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Die Gartenlaube (1863)/Heft 10

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[145]
Ein Vertheidiger.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung und Schluß.)


In der vergangenen Nacht war in dem Wirthshause an der Eisenbahnstation Wiekel ein Mordanfall verübt, und der entkommene Mörder war der Freiherr Wallberg vom Schlosse Hard, der Angeklagte, der Mörder des Grafen Hochhausen.

„In vergangener Nacht? Der Angeklagte aber ist ja Gefangener! Auch in der vergangenen Nacht. Um neun Uhr heute Morgen stand er schon vor den Geschworenen.“

Aber die Wirthsleute hatten ihn erkannt. Sie sahen ihn hier wieder. Auch der Verwundete hatte ihn erkannt.

Es war ein Räthsel, ein Wunder! Aber mir gingen sonderbare Gedanken durch den Kopf: das bleiche Kind, die die Tochter des Gefangenwärters war; der Vertheidiger, den bei ihrem Anblicke im Saale eine so stechende Angst ergriffen hatte; der Angeklagte, dessen blasses Gesicht, als er sie sah, noch blässer geworden war und sich mit Wehmuth und Schmerz erfüllt hatte; die Ohnmacht, in die sie gefallen war, als der Angeklagte von der Bravheit und Treue seiner Frau sprach. Und sie war die Tochter des Gefangenwärters, und der Vertheidiger war der gewandteste Anwalt des Landes! War das Räthsel zu lösen?

Ich hatte keine Ruhe. Ich mußte Licht haben, und das Gefängniß, wo die Tochter des Gefangenwärters wohnte, mußte mir dieses Licht bringen. Das Publicum des Saales war nach Hause geeilt. Die Leute wollten erzählen und – essen. Die Verhandlungen hatten sich weit über die Mittagszeit hinausgezogen. Ich ging zu dem Gefangenhause. Es lag neben dem Gerichtsgebäude und war mit diesem durch einen verdeckten und verschlossenen Gang verbunden. Aber der Gang war nur für die Beamten und für die Gefangenen bestimmt. Der gewöhnliche Eingang war in einer Seitenstraße. In diese ging ich. Das dunkle Gebäude lag hinter einer hohen Mauer, man sah über dieser nur die obere Fensterreihe und das Dach. In der Mitte der Mauer war ein weites Einfahrtsthor, daneben ein kleines Pförtchen mit einem Klopfer und einer Schiebeklappe. Ich ging zu dem Pförtchen, denn ich wollte in das Gebäude.

Von der andern Seite der Straße kam ebenfalls Jemand auf das Pförtchen zu. Ich erkannte ihn, es war der Vertheidiger des Angeklagten. Ich trat einige Schritte zurück. Er klopfte an das Pförtchen. Die Klappe wurde zurückgeschoben.

„Zu wem wollen Sie?“ fragte ihn eine Stimme.

„Zu dem Gefangenen, Freiherrn von Wallberg.“

„Es darf Niemand zu ihm.“

„Ich bin sein Vertheidiger.“

„Ich weiß es. Aber der Befehl lautet allgemein.“

„Von wem ist er ergangen?“

„Vom Herrn Präsidenten, und so lange Sie nicht eine besondere Erlaubniß von ihm haben –“

„Der Herr Präsident ist in den Gefängnissen?“ fragte der Vertheidiger.

„Ja.“

„So führen Sie mich zu ihm.“

„Es thut mir leid, ich darf auch das nicht. Er will völlig ungestört bleiben.“

Der Vertheidiger stand von ferneren vergeblichen Versuchen ab und ging weiter, er mußte an mir vorüber. Ich trat hervor.

„Das nennt man das Recht der freien Vertheidigung,“ sagte ich zu ihm. Er kannte mich nicht und sah mich etwas befremdet an, aber er schritt weiter. Ich ging zu dem Pförtchen, das er verlassen hatte, und klopfte an. Die Schiebeklappe war schon wieder zu. Sie öffnete sich wieder. Ein bärtiges Gesicht erschien darin.

„Zu wem wollen Sie?“

Es war dieselbe Stimme, die den Vertheidiger gefragt hatte.

„Zu Niemandem,“ antwortete ich. „Ich wünsche nur das Gefängniß zu besehen; ich bin Baumeister.“

„Das Innere?“ sagte er. „Das würde heute nicht angehen.“

„Das Aeußere denn. Ich gebe ein gutes Trinkgeld.“

Das Pförtchen war schon geöffnet. Ich trat in den Gefängnißhof. Vorher sah ich mich nach dem Vertheidiger um. Er war noch hinten in der Straße und machte ein verdutztes Gesicht, als er mich in das geöffnete Pförtchen treten sah. Ein Gefangenwärter hatte mir geöffnet. Ich gab dem Mann sogleich einen Thaler.

„Führen Sie mich, wohin Sie dürfen,“ sagte ich ihm.

Merkwürdig, nun durfte er mich führen, wohin ich wollte, und im Gehen gab er mir Auskunft, worüber ich sie wünschte.

„In die Gefängnißzellen dürfen Sie mich wohl nicht führen?“

„In die jenes linken Flügels schon.“

„Warum nicht in die des rechten?“

„Dort werden gerade Verhöre abgehalten.“

„Vom Criminalgericht?“

„Von dem Herrn Präsidenten selbst.“

„Ah, wohl in der Sache, die heute vor den Geschworenen verhandelt wird?“

„Ja, ja.“

„Ich war im Saale. Das ist eine sonderbare Geschichte.“

„Ja, ja,“ sagte er noch einmal. „Man will heraus haben, ob der Angeklagte, der Freiherr von Wallberg, in der vergangenen Nacht fortgewesen sei.“

[146] „Wer sollte ihn denn fortgelassen haben?“ fragte ich.

„Das ist es ja eben,“ meinte er. „Und dann, wenn ein Gefangener, dem es an den Hals geht, einmal fort ist, wie wird es dem einfallen, wieder zu kommen?“

„Das ist richtig. Wo liegt das Gefängniß des Freiherrn?“

„Dort.“ Er zeigte nach einem Eckfenster zwei Treppen hoch, in dem rechten Flügel des Gebäudes.

„Hm,“ sagte ich. „An dem Innern des Gebäudes ist mir weniger gelegen. Ich schließe schon darauf von dem Aeußern. Ich möchte gern einen Ueberblick des Ganzen haben, namentlich der Umgebungsmauer und der Lage der Wohnungen der Gefängnißbeamten.“

„Die Gefängnißbeamten wohnen unten im Hause,“ sagte er.

„Alle?“

„Nein. Nur der Inspector, der Hausvater und drei Gefagenwärter.“

„Mit ihren Familien?“

„Nur der erste Gefangenwärter, auch Hausvater genannt, hat Familie. Er wohnt dort im rechten Seitenflügel.“

„Führen Sie mich um das Haus herum.“

Er that es, nachdem er einem andern Aufseher aufgetragen hatte, auf das Eingangspförtchen zu achten.

Die Wohuung des Hausvaters, wie der Gefangenwärter sie mir gezeigt, lag jenseits einer Mauer, an der wir standen. Es schien dort ein Garten zu sein; Obstbäume ragten über die Mauer. Der Garten war das Ziel meiner Wünsche. Der Gefangenwärter führte mich um das Gebäude herum, und wir kamen zuletzt, auf der anderen Seite, in der That an einen Garten. Er hatte eine Hecke auf jener Seite.

„Dürfen wir hineingehen?“ fragte ich meinen Führer.

„Warum nicht?“

Er führte mich hinein. Drei Fenster, mit Blumentöpfen besetzt, gingen in den Garten.

„Das ist wohl die Wohnung des Hausvaters?“ fragte ich gleichgültig meinen Führer.

„Ja.“

Ich suchte das blasse Kind hinter den Blumen. Sie war nicht da. Aber hinten in dem Garten, in einer Laube, glaubte ich Frauenkleider zu sehen. Ich machte, daß wir auf Umwegen dahin kamen. Das blasse Kind war in der Laube. sie lag auf einer Bank, auf Kissen und sah sehr angegriffen aus, und sie war so schön dabei. Eine ältere Frau war bei ihr. Es war ihre Mutter, wie sich zeigte. Mein Führer wandte sich an die Frau.

„Ist die Mamsell Anna nicht wohl, Frau Niemann?“

Die Frau trat vor die Laube.

„Ich weiß nicht, was dem Mädchen fehlt. Blaß war sie immer, aber sie war doch sonst gesund. Seit vier Wochen kränkelt sie immer, und seit drei Tagen ist es gar schlimm mit ihr. Heute Nacht, meinte ich, hätte sie ruhig geschlafen; ich hatte sie bis zum Morgen nicht gehört. Aber wie ich heute Morgen aufwache, liegt sie in heftigem Fieber, und nachher war sie mir aus den Augen gekommen und drüben in den Gerichtssaal gegangen, und von da haben die Leute sie mir ohnmächtig nach Hause zurückgebracht.“

„Was sagt denn der Doctor, Frau Niemann?“ fragte der Gefangenwärter.

Die Frau antwortete. Sie sprachen weiter darüber. Ich war in die Laube getreten, zu dem kranken Kinde. Sie lag so schon da, mit dem feinen, weißen Gesichte, wie ein Engel, aber – wie ein sterbender Engel. Und sie konnte kaum sechzehn Jahre alt sein und sollte schon sterben! Mit ihrem liebenden, wehen, wunden Herzen! Die Mutter wußte nicht, wie das Kind plötzlich so krank geworden sei, gekränkelt habe es freilich schon lange. Auch der Arzt hatte es nicht gewußt, wie sie dem Gefangenwärter erzählte. Das Kind wußte es wohl, und auch ich wußte es jetzt, und ich wußte noch mehr, ich wußte auf einmal Alles, Alles, worauf ich bisher nur gerathen hatte.

Das brave, treue, junge Leben sollte geopfert werden!

Fiat justitia et pereat mundus!

Es wurde hier einmal in anderer Weise angewendet. Mir wollte tief im Innern ein Zorn aufsteigen gegen den Mann, der sich so von der Hand des Henkers befreien ließ, der zu dem einen Morde den zweiten hinzufügte; gegen den Vertheidiger, dessen eigentliches Werk dieser zweite Mord war. Ich hatte keinen Zweifel darüber. Jenes unbewegliche, unergründliche, kalte Gesicht, die glatt angestrichenen blonden Haare des Mannes – ich kann nun einmal die glatten blonden Haare nicht leiden – der ganze gewandte, eiskalte, berühmte Advocat der Residenz ließ keinen Zweifel mehr in mir zurück. Sollte ich ihm sein Spiel verderben? Ich konnte es. Nur ein Fingerzeig gegen irgend einen Menschen auf das blasse, sterbende Kind in der Laube! Sie konnte dem inquirirenden Präsidenten keine fünf Minuten lang widerstehen.

