsals regte es sich im Grase und rauschte durchs Gebüsch; eine sonderbare Erscheinung kroch unter den Zweigen am Baden hin, dem Gange nach ein Thier, denn es bewegte sich auf allen Vieren, nach Gestalt und Antlitz ein Mensch, wenn auch in traurigster Verkümmerung. Wie ein Hund auf der Lauer lag es jetzt im Gebüsch und ließ den Eingang der Mühle nicht aus den Augen; nur manchmal schielte es ängstlich gegen das Weib hin, gleich als fürchtete es, von diesem bemerkt zu werden. Nach einiger Zeit erhob sich das Weib und ging auf der Gräd vor bis an die Ecke des Hauses, von welcher man weiter in den Ledergraben und auf den Weg hinabsehen konnte. Diesen Augenblick benutzte der Kriechende und kam rasch aus dem Gebüsche auf den Rasen hervor. Es war die Gestalt eines Mannes, dem ein schweres Rückenleiden unmöglich machte, aufrecht zu gehen, und der es gewohnt geworden, Hände und Füße zu gebrauchen, um fortzukommen. Er war dürftig, nur mit grobem Hemd und Zwillichhosen bekleidet, die von Schmutze starrten und wovon die Fetzen niederhingen. Der Kopf war ganz mit weißem wirrem Haar und struppigem Bart derselben Farbe umgeben; in dem breiten fleckigen Angesicht und den starren blatten Augen lag der Ausdruck des Stumpfsinns. Rasch lief der Blöde über den Rasen und hatte beinahe die Gräd erreicht, als das Weib zurückkam und mit drohend erhobener Hand abwehrend ihm entgegen sprang. „Was willst Du da?“ schrie sie ihm zu. „Marschir’ weg; Du hast im Haus nichts zu thun!“

Der Mann vermochte nicht zu sprechen; er brachte nur dumpfes, undeutliches Gebrumm hervor, von welchem nur einzelne Laute den Tönen menschlicher Sprache ähnelten und als verstümmelte Worte verständlich wurden. „Kalt …“ stieß er hervor, „… Ofen …“

„Nichts da! Kann nit aufgeführt werden!“ schrie sie ihm entgegen. „Heut’ kommen Leut’, vor denen Du Dich nit seh’n lassen darfst! Ich müßt mich ja schämen!“

Der Vierfüßige hatte sich wie ein Hund halb aufrecht auf zwei Beine und eine Hand gesetzt; er verzog schmerzlich das verwilderte Gesicht und führ mit der freien Hand über die Augen, als ob er weinen wolle; es kam aber keine Thräne, und er brummte nur noch dumpfer und unverständlicher etwas, was sich anhörte, wie „Herr“ und „Haus“.

„Was? Du willst noch Herr im Haus sei?“ schrie ihn das Weib an. „Auf der Stell’ packst Dich fort, oder ich zeig’ Dir, wo Du hingehörst und wer Du bist!“ Damit hatte sie einen Prügel vom Wege aufgerafft und schwang ihn drohend über dem Elenden.

Dieser schoß ihr einen wildfunkelnden Zornblick zu, aber er entfloh eilig und kroch der Nebenthüre zu, die in den Stall führte. Dort verbarg er sich neben der einzigen Kuh in das Stroh; das Thier schien ihn zu kennen und gewohnt zu sein; es regte sich nicht, als er sich hinzu schmiegte, und leckte ihm wie mitleidig die braunen rindenharten Hände.

Die Müllerin war inzwischen in die Stube gekommen und hatte Feuer angemacht, in dem großen Ofen, der, aus dunklen, runden Thonstücken zusammengesetzt, ein Viertel des Raumes einnahm. Durch die Ritzen des locker gebrannten Lehms fiel der Schein der Flammen auf den dunklen Breterboden und ließ die Umrisse der Stube erkennen, deren schwarzbraune niedrige Balkendecke tief in die weißen Wände hereinreichte. Man unterschied die kleinen runden bleigefaßten Scheiben der Fenster und die um den Ofen und längs der Wand hinlaufende Sitzbank. Die Frau hatte einen Spahn angezündet und machte sich damit an einem Schränkchen zu schaffen, das in die Wand eingelassen war und dessen zierlich geschnitztes Thürchen von bessern Tagen, die das Haus gesehen, zu erzählen schien. Nachdem sie ein schmutziges Oellämpchen angesteckt und in die dreieckge Mauernische daneben gestellt hatte, begann sie den Inhalt des Kästchens zu mustern. Er bestand aus einem Weidenkörbchen mit allerlei Nähgeräth, aus einigen Büchern mit braunen abgegriffenen Blättern, aus ein paar alten Kalendern, einigen halbblinden Flaschen und Gläsern und einem Bündel Lumpen und Flickzeug. Die Müllerin beachtete all dies nicht, sondern zog unter den Fetzen eine schmutzige Schweinsblase hervor, deren Inhalt sie mit unverkennbarem Wohlgefallen musterte. Es waren einige Thaler, ein in ein Papierchen eingewickeltes Goldstück und Gegenstände weiblichen Schmucks, eine zerbrochene Busennadel, ein einzelner Ohrring in Tropfenform. Das Aufleuchten in den Augen des Weibes verrieth, daß die Habsucht in ihr mahnte und daß trotz Alter und Häßlichkeit die Putzsucht und Eitelkeit noch nicht von ihr gewichen war. Sie zog das Halstuch zurecht, und strich vor dem Spiegelscherben, der an der innern Wand des Schrankthürchens angebracht war, das verworrene Haar zurecht; dann hielt sie den Tropfen an das Ohr und besah sich von allen Seiten. „Es sollt’ mir schon ansteh’n,“ murmelte sie vor sich hin, „es kommt nur darauf an, daß man’s hat – dann glauben’s die Leute auch … und ich will’s und muß es haben … ich mag nicht länger so …“

„Heda! Pst! Müllerin!“ rief es durch’s Fenster, und eine kräftige Hand pochte an die schwirrenden Scheiben. „Ist’s leer im Kasten? Ein Mahlgast will zufahren!“

„Wer bei der Nacht zugefahren kommt, der kann zum Teufel geh’n!“ rief das Weib, indem sie hastig ihre Schätze zusammenraffte und verbarg und das Schrankthürchen unwillig zuwarf.

Es erfolgte keine Antwort von draußen, aber im nächsten Augenblick ging die Stubenthüre auf, und ein Bauernbursche in schwarzer Manchester-Jacke, auf dem Kopfe den breiten Hut mit goldenen Schnüren und Troddeln, trat ein. „Du bist es, Quasi?“ rief die Müllerin brummend. „Wo kommst Du her um die Zeit?“

„Komm’ ich Dir etwan nit gelegen, Müllerin?“ fragte der Bursche, indem er sich ohne Anfrage oder Entschuldigung an den Tisch setzte. „Du darfst es nur sagen – so geh’ ich wieder; ich find’ überall Platz für meine Thaler!“ Damit hatte er einen Blasenbeutel hervorgezogen und schlug ihn auf den Tisch, daß die Münzen darin klangen.

Die Müllerin horchte hoch auf und kam schnell besänftigt herbei. „Mußt es nit übel nehmen, Quasi,“ sagte sie zutraulich keck, „weißt ja, daß Einem oft ’was über’s Leberl laufen kann! Bist mir doch Einer von den Liebsten, die zukehren. … Du hast ja heute ganz gewaltige Span’ (Spähne),“ fuhr sie fort, indem ihre Augen begierig an der vollen Börse hafteten. „Das scheppert ja, wie wenn’s lauter Kronthaler wären. … Laß doch seh’n. …“

Sie griff nach dem Beutel, aber der Bursche zog ihn an sich. „Hat keine Eil’,“ sagte er lachend. „Kannst leicht selber mehr solches G’lump haben, wenn Du gescheidt bist – jetzt bring mir ein Quartl Pomeranzen … ich brauch’ was zum Aufwärmen für die Nacht!“

Die Müllerin eilte an das Wandkästchen und drückte inwendig an eine Feder; ein verborgenes Fach öffnete sich darin, aus welchem sie das Verlangte hervorholte, und das durch seine Heimlichkeit verrieth, daß in der Ledermühle eine Winkelschenke gehalten wurde. Sie stellte Quasi das gefüllte Glas hin und rief, indem sie ihm auf die Schulter klopfte: „Gesegn’ es Gott, Quasi ich will nur geschwind hinaus, und will die Läden zumachen und die Hausthür’, damit uns die Grünen nit unversehens auf den Hals kommen.“

Sie ging; der Bursche that einen tüchtigen Zug aus dem Glase und sah dann nachdenkich vor sich hin, während er einige verschüttete Dropfen auf der Tischplatte wie unbewußt mit den Fingern in unregelmäßige bedeutungslose Striche und Formen auseinander zog. Er war noch jung und sein Gesicht von schönem, kräftigem Schnitt, aber über Jugend und Schönheit war ein Sturm dahingegangen und hatte seine Spuren zurückgelassen, wie der Hagelschlag an einem jungen fruchtknospenden Baume: das Stämmchen hat zwar die Zerstörung überdauert, aber es kränkelt seitdem, und Rinde, Blatt und Frucht tragen die Zeichen der Verheerung. Es war etwas Wüstes und Unstetes in den dunklen Augen, und ein häufiges Zucken der Mundwinkel gab dem ganzen Gesichte einen unheimlichen, fast widrigen Ausdruck.

„Bist nit gut aufgelegt?“ fragte die Müllerin, als sie zurückkam und sich ihm gegenüber setzte. „Was studirst denn aus?“

„Wie wir auseinander kommen, Müllerin,“ sagte der Bursch. „Es thut nicht mehr gut mit uns Zwei’ …“

„Warum nit gar!“ rief sie mit gezwungenem Lachen. „Trink, Quasi, trink, damit Dir andere Gedanken kommen! Als wenn Du nit wüßtest, was heut’ für ein Tag ist! Als wenn Du nit gerade deswegen heut’ gekommen wärst!“

„Ich weiß wohl, aber es nutzt doch nichts. Ich bin erst neulich [180] bei ihr auf der Alm gewesen – die Kordl ist ganz umgewend’t, es ist nichts zu machen mit ihr!“

„Sie ist eine verrückte Person!“ eiferte die Müllerin. „Mußt ihr den Kopf zurecht setzen und sie nit so leicht aufgeben! Und bin ich nit auch da? Hab’ ich nit auch noch ein Wörtl d’rein zu reden? Und ich mein’, ich hätt’ Dir schon in früheren Zeiten gezeigt, ob ich was auf Dich halt’ und ob ich was ausrichten kann bei dem Mädel! Aber Du mußt halt Geduld haben – es will seine Zeit!“

„Ich hab’ aber keine Zeit zum Verlieren und keine Geduld zum Warten!“ entgegnete Quasi ärgerlich. „Das Bertelsgadener Landgericht ist hinter mir her! Der gestreng’ Herr sagt, ich wär’ ein Lump, ein Schwärzer, ein Wilddieb; ich müßt’ mich ausweisen, von was ich leb’; ich sollt’ in die Arbeit gehen oder in einen ordentlichen Dienst, sonst will er mich aufzuheben geben in Kaisersheim …“ Mit einem Fluch unterbrach er sich selbst und schlug die geballte Faust auf den Tisch. „Wenn der Kriegelhof noch mein wär’, ließ er sich’s wohl nit einfallen, so zu reden mit mir!“

„Ja, der ist hin!“ lachte die Müllerin spöttisch. „Der ist hinuntergeschwommen!“

„Und warum ist er hin?“ rief Quasi noch wilder. „Weil sie mir ihn abgelogen haben und abbetrogen, das Landgericht und der Vorsteher und die ganze Bande miteinander! Ich hätt’ noch lang forthausen und mir wieder aufhelfen können; aber das haben sie nit gewollt, weil ich kein Duckmäuser bin und ihnen niemals einen gehorsamen Diener ab’geben hab’! D’rum haben sie mich hinausgejagt und mir den Hof verkauft. Niemand ist schuld daran, als die miteinander! Niemand als die – und die Kordl mit ihrer ewigen Ziererei und Spreizerei. … Aber das muß anders werden! Heut’ noch muß ein End’ hergeh’n! Wo ist die Kordl?“

„Ich weiß nit; hab’ sie nicht wiedergeseh’n, seit sie gen Alm’ ist …“

„Sie haben heut’ abgetrieben, ich hab’s erfragt. Sie muß schon lang fertig sein bei ihrem Dienstbauern und muß jeden Augenblick kommen.“

„Wann sie nur überhaupt kommt!“ entgegnete die Müllerin zweifelnd. „Sie ist nit gern daheim bei uns!“

„Wo soll sie sonst hin? Der Dienst ist aus; sie kommt jedenfalls und will in der Mühl übernachten … d’rum muß es heut noch richtig werden mit mir und ihr!“

„Wie denn?“ fragte sie mit listig frechen Blicken. „Du bist wohl ein schneidiger Bursch, aber die Kordl ist widerspenstig und scheu, wie eine wilde Katz …“

„Dafür laß mich sorgen! – Schlaft sie droben in der Kammer, wie sonst? – Merkst was?“ fuhr er fort. „Ich will schon sorgen dafür und will’s erzählen, daß ich zu ihr Gassel ’gangen bin und daß sie mich wieder angenommen hat; wenn sie sieht, daß sie doch nimmer loskommen kann von mir, dann wird sie sich wohl d’rein finden und klein beigeben …“

„Aber wenn’s so ist – was nutzt es Dir nachher?“

„Was? Daß ich dem Gered’ und Gefrag’ am Landgericht ein End’ machen kann! Bin ich mit dem Madl in Ordnung, so übergiebst Du ihr die Mühl’, und wir heirathen – ich kann nachher doch thun und treiben was ich mag, und die Schergen müssen mich in Ruh’ lassen!“

„Uebergeben! Als wenn das so leicht ging’! Bin ich denn allein Herr? Gehört das Sachel nit auch dem Müller? Was kannst mit ihm anfangen, seit ihn der Schlag getroffen hat? Ich hab’ schon ferten (im vorigen Jahr) angefragt beim Landgericht, wie das wär’, da hat’s geheißen, man müßt’ einen Curater aufstellen für ihn – etwa den Vorsteher droben am Bühel!“

„Möcht’ der auch wieder die Hand im G’spiel haben? Das wär’ gerade der Rechte! Nein, Müllerin, mit einem Curater ist es nichts!“

„Und anders geht’s nit.“

„Anders geht’s nit? – Ein so gescheidt’s Leut, wie Du, Müllerin, und redest so daher? Laß Dich nit auslachen! Es geht wohl anders auch!“

Die Blicke Beider begegneten sich mit dem Aufblitz eines unheimlichen Verständnisses.