Aber die Wehmuth, das Mitleid unterdrückte den Zorn in mir. Mußte das arme Kind sterben – und sie mußte es, sie hatten das junge, zarte Leben bis in den innersten Keim vernichtet – wie konnte ich ihr dann noch in ihren letzten Stunden das Glück ihres Lebens rauben, das Glück, den Mann ihres Herzens, ihrer Liebe, ihrer Träume gerettet zu haben? Wie konnte ich sie nur den Qualen eines Verhörs aussetzen? Und dann, war der Mann, den sie rettete, wirklich der kalte, nur um Leben gegen Leben rechnende Mörder gegen sie? Hatte nicht jener tiefe Schmerz ihn durchzuckt, da er sie auf einmal in dem Gerichtssaale sah?

Ich war in die Laube zu dem kranken Kinde getreten. Ich hatte ein Gespräch mit ihr anknüpfen wollen, über ihre Anwesenheit im Saale, über Weiteres, was damit in Verbindung stand; ich hatte so klar wie möglich sehen wollen. Aber ich konnte es nicht, als ich sie näher, als ich sie so elend sah.

Und ein Anderes kam hinzu, das mir tief in die Seele schneiden wollte. Der Gefangenwärter trat auf einmal rasch zu mir in die Laube.

„Gehen wir, mein Herr!“

Er war ängstlich. Ich verließ die Laube. Vorn im Garten war der Präsident erschienen. Gerichts- und Gefängnißbeamte waren in seiner Begleitung. Es überlief mich heiß und kalt. Wohin wollten sie? Wohin konnten sie anders wollen, als zu dem kranken Kinde? War schon Alles entdeckt?

Ich mußte fort. Der Präsident und seine Begleiter durften mich, den der Gefangenwärter ohne Erlaubniß hierher gebracht hatte, nicht sehen. Mein Begleiter führte mich seitab, hinter Hecken, aus dem Garten. Als ich hinaus treten wollte, sah ich die Beamten auf die Laube zuschreiten.

„Das arme Kind hat schon lange die Auszehrung,“ sagte er im Gehen. „Die Leute wollen’s nur selber nicht wissen. Was mögen die da wollen?“ fragte er sich dann.

Ich wußte es, und das Herz bebte mir. Ich verließ das Gefängniß.

Die Stunde, nach deren Ablauf die Schwurgerichtssitzung wieder beginnen sollte, war vorüber. Ich kehrte in den Sitzungssaal zurück. Der Zuschauerraum war überfüllt. Die Geschworenen waren auf ihren Plätzen. Die Beamten waren noch nicht da, und der Angeklagte war daher noch nicht hereingeführt. Der Präsident mußte mit seinen Ermittelungen noch nicht zu Ende sein.

Nach einer halben Stunde erst trat der Gerichtshof wieder ein; hinter ihm der Staatsanwalt, von einer anderen Seite der Vertheidiger. Der Angeklagte wurde wieder hereingeführt. Der Präsident sah sehr feierlich aus. Der Staatsanwalt suchte ein feierliches Gesicht zu machen, und es glückte ihm. Der Vertheidiger versuchte dasselbe, aber mit weniger Erfolg.

Der Angeklagte saß kalt und theilnahmlos da, wie vorher. Der Präsident eröffnete die Sitznug wieder. In dem ganzen Saale herrschte die erwartungsvollste Stille. Der Präsident wandte sich an die Geschworenen.

„Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen zunächst Mittheilung von dem Vorfalle zu machen, der vor einigen Stunden Veranlassung werden mußte, die Sitzung auf kurze Zeit aufzuschieben. Der Wirth und die Wirthin von der fünf Meilen von hier gelegenen Eisenbahnstation Wiekel hatten sich hier eingefunden, um dem Criminalgerichte Anzeige von einem eigenthümlichen verbrecherischen Ereignisse zu machen. In der verflossenen Nacht war ein Reiter in das Wirthshaus gekommen, den sie zu ihrem Erstaunen als den Angeklagten erkannt hatten. Eine gewisse Scheu hatte sie abgehalten, ihm das zu sagen. Nach einer Weile hatte aber der Reiter mit einem der noch anwesenden Gäste Streit bekommen, gegen den Mann jäh ein Messer gezogen und ihm einen gefährlichen Stich in die Brust beigebracht. Man hatte ihn darauf verhaften wollen. Er hatte ein Doppelterzerol hervorgezogen, und man hatte nicht gewagt ihn anzugreifen. Er hatte das Haus verlassen, sich auf sein Pferd geworfen und war im Galopp davon gesprengt. – Meine Herren Geschworenen, Sie werden die Wichtigkeit dieses Ereignisses für die gegenwärtige Untersuchung einsehen. [147] War der Verbrecher der verflossenen Nacht ein Anderer, als der Angeklagte, so wären dadurch allerdings zugleich Zweifel in Beziehung auf die Thäterschaft des Mordes an dem Grafen Hochhausen erhoben. War es der Angeklagte, so hätte er zu dem früheren Verbrechen ein neues hinzugefügt, welches zeigte, wie wenig ihm an einem Menschenleben gelegen ist. Das Gericht mußte daher eine sofortige vorbereitende Untersuchung des neuen Verbrechens veranlassen. Die sämmtlichen Zeugen sind hier. Sie werden sofort vernommen werden und Ihnen die näheren Umstände des Verbrechens erzählen. Die Gefängnißbeamten werden Ihnen ihrerseits die erforderliche Auskunft geben. Ihr Urtheil wird dann ferner das Richtige treffen.“

Der Präsident hatte nichts Neues verkündet. Ueber das einzige Neue, das man erwartet hatte, hatte er nicht einmal eine Andeutung gemacht.

Der Angeklagte selbst hatte mit einem ruhigen, spöttischen Lächeln zugehört.

„Hat die Staatsanwaltschaft vor der weiteren Verhandlung Anträge zu stellen?“ fragte der Präsident.

„Nein,“ antwortete der Staatsanwalt.

„Der Vertheidiger?“

„Nein,“ antwortete auch der Vertheidiger.

Der Präsident begann die weitere Verhandlung.

„Angeklagter, Sie haben meine Mittheilung an die Geschworenen gehört. Was haben Sie darauf zu erwidern?“

„Nichts, Herr Präsident,“ war die ruhige Antwort.

„Sie waren also nicht heute Nacht an der Eisenbahnstation Wiekel?“

„Ich war in Ihren Gefängnissen, mein Herr. Wofür haben Sie diese und Ihre Beamten?“

„Haben Sie einen Verwandten, der Ihnen ähnlich sieht?“ fragte der Präsident noch.

„Nein!“

„Oder ist Ihnen sonst Jemand bekannt, der Aehnlichkeit mit Ihnen hätte?“

„Nein!“

Der Präsident schritt zur Abhörung der Zeugen. Zuerst wurde der Wirth von der Eisenbahnstation vernommen. Er erzählte Folgendes:

„In der vergangenen Nacht waren noch spät mehrere Gäste bei mir. Es waren Landleute aus der Nachbarschaft. Sie saßen in der gewöhnlichen Wirthsstube und tranken ihren Wein. Meine Frau und ich bedienten sie, weil meine Leute schon gestern gegen Abend hierher zum Schwurgerichte verreist waren. Kurz vor Mitternacht hörten wir auf einmal Alle den Galopp eines Pferdes, das seitab vom Felde her kam. Es kam näher zu der Station, und nach einer Weile trat ein Mann in die Wirthsstube und forderte einen Schoppen Wein. Wir mußten uns Alle verwundert, erschrocken ansehen. Wir Alle kannten den Mann. Es war der Freiherr Wallberg vom Schlosse Hard. Aber wie kam der hierher? Er saß ja in der Stadt im Gefängnisse und heute sollte er vor die Geschworenen gestellt werden! Wir hatten noch gerade von der Sache gesprochen. Und doch war er es. Wir hatten ihn Alle oft gesehen. Er war an zwanzig Mal bei mir im Hause gewesen. Ich brachte ihm den Wein. Er setzte sich damit an einen besonderen Tisch. Er schien sehr durstig oder sehr eilig zu sein, denn er trank schnell. Schon nach wenigen Minuten war er fertig mit seinem Schoppen. Er stand auf. Ich fragte ihn, ob er zu Pferde gekommen sei.

„Ja.“ antwortete er kurz.

„Wollen denn der Herr Baron,“ fragte ich ihn weiter, „dem Pferde nichts geben lassen?“

„Nein!“ war nur wieder die eben so kurze Antwort.

„Was habe ich zu bezahlen?“ fragte er dann.

Ich nannte ihm den Betrag. Er zog eine Börse und zahlte. Darauf wollte er sich wieder entfernen. Indem er aber vorschritt, strauchelte er plötzlich. Einer von den Gästen hatte, gerade vor dem Tische, lang seine Beine ausgestreckt. Der Freiherr hatte das nicht gesehen. Der Andere wollte die Beine zurückziehen, war aber ungeschickt dabei. Seine Beine verwickelten sich mit denen des Freiherrn, und der Freiherr fiel, so lang er war, zur Erde. Aber im Moment war er wieder aufgesprungen. Er war in heftigem Zorn, sein Gesicht war dunkelroth geworden.

„Flegel! Unverschämter!“ schrie er dem Andern zu.

Dieser war der Oekonom Braunsberger, ein Mann, der sich nichts bieten läßt.

„Herr,“ erwiderte ihm dieser grob, „sehen Sie künftig nach Ihren Beinen, dann fallen Sie nicht.“

Darüber wurde der Freiherr wüthend. Sein Gesicht war leichenblaß geworden. Er fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes, und ehe sich Einer von uns besinnen konnte, hatte er ein Messer oder einen Dolch hervorgezogen und damit dem Braunsberger einen Stich in die Brust versetzt, daß das Blut hoch herausspritzte.

„Grobian, Hund!“ rief er dabei in höchster Wuth.

Braunsberger war vom Stuhl gesunken. Wir Andern wollten den Mörder festhalten. Da hatte er schon ein Doppelterzerol hervorgezogen.

„Wer mich anrührt, ist des Todes!“ rief er.

Wir wichen vor ihm zurück. Er verließ ruhig die Stube und das Haus, und im Augenblicke nachher hörten wir ihn wieder im Galopp davon jagen, querfeldein, woher er gekommen war. Zu dem Verwundeten holten wir aus der Nachbarschaft einen Arzt, der ihn verband und erklärte, daß die Wunde nicht gefährlich sei, weil das Messer durch Zufall auf einen Knochen gestoßen sei; sei es eine Linie breit mehr zur Seite eingedrungen, so sei der Tod unvermeidlich gewesen. Meine Frau und ich fuhren mit dem ersten Eisenbahnzuge hierher, um von dem Vorfall Anzeige zu machen. Ich hatte unterdeß einen Nachbar nach Schloß Hard geschickt, um sich zu erkundigen, ob der Freiherr dagewesen sei. Kein Mensch hatte etwas von ihm gewußt. Auch sonst hatte ihn Niemand gesehen.“

Der Präsident hatte nur noch wenige Fragen an den Zeugen.

Wie der Reiter gekleidet gewesen sei?

„Er trug einen leichten grauen Sommerrock und eine graue Mütze; weiter habe ich auf seine Kleidung nicht geachtet.“

„Haben Sie den Freiherrn wohl früher in solcher Kleidung gesehen?“

„Ich kann mich nicht besinnen.“

„Sie sind fest überzeugt, daß der Reiter der hier anwesende Freiherr von Wallberg war?“

„Heute Nacht hätte ich darauf geschworen, und auch jetzt möchte ich es wieder, wenn ich mir den Herrn Baron ansehe. Alle die Andern meinten es ebenso. Es war das Gesicht, die Figur, die Stimme. Nur meine Frau meinte, es sei doch Etwas anders an ihm gewesen. Der Reiter sei ihr größer, die Stimme rauher vorgekommen.“

Die Frau des Wirths wurde vernommen. Sie bestätigte von Wort zu Wort die Aussage ihres Mannes; auch in Betreff der Aehnlichkeit. Sie besah sich den Angeklagten genau.

„Es war ganz das Gesicht,“ sagte sie, „die Nase, der Mund, die Augen, Alles so, wie ich es jetzt hier vor mir sehe. Nur größer schien mir der Fremde zu sein, als ich den Herrn Baron früher gesehen hatte, und die Stimme kam mir verändert vor.“

„Möchten Sie sich dazu verstehen, sich zu erheben?“ wandte sich der Präsident an den Angeklagten.

„Warum nicht?“ war die finstere Antwort, und der Angeklagte erhob sich stolz und richtete sich hoch auf mit seiner ganzen hohen Gestalt.

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Jener war doch größer,“ sagte sie. „Und auch die Stimme klang anders.“

Die anderen Zeugen wurden abgehört. Sie stimmten, Einer nach dem Anderen, gleichfalls mit dem Wirth überein. Den Angeklagten sahen sie sich wiederholt an; sie wollten ihn bestimmt wieder erkennen. Sie wurden mit den Zweifeln der Frau bekannt gemacht; Einige wurden irre, Andere nicht.

Der Präsident wiederholte bei dem Ersten die Aufforderung an den Angeklagten, sich zu erheben.

„Wozu die Komödie?“ war die stolze, unwillige Antwort, und er erhob sich nicht wieder.

In das unbewegliche Gesicht des Vertheidigers war Leben gekommen.

Die Gefängnißbeamten wurden vernommen, darüber, ob der Angeklagte in der vergangenen Nacht in seinem Gefängnisse gewesen sei.

„Ich habe die strengsten Nachsuchungen vorgenommen,“ leitete der Präsident die Vernehmung ein. „Sie haben, ich muß es hier [148] vorab erklären, zu keinem Resultate geführt. Um so mehr müssen die Beamten ihre Aussagen unmittelbar den Herren Geschworenen machen.“

Der Vertheidiger konnte die Erklärung mit einer klaren, ruhigen Befriedigung aufnehmen.

Es wurden zuerst diejenigen Beamten abgehört, denen in der Nacht die Bewachung im Innern des Gefängnißgebäudes anvertraut gewesen war. Keiner von ihnen hatte das geringste Verdächtige oder nur Ungewöhnliche wahrgenommen. Der Wächter des Corridors, an dem die Zelle des Angeklagten lag, hatte in dieser noch nach elf Uhr den Angeklagten umhergehen hören. Wer anders sonst, als der Angeklagte, hätte es denn sein können?

Der Präsident konnte nicht umhin, hierbei die Geschworenen darauf aufmerksam zu machen, daß die Eisenbahnstation Wiekel fünf Meilen von der Stadt entfernt sei;, daß der Angeklagte kurz vor Mitternacht da gewesen sein solle; daß der Angeklagte noch nach elf Uhr in seiner Zelle gehört sei; daß es zu den Unmöglichkeiten gehören dürfte, auch in einer vollen Stunde, auf dem schnellsten Pferde, von hier aus die Station Wiekel zu erreichen.

Der Angeklagte war gerettet. So meinte der ganze Saal. Auch den Geschworenen sah man es an. Es waren nur noch zwei Gefängnißbeamte zu vernehmen, welche das Gefangenhaus in der Nacht nach außen hin bewacht hatten. Was konnten sie noch von Erheblichkeit aussagen, nach den anderen Zeugnissen, nach dem Resultate der Nachforschungen des Präsidenten, das dieser schon im Voraus verkündet hatte?

Die beiden Beamten wurden vernommen. Der Eine hatte die gewöhnliche Wache am Thore gehabt. Er wußte gar nichts. Der Zweite hatte sich in einer Wachtbude auf der entgegengesetzten Seite des Hauses befunden. Auch ihm war nichts Verdächtiges vorgekommen. Er habe zwar, setzte er hinzu, gegen halb zehn Uhr in dem Garten des Hausvaters sprechen hören, aber es sei ihm nicht weiter aufgefallen, und darum habe er auch vorhin nicht daran gedacht, es dem Herrn Präsidenten zu sagen.

Den Vertheidiger sah ich plötzlich aufzucken. Ich glaubte ihn zittern zu sehen.

Der Angeklagte saß eisern kalt da.

„Wen hörten Sie in dem Garten sprechen?“ fragte der Präsident den Gefängnißbeamten.

„Es schienen mir zwei Stimmen zu sein. Die eine erkannte ich deutlich, es war die Tochter des Hausvaters.“

„Und die andere?“

„Ich glaubte, es sei ihre Mutter gewesen.“

„Was sprachen sie?“

„Sie sprachen leise mit einander. Ich verstand nichts.“

„Frau und Tochter des Hausvaters werden herbei geführt!“ befahl der Präsident einem Gerichtsdiener.

Der Diener entfernte sich. In dem Saale war doch wieder eine Spannung eingetreten. Aber der Vertheidiger hatte sich wieder erholt. Sein Gesicht war wieder unbeweglich und unergründlich. Um so unruhiger mochte, mußte es in seinem Innern sein.

Die Frau des Hausvaters wurde in den Saal geführt. Der Präsident befragte sie.

„Waren Sie gestern Abend um halb zehn im Garten?“

„Nein, Herr Präsident.“

„Sie sollen mit Ihrer Tochter da gewesen sein.“

„Ich war nicht da.“

Die Frau sprach bestimmt; man sah ihr die Aufrichtigkeit an.

„Ich kann mich geirrt haben,“ sagte der Gefängnißbeamte. „Ich glaubte auch nur, ihre Stimme zu hören.“

„Die Tochter werde hereingeführt!“ befahl der Präsident.

Der Angeklagte blieb eisern, der Vertheidiger unbeweglich. Aber die Frau des Hausvaters, die Mutter, brach in Thränen aus.

„Meine Tochter? Das arme Kind liegt im Sterben! Sie ist so sehr schlimm geworden, seitdem der Herr Präsident sie sah.“

Durch das Gesicht des Vertheidigers flog ein Triumph des Sieges.

Der Angeklagte fuhr in die Höhe, plötzlich, heftig, aber nicht stolz, nicht zornig; er fiel wieder zurück, wie ein Mann, dem auf einmal das Herz brechen will.

Der Vertheidiger sah ihn mit bebender Angst an. Sollte sein eigener Client, der Angeklagte selbst, das Spiel, das Spiel um Leben und Tod, das endlich vollständig gewonnen zu sein schien, auf einmal wieder verloren machen?

Der Präsident hatte den Angeklagten verwundert angesehen.

Der Staatsanwalt hatte einen mißtrauischen, nachdenklichen Blick auf ihn geworfen; der Blick heftete sich noch mißtrauischer, noch nachdenklicher auf den Vertheidiger.

Der Gerichtsdiener, der die Frau des Hausvaters hereingeführt hatte, war vorgetreten.

„Ich fand die Tochter wirklich krank im Bette,“ meldete er dem Präsidenten.

„Ich glaube, von ihrer Vernehmung Abstand nehmen zu dürfen,“ bemerkte der Präsident.

Der Staatsanwalt[1] bat um das Wort.

„Ich muß die Vernehmung beantragen,“ erklärte er. „Ueber dem neu eingetretenen Ereigniß schwebt ein bis jetzt unaufgeklärtes Dunkel. Da muß auch die letzte Zeugin vernommen werden, die möglicher Weise Aufklärung darüber geben kann.“

Der Vertheidiger konnte, durfte nicht widersprechen.

„Das Gericht wird die Zeugin in ihrer Wohnung vernehmen,“ erklärte der Präsident.

Das Gericht verließ den Saal. Der Staatsanwalt folgte. Der Angeklagte und der Vertheidiger durften bei der Vernehmung der Zeugin außerhalb der öffentlichen Sitzung nicht zugegen sein; wohl der Ankläger. Man nennt das Gleichheit vor dem Gesetze.

Den Vertheidiger wollte eine entsetzliche Angst verzehren. Sogar das Publicum, dem alle die kleinen, von mir wahrgenommenen Vorgänge nicht bemerkbar geworden waren, gewahrte sie. Dem Vertheidiger gönnte ich sie für seinen Siegestriumph bei der Nachricht von dem Erkranken des Kindes. Der Freiherr – ah, ich glaubte doch in seinen Augen mehr als Liebe zum Leben, mehr als Besorgniß für ein gleichgültiges Wesen, dem er etwa nur Dank schuldig sei, zu lesen; ich sah ein tieferes, ein innigeres, ein tief und fest mit dem Herzen verwachsenes Gefühl darin. Ich verzieh ihm so Manches.

Eine bange Viertelstunde war vorübergegangen. Das Gericht und der Staatsanwalt kehrten in den Saal zurück.

„Die Zeugin war zu krank, als daß sie vernommen werden durfte,“ verkündete der Präsident. „Ihre Mutter hat zudem bekundet, daß ihre Tochter gestern Abend zwar wohl auf wenige Augenblicke im Garten gewesen sei, aber sicher nichts Verdächtiges bemerkt haben könne, da sie sonst unter allen Umständen ihr, der Mutter, eine Mittheilung davon gemacht haben würde.“

Der Vertheidiger war wieder unbeweglich. Der Angeklagte sah mit starren Augen vor sich nieder; es kam mir vor, als wenn jede äußere Bewegung die entsetzliche Bewegung seines Innern verrathen müsse, und als wenn er das fühle. Nach ein paar Secunden mußte er doch das blasse Gesicht mit beiden Händen bedecken.

„Verlangt der Herr Staatsanwalt noch vorab das Wort?“ fragte der Präsident.

„Ich verzichte,“ erklärte der Staatsanwalt.

„So fordere ich den Herrn Vertheidiger auf, in seinem unterbrochenen Vortrage fortzufahren.“

Und der Vertheidiger fuhr mit jener vollen Ruhe zu sprechen fort, mit der er gesprochen hatte, als das neu eingetretene Ereigniß seine Rede unterbrach. Aber er hatte nur noch wenige Worte zu sagen.