„Ist der Müller nit ein elender Mensch?“ fuhr Quasi leiser fort. „Ist er nit ein Krüppel, dem kein Mensch mehr helfen kann? … Ich mein’, es wär’ ein Glück für Dich und eine Wohlthat für ihn, wenn er von seinen Leiden erlöst wär’! – Ein lebendiger Simpel muß wohl einen Curater haben – ein G’storbener braucht Keinen mehr!“

„Nein, Quasi … nein,“ sagte das Weib, indem sie sich abwandte und ihr etwas wie ein Schauder den Rücken überlief. „Das ist nichts – davon will ich nichts wissen … ich will doch lieber mit dem Vorsteher reden. …“

„Das kannst thun – der Leut’ wegen,“ entgegnete der Bursch, „vom Andern brauchst nichts zu wissen, das ist meine Sach’ …“

„Ich hör’ was draußen auf der Gräd,“ unterbrach ihn die Müllerin leise, „es kommt Jemand …“

„Das wird die Kordl sein,“ flüsterte er entgegen, „ich will fort; laß mich hinten hinaus, daß sie mich nit sieht und etwan aufmerksam wird! Richte auch den Beutelkasten und die Truhen her in der Mühl’, damit Alles leer ist, wann wir kommen. Es giebt heut Nacht eine große Schwärzerei … die Tyroler bringen eine Menge Seidenzeug herüber und goldene Uhren. … Bei Dir soll’s versteckt werden – ein ganzer Hut voll Kronthaler ist unser, wann’s gut geht. … B’hüt Gott,“ sagte er, sein Glas ausstürzend, „und wann etwa der Brigadeer nach mir fragt – nachher wirst schon wissen, was Du ihm zu sagen hast!“

Wenige Secunden später pochte es an der Hausthüre, die Müllerin öffnete, und Kordel trat ein, das Kopftuch auf und den Hut darüber, die gestrickte braune Jacke über das Mieder gezogen, ein Bündel mit Kleidern in der Hand. „Grüß’ Gott, Mutter,“ sagte sie, „das ist ja ungewohnt, daß bei uns die Hausthür’ schon so früh geschlossen ist!“

„Grüß’ Gott,“ erwiderte die Mutter, „das kommt Dir nur so vor, weil Du spät d’ran bist mit dem Kommen. Man muß sich wohl vorseh’n da heroben in der Einöd’, es giebt gar zu viel Schelmenleut’“

„Ich bin nit eher fertig geworden,“ sagte Kordel, in’s Zimmer eintretend, „hab’ erst das Vieh besorgen müssen – sie haben mich gar so hart fortgelassen beim Bauer. … Aber wo ist denn der Vater?“

„Nun, es ist schon recht, weil Du nur da bist – es geht manchmal gar nit mehr recht fort mit mir; es giebt so viel zu thun, und ich kann Dich nothwendig brauchen, Du mußt jetzt schon dableiben, Kordl.“

„Nit gern, Mutter,“ sagte das Mädchen zögernd, indem sie sich auf die Bank setzte und vor sich niedersah. „Du weißt von früher her, daß es nit recht gut thut, und weißt auch warum. … Ich möchte am liebsten bei meinem Bauern bleiben, dem wär’s auch ganz recht. …“

„Nichts da!“ rief heftig und herrisch die Frau. „Du gehörst zu uns – Vater und Mutter haben das erste Recht auf Dich! Sollen wir uns schinden und frellen, und unser Kind die Füß’ alleweil unter fremder Leute Tisch haben?“

„Aber wo ist denn der Vater?“ fragte Kordel ausweichend, indem sie im Zimmer umher sah.

(Fortsetzung folgt.)


Ein Volksschwur.


Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
     Auf Henkersblut und Tyrannen!
D’rum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt;
Das Land ist ja frei, und der Morgen tagt,
     Wenn wir’s auch nur sterbend gewannen!
Und von Enkeln zu Enkeln sei’s nachgesagt:
Das war Lützow’s wilde, verwegene Jagd!
 Theodor Körner.

Am Morgen des 28. März 1813 läutete in dem schlesischen Dorfe Rogau die Glocke. Sie rief nicht zum gewöhnlichen Gottesdienste, denn es war Sonnabendmorgen. Der Geistliche des Orts, der Pfarrer Peters, stand im Amtsgewande erwartend vor der Thür des Gotteshauses, das ganze Dorf war in begeisterter Erregung. Einer ernsten, schönen Feier galt es, der Einsegnung, der Todesweihe einer herrlichen Schaar von Jünglingen und Männern, welche entschlossen waren, Blut und Leben dem Vaterlande zu opfern. Es galt der Einsegnung des Lützow’schen Freicorps.

Und vor dem Dorfe war die Cavallerie des Corps, 260 Pferde stark, aufmarschirt, um ihre Cameraden der Infanterie zu erwarten, welche 900 Mann zählend von dem nahen Dorfe Zobten herankamen. Das waren feste, herrliche Gestalten. Aus ihren Augen

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Die Einsegnung der Lützow’schen Freicorps in der schlesischen Dorfkirche zu Rogau.

[182] sprach Begeisterung und der Muth des Todes. In ihrer Uniform, dem schwarzen Waffenrocke, Litewka genannt, mit rothem Vorstoß an Kragen, Aermelaufschlag und Achselklappen und den gelben Knöpfen, trugen sie die deutschen Farben: Schwarz-Rot-Gold. Wohl wurden sie amtlich als „königlich preußisches Freicorps“ aufgeführt, aber an dem Tschacko trugen sie das preußische Zeichen nicht. Eine größere Idee lebte in ihnen. Ein deutsches Freicorps wollten sie sein, denn dem ganzen deutschen Vaterlande galt ihr Blut und Leben.

Dies waren die ersten Männer der „schwarzen Jäger“ oder der „Racheschaar“, der Anfang von Lützow’s wilder, verwegener Jagd. Wie die thebanische Schaar im Alterthum wollten sie ausziehen, um die Schmach und Knechtschaft ihres Vaterlandes zu rächen. In Schwarz hatten sie sich gekleidet, denn Schwarz ist die Farbe der Trauer und des Todes.

Unter Glockengeläute zogen sie alle in Rogau ein und in die Kirche. Sie war gefüllt bis zum Uebermaß. Von über tausend Kehlen wurde mit Begeisterung ein Lied, ein Choral gesungen. Wir lassen ihn hier folgen, denn Theodor Körner, der schon am 19. März in das Freicorps eingetreten war und der Einsegnung mit beiwohnte, hatte ihn für diese Feier nach der Melodie: „Ich will von meiner Missetat etc.“ gedichtet.

Wir treten hier in Gottes Haus
Mit frommem Muth zusammen.
Uns ruft die Pflicht zum Kampf hinaus,
Und alle Herzen flammen.
Denn was uns mahnt zu Sieg und Schlacht,
Hat Gott ja selber angefacht.
Dem Herrn allein die Ehre!

Der Herr ist unsre Zuversicht,
Wie schwer der Kampf auch werde;
Wir streiten ja für Recht und Pflicht,
Und für die heil’ge Erde.
Drum, retten wir das Vaterland,
So that’s der Herr durch unsre Hand.
Dem Herrn allein die Ehre!

Es bricht der freche Uebermuth
Der Tyrannei zusammen;
Es soll der Freiheit heil’ge Gluth
In allen Herzen flammen.
D’rum frisch in Kampfes Ungestüm!
Gott ist mit uns, und wir mit ihm!
Dem Herrn allein die Ehre!

Er weckt uns jetzt mit Siegeslust
Für die gerechte Sache;
Er rief es selbst in unsre Brust:
Auf, deutsches Volk, erwache!
Und führt uns, wär’s auch durch den Tod,
Zu seiner Freiheit Morgenroth.
Dem Herrn allein die Ehre!

„Nach Absingung des Liedes,“ mit diesen Worten schildert Körner selbst in einem Briefe die erhebende Feier, „hielt der Prediger des Orts, Peters mit Namen, eine kräftige, allgemein ergreifende Rede. Kein Auge blieb trocken. Zuletzt ließ er uns den Eid schwören, für die Sache der Menschheit, des Vaterlandes und der Religion weder Blut noch Gut zu schonen und freudig zum Siege oder Tode zu gehen. Wir schworen! Drauf warf er sich auf die Kniee und flehte Gott um Segen für seine Kämpfer an. Bei dem Allmächtigen, es war ein Augenblick, wo in jeder Brust die Todesweihe flammend zuckte, wo alle Herzen heldenmüthig schlugen. Der mit Würde vorgesagte und von allen nachgesprochene Kriegseid, auf die Schwerter der Officiere geschworen, und „Eine feste Burg ist unser Gott!“ machte das Ende dieser herrlichen Feierlichkeit.“

Der erhabene Augenblick ist es werth, im Bilde verewigt zu werden. Denn dort sah man nicht blos trotzige Männer und glühende Jünglinge die Hand zum Schwur erheben, man sah den Vater sich losreißen von Weib und Kind, und das Weib war nicht zerknirscht und kleinmüthig, ihr treuer Arm umschlang den gerüsteten Gatten zum Abschied, er hielt ihn nicht zurück vom großen Entschluß, der ein Volk begeistert. Bräute und Geliebte erfüllte, ihrer Tapferen würdig, kein anderes Gefühl, als der Stolz auf sie. Und wie die Mütter und Bräute hatte selbst Knaben der heilige Sturm des deutschen Geistes erfaßt und auch sie erhoben die zarten Hände zum Schwur der Männer.

Ja, eine erhebende Feier, eine wirkliche Todesweihe! Und der Tod hat viele von ihnen im Kampfe erreicht und unter ihnen Deutschlands beste Söhne, über deren Verlust wir noch jetzt, nach einem halben Jahrhundert, mit frischem Schmerze klagen müssen. Unter ihnen fiel Theodor Körner, der Sänger von Leyer und Schwert, Carl Friedrich Friesen aus Magdeburg, von dem F. L. Jahn sagt: „Keinem zu Lieb’ und Keinem zu Leide! aber wie Scharnhorst unter den Alten, so ist Friesen unter den Jungen der Größte unserer Gefallenen,“ von dem E. M. Arndt sang:

„War je ein Ritter edel,
Du warst es tausend Mal!“

unter ihnen fiel Friedrich Eckardt aus Rothenburg, Christian Graf zu Stolberg, und der edle Oberjäger von Berenhorst aus Dessau, der den Tod seines Freundes Körner nicht überleben mochte. Er stürzte sich wenige Tage später (am 16. Sept.) im Kampfe an der Göhrde mit dem Rufe: „Körner, ich folge Dir!“ auf den Feind und sank von zwei Kugeln getroffen todt nieder. Unter ihnen fielen Gottlieb Schnelle und die drei an Jugendgaben reichen Grafen Gröben, Canitz und Dohna, deren Heldentod Max von Schenkendorf in einem Liede feiert.

Das sind nur wenige Namen unter den Hunderten und Tausenden, aber ihnen gleiche gab es viele unter ihnen; wie sie gingen alle mit freudigem Muthe dem Tode entgegen.

Schon am 9. Februar hatte der Major von Lützow und der Major Friedrich von Petersdorff, beide Waffengefährten Schill’s, den König Friedrich Wilhelm um die Erlaubniß, ein Freicorps errichten zu dürfen, ersucht und ihm den Plan desselben gleichzeitig mitgetheilt. In einem Schreiben des Königs aus Breslau vom 18. Februar wurde ihnen die Erlaubniß ertheilt. Die vorzüglichsten Bedingungen waren, daß Lützow und Petersdorff die Mannschaft selbst durch Freiwillige, vorzüglich vom Auslande, anwerben, einkleiden und remontiren sollten; von Seiten des Staats sollten nur die Waffen für diejenigen geliefert werden, welche sich keine brauchbaren Büchsen und Cavallerie-Seitengewehre anschaffen könnten. Nach dem ursprünglichen Plane Scharnhorst’s sollte das Lützow’sche Freicorps einen Vereinigungspunkt für alle Deutschen bilden, besonders aus denjenigen Ländern, deren Regierungen, sei es gehindert oder eigensüchtig, der großen nationalen Sache noch nicht beigetreten waren. Das Corps sollte seinen Schauplatz auf den Flanken des französischen Heeres nehmen, die Verbindungen desselben stören, seine Operationen erschweren und überall die Volkserhebung zu fördern streben. Ohne an den Befehl eines Höhercommandirenden gewiesen zu sein, sollte das Corps als ein völlig selbstständiger Truppenkörper handeln. Ein kleines Bild von Deutschlands Einheit und Einigkeit sollte in diesem Corps gegeben werden; gewiß ein schöner – Traum!

Der Aufruf zum Eintritt in das Corps und zu Gaben für die Freiwilligen wurde erlassen, und in heiliger Begeisterung flammten Aller Herzen auf. Petersdorff leitete die Bildung des Corps in Breslau, während Lützow bald hier, bald dort war, um überall anregend und ordnend zu wirken. Die, welche sich zur Infanterie meldeten, wurden nach dem Dorfe Zobten gesandt, die Cavallerie nach dem nahegelegenen Rogau.

Und die Namen Lützow’s und Petersdorff’s erweckten Vertrauen, die Idee einer deutschen Schaar der Rache gleich jener alten thebanischen fand in Tausenden von Jünglingsherzen einen lauten Wiederklang. Nach wenigen Wochen, als das Corps in der Kirche zu Rogau eingesegnet wurde, bestand es bereits aus 900 Mann Infanterie (4 Musketier-Compagnien und 1 Jäger-Detachement) und aus 260 Mann Cavallerie (1 Husaren-Escadron unter dem Premierlieutenant von Helden, 1 Uhlanen-Escadron unter dem Premierlieutenant von Kropf und 1 reitenden Jäger-Detachement unter dem Premierlieutenant von Aschenbach). Später führte noch ein Rittmeister von Bismarck[1] aus der Altmark dem Corps eine zweite Husaren-Escadron, welche er gebildet hatte, zu.

Zu dem Allem hatte die Regierung nicht mehr als 200 Gewehre hergegeben. Aus dem Volke war dies Corps hervorgegangen, das Volk hatte es freiwillig ausgerüstet.

Es war eine große, eine heilige Zeit! Die Regierungen waren ohnmächtig, die Fürsten muthlos und zum Theil verjagt aus [183] ihren Ländern. Da nahm das Volk des Vaterlandes Sache in die Hand und hat sie herrlich durchgeführt. Kein Opfer war ihm zu groß, kein irdisches Gut zu theuer, sein eigenes Blut nicht zu lieb, es hat dies Alles willig dargebracht zum Kampfe für die Freiheit.