„Der Vorfall der heutigen Nacht,“ sagte er, „entbindet mich von allem Weiteren, was ich Ihnen, meine Herren Geschworenen, noch vorzutragen hatte. Sieben bis acht vollkommen glaubwürdige Menschen, zum größten Theile Ihnen selbst als Ihre ehrenwerthesten Mitbürger bekannt, zum Theil sogar, wie ich hier erfahren habe, mit Mehreren von Ihnen durch Bande der Freundschaft oder Verwandtschaft enger verbunden, haben vor Ihnen bekundet, daß ein Mensch, der die auffallendste Aehnlichkeit mit dem Angeklagten hat, den sie gar für diesen gehalten haben, in der vergangenen Nacht fünf Meilen weit von hier ein schweres Verbrechen begangen hat, das an dasjenige Verbrechen erinnert, dessen der Angeklagte angeschuldigt ist. Eben so viele, nicht minder glaubwürdige Zeugnisse haben Ihnen dagegen, in Verbindung mit den sorgfältigsten Nachforschungen des Herrn Präsidenten, die Ueberzeugung verschaffen müssen, daß der Angeklagte während der ganzen vergangenen Nacht in dem hiesigen Gefängnisse sich befand, mithin nicht der Verbrecher dieser Nacht sein konnte. Ein Anderer, der mit dem Angeklagten die größte Aehnlichkeit hat, muß also notwendig in der Gegend weilen. Wer er ist, wer er sein mag, der Angeklagte weiß es nicht, Keiner hier im Saale weiß es, er

[149]

O Gott, wie blass sind deine Wangen!


Worte giebt’s, die nie verhallen!
Sie sind wie Steinchen, die gefallen
In einen Brunnen schwarz und tief,
Und die von Kant’ zu Kante springen

5
Und stets von Neuem aufwärts klingen,

Wenn scheinbar längst ihr Ton entschlief.

Es sind die Worte, die sich senken
In unsers Herzens tiefen Schacht;
Aus der Vergessenheiten Nacht

10
Klingt ewig neu ihr Angedenken.


Ich kehrte heim nach langen Jahren;
Des Lebens Wucht hatt’ ich erfahren,
Gekostet auch des Lebens Freude;
Mit meiner Jugend zahlt’ ich beide.

15
Die Mutter hielt mich lang’ umfangen,

Und als die erste Lust gestillt,
Sprach sie mit Tönen, traurig-mild:
O Gott, wie blaß sind deine Wangen!

O Gott, wie blaß sind deine Wangen!

20
Es glückt mir nicht, aus meinem Herzen

Die Mutterworte auszumerzen,
Ob Jahre d’rüber hingegangen.

Ob nun in Freude, ob in Leide
Der Wangen Frühling von mir scheide:

25
Die Worte sind mein treu Geleite.

Ich höre stets an meiner Seite
In Tönen, traurigen und bangen:
O Gott, wie blaß sind deine Wangen!

Und sitz’ ich Nachts allein und schaue

30
Mit falt’ger Stirne, düstrer Braue

Tief zu des Bechers goldnem Grunde,
Ist mir, als ob aus treuem Munde
Heraus die Klageworte klangen:
O Gott, wie blaß sind deine Wangen!

35
Fürwahr, ich glaube, wenn ich liege

Einst auf der schwarzen Todtenwiege,
Wo mich kein Menschenlaut mag stören –
Ich werde noch die stillen, bangen
Und vorwurfsvollen Worten hören.

40
O Gott, wie blaß sind deine Wangen!


Moritz Hartmann.

[150] würde sich sonst melden. Jener Andere muß auch vor drei Monaten bei der Ermordung des Grafen Hochhausen mit dem Angeklagten verwechselt worden sein. Die Zeugen konnten sich damals einer solchen Verwechselung schuldig machen. Sie, meine Herren Geschworenen, können es heute nicht mehr. Ich wenigstens, wenn ich unter Ihnen säße, könnte es nicht auf mein Gewissen nehmen, zu erklären: der Angeklagte ist der Mörder des Grafen Hochhausen. – Und weiter kein Wort an Sie, meine Herren Geschworenen. Doch noch Eins: Sie wollen nicht vergessen, daß wir hier in der Nähe der See wohnen, daß uns zur Rechten und zur Linken bedeutende Seehäfen liegen, und daß von da aus mancher fremde Abenteurer in das Land kommen kann, von dem Polizei, Gerichte und wir nichts wissen.“

Damit schloß der Vertheidiger.

Der Präsident resumirte kurz und unparteiisch die Verhandlungen und sandte die Geschworenen in ihr Berathungszimmer, um ihr Verdict zu geben über die Frage, ob der Angeklagte, Freiherr Wallberg, schuldig sei des Mordes des Grafen Hochhausen.

Die Geschworenen kehrten schon nach einer Viertelstunde zurück.

„Nichtschuldig!“ lautete ihr Wahrspruch.

Der Gerichtshof sprach den Angeklagten von der Anklage des Mordes frei. Der Präsident setzte den Angeklagten sofort in Freiheit.

Der Angeklagte eilte auf seinen Vertheidiger zu, drückte ihm flüchtig die Hand und stürzte aus dem Saale. Der Vertheidiger war unbeweglich und unergründlich.

„Wohin mag der Freiherr so schnell geeilt sein?“ wurde im Saale gefragt.

„Zum Gefängniß!“ wurde verwundert die Nachricht gebracht.

„Aber er ist ja in Freiheit gesetzt!“

Ich wußte wohl, warum er dennoch dahin geeilt war. Noch Einer wußte es außer mir. Ich wartete, als ich den Saal verließ, auf den Vertheidiger. Er kam allein.

„Sie haben ein gewagtes Spiel gespielt,“ sagte ich zu ihm. „Aber Sie haben es gewonnen.“

Er sah mich einen Augenblick betroffen an. Er erkannte mich wieder, freilich ohne zu wissen, wer ich war.

„Mein Herr,“ erwiderte er mir, „jeder Proceß ist ein gewagtes Spiel, das der Eine gewinnt und der Andere verliert.“

„Es kommt aber auf den Einsatz an,“ sagte ich.

„Ja.“

„Und hier haben Sie Leben um Leben gespielt.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Hat nicht das arme, blasse Kind aus jenem Gefängnisse das Leben des Angeklagten gerettet?“

Er verfärbte sich doch.

„Mein Herr –“

„Und war nicht ihr Leben der Einsatz, der Preis für jenes gerettete Leben?“

„Mein Herr, wer sind Sie?“

„Es wird nichts zur Sache thun. Jedenfalls bin ich ein Mann, der es nicht unternimmt, geschehene Dinge ändern zu wollen. Der Freiherr ist einmal freigesprochen.“

„Und, mein Herr, den freisprechenden Wahrspruch der Grschworenen kann nichts mehr aufheben oder ändern, gar nichts in der Welt.“

„Ich weiß es. Auch nicht der vollständige Nachweis, daß der Freiherr auch der Verbrecher der heutigen Nacht war –“

„Auch der Nachweis nicht.“

„Daß das arme Kind ihn aus seiner Haft hinausgelassen und, um die Beamten zu täuschen, bis zu seiner Rückkehr seine Zelle eingenommen hatte –“

„Auch das nicht.“

„Daß sein Vertheidiger den Plan angegeben und mit ausführen geholfen hatte –“

„Mein Herr, wenn das Alles bewiesen werden könnte, so wäre die einzige Folge, daß ich meine Stelle als Rechtsanwalt, mithin auch als Vertheidiger verlöre. Ich kann aber leben, und was das Vertheidigen anbetrifft, glauben Sie mir, mein Herr, ich habe es herzlich satt. Tage, wie der heutige, gehören zu den schwersten meines Lebens.“

Die Worte kamen ihm aus dem Herzen, und aus einem schwer gedrückten Herzen.

„Mein Herr,“ erwiderte ich ihm, „ich konnte Ihnen vorhin kein Glück zu dem Gewinnen Ihres Spieles wünschen. Ich hatte das Rechte getroffen. Aber darf ich mir die Frage erlauben, warum Sie denn solche Spiele spielen?“

„Warum haben wir solche Geschworenengerichte?“ sagte er.

„Vor anderen ständigen Gerichten hätten Sie es nicht gewagt?“

„Nein. Vor ihnen kann man keine Schauspiele aufführen.“

„Und warum haben wir diese Geschworenengerichte?“

„Weil man aus zweien Uebeln das kleinere auswählen muß, weil die Geschworenen unabhängige Männer sind, und unsere von der Regierung angestellten und unter Disciplinargesetze und andere Maßregelungen gestellten ständigen Richter –“

Er brach ab.

„– das nicht sind?“ fragte ich.

Er antwortete nicht.

„Eine andere Frage dann noch.“ sagte ich. „Verdient dieser Freiherr das Opfer des jungen Lebens, das für ihn im Sterben liegt?“

Er wurde wieder herzlich.

„Ja, mein Herr,“ sagte er. „Wie das Kind ihn mit aller Kraft seines zarten Lebens liebt, so liebt er sie mit seinem ganzen starken, muthigen Herzen. Er war es, der die große That des Kindes nicht annehmen wollte. Aber sie wäre mit ihm gestorben. Er fühlte es; da gab er nach, und sein festester Vorsatz ist es, sofort nach seiner Freisprechung von seinem untreuen Weibe sich scheiden zu lassen und dem edlen Kinde seine Hand zu reichen.“

„Ich fürchte, es war sein Vorsatz,“ mußte ich sagen.

„Nur der Tod des Kindes würde ihn lösen können.“

„Das befürchte ich.“ –

Und ich hatte Recht darin. Am folgenden Morgen früh kam der Vertheidiger zu mir. Er war voll Schmerz.

„Die Arme ist todt,“ sagte er. „Sie ist um Mitternacht in seinen Armen gestorben.“

„Und er?“

„Er nennt sich ihren Mörder. Er will sich den Gerichten überliefern. Er will sterben. Aber er ist einmal für nicht schuldig erklärt; nichts in der Welt kann das Verdict der Geschworenen wieder aufheben.“

„Und Sie?“ fragte ich noch.

„O, mein Herr, ich habe gestern zum letzten Male vertheidigt.“


Der Baunscheidtismus.

Lebensweckerei durch feine Nadelstiche und reizende Oeleinreibungen.

Was ein Mensch, mag er nun eine alte Frau oder ein Schuster, Schäfer, Postsecretär, Drechsler, verkommener Buchhändler u. s. w. sein und vom menschlichen Körper auch nicht das Geringste wissen, was er nur Blödsinniges ersinnen kann, es wird sicherlich, sobald er es gegen eine bestimmte Krankheit oder lieber gleich gegen das ganze Krankheitsheer als heilsam ausposaunt und ausposaunen läßt, sofort von der kranken Menschheit in Gebrauch gezogen. Daß das so ist, ist sehr traurig, aber erklärlich. Nur wenige Menschen kümmern sich ja um die in der Natur herrschenden Gesetze und strotzen deshalb über und über von Aberglauben; je unnatürlicher eine Heilmethode und je mehr dieselbe auf „geheime Kräfte“ gegründet ist, desto mehr glauben jene unwissenden Abergläubischen an die Heilmacht derselben. Manche lassen sogar, wie sie sagen, ihr Leben für die Wirksamkeit dieses oder jenes Heilhokuspokus, denn sie sahen mit eigenen Augen, daß nach dessen Anwendung Besserung oder Heilung eines Kranken erfolgte. Daß aber diese Besserung und Heilung, deren Existenz ja gar nicht bestritten werden soll, nicht in Folge der Anwendung jener Charlatanerie zu Stande kam, sondern ein Werk des so oft besprochenen Natur-Heilungsprocesses ist (s. Gartenl. 1855, Nr. 25), davon wollen sich auch gebildete Menschen, ja sogar Aerzte (besonders die Homöopathen), nicht überzeugen lassen.

„Prüfet Alles und das Beste behaltet“ wird beim Bekanntwerden der unsinnigsten Curarten von den Laien dem Arzte in den Bart geworfen. Gewiß geht Probiren oft über Studiren, aber Etwas, was gegen die Naturgesetze und den gesunden Menschenverstand verstößt, zu prüfen, ist nicht Sache der Wissenschaft und des Verstandes. Deswegen wird sich auch die Heilkunde (die [151] medicinische Wissenschaft) ebensowenig mit der homöopathischen Heilkunst abgeben, wie die Astronomie mit der Astrologie (Sterndeuterei) und die Chemie mit der Alchemie (dem Auffinden des Steins der Weisen und des Lebenselixirs). So ist’s auch gar nicht denkbar, daß ein wissenschaftlich gebildeter Mensch im Ernste darüber Nachforschungen anstellen wird, ob wirklich von 13 Personen, die an einem Tische saßen, eine (besonders die am Spiegel saß) im nächsten Jahre starb, oder ob’s wirklich möglich ist, daß Eier, die von einem weiblichen Wesen gesotten werden, nicht hart zu kochen sind, auch wenn sie noch so lange am Feuer stehen, sobald ein männliches Wesen in der Nähe während dieser Zeit seine Nase umfaßt hält. – Nur ein im tiefsten Aberglauben auferzogener Mensch kann an die Möglichkeit von Curen glauben, wie sie der zum Sanitätsrathe entpuppte Postsecretär Dr. Lutze in Köthen bekannt gemacht hat, der z. B. einem Geistlichen, welcher an Taubheit litt, bei 40 Meilen Entfernung in derselben Stunde das Gehör wieder verschaffte, als er die Kraft seines Willens dahin sandte, und der einen Mann, welcher sich auf der Straße eben den Fuß verrenkt hatte, durch bloßen Zuruf heilte. Daß die Königliche Polizei-Direction in Potsdam in einem Berichte an den Magistrat zu Köthen (vom 18. August 1846) und an die Herzoglich Anhaltische Medicinal-Commission (vom 8. Juli 1850) über diesen Heilkünstler geschrieben hat: „daß, wo derselbe in einzelnen Fällen sich der Heilung bedeutender Uebel öffentlich gerühmt habe und in seinen Schriften noch rühme, das Gegentheil davon bekannt worden sei,“ das thut bei der abergläubischen Menschheit diesem Wunderdoctor freilich keinen Abbruch.

Es gehört ferner ein fast an Wahnsinn grenzender Aberglaube dazu, um die Heilung der verschiedenartigsten Krankheiten aus einem und demselben Topfe voll purgirenden Geheimmittels (z. B. der Frau Müllerin Graf in Schleiz und des Herrn Schuster Lampe in Goslar) für möglich zu halten, und doch giebt es zur Schande des Menschenverstandes noch viele solche Abergläubige. – Kurz, aus der großen Menge zur Zeit und zwar zum Hohne des gesunden Menschenverstandes noch existirender und gesuchter Charlatanerien und Charlatane läßt sich recht deutlich ersehen, auf welch niedriger Stufe von wahrer Bildung das Menschengeschlecht noch steht.

Auch ein Drechsler, Herr Carl Baunscheidt in Endenich bei Bonn, hat, trotzdem derselbe vom menschlichen Körper und von Krankheit ganz und gar nichts versteht, eine neue Heilmethode erfunden, die er nach seinem Namen „Baunscheidtismus“ genannt hat. Sie besteht wesentlich in örtlicher Hautreizung und zwar mittels Anwendung eines von ihm erfundenen Instrumentes, dem er den Namen „Lebenswecker“ gab und in der nachfolgenden, einen Hautausschlag erzeugenden Einreibung eines von ihm präparirten, geheim gehaltenen, reizenden Oeles (Oleum Baunscheidtii, Lebensweckeröl) in die vom Lebenswecker gemachten Nadelstiche. Neuerlich hat dann noch ein Herr Fr. Neumann, der sich Verfertiger und Miterfinder des Instrumentes nennt, den Lebenswecker, wie er sagt, nicht nur wesentlich verbessert, sondern auch ein unentbehrliches Handbuch dazu kurz und verständlich abgefaßt, damit sich Jedermann mit leichter Mühe ohne Arzt selbst belehren und des Instrumentes bedienen kann. Natürlich gewährt, den Erfindern nach, dieses Heilverfahren bei vorkommenden Krankheiten die beste und schnellste Hülfe ohne Gefahr und Schmerz, und „daher sollte auch in jeder Familie, in jedem Hause dieser Heilapparat eben so wenig fehlen, wie eines der unentbehrlichsten Hausgeräthe.“ Selbst da noch, wo bei Krankheiten die angesehensten Aerzte und die gewöhntesten Heilmethoden sich als unwirksam erwiesen hatten, soll das Baunscheidt’sche Heilverfahren noch Heilung bewirkt haben.

Was nun zuvörderst das „ohne Gefahr und Schmerz“ betrifft, so ist dies durchaus nicht immer der Fall, denn die heftige Hautreizung durch die Lebensweckerei hat schon manchmal eine bis zum Brande gesteigerte, also gefährliche Hautentzündung veranlaßt. Auch sind Fälle bekannt worden, wo reizbare Personen in Folge der starken Erregung der Hautnerven (ob durch die Nadelstiche oder die Oeleinreibung, lassen wir dahin gestellt sein) von Krampfzufällen heimgesucht wurden. Also mit der Behauptung: „daß durch die Anwendung des Baunscheidt’schen Heilverfahrens weder gesunden noch kranken Individuen irgend ein Nachtheil zugefügt werden kann,“ damit ist es nichts.

Komisch, aber auch ärgerlich ist ferner das Gebahren des Herrn Drechsler Baunscheidt insofern, als er nicht nur mit den Thalern nicht zufrieden ist, welche ihm sein Instrument, sein Oel und sein in 8 Auflagen erschienenes Buch über den Baunscheidtismus eingebracht haben und noch einbringen, sondern daß er auch sogar noch den frechen Wunsch laut werden ließ, es möge sein Heilverfahren in der Wissenschaft aufgenommen werden. Dieses Unmögliche hoffte er dadurch zu ermöglichen, daß er „im Interesse sowohl der Wissenschaft als seiner Entdeckung“ zu Anfange des Jahres 1861 einen Preis von 200 Ducaten für die beste wissenschaftliche Abhandlung über den Baunscheidtismus aussetzte, und daß in einer im Jahre 1860 projectirten wissenschaftlichen Zeitschrift (für welche man auch merkwürdiger Weise den Unterzeichneten, der doch bis jetzt der Charlatanerie noch nirgends das Wort gesprochen hat, zum Mitarbeiter auserlesen hatte) der Lebensweckerei „das wissenschaftliche Bürgerrecht erworben und somit der wissenschaftlichen Medicin ein wirklicher Dienst erwiesen werden sollte.“ – Die Wissenschaft hat nun aber, wie sich das wohl von selbst verstand, von dem Baunscheidtismus ebenso wenig, wie von der Homöopathie, der Rademacherei u. s. w. bis jetzt Notiz genommen. Nicht wahr? Das ärgert Euch, Ihr Baunscheidtisten, Homöopathen und Rademacherianer?

Wie ärgerlich übrigens dem Herrn Baunscheidt dieses Ignoriren, sowie die Bemerkungen einiger Heilkünstler über die Lebensweckerei sind, läßt sich recht deutlich aus der knotigen Art und Weise erkennen, mit welcher er, der Drechsler, in seinem von Unsinn strotzenden Buche in Sachen der Heilkunst gegen wissenschaftlich gebildete Aerzte auftritt. Ja er bricht in seinem Dünkel sogar in die Worte aus: „Diejenigen Aerzte, welche sich noch als Widersacher dieser Lehre geriren, wünschte ich kennen zu lernen, um Sorge treffen zu können, daß ihr Name der Nachwelt nicht verloren gehe.“ Jedenfalls sind übrigens diese Aerzte besser daran, als diejenigen, welche Herr Baunscheidt in seinem Buche als Anhänger seiner Heilmethode namentlich aufführt und die dadurch bei ihren Collegen recht tüchtig blamirt worden sind. – Auch gegen Aerzte, die sich ein nachgemachtes Instrument anschaffen, wüthet Herr Baunscheidt, und „am allergemeinsten“ sollen sich nach ihm diejenigen Aerzte benehmen, „die sich durch seine Heillehre persönlich sowohl, als ihre Familie in körperlichem Wohlsein zu erhalten befleißigen, während sie ihre Patienten nach wie vor für schweres Geld nach der alten Medicinalia sterben lassen.“

Wie sich Baunscheidt die Wirkung seines Lebensweckers denkt, geht aus folgenden Worten hervor: „Dieses verwegene Instrument ist weiter nichts als eine Zusammenstellung feingespitzter Nadeln, welche dazu bestimmt sind, durch ihre Stiche in die Haut (eine fast schmerzlose Operation) künstliche Poren zu erzeugen, durch welche allen in Folge einer gestörten Hautthätigkeit an den leidenden Stellen des Körpers augehäuften, die Gesundheit tödtenden Krankheitsstoffen ein einfacher und natürlicher Weg zum allmählichen Abzuge (Verflüchtigung) geöffnet wird.“ – Bei dieser mehr als kindischen Ansicht über Krankheit (s. Gartenl. 1859. Nr. 18) wäre es ja am besten, es würden dem Kranken gleich Löcher in die Haut geschnitten, damit die Krankheitsstoffe recht bequem aus dem Körper herausfahren könnten. – Was für Krankheitsstoffe aber schon durch jene feinen Nadelstiche von Herrn Baunscheidt aus kranken Körpern herausgelockt worden sind, geht aus dem Verzeichnisse der Krankheiten (von denen übrigens viele, was Herr Baunscheidt nicht zu wissen scheint, nur Symptome der verschiedenartigsten Krankheiten sind) hervor, bei denen der Baunscheidtismus geholfen haben soll. Es sind unter andern: Akatalepsie, eine Krankheit, die den Menschen unfähig macht, eine Sache zu begreifen oder richtig zu denken; das Instrument wird hier 80 bis 90 Mal an die Rückgratswirbel gesetzt, und am folgenden Tage, Nachmittags gegen 4 Uhr, befreit sich das Nervenleben, es tritt eine erhebliche Stärkung der Verstandeskräfte ein. – Kahlköpfigkeit, wobei der Lebenswecker in zehntägigen Zwischenräumen am Rücken und hinter den Ohren angesetzt wird; der Krankheitsstoff macht dann dem Lebensstoffe Platz. – Finnen im Gesichte werden durch Baunscheidtiren am Rücken und Bauche bald beseitigt. – Gelbsucht wird in der Regel schon mit der ersten Anwendung des Instrumentes am Rücken und in der Lebergegend gehoben. – Gelbes Fieber, diese pestartige Seuche, wird mittel des Lebensweckers ebenfalls schnell und radical geheilt.