Ohne daß wir weich sind, treten uns unwillkürlich die Thränen in die Augen, wenn wir die Gaben für die Freiwilligen lesen, welche in den Berliner und Breslauer Blättern unter der Ueberschrift „Vaterlandsliebe“ verzeichnet wurden. Der Jüngling verließ die Schule oder den Hörsaal oder die Werkstätte, der Verlobte riß sich aus den Armen seiner Braut und aus allen Träumen seines Glückes los, der Mann ließ Weib und Kind im Stich, um für das Vaterland und die Freiheit zu kämpfen. Selbst Mädchen traten als Männer verkleidet in die Reihen der freiwilligen Kämpfer ein. Wir nennen hier nur Leonore Prohaska (bei den Lützowern unter dem Namen August Renz, fiel und starb mit Heldenmuth in dem Gefechte an der Göhrde), Charlotte Krüger und Dorothea Sawosch. Und die, welche nicht selbst mit in den Kampf ziehen konnten, wetteiferten in Gaben für das Vaterland. Die Wittwen und Waisen gaben ihr Letztes her, Kinder schickten ihre Sparbüchsen, Dienstmädchen ihre zurückgelegten Pfennige. Es war, wie Niebuhr einem Freunde schreibt, „die Hingabe des Einzelnen an das Ganze grenzenlos.“ Der spanische Gesandte in Berlin, Don Pizarro, schrieb damals nach Madrid, daß ihm in Preußen jetzt Alles ganz spanisch vorkomme, so begeistert sei die Stimmung des Volkes. „Es ist unmöglich, nicht elektrisirt zu werden,“ sagte er, „wenn man das Feuer sieht, mit welchem hier das Volk seinem Nationalgeiste Luft macht.“

Es war eine heilige Zeit. Die Frauen schickten ihre Trauringe, die Bräute ihre Verlobungsringe ein und trugen dafür eiserne Ringe mit der Inschrift: „Gold gab ich für Eisen. 1813.“ Kein Schmuck wurde mehr getragen, kein Andenken aufbewahrt, welches irgend welchen Werth hatte, Alles, Alles wurde hingegeben für das Vaterland. Ueber einhundertundsechzigtausend goldene Ringe, Ketten, Ohrgehänge etc. sind damals freiwillig gegeben. Ein junges Mädchen schickte ein auf 75 Thaler taxirtes goldenes Halsband ein mit den Worten: „Dies Halsband ist das Geschenk meines in den Krieg gezogenen Bräutigams. Ich habe das theuerste Andenken geopfert, welches ich besaß.“ Ein blinder Harfenspieler erbot sich, die Hälfte seines kümmerlichen Verdienstes zur Unterstützung eines verwundeten Kriegers herzugeben. Drei Dienstmädchen sandten einen silbernen Becher, eine silberne Nadelbüchse, sieben Medaillen und 25 Thaler ein; ein Invalid eine Huldigungsmedaille, mit den Worten: „mir ein theueres Andenken, ich bringe es dennoch dar“; ein zehnjähriger Knabe zwei silberne Medaillen und sieben Groschen – er hatte nicht mehr. Eine arme Frau hatte zehn Thaler zu einem Ueberrock erspart, sie sandte sie ein mit der Bemerkung: „die Jäger brauchen es nothwendiger als ich.“

Noch Seiten könnten wir mit Aufzählung solcher Gaben füllen, und wer nichts zu geben hatte, wem durch die harten vorhergegangenen Jahre bereits Alles genommen war, der nähte und strickte zum Wenigsten für die in den Kampf Ziehenden.

Ein Beispiel möge hier indeß noch genannt werden, es wird den Wenigsten bekannt sein. Ein junges, sechzehnjähriges, reizend schönes Mädchen, Ferdinanda von Schmettau, deren Vater, Oberst a. D., mit 11 Kindern, im Alter von 21 bis 1 Jahre, von 600 Thalern Pension in einer Erbpacht im Klostergut Bergel nahe bei Ohlau in bedrängten Umständen lebte und bereits seine aufbewahrte Staatsschabrake und die Ringe und kleinen Pretiosen seiner Frau gegeben hatte, war untröstlich, daß sie nichts besaß, was sie als Gabe darbringen konnte. Da ließ sie ihr schönes, reiches Haar, für welches ihr ein Friseur 10 Thaler bot, abschneiden und schickte dasselbe für die Freiwilligen ein. Und ihr schöner Zweck wurde vollkommener erreicht, als sie geahnt hatte. Ihre That blieb nicht verschwiegen, das Haar wurde aufgekauft, Ketten, Ringe und Armbänder wurden daraus angefertigt, und das Verlangen nach denselben war so groß, daß aus ihrem Haar 1200 Thaler gelöst wurden, die zur Einkleidung von mehreren Freiwilligen hinreichten. Die Opferbereitwilligkeit des ganzen Volkes war großartig, erhebend.

Fragen wir jetzt nach fünfzig Jahren, welcher Lohn ist dem Volke für die großen Tage und Thaten von 1813 geworden? Wir müssen erröthen, wir haben nur die eine Antwort: sie sind nicht mit Dank gelohnt! – Wohl denen, die in dem Freiheitskampfe gefallen, sie haben eine schöne und reine Idee mit sich in’s Grab genommen, sie haben die Schmach nicht kennen gelernt, die jenen Tagen gefolgt ist! Und jetzt macht man dem Volke von oben herab noch den Vorwurf, daß es das Vertrauen verloren habe!


Aus dem rauhen Frühling eines Dichterlebens.
Nr. 1.


Die nachstehenden Erinnerungen an Jean Paul’s Aufenthalt in Hof und Schwarzenbach und die hier mitgetheilten noch ungedruckten Briefe desselben verdanken wir der Tochter einer Zeitgenossin des großen Mannes, die deren Veröffentlichung erst nach ihrem Tode wünschte. Dazu konnte keine Zeit geeigneter sein, als die gegenwärtige, in welcher ganz Deutschland die Feier des hundertjährigen Geburtsfestes Jean Paul’s vorbereitet, und so möge unser großer Leserkreis diese Erinnerungen und Briefe als eine Festgabe der Gartenlaube zu dieser nationalen Dichterfeier annehmen.

Auch für die Einführung derselben ist uns eine seltene Perle zu deren besonderem Schmuck anvertraut worden: ein Brief der Wittwe Jean Paul’s[2] an die Tochter der Verfasserin dieser Erinnerungen. Wir theilen das Wesentlichste davon mit, weil sein Inhalt uns weiterer Bemerkungen über das Nachstehende enthebt.

„München d. 25sten Juni 1838.

 Liebe Frau von B…!

In Betreff Ihres mir mitgetheilten Vorhabens, das Sie so rücksichtsvoll mir mittheilen, kann ich weiter nichts sagen, als daß weder ich noch meine Kinder das Geringste dagegen einwenden können, indem ja diese Briefe an Ihre sel. Frau Mutter ganz Ihr Eigenthum sind und, in der eigentlich glücklichsten Lebensperiode des seltenen Mannes entstanden, dem ich anzugehören später das Glück hatte, nur Ruhm und Zeugniß seiner heiligen Seele geben können. Indem kürzlich die Abkömmlinge einer andern Jugendfreundin des Unsterblichen, der Frau Renate Otto aus Hof, ein ähnliches Vorhaben begonnen haben, welches mit Beifall aufgenommen worden sein soll, so begreife ich wohl Ihr kindliches Interesse, ein Gleiches für Ihre demselben Kreise zugehörige theure Frau Mutter in Anspruch nehmen zu wollen, zumal so Manches aus der späteren literarischen Wirksamkeit des Verewigten darin angedeutet und entstanden ist.

Schließlich muß ich aber Ihre gütig gemeinte Dedication an mich ablehnen, meine theure Freundin. Es war immer meine Neigung, so unbemerkt als möglich durch das Leben zu gehen und nie öffentlich genannt zu werden. Sollte ich jetzt, wo ich so nahe an der Pforte der Ewigkeit stehe, davon abweichen wollen? Nur immer von dem Verhältniß zu Gott durchdrungen suchte ich mir keinen Namen unter den Menschen zu erwerben und begnügte mich, das hohe Loos, das ich Unbedeutende aus der Schicksalsurne zog, durch Erfüllung meiner häuslichen Pflichten als Gattin und Mutter zu verdienen. Die Anerkennung seiner höheren Natur und meine Begeisterung für die Fülle und den Reichthum seiner Seele gaben mir Flügel, das Schwerste zu leisten.

Nun leben Sie wohl, theure Frau, und gesegnet mit Ihren Kindern. Meine Tochter Odilie nebst ihrem Mann wollen Ihnen herzlich empfohlen sein. Bis zum Grabe bleibe ich

Ihre treuergebne Freundin

Caroline Richter,
Wittwe Jean Paul’s.“


Erster Aufenthalt in Hof.

Im Jahre 1786 bot die kleine Stadt Hof noch nicht den freundlichen Anblick, welchen jetzt ihre hellen und breiten Straßen [184] gewähren; die hohen Giebelhäuser waren ohne Rücksicht auf Symmetrie an einander geschichtet und verengten durch ihre unregelmäßige Bauart die Straßen; die alten Holzdächer sahen oft sehr moosig und verwittert aus; kurz es war eine alterthümliche düstere Stadt, ohne die tiefe Romantik des Mittelalters. Zwischen zwei Hügeln, die seltsam bezeichnend die Labyrinthe und der Teufelsberg heißen, lag es ziemlich kahl und schmucklos da; dennoch war es der Wohnsitz eines recht achtbaren, fleißigen, gemüthlichen Völkchens, dessen patriarchalische Einfachheit und bürgerliche Tugenden ihm Zufriedenheit und Glück gewährten. Handel, Ackerbau und Gewerbfleiß standen schon damals in voller Blüthe, und der ehrenwerthe Fleiß der Bewohner sicherte ihnen einen soliden Wohlstand. Dagegen litten sie freilich an kleinstädtischer Engherzigkeit; Poesie, Kunst und überhaupt höherer Aufschwung und ideale Genüsse gehörten zu den seltenen und entbehrlichen Luxusartikeln, die man weder besaß noch ersehnte.

Mitten in der Stadt, auf einer einsamen, klösterlichen Stelle, dem alten Schloßplatze, wo sonst ein markgräfliches Schloß gestanden hatte, welches nach der Sage eine Zeit lang der fabelhaften Fürstin desselben, der weißen Frau, zum Aufenthalt diente, und wo sich jetzt nur noch ein verödeter Brunnen, ein begraster, gepflasterter Platz und ein längliches Viereck verfallener Häuser zeigte, stand an der äußersten Spitze ein kleines einstöckiges Häuschen, welches sich ländlich und idyllisch unter den übrigen verbarg. Es hatte ein nettes Gärtchen, eine schattige Hollunderlaube und einige bescheidene Rosenstöcke vor dem Fenster, und drinnen wohnte mit seiner Mutter ein junger Mann, der es heimlich zu einem Tempel der Musen weihte und arm, unbekannt, ungeschützt die ersten Schwingen seines Adlerflugs regte.

Johann Paulus Richter gab, nachdem er von der Universität zurückgekehrt war, um seine literarische Laufbahn zu beginnen, Manches zu denken und noch weit mehr zu reden. Der sonderbare junge Mann war aber auch ganz anders als der ehrlichen Bürger Kinder, welche fein sittig und anständig von der berühmten Leipziger Universität zurückkamen, keine Neuerungen mitbrachten, den Zopf nach der Mode trugen und den künftigen Amtmann oder Pfarrer oder Doctor in ernster Würde voraus andeuteten. Dies Alles versäumte der junge Candidat Richter; er trug sein Haar schlicht von dem Scheitel zurückgekämmt, kein Puder entstellte die natürliche Farbe desselben; man vermißte den steifen Jabot oder Busenstreif, und sah dafür mit Entrüstung einen altdeutschen Kragen vom offenen Hals zurückfallen; der graue Friesrock hatte keinen breiten Schooß, und das Auge blickte kühn und geistvoll in die Welt. Was sollte man von diesem sonderbaren Menschen denken?

Zwar hatte er schon seine Satiren: „Auswahl aus des Teufels Papieren“ und seine „Grönländische Processe“ geschrieben und drucken lassen; aber sein Witz, dessen schonungsloser Stachel die Schwächen und Vorurtheile so geschickt zu treffen wußte, machte, daß man ihn fürchtete, und die heilige Gluth seines Ernstes, der Götterfunke seiner Erfindungen waren entweder noch nicht gekannt oder nicht verstanden. Die süßliche Empfindelei der damals beliebten Lectüre hatte den Geschmack verdorben; er mußte sich erst durch eine neue Sprache, durch solche überwältigende Gedanken reinigen.

In Vielem zeichnete sich mein elterliches Haus aus; heiter und gastfrei stand es Jedermann offen, und mein Vater ward wegen seiner Rechtlichkeit sehr von dem benachbarten Adel geschätzt. Er machte oft in Handlungsgeschäften Reisen in größere Städte und hatte dadurch mehr Kunstsinn und eine freiere Lebensansicht gewonnen. Auch hatte er eine hübsche Bibliothek, besonders liebte er Geschichte und andere Bücher ernsten Inhalts, auch der fromme Gellert und Prediger Harms durften nicht fehlen. Ich erinnere mich noch des Vergnügens, wenn mir in meiner Kindheit erlaubt wurde, bei kleinem Unwohlsein in einem alten Geschichtsbuch zu blättern, in welchem die bunten Bilder deutscher Kaiser prangten, über deren Herrlichkeit ich alle Schmerzen vergaß.

Meine Mutter war eine schöne stattliche Frau; sie war von Natur heiter und arglos und bekümmerte sich wenig um das Urtheil der Welt, da sie selbst nur Gutes von Anderen dachte. Sie hatte einen sehr richtigen Verstand; da sie aber keine Gelegenheit gehabt hatte, ihn gründlich auszubilden, suchte sie bei ihren Töchtern diesen Mangel so viel als möglich zu ersetzen. Aber Hof bot freilich sehr mangelhafte Stätten des Unterrichts für Mädchen zu einer Zeit, wo dafür noch wenig gethan wurde.

Die Gebrüder Otto waren die Gespielen unserer Jugend und blieben uns immer freundlich zugethan; kamen sie von Leipzig in den Ferien, so war dies ein Fest bei uns ebenso als in ihrem Vaterhause. Der biedere Albrecht interessirte sich für meine ältere Schwester, und dies machte unser Verhältniß noch inniger.

Zu meinen näheren Bekannten gehörten noch Amöne Herold und Renate Wirth. Diese beiden begabten Mädchen zeichneten sich vor meinen übrigen Gespielinnen durch ihren Verstand und ihre Talente aus; erstere namentlich wußte uns durch ihre scharfe, fast beißende Auffassungsgabe sehr zu imponiren, während mein Herz mich mehr zu der weit jüngern, gemüth- und phantasievollen Renate zog. Die Winterabende gaben Veranlassung zu geselligerem Verein, besonders später nach Richter’s näherer Bekanntschaft, der die Seele und der Mittelpunkt unseres Kreises ward.

Bei einer gemeinschaftlichen Landpartie lernten wir diesen durch Christian Otto[3] kennen, der ihn uns als seinen besten Freund vorstellte. Meine Mutter bei ihrer großen Empfänglichkeit für alles Gute war von dem genialen Jüngling bezaubert, und sein glänzender Humor, in welchem sich zu zeigen er die Liebenswürdigkeit hatte, riß sie zu der lebhaftesten Bewunderung hin. Wie war dies auch anders möglich? Witz, Geist, Gedankenfülle, Empfindungsgluth sprudelten mit nie zu erschöpfender Fülle aus ihm; Alles ward von seinem mächtigen Geiste ergriffen, und wir fühlten, daß wir noch nie einen solchen Nachmittag verlebt hatten. Von nun an kam Richter in unser Haus, und wir wußten bei näherer Bekanntschaft nicht, ob wir mehr seinen Geist bewundern oder seinen Charakter lieben sollten. Kindlich bis zur Naivetät war er immer bescheiden, offen und gut. Liebenswürdig fremd in den gewöhnlichsten Dingen des Lebens, ließ er sich mit rührender Gutmüthigkeit den Spott über kleine Ungeschicklichkeiten gefallen; so scharf seine Feder und seine Worte treffen konnten, nie ward er wahrhaft verletzend, nie traute er Jemandem eine böse Absicht zu; sein heiterer, genügsamer Sinn nahm willig jede kleine Freude auf, und ihn ergötzte, was Andere oft kaum bemerkten. Für die Welt ward er ein Gegenstand der Bewunderung und des Ruhms, aber für diejenigen, die das Glück hatten, ihm als Jüngling nahe zu stehen, blieb er stets der Inbegriff des Edlen und Reinen!