Es werden durch den Baunscheidtismus ferner geheilt: Krämpfe aller Art (der Lebenswecker ist „Herr aller Krämpfe“), Schlaflosigkeit, Würmer, Brandmale, Hypochondrie, zurückgetretene Krätze, Husten, Erschlaffung der Leber und Eingeweide, Darmgicht, Wechselfieber, [152] Seekrankheit (durch Baunscheidtisiren der Waden), Nervenfieber und Gehirnentzündung, Geisteskrankheit, Fett- und Fallsucht, Lähmung nach Schlagfluß, Geschwülste (die von der alten Medicin nur durch das Messer entfernt werden können, müssen dem Lebenswecker schmerz- und narbenlos weichen), Cholera, Bräune und Kehlkopfschwindsucht, Auszehrung, Muttervorfall und Pollutionen, Hundswuth und Syphilis, Kothbrechen und schwarzer Staar etc. etc. – Man braucht wahrlich nicht Arzt zu sein, um schon aus der Aufzählung dieser wenigen Krankheiten und Krankheitserscheinungen, welche durch den Baunscheidtismus gehoben werden sollen, einen Schluß auf den Grad der Charlatanerie bei dieser Heilmethode machen zu können.

Arbeitet man sich nun noch durch die im Baunscheidt’schen Buche abgedruckten, rein kindischen Krankengeschichten und Danksagungen hindurch, so wird’s jedem recht klar, weß Geistes Kind der Herr Baunscheidt und welcher Art die Uebel sind, wo die Lebensweckerei geholfen haben soll. In den Krankengeschichten des Herrn Baunscheidt floriren hauptsächlich Worte, wie: Schmerz im Rücken, Kopfgicht, rheumatisches und drüsiges, überhaupt schlimmes Augenübel, Gichtübel, schmerzhafter Rheumatismus u. s. f. Aus den Danksagungsschreiben lassen sich zwar, da meistens nur einzelne Krankheitserscheinungen angeführt sind, die Uebel, an welchen die Dankenden gelitten haben wollen, nicht sicher ergründen, aber geringfügiger Art scheinen die meisten zu sein.

Charakteristisch und äußerst spaßhaft sind ferner die sogenannten Erfahrungen des Herrn Baunscheidt, von denen wir einige dem Leser nicht vorenthalten können. – „Oft scheint der Krankheitsstoff während der Operation in einem vernehmbaren Geräusche mit den Nadeln zugleich hinausscheiden zu wollen.“ – „Wenn Patienten, welche an schweren Fiebern (Nervenfiebern) sich auf- oder durchgelegen, ferner keine Medicin bekommen, so genesen sie. Will alsdann aber der unvernünftige Arzt die Wunde heilen, so tödtet er den Kranken. Jeder Denkende muß darin einen neuen Beweis für die Richtigkeit meiner Lehre finden.“ (Das heißt also: der Krankheitsstoff fährt durch das Loch in der aufgelegenen Haut heraus.) – „Wo der Körper am wenigsten Widerstandsfähigkeit besitzt, da will aller Krankheitsstoff am ersten hinaus, und das ist durch die Augen.“ – „Chemiker, Apotheker, Schulmeister und Sattler sind oft wunderliche Leute. Jenen steigt der Dunst, diesen der Staub in’s Gehirn.“ – „Bei Schwindsüchtigen wächst der Bart drei Tage vor dem Tode gewöhnlich nicht mehr.“ – „Eine Blase frisch aus Metzgershand hat ihre Normalgröße; kommt sie aber nur einige Minuten mit der Luft in Berührung und wird kalt, so schrumpft sie zusammen, und die Wände derselben verdicken sich. Ebenso verhält es sich auch mit dem Magen und den Gedärmen eines Hypochondristen. Dieselben schrumpfen sogleich zusammen, und der innere Raum geht darin verloren, sobald der Körper kalt wird, welches immer vom Rücken her ausgeht. Der Lebenswecker als Heilmittel stellt die körperliche Wärme sowohl, als den Körper selbst, wieder in’s Gleichgewicht.“ – „Bei dem Krebsübel spielen die Genitalien die Hauptrolle.“ – Doch genug des Unsinns!

Schließlich möge die Welt wissen, wie Herr Baunscheidt seine große Entdeckung gemacht hat. „Eines Tages nämlich, als der Erfinder, der eben an einem rheumatischen Handübel litt, unbeschäftigt in seinem Zimmer saß und die Hand auf den Tisch hingelegt hatte kamen einige Mücken zugleich auf ihn heran, um sich auf der kranken Hand dreist niederzulassen. Weil sie sich gar nicht wollten abwehren lassen, so ließ er sie in ihrer Zudringlichkeit gewähren. Die Mücken aber stachen. Doch kaum hatten sie ihren zudringlichen Dienst verrichtet, als auch eine fast plötzliche Veränderung mit der kranken Hand vor sich ging. Mit den Mücken war der Schmerz wie fast weggeflogen, und die Mücke lehrte ihn also das Geheimniß: wie auf eine ganz einfache und natürliche Weise die eingefangenen Krankheitsstoffe ohne allen Blutverlust aus dem leidenden Theile des Körpers herausgezogen und abgeleitet werden können.“ Er erdachte darauf hin den Lebenswecker, welcher erwärmend, reinigend, ableitend, den Blutumlauf befördernd, aufregend und auslösend wirken kann.

Unser Urtheil über den Baunscheidtismus wäre nun: diese sogenannte Heilmethode ist eine durchaus nicht ungefährliche Charlatanerie, bei welcher, aber nicht durch welche, wie bei allen anderen Charlatanerien, Kranke gesunden können.

Bock.


Gottfried Kinkel’s Befreiung.
Von Moritz Wiggers.
(Schluß.)


Die unter der Hand eingezogenen Erkundigungen, um eine Schiffsgelegenheit nach England ausfindig zu machen, hatten zu keinem Resultate geführt. Wir deliberirten eben darüber, was jetzt zu thun sei, als Ernst Brockelmann in’s Zimmer trat.

„Nun wird uns wohl nichts Anderes übrig bleiben, als uns dem Correspondentrheder der auf Rhede liegenden Brigg anzuvertrauen,“ sagte ich zu Ernst Brockelmann.

„O nein,“ erwiderte dieser verheißungsvoll, „die Sache ist bereits arrangirt.“

„Haben Sie eine Schiffsgelegenheit ausfindig gemacht?“ fragte Kinkel gespannt.

„Das nicht. Aber ich habe mir die Sache überlegt. Es ist doch besser, daß nicht mehr Personen, als unumgänglich erforderlich, in’s Geheimniß gezogen werden. Ueberdies,“ setzte er lächelnd hinzu, „ist es Ihrer nicht würdig, daß Sie gleichsam als blinde Passagiere mitgenommen werden. Eins meiner kleineren Schiffe, ein Schooner von einigen vierzig Last, vereinigt die Vortheile in sich, daß es ein guter Segler ist und daß seine Befrachtung keine lange Zeit in Anspruch nimmt. Ich habe bereits Ordre gegeben, daß die „Anna“, eine Namensverwandtin Ihrer Johanna, in möglichst rascher Zeit mit Weizen nach Newcastle befrachtet wird. Die Cajüte ist zwar nicht groß, aber ein paar Wochen werden Sie es sich schon darin gefallen lassen.“

Wir waren alle dankerfüllt und drückten ihm gerührt die Hand. Die aufopfernde Hülfe Ernst Brockelmann’s hatte die Hauptschwierigkeit beseitigt. Die goldene Hoffnung einer baldigen Befreiung lächelte. Doch war keineswegs schon alle Gefahr beseitigt.

Bereits am Freitage nach der Flucht empfingen wir in den Zeitungen die ersten Nachrichten von der Entweichung Kinkel’s. Als ich am Nachmittage in’s Lesecabinet ging, um nachzusehen, ob schon etwas darüber zu lesen sei, und kaum die Thür geöffnet hatte, rief mir ein Freund mit einem Berliner Blatt in der Hand triumphirend entgegen:

„Kinkel ist entflohen!“

„Nicht möglich!“ rief ich anscheinend überrascht.

„Ja, hier steht’s,“ sagte mein Freund und las in freudiger Aufregung die kurzen bedeutungsvollen Worte: „Kinkel ist aus dem Zuchthause in Spandau entsprungen.“

Ich glaubte die Rolle des Ueberraschten sehr gut gespielt zu haben, mußte aber später zu meinem Leidwesen von meinem Freunde erfahren, daß es ihm aufgefallen sei, daß seine Nachricht keinen größeren Eindruck auf mich gemacht habe. Aber der Umstand, daß ich an demselben Morgen die Zusammenkunft mit den Flüchtlingen auf dem „Weißen Kreuz“ gehabt hatte, wird mein Benehmen einigermaßen entschuldigen.

Den Steckbrief, der gegen Kinkel sofort nach seiner Entweichung erlassen ward, las ich selbst den Flüchtlingen vor; sie machten scherzende Randglossen dazu.

Die Presse erging sich inzwischen in den abenteuerlichsten Nachrichten über die Kinkel’sche Flucht. Bald sollte er wieder eingefangen, bald hier, bald dort angelangt sein. Je größer das Gewirre der falschen Nachrichten war, desto mehr freuten wir uns. Den wichtigsten Dienst leistete uns der Pastor Dulon in Bremen, der, um die Polizei irre zu führen und von der ihm selbst unbekannten richtigen Fährte abzulenken, in seinem „Sonntagsblatt“ mit allen möglichen Details die Mittheilung brachte, daß Kinkel glücklich über Bremen auf einem nach England segelnden Schiffe entkommen sei.

Die „Anna“ konnte auch bei der größten Eile nicht unter acht Tagen die volle Weizenladung an Bord nehmen. Es traten aber Umstände ein, welche zu einer größeren Beschleunigung der Flucht dringend aufforderten.

In der Kaufmannswelt hatte es Aufsehen gemacht, daß [153] Brockelmann so plötzlich und unerwartet Weizen nach England verladete, da bei den damaligen ungünstigen Conjuncturen ein solches Geschäft voraussichtlich großen Schaden im Gefolge hatte. Außerdem fiel es auf, daß die Fuhrleute, angespornt durch kleine Belohnungen, mit ihren rasselnden und zwerchfellerschütternden Strandwagen in so großer Eile von und zu den Kornspeichern durch die Straßen jagten, um die „Anna“ zu beladen. Der Schiffer der „Anna“, Capitain Niemann, welcher bereits in seinem Wohnorte auf dem Fischlande die Winterquartiere bezogen hatte, ohne zu ahnen, daß ihm sobald eine neue Seereise bevorstände, ward plötzlich durch einen Brief Ernst Brockelmann’s der Nähe und Gemüthlichkeit des Familienlebens entrissen. So große Eile war ihm gemacht, daß er kaum die Zeit erübrigte, um die nöthigen Vorbereitungen für die beschwerliche Seereise während der rauhen Jahreszeit zu treffen.

Alle jene Thatsachen konnten freilich ihre sehr natürliche Erklärung in einer in den Nimbus des Geheimnisses gehüllten kaufmännischen Speculation finden. Aber es war doch auch die Besorgniß begründet, daß das Publicum den richtigen Grund errathen werde. Die Kinkel’sche Flucht bildete damals das allgemeine Tagesgespräch. Es bedurfte nur der kühnen Conjectur eines Bierhauspolitikers, um das Gerücht, daß Kinkel in Rostock sei, hervorzurufen. Ein solches bloßes Gerücht genügte, um die preußische Polizei, welche ohnehin schon an sich und beim Mißlingen ihrer sonstigen Nachforschungen auf Rostock hatte verfallen können, uns auf den Hals zu hetzen. Dazu kam, daß die Leute im Brockelmann’schen Hause davon zu Andern sprechen konnten, daß zwei mysteriöse Fremde, welche bei Tage das Haus nicht verließen und nur am Abende beim Mondschein in dem an der Warnow liegenden Garten frische Luft schöpften, sich dort aufhielten. Wie leicht konnte Jemand daraus den Verdacht schöpfen, daß einer der beiden Fremden Kinkel sei, und dies um so mehr, als die bekannten edlen Gesinnungen Brockelmann’s dafür bürgten, daß er einem politisch Verfolgten ein Asyl in seinem Hause nicht versagen werde. Da überdies Manche den damaligen Aufenthaltsort der beiden Flüchtlinge kannten, so ist es erklärlich, daß unsere Besorgniß vor Entdeckung mit jedem Tage zunahm.

Unsere Besorgniß steigerte sich zum Alarm, als ich am 14. November aus dem Strelitzschen einen Brief von unbekannter Hand und ohne Namensunterschrift entpfing, welcher die geheimnißvollen Worte enthielt: „Beschleunigen Sie die Versendung der Ihnen anvertrauten Waaren, es ist Gefahr im Verzuge.“ Dieser Brief stammte offenbar von einem Freunde, der um die Flucht wußte.

In Folge dieses Briefes ward beschlossen, die Abreise auf das Aeußerste zu beschleunigen. Während anfänglich dieselbe bis dahin ausgesetzt werden sollte, daß die „Anna“ die volle Weizenladung an Bord hätte, beschlossen wir jetzt, daß die Ladung nur so weit completirt werden solle, als es für die Sicherheit des Schiffes unumgänglich erforderlich war. Die „Anna“ sollte am Freitag noch soviel Ladung als möglich einnehmen und am Sonnabend nach Warnemünde gehen, um am Sonntage, den 17. November, falls der noch immer fortdauernde Nordoststurm sich gelegt habe, die Anker zu lichten.

Am Freitag Abend saß ich in meiner Arbeitsstube am Schreibtisch, als es draußen anklopfte. Ein mir unbekannter Mann von großer Gestalt mit einem langen dunklen Vollbart trat herein, ohne mein „Herein“ zu erwarten. Ich war ihm mit meinem Licht zum Vorzimmer entgegengegangen. Anstatt mich zu begrüßen, schaute er sich allenthalben vorsichtig um, wie wenn er sich versichern wollte, daß wir nicht behorcht würden, und flüsterte mir zu:

„Ich soll Sie grüßen von Ihrem Freunde N.“

Und während er dies sagte, nahm er seinen um den Hals gebundenen großen Shawl ab, breitete denselben auf den Tisch, faltete ihn auseinander, holte einen darin verborgenen Brief hervor und überreichte ihn mir mit den Worten: „Dies zu meiner Legitimation.“

Die geheimnißvolle Weise des Fremden erregte Verdacht in mir. „Vielleicht ein preußischer Polizeispion!“ dachte ich erschrocken.

Der Brief enthielt in wenigen Zeilen eine Empfehlung des Ueberbringers mit dem Zusatz, daß ich demselben ganz vertrauen könne. Aber ich kannte die Handschrift meines Freundes nicht genau. Und wenn sie es auch war, konnte er nicht selbst ein Betrogener sein? Konnte nicht auch der für den wirklichen Freund bestimmte Brief von der Polizei aufgefangen sein und von ihr dazu benutzt werden, mich zu überlisten und über den Aufenthalt Kinkel’s auszuhorchen?

Beim Lesen dieses Briefes fuhren mir alle diese Fragen durch den Sinn. Ich hielt mich verpflichtet, unter allen Umständen mein Geheimniß zu bewahren.

„Empfohlen durch meinen Freund N., sind Sie mir herzlich willkommen,“ sagte ich unbefangen. „Nehmen Sie gefälligst Platz. Womit kann ich Ihnen denn dienen?“

Der Fremde fixirte mich scharf und fragte leise: „Ist Kinkel noch hier?“

Ich fühlte mein Herz und meine Pulse klopfen bei dieser Frage. „Es ist in der That ein Spion,“ sagte ich mir „wenn ein Blick, eine Miene ihm das Geheimniß verräth, dann ist Kinkel verloren.“ Ich nahm alle meine Kraft zusammen und fragte erstaunt:

„Kinkel?“

„Ist er denn nicht hier gewesen?“

„Wie sollte er hierher gekommen sein?“ rief ich verwundert.

„Aber, mein Gott, Ihr Name ist doch in der Versammlung, in welcher der Fluchtplan festgestellt ward, genannt.“

„Sie müssen im Irrthum sein, mindestens weiß ich nichts davon. Darf ich bitten mir zu sagen, in welcher Weise Sie bei der Flucht Kinkel’s betheiligt sind?“

„Ich bin der Gutsbesitzer X. aus Z. und habe Kinkel von Spandau bis Strelitz gefahren. Von Strelitz aus ist der Stadtrichter Petermann mit ihm weiter gefahren, um ihn nach Rostock zu bringen.“

„Dies kann nicht geschehen sein. Denn mein Freund Petermann würde mir jedenfalls davon Mittheilung gemacht haben. Es wäre doch zu arg, wenn man mir als einem der Führer der demokratischen Partei eine solche Begebenheit verschwiegen hätte!“ rief ich anscheinend empört. „Aber was führt Sie jetzt hierher? Ihre Anwesenheit hierselbst kann Verdacht erregen.“

„Die Ungewißheit über das Schicksal Kinkel’s hat mir zu Hause keine Ruhe gelassen. Ich wollte mich darüber hier vergewissern. Man wird mich jedenfalls mit einer Criminaluntersuchung verfolgen. Jeden Tag erwarte ich meine Verhaftung. Ich fürchte dieselbe nicht, wenn ich die tröstende Gewißheit habe, daß Kinkel frei ist. Uebrigens habe ich anderweitige Geschäfte in der Nähe und damit einen guten Vorwand für meine Herreise.“

„Ich werde Alles thun, um Ihren Wunsch zu erfüllen, und deshalb die genauste Erkundigung einzuziehen suchen. Freilich wird dies zu nichts führen, da ich nicht glauben kann, daß Kinkel sich hierher gewendet hat. Aber zu Ihrer Beruhigung will ich auch ohne Aussicht auf Erfolg das Meine thun. Wenn Sie mich morgen früh 10 Uhr wieder beehren wollen, so werde ich Sie von dem Resultat meiner Bemühungen in Kenntniß setzen.“

Der Fremde dankte mir für meinen guten Willen, versprach mich um die bezeichnete Zeit wieder zu besuchen, und verabschiedete sich.

Ich athmete tief auf, als der Fremde fort war. Die Flüchtlinge mußten von seiner Anwesenheit benachrichtigt werden. Ich wollte sofort zu ihnen eilen. Aber ich bedachte, daß der Fremde, wenn er wirklich ein Spion war, mir aufpassen könnte. Deshalb wartete ich noch eine Viertelstunde, setzte mein Licht, welches von draußen gesehen werden konnte, wieder auf den Schreibtisch, um einen etwaigen Beobachter glauben zu machen, daß ich ruhig weiter arbeitete, und ging darauf nicht zu den Flüchtlingen, sondern zu der „Lesehalle“, wo ich einen eingeweihten Freund ersuchte, die Flüchtlinge sofort von dem Besuche des geheimnißvollen Fremden in Kenntniß zu setzen. Ich erhielt die Nachricht zurück, daß die gegebene Beschreibung desselben auf den Gutsbesitzer X. paßte, daß aber, um möglichste Gewißheit zu erreichen, der Kaufmann Schwarz ihn bei mir sehen und dann über das Aeußere desselben einen detaillirten Bericht zurück bringen solle.

Um 10 Uhr am andern Morgen fand sich der Fremde wieder bei mir ein. Ich sagte ihm, daß, wie ich erwartet, meine Nachforschungen fruchtlos gewesen wären, was ihn sichtlich beunruhigte. Bald darauf kam Schwarz, anscheinend in einer Geschäftsangelegenheit, betrachtete sich während des Gesprächs mit mir den Fremden, ohne daß dieser es merkte, und ging darauf wieder fort. Eine längere Unterredung mit dem Fremden erweckte in mir die Ueberzeugung, daß er in der That der Gutsbesitzer X. sei.

Am Nachmittage wollte er zur Besorgung seiner Geschäfte abreisen und am nächsten Montage über Rostock seine Rückreise antreten. Wir verabredeten, daß er dann wieder bei mir vorkomme. [154] „Ich bin nicht eher wieder ruhig, als bis ich die Gewißheit habe, daß Kinkel frei ist,“ sagte er zu mir in melancholischer Stimmung „Es wäre doch entsetzlich, wenn das bis dahin so glücklich durchgeführte Unternehmen noch mißlingen sollte.“ Wir verabschiedeten uns von einander. Es that mir wahrhaft weh, daß ich ihm kein tröstendes Wort auf den Weg geben durfte.

Schwarz kam am Mittage zu mir zurück und berichtete, daß kein Zweifel über die Identität der Person des Fremden mit dem Gutsbesitzer X. sein könne. Er habe über dem Daumen seiner Hand eine wundgescheuerte viereckige Stelle bemerkt und dies an Kinkel und Schurz berichtet. Diese aber hätten bezeugt, daß der Gutsbesitzer X. sich beim Hineinziehen der Pferde in den Stall des Wirthshauses in Fürstenberg in der bezeichneten Weise an der Thür des Stalles verletzt habe. Dessenungeachtet bestimmte uns die Vorsicht, dem Fremden nicht mitzutheilen, daß die beiden Flüchtlinge hier noch anwesend wären. Um ihn aber nicht ohne Trost von hier scheiden zu lassen, ward verabredet, und dies geschah im Einvernehmen mit Kinkel und Schurz, daß ich noch vor seiner Abreise ihn im Allgemeinen über das Schicksal Beider beruhigen solle. Ich ging darauf zu ihm in sein Gasthaus und traf ihn allein. Er kam mir erwartungsvoll entgegen. „Herr X.,“ sagte ich zu ihm, „es ist mir jetzt gelungen, Näheres über die beiden Flüchtlinge zu erfahren. Ich kann Sie nicht wegreisen lassen, ohne Ihnen davon Mittheilung zu machen. Kinkel und Schurz sind, wenn auch noch nicht gerettet, doch so gut wie in Sicherheit, fragen Sie nicht nach weiteren Details, ich darf Ihnen noch nicht mehr sagen. Aber vertrauen Sie meinem Wort. Am Montage werde ich Ihnen wahrscheinlich Näheres mittheilen können.“

X. drückte mir gerührt die Hand und sagte bewegt: „Ich danke Ihnen, Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen.“

Mit einem „Auf Wiedersehen am Montage“ trennten wir uns.