Durch unsere Beschreibung ward mein Vater ebenfalls sehr begierig nach des seltenen jungen Mannes Bekanntschaft; ein Zufall wollte, daß er noch vor einem persönlichen Zusammentreffen mit ihm einen Brief von demselben erhielt, dessen Veranlassung und Inhalt zu bezeichnend ist, als daß er hier übergangen werden dürfte. Richter’s gefühlvolles, edles Herz wurde schnell von den Leiden Anderer gerührt, er war willig und bereit, allen Unglücklichen zu helfen; aber selbst noch in einer beschränkten Lage und mit den Schwierigkeiten kämpfend, die sich jeder ersten literarischen Laufbahn entgegenstellen, konnte er nur mit Mühe seine alte Mutter unterstützen und lebte selbst in Dürftigkeit; aber seine rege Theilnahme für Andere fand in seiner unübertrefflichen Feder ein sicheres Mittel, sein freundliches Mitgefühl zu bethätigen. Mein Vater, als wohlhabend und menschenfreundlich bekannt, erhielt folgenden originellen Brief von Richter:


 „Hochedelgeborner, Hochzuverehrender Herr Bürgermeister!

Hätte ich diesen langen Brief mit sympathetischer Tinte hingeschrieben, so wäre es überaus gut; denn Sie könnten ihn dann gar nicht lesen – statt daß ich jetzt bei der schwarzen unglaublich schlecht fahre. Gewis wird Ihnen nun der Brief (ich wollte darauf schwören) alles hinterbringen, was ich Ihnen verhalten wil. Er wird Ihnen – Sie können mir glauben – ohne Bedenken die Bitte verrathen, die ich im Namen meiner Mutter an Sie wagen wollen und die ich Ihnen wol nicht zu eröfnen brauche, da ich mich mit ihr geschickt schon zur h. Anna gewandt. Diese Heilige, die, wie die Katholiken glauben, sich mit der Vertheilung des Reichthums unter die Menschen abgiebt – sie ist sonach die allgemeine Kriegszahlmeisterin und gefället mir sehr wegen ihrer kontanten Zahlung – diese hab’ ich nämlich so angeredet: „Einen großen Gefallen thätest du mir und auch meiner Mutter freilich, liebe h. Anna, wenn du es so machtest und ihr, wie gesagt, zu dem Vorlehen von 20 fl. vom H. Bürgermeister Köhler verhälfest. Sie wird, um es dir noch einmal zu wiederholen, fast überal gedrückt, [185] verkant, verläumdet, und ohne Hülfe gelassen; mancher verschlimmert sogar ihre Lage heimlich, um die seinige zu verbessern, weil er ihr durch diese Verschlimmerung endlich ihren Garten abzunöthigen hoft. Es ist ja nicht das erste mal, daß du den H. Bürgermeister zu einem wohlthätigen Entschlusse bewegst. Ich thäte die Bitte selber, aber ich bin nur ein gemeiner Satirenschreiber und bin dabei zu närrisch angezogen; Du hingegen bist ein Frauenzimmer, und dem kann er es aus Höflichkeit weniger abschlagen, weil das schöne Geschlecht auch eine schöne und weithin entscheidende Stimme hat. Erscheine ihm im Traume oder in Gestalt einer Predigt, oder du kanst auch heute Abend zu ihm gehen und meine ganze Figur annehmen, indem Du ein Paar Beinkleider anlegst, einen runden Hut aufsetzest und Dein Haar verschneidest, so daß wahrhaftig jeder denkt, ich wär’ es leibhaftig.“ Ich habe es Ihnen aber vorausgesagt, daß dieser fatale Brief Alles verrathen würde.

Und ich glaube gar, er offenbaret es Ihnen auch, wie sehr ich Sie schäze: ich wil es aber nicht hoffen: denn es wäre zu unschicklich, jemand in’s Gesicht mündlich oder schriftlich zu loben, es müßte denn ein Frauenzimmer sein.

Am schlimmsten ist dies, daß er Ihnen einmal einen Besuch von mir geradezu weissaget, welches ich vor Ihnen bisher mit so vieler Mühe geheim zu halten gestrebet; denn man mus keinem Menschen eine Widerwärtigkeit dadurch nur noch schwerer machen, daß man sie ihm voraus verkündigt. So aber sehen Sie nun den ganzen Besuch zu Ihrem größern Misvergnügen völlig voraus. Inzwischen können Sie kek mit die Schuld auf drei gewisse vortreffliche Frauenzimmer schieben, die ich gesprochen habe und daher öfter zu sprechen trachte. So ziehen sich einige Leute Wespen und Bienen in die Sommerstube, wenn sie draußen vor dem Fenster gerade blühende und wolriechende Bäume stehen haben.

Verzeihen Sie mir den vielleicht zu scherzhaften Ton; ich bin demungeachtet mit ausnehmender Hochachtung

 Euer Hochedelgeboren

 gehors. Diener

Hof, d. 9. April 86. J. P. Richter.“

Man kann leicht errathen, ob dieser Brief eine gute Aufnahme fand. Mein Vater, welcher eine heitere Gesellschaft ebenso sehr wie meine Mutter liebte, übertrug mir lächelnd die Beantwortung, und da dies den Grund zu unserm spätern innigeren Verkehr mit Richter legte, so sei ihr ebenfalls ein Plätzchen vergönnt:

 „Mein Herr!

Meine Eltern beauftragen mich, Ihnen eine Bitte zu eröffnen, die ich, da keine Heiligen für mich sprechen, ohne Vermittlung an Sie richten werde; die Bitte, uns den morgenden Sonntag die Ehre Ihres Besuchs in Begleitung von Christian Otto zu schenken. Da aber mein Vater durch irgend einen Zufall erfahren hat, daß Sie in freundschaftlichen Verhältnissen zur h. Anna stehen, so bittet er Sie ferner, es bei dieser trotz ihrer Glorie in der Vertheilung der irdischen Güter oft etwas ungerechten Dame dahin zu bringen, daß sie ihren Fehler in diesem Fall wieder gut macht, und beifolgendes derjenigen Person zustellt, der sie es schon früher zuzutheilen vergaß.

Es ist eine für mein Geschlecht nicht schmeichelhafte Allegorie, daß man sowohl Fortuna selbst, als auch die Vertheilerin ihrer Gaben weiblich darstellt, als ob Unbeständigkeit und sonderbare Laune uns hiezu privilegirten; ich kann mich nur damit trösten, daß man auch die Gerechtigkeit, Liebe, Hoffnung und viele andere Tugenden in weiblicher Gestalt zu malen pflegt. Daher hoffe ich auch, daß bei einem Geschlecht, welches Sie morgen in starker Anzahl bei uns vertreten finden werden, gute und böse Eigenschaften in gleichem Verhältniß vertheilt sind, und daß Sie als Dichter und galanter Mann sich nur der ersteren erinnern werden.

 Ich verharre

 Ihre ergebenste

Hof, den 10. April 86. Helene K.“

Es begann nun in unserem Hause eine schöne genußreiche Zeit, an welche ich noch jetzt, nachdem alle Stürme des Lebens über mein Haupt gegangen sind und so viele schöne Erinnerungen entlaubt haben, mit süßer Wehmuth zurückdenke! Christian Otto war und blieb unter seinen Brüdern der innigste Freund Richter’s. Ohne die glänzenden Eigenschaften von diesem zu besitzen, hatte er doch alle Vorzüge, welche ihn seiner Freundschaft würdig machten; er liebte den genialen Jüngling tief und innig, sein ruhiges, besonnenes Urtheil und seine gründlichen Kenntnisse, welche ihn am liebsten zu tiefen Forschungen führten, waren die Veranlassung zu einer schönen Wechselwirkung ihrer verschiedenen Gaben. Richter liebte jenen um so mehr, je häufiger er Gelegenheit hatte, ihm Schonung und Nachsicht zu beweisen; denn Chr. Otto hatte eine etwas krankhafte, hypochondrische Natur; es kamen Tage des Trübsinns und der übeln Laune über ihn, wo er mit schonender Rücksicht und Freundschaft behandelt werden mußte, und Niemand verstand dies besser als Richter. Immer wußte er ihn zu erheitern und zu zerstreuen, durch ein Buch, einen Spaziergang, zuweilen auch durch einen Besuch bei uns. Hier siegte bald die gute Laune der Jugend über alle hypochondrischen Gedanken; es fanden sich dann außer Richter und den drei Brüdern Otto noch einige andere interessante junge Männer ein, auf die ich später zurückkommen werde, und von den jungen Mädchen nenne ich nur Renate und Amöne, Beide bekannt aus des Dichters eigenem Munde, Beide witzig, klug, belebend und bestimmt, auf das Leben der Brüder Otto entscheidend einzuwirken. Wir Alle waren jung, lebensfroh, zufrieden; wir ergötzten uns an Gesellschaftsspielen, bei welchen das witzige Schreibespiel obenan stand, und die reinste Heiterkeit herrschte in unseren Abendcirkeln, die oft in den verschiedenen Häusern wechselten.

Richter arbeitete mit bewunderungswürdigem Fleiße. In der stillen Hollunderlaube des kleinen idyllischen Häuschens am Schloßplatz entstanden viele jener Blätter, welche sich bald zu dem reichen Kranz des Ruhms winden sollten, der das Haupt des gefeierten Dichters schmückte. Was wir theilweise schon jetzt davon kennen durften, gewährte uns jenen erhöhten Genuß, welchen das Interesse giebt, einem schaffenden Genius persönlich nahe zu stehen, ein Interesse, welches in einer eitlen, aber verzeihlichen Täuschung sich herausnimmt zu glauben, man könne das bewunderte Geheimniß in seiner verborgenen Werkstatt belauschen.


Ein Blick in die Geschichte der Pflanzen.
Von Berthold Sigismund.
1. Gemüsepflanzen.


Der schlichteste Küchengarten erscheint einem sinnigen Menschen, der das Bedeutungsvolle auch im Alltäglichen zu erkennen weiß, als eine gewichtige Stätte, aus welcher die Culturgeschichte schöne Denkzeichen ihrer edlen Siege aufgestellt hat.

„Jegliches Land wird Alles erzeugen,“ so prophezeit ein römischer Dichter vom goldenen Zeitalter. Wenn man unsere Kunstgärten mit ihren Palmenhäusern berücksichtigt, dürfte man fast sagen, diese Weissagung habe sich erfüllt; ein einfacher Gemüsegarten berechtigt wenigstens zu dem Ausspruche, daß unser Land alle fremden Pflanzen, an denen uns ernstlich gelegen sein kann, schon jetzt hervorbringe, denn wir besitzen in den Gärten eine Art Blumenlese von den besten, zur Ernährung und Labung dienenden Pflanzen aller Länder.

Betrachten nur zunächst die Pflanzen, welche die Heimath dem Gemüsegarten geliefert hat. Im grauen Alterthum war, wie es noch jetzt bei armen Gebirgsbewohnern der Fall ist, Feld und Wald das Gemüsebeet. Von der beträchtlichen Zahl der wilden Pflanzen, welche noch heute bei vielen tausend Deutschen die Stelle des Kohls, Salates und sonstiger Zukost vertreten, sind nur wenige unter die Auswahl der Gärten aufgenommen worden. Dazu gehört die Möhre (gelbe Rübe oder Carotte) und die Pastinake, zwei Doldenpflanzen unserer Wiesen; die Cichorie, die mit ihren azurblauen Vereinsblumen als „Wegwarte“ die Raine schmückt; das Salatrapünzchen unsrer Aecker; das Löffelkraut und die Stammpflanze des Kohls, deren Heimath die Nordseeküste ist. Wir wissen nicht, wer diese Wildlinge zuerst als anbauwürdig erkannt und gepflegt hat; die [186] Geschichte meldet leider mit Vorliebe die Namen von Kriegern und läßt oft die Namen stiller Wohlthäter, welche der Menschheit dauernde Vermächtnisse gestiftet haben, in Dunkelheit versinken.

Wie hat die menschliche Pflege die heimischen Kinder der Wildniß zu veredeln gewußt! Der holzige Wurzelstock jener Doldenpflanzen ist in saftiges, schönfarbiges Rübchen umgewandelt; die unansehnliche wilde Kohlstaude hat eine große Reihe edler Spielarten getrieben, von denen sich jede durch besondere löbliche Eigenschaften hervorthut. Man wundert sich mit Recht über die mannigfaltigen Farben, mit denen in den Gärten die Aster und Georgine prangt; aber fast noch mehr Verwunderung sollten die Umwandlungen der Kohlpflanze erregen. Ihre Blätter zeigen fast alle Farbenstufen vom Weiß an durch das lichteste Grün bis zum Purpur und Veilchenblau, und die Formen der Stengel und Blätter erinnern an die phantastischen, umschnörkelten Masken, in denen die Tonkünstler eine einfache Melodie als immer neue und doch verwandte Variation erscheinen lassen. Man bedenke nur, daß das Kopfkraut (der Kabis), der Krauskohl, der Kohlrabi, der Spargelkohl und der Blumenkohl einer und derselben Mutterpflanze entstammen. Wie viele tausend Generationen der Abkömmlinge des wilden Kohls mußten blühen und fruchten, ehe durch zufällige und absichtliche Einwirkungen alle jene Spielarten entstehen konnten! Wie viele Gärtner verschiedener Länder mußten zusammenarbeiten, um dies Ziel zu erreichen! Der Blumenkohl scheint durch seine Empfindlichkeit gegen die Kälte anzudeuten, daß er eine in südlichen Ländern entstandene Abart ist; wahrscheinlich haben sich die Gärtner der sämmtlichen gebildeten Völker in die Ehre zu theilen, das schlichte Kind des Seestrandes ausgebildet zu haben. Von andern einheimischen Kohlpflanzen hat sich fast nur der Gemüseampfer (Rumex Patienta) in den Gärten erhalten, der Erdbeerspinat (Blitum) ist fast verschollen.

Neben diesen Gemüsepflanzen enthält der Küchengarten einige einheimische Gewächse, die man dem Obste beizählen muß. Die Johannisbeere und Stachelbeere scheinen erst spät im Mittelalter in die Gärten eingeführt worden zu sein, in England werden die letzteren mit dem Schlusse des 16. Jahrhunderts zuerst erwähnt. Die an unsern Felsen wild wachsenden Stachelbeersträucher tragen eine zwar süße, aber kleine, unansehnliche Frucht; der Gartenpflege, namentlich der Engländer, ist es gelungen, vierhundert Spielarten zu erzielen, deren Früchte an Größe und Schönheit die wilden Beeren außerordentlich übertreffen; dagegen hat man die schönblühenden amerikanischen Stachelbeersträucher bisher nicht zur Hervorbringung schmackhafter Früchte bringen können. Die Erdbeere wird kaum so lange Zeit in den Gärten gezogen wie die Stachelbeere, und welche Fülle neuer Spielarten hat sie nicht schon getrieben! Duftige Früchte von der Größe der Flintenkugeln erregen kaum noch Erstaunen. Die Himbeere, schon in den römischen Garten zur Kaiserzeit aufgenommen, hat sich bei weitem nicht so bildsam erwiesen. An die Gartenpflege mancher anderen wilden Obststräucher, wie der Brombeere, der Felsenmispel (Aronia), der Heidel- und Preiselbeere, scheint noch Niemand gedacht zu haben; vielleicht machen dereinst ausgewanderte Deutsche, die in fremden Erdtheilen diese Lieblinge ihrer Kindheit ungern missen, damit den Anfang.

Die bisher genannten, ursprünglich in Deutschland wachsenden Gartenpflanzen bilden nur einen kleinen Theil unserer Pfleglinge; wie sind wir in Besitz der aus fremden Ländern stammenden gekommen? Leider sind für viele Einwanderer die geschichtlichen Nachrichten verloren; wir finden die eine oder die andere fremde Pflanze in alten Urkunden gelegentlich erwähnt, aber ohne Näheres über die Zeit ihrer Einführung und über ihre ersten Pfleger zu erfahren. Karl der Große, der den Gartenbau liebte und beförderte, baute auf seinen Gütern Erbsen und Bohnen, gelbe Rüben (carruca) und Gurken. Auf den mittelalterlichen Speisezetteln von Festschmäusen spielten die Gemüse eine sehr untergeordnete Rolle, wahrscheinlich verstand man die Erziehung der feineren Küchenpflanzen nur unvollkommen. Zur Zeit der Hohenstaufen waren (nach Raumer) fast alle jetzt gepflegten Gemüsepflanzen in den „Krautgärten“ zu finden. Woher hatten nun unsere Altvordern ihre ausländischen Zöglinge erhalten?

Einzelne Culturpflanzen, z. B. (nach Wachsmuth), den Rettig, hatten die Germanen wohl schon aus ihrer Urheimath in Asien mitgebracht; weitaus die meisten jedoch bekamen sie von ihren Feinden, den Römern. Die deutschen Namen vieler Küchengewächse verrathen durch ihren Klang das Land, von welchem aus die Fremdlinge zunächst nach Deutschland kamen. Das Wort Lattich (Salat) stammt von lactuca, d. i. Milchsaftpflanze; Gurke oder Kukumer kommt von cucumis, Zwiebel (im Voksmunde Zepel) von cepa, Fasel (mundartlich für Bohne) von phaseolus, Porree von porrum, Petersilie von petroselinum, d. h. Felseneppich.

Die meisten unserer Gemüsepflanzen finden sich schon vor Christi Geburt in den römischen Gärten. Virgil und der spätere Columella beschreiben die Zucht des Kohls, der Zwiebel und des Knoblauchs, der Petersilie und Bohne, des Salats und Rettigs, der Gartenmohne, des Kürbis und der Gurke, welche das tägliche Leibgericht des Kaisers Tiberius war, ohne eine dieser Pflanzen als etwas Neues zu bezeichnen.

Manche dieser Gewächse mögen schon durch römische Soldaten und Ansiedler über den Rhein in’s Innere Deutschlands gekommen sein; andere wurden durch Mönche, namentlich die Benedictiner, welche den Gartenbau als Liebhaberei betrieben, eingeführt, einzelne sind vielleicht erst durch deutsche Krieger oder durch Handelsleute über die Alpen heimgebracht worden.

Eine ansehnliche Zahl unsrer Gemüsepflanzen sind in den um das Mittelmeer gelegenen Ländern heimathberechtigt. Indeß folgt daraus nicht, daß den Römern das Verdienst des ersten Anbaues gebührt; vielmehr haben diese gewiß den Unterricht älterer Culturvölker genossen. Dies ist bei mehreren Pflanzen, z. B. bei dem Porree, der bei den Aegyptern in göttlichem Ansehen stand und von den Juden und Griechen angebaut wurde, vollkommen erwiesen. Der Mangold, die Stammpflanze der Runkelrübe und rothen Rübe, wächst wild am Seestrande Griechenlands und wurde schon von den alten Hellenen gepflegt. Der Sellerie, als Wildling eine bittere, ungenießbare Meerstrandpflanze, die – wie ihr Name andeutet – den salzigen Boden liebt, wurde von den Griechen, die den Genuß desselben für glückbringend hielten, in Zucht genommen. Die Artischocke ist eine im südlichen Europa wild wachsende Distel. Der Spargel, der nunmehr bei uns als verwildert betrachtet werden darf, ist eine Ufer- und Strandpflanze des südlichen Europa; die Petersilie wächst wild in den macedonischen Gebirgen und war schon bei den Alten geschätzt. Auch andere Gewürzkräuter, wie der Majoran, das Bohnenkraut (Satureja), der Fenchel und Dill wachsen um das mittelländische Meer wild. Die Skorzonere, die jetzt nur selten in deutschen Gärten gehegt wird, stammt ebenfalls aus Südeuropa; der Meerrettig hat (nach Unger’s Angabe) seinen Ursitz im südlichen Rußland, der gemeine Rettig kommt wild in Südeuropa vor.

Neben den genannten Küchengewächsen enthalten unsere Gärten eine Reihe anderer, die nicht auf der italienischen und griechischen Halbinsel, sondern in weiter nach Osten gelegenen Ländern ihre Heimath haben, aber größtentheils schon von den Römern gepflegt wurden. Den Griechen und Römern unbekannt war der wahrscheinlich in Persien heimische Spinat, der seit unvordenklichen Zeiten auch in Gärten gebaut wird; durch welche Vermittlung er nach Europa gekommen, ist unbekannt. Die Schalotten-Zwiebel, die nach der syrischen Stadt Askalon benannt ist, soll in den Kreuzzügen nach Europa gebracht worden sein.

Die übrigen nun zu nennenden östlichen Gemüse- und Gewürzpflanzen, von denen einzelne nunmehr auch im freien Felde gebaut werden, hatten sich schon die Römer angeeignet.

Die Hülsenfrüchte, die wir genießen, sind sämmtlich Kinder des Ostens. Die Buffbohne (Vica faba), ursprünglich wohl am kaspischen Meere zu Hause, wurde schon von den alten Israeliten gebaut und von Griechen und Römern sehr werthgeschätzt; bei den ersteren wurde sogar ein besonderer Bohnengott, Namens Kyanetes, in einem Tempel verehrt und in Athen mit „Bohnenfesten“ verherrlicht. Bei den Aegyptern dagegen galt diese Bohne für unrein, und wohl in Folge dieses Aberglaubens wurde sie den Pythagoräern verboten. Die Schminkbohne, hier und da arabische Bohne genannt (Phaseolus), stammt nach einigen Angaben aus dem westlichen Asien, nach andern aus Ostindien; ihre Empfindlichkeit gegen die Kälte macht die letztere Annahme zur wahrscheinlichsten. Die Linse wächst wild am Kaukasus, und findet sich als Culturpflanze bei den alten Aegyptern, Israeliten und Griechen; bei uns wird sie jetzt fast nur im freien Feld angebaut. Auch die Erbse scheint in der Umgegend des schwarzen Meeres ursprünglich zu Hause zu sein, auf der Halbinsel Krim soll sie noch wild vorkommen; ihre Kältescheu dürfte eher für eine wärmere Heimath, vielleicht Indien, sprechen. Sie wurde von Griechen und Römern gepflegt und muß, [187] da sie in der uralten Sanskritsprache einen Namen hat, in Indien seit unvordenklicher Zeit die Pflege des Menschen genossen haben.

Unser Gartensalat wird als Abart des in den Kaukasusländern heimischen, jetzt fast in ganz Deutschland verwilderten Lattichs (Lactuca scariola) betrachtet, dessen Milchsaft nicht, wie der seines nächsten Verwandten (Lactuca virosa), giftig wirkt. Schon die Perser zu Kambyses’ Zeit genossen den Salat; bei den alten Griechen und Römern stand er in hohem Ansehen, Virgil singt von ihm, daß er „die edleren Schmäuse beschließe.“ Bei uns ist er zur sommerlichen Alltagsspeise geworden, welche die Melonen der Südländer ersetzt. Die Endivie, unserer Cichorie ganz nahe stehend, scheint aus Ostindien zu stammen und ist in China urväterliches Salatkraut. Die Gartenkresse, deren schnell keimenden Samen Liebende zu grünen Namenszügen erwachsen lassen, um später die herben Blättchen zu verspeisen, wächst wild auf der in alter Zeit der Liebesgöttin geweihten Insel Cypern. Der nicht so häufig als Salat gegessene Boretsch ist auch ein Orientale.

An die Salatpflanzen reiht sich passend die Gurke an. Von ihr und ihren Verwandten, dem Kürbis und der Melone, kennt man zwar – wie auch von den meisten Hausthieren – die ursprüngliche wilde Stammart nicht mehr; man weiß aber, daß alle drei im warmen Morgenlande zu Hause sein müssen, weil sie sehr früh von den Asiaten angebaut worden sind und ihr kältescheues Wesen nicht haben ablegen können. Die alten Israeliten, welche die Wassermelonen in Aegypten kennen gelernt hatten, zogen Kürbisse und Melonen (sprüchwörtlich sind die Kürbisse des Jonas geworden); auch bei Griechen und Römern wurden diese Gewächse gepflegt, letztere erzogen die Gurken schon in Mistbeeten.

Von Wurzelspeisen hat Asien den Gärten nichts geliefert, als das aus China stammende Radieschen, welches indeß, zugleich mit seinem europäischen, minder sanften Vetter, dem Rettig, in den Augen der Biertrinker alle andern Wurzeln überwiegt. Als Kohlpflanze hat Asien die Gartenmelde bescheert, die aus der Tatarei stammt und jetzt hier und da in Deutschland verwildert ist.

Am reichsten hat uns der Erdtheil, der auf seinen Inseln und Halbinseln Pfeffer, Zimmt, Muscat und Nelken erzeugt, mit Gewürzpflanzen versorgt. Zur Verfeinerung des Gebäcks liefert Asien den Nebenbuhler des bei uns wild wachsenden Kümmels, den Anis; zur Würzung des Essigs und Senfs den aus der Tatarei und Sibirien stammenden Estragon, einen nahen Verwandten unserer Gänsebratenwürze, des Beifußes; als stechendes Reizmittel, das vielen Zungen gerade deshalb zusagt, weil es wie ein Zerrbild unschön, aber reizend ist, lieferte Asien die mancherlei Lauch- und Zwiebelarten. Die Griechen waren schon im Alterthum so leidenschaftliche Knoblauchesser, wie sie es jetzt im Wetteifer mit den Spaniern sind. In Aegypten war der Genuß des Lauchs und der Zwiebeln den Isispriestern verboten; die gemeinen Aegypter müssen aber gewaltige Liebhaber dieser Speisen gewesen sein, wenn auch an Herodot’s Angabe, daß bei dem Baue einer einzigen Pyramide an Knoblauch, Zwiebeln und Meerrettig für mehr als zwei Millionen Thaler verzehrt worden sei, einige Nullen überschüssig sein mögen. Der Knoblauch scheint sein Heimathland in den ungarischen Steppen zu haben. Die Zwiebel findet sich nicht mehr im wilden Zustande, stammt aber jedenfalls aus Asien.

So hat uns denn die geschichtliche Betrachtung der Gemüse weit über Italien und über die Römerzeit hinausgeführt. Die Römer, denen wir zunächst die meisten der bisher genannten Gartenpflanzen verdanken, waren wohl nur für wenige die ersten Anbauer; aber sie behalten das Verdienst, bei ihren Eroberungszügen und Handelsfahrten, die Unheil genug geschaffen haben, die Verbreiter der Errungenschaften alter Culturvölker geworden zu sein.

Es scheint nicht, daß Afrika darauf Anspruch machen dürfe, die Urpflegerin einer Gemüsegarten-Pflanze zu sein, obgleich wahrscheinlich manche der den südlichsten Ländern Europa’s entlehnten Küchenkräutern auch am Nordrande des Atlas wild wachsen. Sicher steht, daß Neuholland, dessen arme Urbewohner von der Natur weder ein Hausthier, noch eine dankbare Culturpflanze zum Angebind erhielten, in unsern Gärten keinen Vertreter besitzt.

Amerika hat uns nur wenige Arten von Nahrungspflanzen, darunter aber eine geliefert, die so massenhaft angebaut und genossen wird, daß man ihre Knollen schon lange nicht mehr als Zukost und Gemüse, sondern als einen mit dem Getreidemehle gleichberechtigten Nahrungsstoff bezeichnet. Noch vor 100 Jahren waren die Kartoffeln indeß bei uns noch eine Gartenpflanze, was sie auch jetzt in den armen Dörfern des Erzgebirges und im nördlichen Scandinavien ist, und zwar meist als alleiniger Inhaber aller Beete. Auch sie liebt, gleich dem Mangold, Sellerie, Kohl und Spargel, als Wildling die Nähe des Meeres, sie wächst ursprünglich auf felsigem Boden längs der Küsten von Peru und Chili. An Zahl der Spielarten übertrifft sie alle andern Knollengewächse.

Außer diesem mehr als irgend eine Gartenpflanze von weltgeschichtlicher Bedeutung gewordenen Knollengewächse hat uns Amerika noch zwei Wurzelgewächse dargeboten, die indeß kein großes Glück gemacht haben. Die aus Peru stammende Erdbirne (Topinambur), die Schwester der Sonnenblume, ist wegen der Fadheit ihrer wäßrigen Knollen nunmehr fast aus den Gärten verschwunden und wird nur als Viehfutter auf dürren Feldern gezogen; die andere, die schön blühende Nachtkerze oder Rhapontik (Oenothera) ist dermaßen in Ungnade gefallen, daß sie in den Gärten wohl gar nicht mehr gefunden wird, dagegen ist sie als Gartenflüchtling an Straßenrändern und auf Flußgeröllen verwildert.

Der Mais, dessen unreife Körner in Nordamerika als Gemüs anstatt der Zuckererbsen genossen werden, tritt in unsern Gärten nur als Zierpflanze auf.

Von Gewürzpflanzen hat uns Amerika blos den spanischen Pfeffer dargeboten, dessen brennenden Geschmack indeß die Deutschen nicht so lieben, wie die Engländer, welche sich dieses wahrhaft feurige Gewürz in ihren Colonien angewöhnt haben mögen.

Damit hätten wir denn unsere geschichtliche Heerschau im Gemüsegarten beendigt und überlassen es dem stillen Nachdenken des Gartensfreundes, sich in Betrachtungen über all die weltgeschichtlichen Ereignisse zu versenken, welche vorhergehen und zusammenwirken mußten, um unsere Gartenbeete zu einer solchen Prachtsammlung von Leckerbissen zu erheben. Wir sehen Chinesen, Perser, Aegypter, Griechen und Römer als thätige Gärtner; wir erkennen, wie Kriegszüge und Ansiedlungen von Missionaren und Mönchen, wie tausend Entdeckungsreisen und Handelsfahrten nöthig waren, um alle die Fremdlinge zusammenzubringen, die wir jetzt auf deutschem Boden erziehen; wir beobachten, daß nicht nur die Lust am Neuen, sondern auch religiöse Satzungen, z. B. die Fastenzeit, die Zahl der Culturpflanzen gemehrt, aber auch gewisse Pflanzen in Verruf gebracht haben; zum Schlusse verfolgen wir mit Antheil die Wanderungen, welche unsere einheimischen und eingeführten Gemüsepflanzen in neuester Zeit über die ganze Erde machen. Am Cap der guten Hoffnung, in Brasilien, in Nordamerika, in Australien, wo sich nur irgend europäische Ansiedler niedergelassen haben, werden die meisten unserer Küchengartenpflanzen angebaut. Manche freilich, z. B. die Erdbeeren und Himbeeren, gedeihen in heißen Ländern nicht; die meisten dagegen sind wahre Allerweltspflanzen und kommen, mit Ausnahme der Polargegenden, überall fort. Ein vorzügliches Gemüseland scheint Californien werden zu sollen; auch Südaustralien läßt unsere Gemüse vortrefflich gedeihen; es klingt gar befremdend, wenn man im Haushaltungskalender für Adelaide liest: „Im October lege Bohnen und Gurkenkerne; im December säe Blumenkohl.“

Zuletzt regt sich in dem, der in der traulichen Gartenlaube die Geschichte der Gärten erwägt, noch die Lust, in die Zukunft zu blicken. Werden, so fragt man sich, unsere Gemüsebeete noch wesentliche Bereicherungen erfahren? Es scheint nicht so. Was die gemäßigten Erdgürtel an dankbaren Pflanzen bieten, ist seit uralter Zeit in unsere Gärten aufgenommen; die tropischen Gemüsepflanzen dagegen haben bis jetzt keine so ausgezeichneten Vorzüge geoffenbart, daß man an ihre im Erfolge zweifelhafte und jedenfalls große Kunst und Mühe erfordernde Zucht denken möchte. Unsere seit Jahrhunderten gebauten Gemüse- und Obstpflanzen liefern ja für jede Tonart des Geschmacks so treffliche Vertreter, daß wir keinen Grund haben, uns nach andern umzusehen. Selbst die Ananas, die als Leckerei für vornehme Tafeln in manchen Warmhäusern gezogen wird, möchten wir nicht gegen die Erdbeere vertauschen.

[188]
Die schwedische Gräfin auf der Kunitzburg bei Jena.
Ein Mysterium.


Das Geheimnißvolle sammt seiner ihm innewohnenden Poesie hat in unsern modernen Polizeistaaten keinen Aufenthalt mehr. Und wenn auch einmal eine „wunderbare“ Persönlichkeit auftaucht, schnobernd und schnuppernd wird sie von der Polizei alsbald überall umgangen, gewaltsam ihr der Nimbus und die Glorie vom Haupte gerissen, bis das Wer? und Woher? seine urkundliche sichere Antwort gefunden, und so geschieht es denn freilich auch wohl, daß aus dem reichen Lord oder dem polnischen Grafen ein simples, aber pfiffiges – Schneiderlein sich entpuppt.

Vor Zeiten – noch just vor dem deutschen Bundestag – war es anders. Da konnte sich noch so mancher Schmerz hinaus in den Wald oder hinauf auf den Berg ein stilles abgeschiedenes Häuslein bauen und brauchte nicht zu fürchten, von einem Steuern und Abgaben heischenden Executor quartaliter an seinen unlösbaren Zusammenhang mit der Welt erinnert zu werden.

So vergönnt mir denn auch, Euch von dazumal eine recht mysteriöse Geschichte zu erzählen.

Im Frühjahre 1812 – also zu einer Zeit, wo es überhaupt recht dunkel und schwer über den deutschen Landen lag und jeder brave Mann im Vaterlande mit seinen eigenen Gedanken und mit dem Kummer in seinem Herzen genug zu thun hatte, als daß er noch hätte links und rechts auf seinen Nachbar schauen können, – im Frühjahr 1812 an einem Sonntag Nachmittags trat der alte Förster Blaufluß in die Schenke zu Golmsdorf – einem auf dem rechten Ufer der Saale, eine Stunde von Jena liegenden Flecken – und meldete den dort nach Feiertagsbrauch versammelten Bauern, daß eben die schwedische Gräfin auf dem Gleißberge angekommen sei. Das hatte er nämlich schon vor einiger Zeit erzählt, daß eine „berühmte schwedische Gräfin“ in die Gegend kommen werde, daß er bereits von seinem Oberförster Anweisung erhalten, auf dem Gleißberg hinter der Kunitzburg derselben 24 Acker Holz zum Umroden abzumessen. Wie aber diese fremde Gräfin hieß, woher sie komme, was sie hier mitten im Walde wolle, das hatte man ihm nicht gesagt, so sehr auch seine persönliche Neugier nach Beantwortung dieser Fragen getrachtet, kurz er wußte nicht mehr, als es sei eben eine schwedische Gräfin, welche sich dort niederlassen wolle.

Nur das hatte er von seinem Vorgesetzten noch erfahren, daß die Anweisung des Landes unmittelbar von dem Herzog in Weimar, von Karl August, ausgegangen war, und daß derselbe auch ihm und den Schultheißen von Golmsdorf und Kunitz Befehl ertheilt hatte, dem Aufenthalte und dem stillen Treiben der Fremden keinerlei Hinderniß in den Weg zu legen. Soviel erzählte denn auch der Förster – und von Tisch zu Tisch ging der Ruf: „die schwedische Gräfin ist da!“ Ob man auch nicht mehr als diesen Namen wußte, so war es doch, als wäre sie eine längst Bekannte und längst Erwartete.

So war sie also angekommen, nicht im Glanze und Prunke einer Fürstin, nicht mit reichem Gefolge – was hätte sie damit beginnen sollen droben auf der verfallenen Ritterburg, deren verwitterte Fensterhöhlen ein Asyl des Sturmes geworden, oder gar in der tiefen Waldeinsamkeit, in welche sie sich begeben wollte? – sie war allein mit einer einzigen Dienerin und ihrem, wie man sagte, Sohne, der eben in die Jahre des Jünglings getreten schien. Dagegen machte auf Jeden, der sie jetzt oder in der Folge sah, auch ohne jenen Schmuck, die Hohheit ihrer einfachen Erscheinung den entschiedenen Eindruck einer wenn nicht fürstlichen, doch mindestens vornehmen Abkunft.

Es war eine hohe, majestätische Gestalt, in vornehmer Haltung und zugleich Zurückhaltung, mit bleichem Gesichte, schönem Auge und dunkeln Haare.

Und so einsam, wie sie gekommen, so einsam wollte sie auch bleiben.

Hoch über dem Dorfe Kunitz, eine Stunde von Jena, am rechten Ufer der Saale hebt sich aus dem waldigen Hintergrunde wie ein kahler Scheitel vorgeschoben der steile Gleißberg. Nur mühsamem Klimmen über das Gerölle des Felsens gelingt es, den Gipfel zu erreichen und sich dann belohnt zu sehen mit einer herzerquickenden Aussicht in das anmuthige Thal der Saale zwischen Jena und Dornburg, was sie dort die weimarische Schweiz heißen, und mit einem Blicke hinüber auf das Schlachtfeld von Anno 1806. Droben aber stehen die verwitterten Zeugen mittelalterlicher Romantik, hohe Mauern mit weiten Fensterbogen, sturmumpeitscht, zerborsten und zerfallen, einst wohnliche Hallen starker Männer und zarter Frauen. Das edle, aber in der „kaiserlosen“ Zeit entartete Geschlecht der Herren von Glißberg thronte einst hier, zuletzt friedlicher Landstraße gefürchteter Schrecken, bis die eherne Hand des ersten Habsburgers sie darnieder warf und unter dem Schutte ihrer Veste begrub. Aber nicht auf die Grabstätte dieses Geschlechtes, nicht vornhin am Gipfel, mit dem Blicke hinab in das blühende Leben des Thales, wollte sich die fremde Frau mit dem Geheimniß ihres Herzens flüchten, nein, tiefer hinein in die schweigende Wildniß des Waldes zog es sie. Noch jetzt heißen sie die Stätte ihres Asyls „die schwedischen Plätze“. An dieser ihr zugewiesenen und von ihr acquirirten Stelle, nachdem dieselbe zum Theil schon vor ihrer Ankunft umgerodet und bestellbar gemacht worden war, begann nun die Frau ein Breterhaus bauen zu lassen, und das Feld mit allerhand Früchten, mit Korn, Weizen und Gerste zu bestellen. Allmählich fing sich die kleine abgeschlossene Pflanzung à la Robinson an zu vermehren und zu vervollkommnen. An der Stelle des Breterhauses entstand ein kleines einstöckiges Wohnhaus mit Stallung. Hühner, Ziegen und ein Kälbchen bildeten einen kleinen Viehstand, eine Scheune erhob sich neben dem Wohnhäuschen. Ein Esel mußte die Bedürfnisse der kleinen Wirthschaft aus den am Fuße liegenden Dörfern Kunitz und Golmsdorf holen, von dorther holte das Mädchen mit Hülfe desselben auch das Wasser. Dieses Mädchen war es aber allein, welche den Verkehr mit den Menschen, mit der Außenwelt vermittelte. Ihre Gebieterin verließ in der ganzen Zeit ihres Aufenthalts nie die Holzung, sie betrat nie die Stätten der Menschen. Jene aber sprach eine den Leuten der Umgegend unverständliche Sprache, sie konnte sich nur mühsam und allmählich verständigen. Der Sohn aber entfernte sich fast nie von der Seite seiner Mutter. Er beschäftigte sich mit dem Ausbau und der Verschönerung des Hauses oder fertigte Holzschnitzereien. Es war ein stiller träumerischer Mensch. Wenn der Herzog Karl August in der dortigen Gegend jagte, so kehrte er in dem Häuschen ein und hatte oft lange Unterredungen mit der Frau, bei welchen sorgfältig alle Zugänge zum Häuschen, ja selbst die Fenster verschlossen wurden. Für ihn war das Geheimniß ihres Wesens und ihres Herzens gewiß geoffenbart, für die ganze andre Umgebung war und blieb die Person ein Mysterium. Für alle war sie aber nur die schwedische Gräfin – eine Gräfin und aus Schweden stammend. Mehr wußten sie nicht.

Die Frau blieb in ihrer Wildniß bis zum Herbst des Jahres 1813, bis daß sie bei Leipzig Napoleon auf’s Haupt schlugen und in Paris einzogen. Da war die Fremde plötzlich verschwunden, rasch, wie sie gekommen. Auch der Sohn war fort, nur die angebliche Magd blieb noch eine Zeit lang da und führte die Wirthschaft wie zuvor. Von ihr aber erfuhren die neugierigen Frager der Gegend, daß die Entschwundene nach Wien gegangen sei auf den Congreß. Von der einsamen Höhe auf dem Gleißberg zu dem Wiener Congreß, mitten in den Centralpunkt der Weltgestaltung!

Und wäre es vorher nicht schon klar gewesen, so wäre es jetzt geworden, daß die Fremde keine gewöhnliche Erscheinung war. Sie mußte eine Ebenbürtige sein des Geschlechtes, das unter den verfallenen Zinnen begraben lag. Das Interesse, welches die Anwesende erregte, es wurde noch lebhafter angeregt für die Verschwundene. Wer war die Frau?

Jetzt nach fünfzig Jahren seit ihrem Waldasyle steht hinter diesem Fragezeichen immer noch eine leere Stelle. Sollen wir dem Volksmunde glauben, der die Frau zu einer schwedischen Gräfin stempelte? Wir sind allerdings darauf angewiesen, und die schwedische Geschichte, die Geschichte der schwedischen Dynastie kurz vor jener Zeit des Auftretens der Frau schließt diese Möglichkeit keineswegs aus. Nach Allem war es nicht die Liebhaberei eines Sonderlings, welche diese fremde Frau antrieb, das Geheimniß des Waldes zu suchen und vor den Menschen sich zu bergen. Es war eine von den Verhältnissen gebotene erzwungene Resignation. Vor diesem Entschlusse mußten bittere Lebenserfahrungen liegen, vielleicht ein glänzendes, sonniges und plötzlich in öde Nacht gekehrtes Leben. Es war eine Flüchtende, Verbannte, welche vor der Welt floh.

[189] In Schweden aber hatte im Jahre 1809 das Volk seinen König verbannt. Am 13. März erklärte der General Adlerkreuz dem König Gustav IV. auf dessen eigenem Schlosse zu Stockholm: er verhafte „ihn im Namen der Nation“. Der König greift zwar zum Schwerte, um es gegen den kecken Soldaten zu ziehen, aber es wird ihm entwunden; Verschworene stürzen hinzu; es entspinnt sich ein Kampf, bei welchem der König entrinnt, aber von seinen eigenen Bedienten ergriffen wird. Die Nation setzt dann ihren eigenen König gefangen, und derselbe schreibt, ihrem Willen gehorchend, eine förmliche Abdankungsurkunde. Mit einem Jahrgehalte begnadigt verläßt er im December 1809 in Begleitung seiner Gemahlin und seiner vier Kinder sein Reich, geht zuerst nach Deutschland, von dort nach der Schweiz und Ende des Jahres 1810 nach England. Unerwartet erschien er indeß im Jahr 1811 wieder auf dem Continent, betrat, nur von einem Kammerdiener begleitet, die Westküste des Herzogthums Schleswig, wie sehnsüchtig ausschauend nach dem Lande seiner Väter und seiner Herrschaft, eilt wieder nach der Schweiz, trennt sich wieder von seiner Familie und läßt im Februar 1812 seine Ehe förmlich aufheben. Zur Zeit des Wiener Congresses tritt auch er dort wieder auf und sucht die Rechte seines Sohnes zur Geltung zu bringen.

Sollten die Fäden dieses königlichen Schicksals in Verbindung stehen mit denen des Schicksals der einsamen Frau, der Frau, die gerade in dem Jahre der Verbannung des Schwedenkönigs auftauchte? Der Vermuthung ist hier der größte Spielraum gegönnt, aber der Gewißheit fehlt es an fast allen Beziehungen, denn auch bis in die kleinsten Beziehungen herrscht Dunkelheit. Selbst das Verhältniß der Frau zu dem Knaben und zu dem Mägdedienste versehenden Mädchen ist ein dunkeles. Die Welt hielt auch die letzte, welche Amélie hieß, bald für ihr Kind, bald glaubte sie wieder in dem gegenseitigen Benehmen derselben keine Beziehungen zu finden, welche auf das innige Band hinwiesen, das zwischen dem Herzen einer Mutter und eines Kindes natürlich besteht: das Mädchen, das – gewiß auch gegen das Muttergefühl – allein noch blieb, wurde bald kränkelnd, verließ die einsame Pflanzung im Walde und fand in Jena im Hause des Professor Griesbach eine Zufluchtsstätte. Sie siechte mehr und mehr. Die Auszehrung hatte sich ihres der ihm zugemutheten Strapazen wohl ungewohnten Körpers bemächtigt. Sie soll im Jahre 1818 gestorben sein. Der Sohn hieß Lorenz. Von ihm heißt es, er sei unter die Blücher’schen Husaren gegangen, dann unter dem Namen Ekemann in München als nicht ungenannter Steinzeichner wieder aufgetaucht. Ekemann oder auch wohl Ekemann d’Alesson, diesen Namen hat auch die „Frau Gräfin“ da, wo sie einen Namen hat nennen müssen, als den ihrigen genannt. Und in den zwanziger Jahren hat auch im Würtemberg’schen, insbesondere in Stuttgart, sich eine Wittwe Hedwig Ekemann d’Alesson aufgehalten, die über ihre Herkunft, angeblich durch einen Eid gebunden, stets tiefes Stillschweigen gewahrt hat, die stets mit großer Zuneigung und Liebe von der verbannten schwedischen Dynastie gesprochen hat, die hie und da geäußert hat, daß sie im Jahre 1809 Schweden habe verlassen müssen. Davon berichtete im Jahre 1845 ein Schreiben aus Stuttgart in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Von dieser Frau nun wird behauptet, es sei die schwedische Gräfin von der Kunitzburg gewesen. In ihrem Besitze will man denn auch eine goldene Kette entdeckt haben, von welcher Eingeweihte behauptet haben, daß sie früher im Besitze der königlichen Familie gewesen sei. So rann denn wohl in ihren Adern königliches Blut? Majestätisch genug, wie gedacht, war ihre Gestalt, ehrfurchtgebietend ihr Aeußeres, und man will bemerkt haben, daß ihr Kopf an die Bilder des unstäten, tollkühnen Schwedenkönigs Karl XII. erinnert habe. Und wahrlich! sie erinnerte an ihn noch mehr mit ihrer seltenen, für eine Frau ungewöhnlichen Kraft des Willens, der sich namentlich kund gab in diesem zähen Schweigen über das Geheimniß ihrer Herkunft, in diesem berechneten Vermeiden alles Dessen, was eine sichere Spur darauf hinlenken konnte, in dieser Selbstentsagung und selbstgewählten Resignation, mit welcher sie zuerst das unwirkliche Asyl eines abgelegenen Forstes aufsuchte und Jahre lang ertrug, und, nach dieser Probezeit gestählt gegen alle Eindrücke von außen, noch selbst im Verkehr des Lebens das Geheimniß und den Schmerz ihres Busens vor der Welt zu bewahren wußte. Bestimmtere Beziehungen zu der königlichen Familie liegen indeß nicht vor.

Die Kunitzburg.

Könnten Felsen und Bäume droben auf dem einsamen Bergkegel reden, sie könnten als Zeugen vielleicht gar manches ihnen allein vertrauten Schmerzensseufzers uns vielleicht mehr von dem Geheimniß der Frau verrathen. Auch der Herzog Karl August wird um dasselbe gewußt, aber voll männlichen Edelsinns es mit in das Grab genommen haben. Das Haus kam mit der Zeit in Verfall, die Felder wurden zum Verkauf gebracht und wieder von der Herrschaft erstanden. Wieder zum Walde umgewandelt, wächst das Holz lustig zum Himmel empor und eilt dem alten Bestande wieder nachzukommen. Bald wird es die nun auch fünfzig Jahr alt gewordene Erinnerung gänzlich überwachsen haben. Drunten im Dorf, wie entlang des Saalthals, wird die Erinnerung an die Fremde mit der hohen Gestalt und dem durchdringenden Blicke ihrer Augen, die eine andere naivere und poetischere Zeit vielleicht zu einer Wunderfee des Waldes gestempelt, noch hier und da wach.

Neben seinen Kriegsthaten von Anno 1813 oder neben den traurigen Tagen der Schlacht von Anno 1806 erzählt die Geschichte von der schwedischen Gräfin Abends im Winter der alte Großvater am wärmenden Ofen den horchenden Enkelkindern, und damit er sie mit den andern Geschichten in den rechten Zusammenhang bringt, giebt er, überhaupt unbekannt mit der Augsburger Allgemeinen, derselben wohl eine eigenthümliche Wendung. Er kann es nämlich nicht unterlassen, die Frau, mit der er nichts Rechtes anzufangen weiß, in Verbindung zu bringen mit dem großen Schicksalsmenschen seiner Zeit, mit Napoleon. Ein alter bairischer Volkskalender, den der Zufall in seine Hand gespielt, unterstützt ihn in dieser Annahme. Darnach soll die Fremde, der er übrigens den Beinamen einer schwedischen Gräfin nicht versagen kann, die Gemahlin eines französischen Fürsten gewesen sein, welche vor den Zudringlichkeiten des Gewaltigen, der nicht blos ein Gott der Schlachten, sondern auch ein Gott der Herzen war, und noch mehr denen seiner Umgebung geflohen und unter den ritterlichen Schutz von Karl August sich begeben haben soll. Das wäre nicht blos recht romantisch, es wäre [190] auch zuletzt selbst mit einer Flucht aus Schweden in Zusammenhang zu bringen, wenn dieselbe nur über Frankreich sich gerichtet hätte. Mehr nach einer abenteuerlichen Erfindung schmeckt aber die weitere Beigabe, daß die Flüchtige auf der Flucht ihre einzige Tochter verloren habe, daß dieselbe unter eine Seiltänzertruppe gerathen sei, welche im Vorüberziehen auch den Gleißberg bestiegen habe, daß da die Tochter, ohne es zu wissen, mit der Mutter gesprochen habe. Dann sei die Truppe weiter gezogen nach Jena, Weimar und Erfurt. Hier habe die junge Seiltänzerin, welche durch ihre Schönheit und Grazie allerorts die Herzen bezaubert habe, die Augen eines jungen Fürstensohnes (den Namen nennt die Fabel nicht) so auf sich gezogen, daß er beim Director der Truppe um die Hand des Mädchens förmlich angehalten habe, derselbe habe aber erklärt, daß das Mädchen nicht, wie er es ausgegeben, sein Kind sei, daß sie vielmehr ein Fürstenkind sei. Zum Schluß dieses gewöhnlichen Romans habe denn natürlich der ebenbürtige Fürst von dem Vater, Fürst von B., welcher in Wien beim Congreß gewesen sei, die Hand der Tochter erhalten. Wir überlassen diese und andere Phantasieproben zur Aufklärung des Geheimnisses sich selbst. Vor der Hand ist und bleibt diese schwedische Gräfin eine Dritte[4] im Bunde mit Caspar Hauser und der eisernen Maske, eine unenthüllte Erscheinung.

Müssen wir denn überhaupt den Schleier über die Geheimnißvolle lüften? Wer weiß, ob wir damit der Todten nicht wehe thun, da die Lebende ihn so ängstlich bewahrt? Und liegt nicht in dem Geheimnisse oft mehr Reiz als in der enthüllten Wahrheit? Einst vielleicht zu einer Sage des Saalthals geworden, bleibe sie für uns jetzt noch die geheimnißvolle schwedische Gräfin von der Kunitzburg.

Fr. Hbg.


Eine Nacht in Missouri.
Erinnerung eines amerikanischen Freiwilligen.
(Fortsetzung.)


„Ich denke aber anders, Sir, und bitte Sie, den Mann gefälligst frei zu geben!“ erwiderte mein bisheriger Begleiter zu dem Patrouillenführer, seine Augen unmuthig zusammenziehend. „Er ist freiwillig nach unserm Lager gekommen, hat sich meinem Schutze anvertraut, will in unsere Reihen treten, und Niemand soll sagen, daß ihm bei uns ungehörige Gewalt angethan worden ist. General Price soll selbst über den Mann entscheiden!“

Ein häßlicher Zug legte sich um den Mund des Ersteren. „O, Sie kommen eben von einem guten Abendbrod aus Ihrem eigenen Hause,“ sagte er; „wenn ich aber den Mann für verdächtig halte, so werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben; ich meine, ich habe das Gesicht schon einmal gesehen und nicht in Laclede County. Denken Sie doch nur daran, daß Sie sich selber nicht verdächtig machen – Mr. Werner!“ Der Sprechende legte einen so besondern Accent auf den deutschen Namen, daß mir es sofort klar wurde, wie dieser schon hinreiche, um unter den Secessionisten ein volles Vertrauen zu schwächen; zugleich aber wußte ich nun auch, daß der Träger dieses Namens zu den Angehörigen jenes Hauses gehöre, das mir durch die Sauberkeit und Ordnung seiner Umgebung so aufgefallen.

„Well, Sir,“ sagte ich mit Bestimmtheit, der Antwort meines Begleiters zuvorkommend, „ich werde meinen Weg zum General finden, mögen Sie mich jetzt hier auch festhalten und ausrauben; dann aber werden wir ja erleben, was Die zu erwarten haben, die mit dem besten Willen nach dem Lager kommen. Ich bin auch von deutscher Abstammung, Sir, heiße Reuter, und wenn Sie etwas Weiteres wissen wollen, so habe ich ein Paar tüchtige Fäuste, die ihren Mann zu vertheidigen wissen – hoffentlich werden ja wohl nicht Alle hier den Dieb an mir machen wollen!“ und im gleichen Augenblick hatte ich mich mit einem kräftigen Ruck seiner Hand entzogen, mich ihm mit vorgehaltenen Fäusten gegenüberstellend. Ich wußte, daß mit dieser Art Leuten in ihrer eigenen Sprache geredet werden mußte, wollte man etwas bei ihr erzielen, und daß ein Zurückweichen ihre oft feige Brutalität nur verstärkte – hier indessen schien ich fehlgegriffen zu haben. „Sei verdammt für den „Dieb“!“ schrie der Mensch auf, während er das Gewehr an die Backe riß; im nämlichen Augenblicke aber hatte auch mein Begleiter schon die Waffe in die Höhe geschlagen, während sich zwei Mann aus der Patrouille zwischen uns warfen. „Halt, Stevens, halt, es scheint ein braver Kerl zu sein; der General könnte uns schon um der Hühner willen schlimm heimleuchten!“ hörte ich in einzelnen abgerissenen Rufen, und Stevens senkte mit einem giftigen Blicke das Gewehr. „Gut, so kommt er mit uns nach dem Lager,“ sagte er nach einem kurzen sichtlichen Kampfe mit sich selbst, „aber verdammt will ich sein, wenn ich das Gesicht nicht kenne, und Gnade ihm Gott, wenn nicht Alles richtig mit ihm ist!“ Er gab seiner Mannschaft einen kurzen Befehl, mich zwischen sich zu nehmen, und so setzten wir uns im Geschwindschritt dem Lager zu in Marsch.

Nach kaum fünf Minuten wurden die Gruppen um die nächsten Lagerfeuer deutlich erkennbar, und ich gestehe ehrlich, daß vor dem Ernste meiner Lage, die erst jetzt recht deutlich vor mich trat, mir das Herz stärker zu schlagen begann. Wohin ich auch blickte, konnte ich nur ähnliches Gesindel, wie das, zu welchem mein augenblicklicher Hüter gehörte, entdecken, Menschen, die sich im Kampfe wohl eben so todesverachtend zeigen würden, wie sie dies bei jeder Massen-Schlägerei mit Messer und Revolver zu thun gewohnt waren, in denen aber kaum ein anderes Gefühl als die Rohheit der Bestie leben mochte, und die sich wohl auch nur aus der Lust an blutigen Raufereien dem jetzigen Kampfe gegen die „damned Dutchmen“ – denn in Missouri war der Krieg gleich beim Beginn zu einem Kampfe der deutschen und amerikanischen Nationalitäten ausgeartet – angeschlossen hatten. Kartenspiel und Flüche, hier und da wohl auch ein Lustigmacher, der einen Negertänzer nachäffte, schienen die einzige Unterhaltung abzugeben, und erst als wir, ohne besonders beachtet zu werden, fast bis zur Mitte des Lagerplatzes gelangt waren, begann sich der wüste Lärm, welcher uns bis dahin begleitet, zu legen; ich sah die Uniform einiger regelmäßigen Miliz-Compagnien aus St. Louis, zu welchen nur Vollblut-Amerikaner gehörten, erscheinen; dann öffnete sich ein weiter Raum, in dessen Mitte ein einzelnes Lagerfeuer loderte, und zwanzig Schritte vor dem letzteren wurde gehalten, während der Patrouillenführer und mein anfänglicher Begleiter sich von uns lösten, um dem Feuer zuzuschreiten.

Ich hatte volle Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Jedenfalls waren wir in der Nähe eines der höhern Officiere, und der Haupttheil meiner Rolle begann; wie ich aber, selbst wenn ich ohne Verdacht blieb, mich unbemerkt aus der Mitte dieser lagernden Menge stehlen sollte, erschien mir für den Augenblick noch unerklärlich; geradezu unmöglich aber ward die Aufgabe, wenn ich als verdächtig beobachtet wurde, wozu dieser Stevens die beste Neigung zu haben schien. Indessen sollte ich mich nicht lange mit unnützen Grübeleien zu quälen haben. Stevens erschien wieder und forderte mich mit einem barschen Winke zum Folgen auf. Vor das Feuer war jetzt ein Officier in reicher Uniform, von einigen gleichfalls uniformirten Begleitern umgeben, getreten; was die Rückseite des Feuers barg, deuteten mir nur die ab- und zugehenden Ordonnanzen von den St. Louiser Miliz-Compagnien an – keinesfalls hatte ich es in dem mich Erwartenden mit dem General Price selbst zu thun.

Mein Examinator war ein echter Südmann mit bleichen Zügen, dunkelm Haar und Barte und schwarzen, blitzenden Augen, welche bei meiner Annäherung auf mir ruhten, als wollten sie in das Geheimste meiner Seele dringen. „Was hat Sie in’s Lager geführt, Sir?“ fragte er kurz.

„Dasselbe, was auch wohl Andere hierher gebracht, Sir,“ erwiderte ich, meiner Stimme die möglichste Festigkeit gebend; „ich habe die letzten Hühner und Eier von unserer Farm genommen, um sie dem General zu bringen und nebenbei zu fragen, ob hier ein Gewehr für mich übrig ist!“

[191] „Sie sagen, daß Sie aus Laclede County sind?“ klang die zweite Frage.

„So ist es, Sir, nicht weit von Oakland!“

„Und was haben Sie dagegen zu sagen?“ wandte sich der Examinirende an den Patrouillenführer, „mir scheint die Sache sehr einfach!“

„Ich habe zu sagen, Colonel,“ erwiderte Stevens, während ein häßliches Lächeln sein Gesicht verzog, „daß sich Einer leicht ausgeben kann, für was er Lust hat; daß ich aber das Gesicht hier von St. Louis her kenne, wenn ich auch nicht gleich weiß, wohin es gehört; daß der Mann ein Deutscher ist, und daß ich deshalb vermuthe, er kommt nicht von Laclede, sondern vom General Lyons, den Gott verdammen möge!“

Ein rascher, finsterer Blick des Officiers traf mich. „Sie haben das gehört, Sir?“

Ich vermochte es, trotzdem mir innerlich Alles wie zugeschnürt war, geringschätzig mit den Achseln zu zucken. „Ich denke, Sir, das Gesicht des Mannes hier, oder wenigstens ganz ähnliche zu kennen, die in St. Louis als die Levee[5]-Ratten bekannt waren – ich war nämlich dort auf dem College, Sir, – und daß ich mich nicht getäuscht, beweist, daß der Mensch seiner eigenen Mannschaft den Vorschlag machte, mir vor dem Eintritt in’s Lager abzunehmen, was ich trug, und sich dann meiner auf irgend eine Weise zu entledigen.“

„Ich kann das Letztere bezeugen, Colonel, wenn ich auch sonst keinerlei Art von Bürgschaft für den Mann übernehmen mag!“ wurde jetzt die Stimme meines frühern Begleiters, der seitwärts des Feuers im Schatten gestanden, laut, und nach einem raschen Blick auf den Sprechenden nahm das sich meinem Ankläger wieder zuwendende Gesicht des Officiers einen eigenthümlichen Ausdruck von Widerwillen an. Ich meinte völlig in seiner Seele, welche die eigenen erbärmlichen Werkzeuge zur Erringung der sogenannten südlichen Rechte verachtete, lesen zu können und sah zugleich, daß meine Sache wenigstens für den Augenblick gewonnen war. „Haben Sie der eben bezeugten Angabe etwas zu entgegnen?“ fragte er kurz, als thue ihm jedes zuviel gesprochene Wort leid, und als Stevens nur mit einem ingrimmigen Blicke auf mich antwortete, wandte er sich nach dem Nächststehenden seiner Umgebung. „Ich sehe hier durchaus keinen Grund für einen ängstlichen Verdacht. Lassen Sie den Mann abgeben, was er für den General bestimmt hat, und bringen Sie ihn dann zu der übrigen neuen Mannschaft nach der Reserve!“ Dann nickte er mir kurz zu. „Ist Ihre Gesinnung wirklich die, welche Sie zu erkennen gaben, so sei Ihnen hiermit für Ihren Patriotismus gedankt; im andern Falle aber mögen Sie auch versichert sein, daß Sie beim ersten unrechten Schritte eine Kugel im Nacken haben werden!“ Er schritt wieder nach der Rückseite des Feuers; ich aber gab meine Hühner und Eier ab und sah mich darauf zu meiner großen Erleichterung nach einem der äußersten Enden des Lagers geführt, wo zwar die Feuer so hell wie überall brannten, die träge Ruhe indessen, in welcher die Mannschaften darum her lagerten, die Neulinge in dem begonnenen Kriegsspiele verrieth. Schon meinte ich, als der mich begleitende Officier einen langsam zwischen den Gruppen umherschreitenden Bewaffneten anrief, jeder Hauptgefahr entronnen zu sein, als plötzlich eine Stimme meinen Namen nannte und zugleich ein junger Mann vom nächsten Feuer aufsprang. „Reuter, by devil, old fellow, was bringt denn das Schaf unter die Böcke – und was by Jingo soll denn die Maskerade? Ist der Lieutenant seinen Landsleuten heimlich entwischt, um zur richtigen Fahne zu schwören?“

Mir war es bei den ersten Lauten geworden, als solle mir das Herz stillstehen, dann aber, als ich in kurzer Entfernung die Stimme von Stevens hinter mir hörte, packte mich das volle Entsetzen. Ich war im letzten Jahre in einem der großen Speditionshäuser in St. Louis gewesen, wo Stevens, der wie die Meisten seines Gleichen sein Brod als Lastträger an der Landung erwarben haben mochte, mich wohl oft gesehen hatte; der junge Mann aber, welcher mich jetzt angerufen, war Clerk in einem benachbarten Handlungshause gewesen, kannte mich genau und hatte, so wie ich, beim Schluß aller Geschäfte zum Gewehr gegriffen, nur daß ich auf Seite der Deutschen, er aber als Amerikaner auf der seiner Landsleute stand. Mein Betrug mußte jetzt unter allen Umständen offenkundig werden, und der frühere Freund hatte mich, wenn auch wohl wider seinen Willen, an den Strang geliefert. Ich sah noch, wie seine Züge eine plötzliche Betroffenheit über mein wahrscheinlich aschenbleich gewordenes Gesicht ausdrückten, hörte noch, wie der mich begleitende Officier in einem so eigenthümlichen Tone, daß er mir wie ein scharfes Messer in’s Herz fur, ausrief: „O Jim, Sie kennen den Gentleman?“ dann aber hatte ich nur den einen Gedanken, daß hinter den beiden nächsten Feuern sich die freie, mondhelle Nacht zeigte und daß kaum zweihundert Schritte von uns sich eine scharfe Waldecke in die Ebene hineinzog; wußte zu gleicher Zeit, daß ich nicht einen Augenblick in meinem Handeln zögern durfte, wenn ich überhaupt noch an Rettung denken wollte, daß es galt, durch Ueberraschung zu wirken und dann um mein Leben zu laufen; wurde ich dabei auch niedergeschossen, so entging ich doch dem Strange – und kaum hatte der Officier das letzte Wort gesprochen, als ich auch mit einem Satze, zu dessen Weite mir sicher nur die Todesangst die nöthige Kraft verlieh, aus der Mitte meiner Umgebung war und gerade zwischen der an ihren Feuern lagernden Mannschaft hindurch die freie Ebene gewann.

Ich flog wie ein gehetztes Wild der mir zum Ziele genommenen Waldecke zu, und zwei Secunden blieb Alles still hinter mir; dann aber klang es um so wilder: „Ein Spion! haltet den Spion!“ – ich erkannte deutlich die rauhe Whiskeystimme von Stevens – und: „haltet den Spion!“ schrieen zwanzig Stimmen nach. Kurz vor mir tauchte in diesem Momente eine Gestalt auf – ein Mann der Postenkette; aber er war von mir überrannt, ehe er sich das ganze Ereigniß wohl noch klar gemacht; ein Schuß knallte hinter mir, ein zweiter und dritter folgte nach; aber ich fühlte mich unverwundet und flog weiter – wäre hinter mir nicht die neuangeworbene, zum größten Theil noch unbewaffnete Mannschaft gewesen, so hätte mich wohl ein schlimmeres Loos getroffen; indessen sah ich im Geiste das ganze Lager alarmirt, sah Stevens wie einen Bluthund an meinen Fersen hängen und wußte, daß selbst der Wald mich kaum vor meinen Verfolgern werde retten können, wenn nicht irgend ein glückliches Ungefähr zu meinen Gunsten entschied. Da war ich, ohne nur einen einzigen Rückblick gewagt zu haben, zu den Bäumen gelangt, welche mich wenigstens vor ferneren Schüssen sichern mußten; aber eine plötzliche Täuschung lähmte mir jetzt fast jede Muskel. Was ich im Mondschein für die Ecke des Waldes gehalten, war nichts als eine Gebüschgruppe von geringem Umfange, auf deren entgegengesetzter Seite ich das helle Mondlicht hereinbrechen sah – weit hinüber erst lag der eigentliche Wald und dazwischen nur die offene, schutzlose Hochebene, das sah ich, als ich mich rasch durch das Gestrüpp gearbeitet und die letzten Bäume erreicht hatte. In geringer Entfernung hinter mir klangen gelle Rufe, jeder Moment Zögerung mußte mich meinen Verfolgern überliefern, aber mitten in der fliegenden Erregung von Leib und Seele sah und dachte ich wunderbar klar und ich war auch, noch ehe nur einer meiner Schritte gezögert, mit meinem Entschlusse fertig geworden. Rechts hinüber lag die Straße, auf welcher ich gekommen, und die ich wieder zu gewinnen hatte, wenn ich nicht in völlig unbekannte Gegenden gerathen sollte. Das Gebüsch mußte dabei für kurze Zeit die veränderte Richtung meiner Flucht verbergen, und wurde sie dann auch entdeckt, so hatte ich wenigstens ebenso schnelle Füße und eine so ausdauernde Lunge, wie irgend einer meiner Feinde. Hinüber ging es, wo der auseinander laufende Wald mir ein deutliches Merkmal meines früheren Weges gab; noch machte ich aber keine zweihundert Schritte weit sein, als lautes Geschrei hinter mir verkündete, daß ich auf der kahlen, mondbeglänzten Fläche entdeckt worden sei. Vom Lager herauf hätte mir jetzt der Weg abgeschnitten werden können, und ich warf einen raschen, angstvollen Blick nach dieser Richtung; als sich hier aber nirgends die Spur neuer Verfolger zeigte, machte ich mich zu dem langen Wettlaufe, der jetzt unausbleiblich erfolgen mußte, fertig, und die jetzt auftauchende Möglichkeit, nach erreichter Absicht entrinnen zu können, goß mir völlig neues Leben in die Glieder.

Von hier ab weiß ich eigentlich nur, daß ich meine frühere Straße erreichte und sie, wie magnetisch von ihr festgehalten, in einem Laufe verfolgte, unter dem mir nach verhältnißmäßig kurzer Zeit die Brust zu springen drohte; die Klugheit hätte mir gebieten müssen, den seitwärts liegenden Wald zu gewinnen, aber ein unbezwingbarer Drang jagte mich vorwärts, dem Lager der deutschen Cameraden entgegen; dazu war es mir, als könne ich durchaus nicht fern von dem Punkte sein, an welchem der auseinandergetretene [192] Wald sich an der Straße vereinigte und mir ohne die Nothwendigkeit eines Richtungswechsels eine Deckung gewähren mußte, aber ich fühlte bereits, daß ich anhalten müsse, um neuen Athem zu gewinnen, fühlte meine übrigen Kräfte ermatten, und noch konnten meine Augen, über welche es sich jetzt wie dicker Flor zu legen begann, nirgends vor mir das schützende Gebüsch entdecken. Da, eben als ich daran dachte, einen nothgedrungenen kurzen Halt zu machen, führte die Luft einen Klang in meine Ohren, der plötzlich ein Gefühl wie Verzweiflung in mir wach werden ließ, den Klang flüchtig herangaloppirender Reiter – meine Verfolger hatten es aufgegeben, mir zu Fuße nachzusetzen, wußten aber nur zu gut, daß sie zu Pferde mich in der von mir eingeschlagenen Richtung auf dem offenen Terrain völlig einzukreisen vermöchten. Vielleicht wäre es mir bei dem gewonnenen Vorsprung noch immer möglich geworden, den entfernt von der Straße an beiden Seiten sich hinziehenden Wald zu erreichen, wenn nur meine Kräfte frisch gewesen wären; so aber war ich zum Tode erschöpft und einen Augenblick fragte ich mich, ob es nicht das Beste sei, mich von den heransprengenden Pferden geradezu unter die Hufe treten zu lassen, um aller Qual, die mir vom Augenblicke meiner Gefangennahme bis zum Tode durch den Strick bevorstehen mußte, zu entgehen. – Da blitzte etwas in der Entfernung vor mir auf, nur mechanisch hatte sich mein Blick hingewandt, aber er blieb jetzt fest an einem bekannten Gegenstande hängen – kaum zweihundert Schritte vor mir lag das Haus mit seinen Umzäunungen, welches schon beim Hermarsche meine Aufmerksamkeit erregt – die Heimath meines Stammgenossen Werner, der jetzt wohl einer der Eifrigsten in meiner Verfolgung war, – aber dennoch meine einzige Zuflucht, wenn ich meinen Feinden, deren Herankommen mit jeder Secunde deutlicher hörbar wurde, mich nicht widerstandslos in die Hände liefern wollte. Der Obstgarten war dicht belaubt, aber er mußte der erste Ort der Nachsuchung werden, sobald ich hier vor den Blicken der Nachsetzenden verschwand; ich verwarf die Wahl dieses Verstecks schon mit dem ersten Gedanken daran; dagegen stand das offene dunkele Fenster, das ich zwischen den Schlinggewächsen an der Giebelseite des Hauses bemerkt, wie eine lebendige Schutzverheißung vor meiner Seele; dem Anscheine nach führte es nach einem Corridor oder einem andern unbewohnten Raum; die Piazza, nach welcher es sich öffnete, war leicht zu erklimmen, und im Hause selbst suchte man mich sicher am wenigsten – alle diese Vorstellungen aber waren nur wie einzelne Blitze durch mein Gehirn geschossen, während ich mit dem Aufwande meiner letzten Kräfte die Entfernung zwischen mir und dem Gebäude zurückzulegen strebte. Sobld ich die erste Feldeinzäunung erreicht, nahm ich diese zur Deckung, um mich möglichst den Bicken der Folgenden zu entziehen; ich erreichte das Haus, ich huschte zwischen den Obstbäumen hindurch, und ein Blick nach oben zeigte mir das einsame Fenster noch geöffnet. Zugleich ward zwar auch der laute Ruf eines der mir Nachsetzenden in solcher Nähe von der Straße laut, daß ich kaum mehr hoffte, Zeit zum Erklimmen der Piazza gewinnen zu können; eine aus größerer Entfernung klingende Antwort aber zeigte mir, daß meine Verfolger über den von mir eingeschlagenen Weg unsicher geworden sein mußten. Noch einmal erwachte bei dieser Erkenntnis ein Rest von Kraft in meinen Muskeln, der mir es ermöglichte, an einem der Pfeiler die kurze Höhe der Piazza zu gewinnen; als ich aber mit der Hast der Todesangst durch die enge Oeffnung, welche das aufgeschobene Fenster bildete, mich gewunden und den innern Raum erreicht hatte fühlte ich, daß meine Sinne mir vergehen wollten, und unfähig mich aufrecht zu erhalten brach ich in die Kniee.

Aber eine helle, kräftige Mädchenstimme riß mich plötzlich aus meiner halben Betäubung wieder empor. „Wer ist hier?“ klang es, „rasche Antwort, oder ich schieße!“ und erst jetzt sah ich im hereinfallenden Scheine des Mondes, daß ich in ein Zimmer gerathen war, in dessen Hintergrund sich in einem weißen Bette eine Gestalt aufgerichtet hatte, welche so eben mit der Bewegung voller Entschlossenheit einen Taschen-Revolver auf mich anschlug.

„Um Gotteswillen, Miß! wenn Sie nicht einen Menschen kaltblütig hinschlachten lassen wollen, so schweigen Sie!“ rief ich, in diesem Augenblicke nur an meine eigene dringende Gefahr denkend; „ich bin unter die Secessionisten gerathen, sie halten mich für einen Spion, und wenn Sie mich ausliefern, bin ich in einer halben Stunde ein todter Mann!“

Ihre Waffe senkte sich vor meiner athemlosen Sprache und abgehetzten Erscheinung, ich sah, wenn auch noch halb wie durch einen Schleier, wie ihr großes dunkeles Augenpaar scharf auf mir ruhte. „Wer sind Sie? aber sprechen Sie Wahrheit auf jede Gefahr hin,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme, welche dennoch nichts von der eigenthümlichen Bestimmtheit ihres Tones nahm.

(Schluß folgt.)

  1. Sollte der jetzige Ministerpräsident Preußens ein Nachkomme dieses Rittmeisters von Bismarck sein? Welche Empfindungen würden dann den Mitkämpfer Lützow’s erfüllen, wenn er jetzt seinen Nachkommen schauen könnte? Wohl ihm, daß sein Auge längst geschlossen ist!
  2. Eine Charakteristik dieser edlen Frau haben wir im Jahrgang 1861, S. 550, unseren Lesern gebracht; die Jean Paul’s, von L. Storch, in Nr. 1. des vorliegenden Jahrgangs, bildet nun ein würdiges Vorwort für diese Erinnerungen und Briefe.
  3. Man vergleiche L. Storch’s Artikel „Zwei Dichter und ein Dichterasyl“, S. 7 dieses Jahrgangs.
  4. Ueber eine vierte solche Erscheinung, die geheimnißvolle Gräfin zu Eishausen bei Hildburghausen, wird die Gartenlaube nächstens berichten.
    D. Red.
  5. Landungsplatz der Dampfboote.