Die Ladung war am Freitag so weit completirt, daß sie als Ballast genügte. Am Abende legte sich der Sturm. Die „Anna“ ging am Sonnabend nach Warnemünde, und die Abfahrt von dort wurde definitiv auf den Sonntag festgesetzt. Frau Brockelmann hatte mit mütterlicher Geschäftigkeit dafür gesorgt, daß es den Flüchtlingen nicht an Speise und Trank und warmer Bekleidung während der Seereise fehlen sollte. Herr Brockelmann enthob sie durch Ausstellung von Creditbriefen aller Sorge für die nächste Zukunft. Wir Andern sorgten für Lectüre. Eine englische Grammatik, englische Lexica und Lesebücher sollten als Vorbereitung zur Erlernung der ihnen bis dahin unbekannten englischen Sprache dienen, deren Kenntniß ihnen später so werthvoll werden sollte. Die damalige Kolatschek’sche Monatsschrift und andere Novitäten waren für die Mußestunden bestimmt. Am Sonnabend Nachmittag reiste Schwarz nach Warnemünde, um Alles für die Abfahrt vorzubereiten und zugleich zu sondiren, ob die Küste rein sei.

Der Sonntag kam heran.

Am Morgen 9 Uhr stießen zwei Boote vom Strande ab, um nach Warnemünde zu fahren. In dem einen saßen Kinkel und Schurz zusammen mit Ernst Brockelmann, dem Capitain eines demselben gehörenden Grönlandsfahrers und einigen Herren, welche auf seinem Comptoir angestellt waren. In dem andern Boote waren verschiedene im Dienste des Herrn Brockelmann befindliche zuverlässige Personen. Etwas früher ging ich mit Bluhme zu Fuß nach dem eine halbe Meile von Rostock entfernten und an der Warnow gelegenen Dorfe Bramow. Um Aufsehen zu vermeiden, wollte ich nicht in Rostock in’s Boot mit einsteigen. Es war gelindes Frostwetter und dichte Schneeflocken fielen vom Himmel. Wir gelangten zur verabredeten Zeit an die vom Ufer in die Warnow führende kleine Brücke bei dem Wirthshause zu Bramow, welche zum Anlegen von Booten bestimmt ist. Es dauerte auch nicht lange, daß das Boot mit den beiden Flüchtlingen und den übrigen Personen anlegte und uns aufnahm. Die Luft, so kalt auf dem Lande, war auf dem Wasser ganz warm, wie dies immer in der kältern Jahreszeit der Fall, so lange das Wasser noch nicht mit Eis bedeckt gewesen ist. Der Schnee hörte auf, und der Himmel fing an sich aufzuklären. Eine frische Brise aus Ostnordost blähte die Segel und trug unser Schifflein leicht über die plätschernden Wogen.

Wie schön, wenn das Boot ohne Ruderschlag, wie durch unsichtbare Mächte getrieben, dahin fliegt und die sinnenden Blicke die durch das Steuerruder gebildete blänkernde Wasserfurche in ihren Schlangenwindungen weithin zurück verfolgen, oder den glänzenden Wasserspiegel betrachten, welcher, gleich neckischen Nixen, vor ihnen zu fliehen scheint! Alles um uns athmete Frieden. Die Ufer mit ihren Feldern, mit ihren weißen Häusern und grünen Fichten zogen wie Schattenbilder in tiefer Sonntagsruhe an uns vorüber. Das geschäftige Treiben auf dem Flusse, der Lärm vorbeipassirender Dampfer und Schiffe, das Schreien und Rufen der Matrosen, das Geräusch von Ruderschlägen, welches alles an Alltagen die Scene belebt und die Nähe der Seestadt verkündet, hatte einer tiefen Stille Platz gemacht. Man hörte nur das einförmige Geräusch der Wellen und das Gemurmel des das Wasser durchschneidenden Boots. Ab und zu ward die Stille durch den „Goden Morgen“-Gruß eines in einer vorbeifliegenden Jölle hintenüber lehnenden einsamen Steuermanns unterbrochen.

Wir waren Alle in feierlicher erwartungsvoller Stimmung. Jeder hing schweigend seinen Gedanken nach.

Wir hatten uns dem „Breitling“ genähert. Es ist dies ein etwa eine halbe Stunde breites und eine Viertelstunde langes Wasserbecken, zu welchem sich die Warnow kurz vor Warnemünde erweitert. Von dort gelangt man in den „Durchstich“, einen Canal, der erst in neuerer Zeit mittelst Durchgrabung einer Landzunge angelegt ist, um den „Breitling“ mit dem in die See ausmündenden Strom zu verbinden und so einen directen und näheren Weg zum Strom und zur See zu gewinnen, als man früher hatte, wo man der krummen Windung des Flusses folgen mußte.

„Dort, wo die beiden weißen Kreuze hervorschimmern,“ sagte ich zu den beiden Flüchtlingen, „ist die Einfahrt zum Durchstich. Wenn Schwarz dort mit einer brennenden Cigarre steht, so ist dies das verabredete Zeichen, daß die Luft rein ist, und wir segeln geradezu in den Durchstich. Sehen wir ihn dort nicht, so drohet Gefahr, und wir wenden uns rechts nach jenem weißen Häuschen im Holze, dem „Schnatermann“, und landen daselbst. Wir gehen dann längs der mit Holz bewachsenen Küste, welche sich dort, wie Sie sehen, nach Nordosten hin erstreckt, und zwar bis zur äußersten Spitze derselben, genannt die „Nase“, wo wir von Warnemünde aus nicht mehr gesehen werden können. Die „Anna“ läuft inzwischen aus und segelt bis zur „Nase“, von wo ein Boot an’s Land kommen wird, um Sie an Bord des Schiffes zu bringen. Sie sehen, daß wir unsere Vorsichtsmaßregeln gut getroffen haben.“

Ernst Brockelmann hatte indeß sein Fernrohr herausgeholt und lugte nach der Einfahrt des „Durchstichs“. Wir folgten gespannt mit unseren Blicken der Richtung des Fernrohrs.

„Doa steiht Eener, Herr Brockelmann,“ sagte der Capitain des Grönlandsfahrers nach einer Pause, mit der ruhigen Zuversicht, welche den Seemann auszeichnet.

„Waraftig – Sei hebben – Recht – Captein,“ erwiderte Ernst Brockelmann. „Sei sehn ja beter so, as ick mit minen Tubus. Doa steiht waraftig Eener.“

Wiederum eine kurze Pause.

„Dat is so ehr Swiegersöhn, Herr Brockelmann,“ sagte der Capitain weiter, indem er einen halb mitleidsvollen, halb verächtlichen Blick auf das Fernrohr warf.

„Das ist wirklich mein Schwiegersohn,“ rief Ernst Brockelmann frohlockend nach einer abermaligen Pause. „Es wird Alles in Ordnung sein.“

„Aber die Cigarre?“ wandte Carl Schurz ein.

„Sehn Se denn nich, dat et rookt, as wenn et achter em brennt?“ fragte der scharfsichtige Capitain.

Wir waren dem Durchstich jetzt so nahe gekommen, daß auch wir Landratten mit unseren bloßen Augen den Kaufmann Schwarz erkennen konnten, wie er aus einer Cigarre Dampfwolken von sich blies und uns heranwinkte. Wir fuhren in die Nähe des Ufers, jedoch ohne den Lauf unseres Bootes zu hemmen.

„Alles in Ordnung,“ rief Schwarz. „Die „Anna“ liegt gleich vorn am „Rostocker Ende“. Steigen Sie von der Wasserseite ein – der Dampfer ist bereits vorgespannt.“

Eine Centnerlast fiel uns vom Herzen. Der Augenblick der Befreiung nahte.

„Zieht die Segel ein, Kinder,“ rief Ernst Brockelmann, sich die Hände reibend und das Gesicht vor Freude strahlend, „und nehmt Eure Ruder. Der Strom läuft ein. Vorwärts!“

In wenigen Minuten erreichten wir die „Anna“, legten an und kletterten an Bord. Das andere Boot war dem unsrigen auf dem Fuße gefolgt. Kinkel, Carl Schurz, Ernst Brockelmann und ich stiegen sofort in die Cajüte. Die anderen Herren vertheilten [155] sich auf dem Deck der „Anna“ und des vorgespannten Dampfschiffs, das dicke Rauchsäulen aus seinem Schornstein blies und rasselnd den Dampf aus dem Ventil entsandte.

Der Führer der „Anna“, Capitain Niemann, war ganz bestürzt und erstaunt, als er beim Eintreten in die Cajüte dieselbe von so vielen Herren besetzt fand. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß er in seiner kleinen Cajüte noch Passagiere beherbergen solle.

„Capitain,“ sagte Ernst Brockelmann zu ihm. „Sie nehmen diese beiden Herren,“ auf Kinkel und Schurz zeigend, „mit nach Newcastle. Bei Helsingoer segeln Sie, ohne anzulegen, vorbei und zahlen den Sundzoll auf der Rückreise. Bei ungünstigem Winde setzen Sie lieber das Schiff an der schwedischen Küste auf Strand, als daß Sie nach einem deutschen Hafen zurückkehren. Paßt Ihnen der Wind nach einem andern Hafenort der englischen oder schottischen Ostküste besser als nach Newcastle, so segeln Sie dorthin. Es kommt nur darauf an, daß Sie möglichst rasch nach England kommen. Ich werde es Ihnen gedenken, wenn Sie meine Ordres pünktlich ausführen.“

Nachdem Brockelmann dem Schiffer diese concise und entschiedene Instruction ertheilt hatte, umarmte er die beiden Flüchtlinge, wünschte ihnen aus der Tiefe seines Herzens eine glückliche Reise und trennte sich von ihnen, um an’s Land zu gehen. Es war eine kurze ergreifende Scene, die uns Allen Thränen in die Augen brachte, wie die Flüchtlinge sich von ihrem Erretter verabschiedeten.

Inzwischen war auch Schwarz an Bord gekommen und zu uns in die Cajüte gestiegen. Das Commando zur Abfahrt wurde gegeben, und der Dampfer setzte sich in Bewegung. So wohl war Alles arrangirt, daß zwischen der Zeit unserer Beilegung am Schiffe und der Abfahrt kaum zehn Minuten verstrichen waren. Der Steuermann der dem Großherzoge gehörigen Vergnügungs-Yacht war von der Ironie des Schicksals dazu ausersehen, auch auf dem Dampfschiffe, welches die „Anna“ mit den Flüchtlingen in die freie See bugsirte, das Steuerruder zu führen.

Als wir die letzten Häuser des Ortes passirt waren, stiegen wir aus der Cajüte auf’s Deck. Die Sonne war aus den Wolken hervorgetreten und erhellte mit ihren glänzenden Strahlen, wie wenn der Himmel selbst seine Freude über das Gelingen des Befreiungswerks bezeigen wollte, das vor uns liegende weite Meer. Auf der Mole, welche links von uns sich tief in die See hinein erstreckt, sahen wir Ernst Brockelmann etwa dreißig Schritte vor uns auf laufen, um noch, ehe wir vorbeipassirten, die äußerste Spitze der Mole zu erreichen. Kinkel und ich standen am vorderen Mast. Carl Schurz stützte sich mit dem Elbogen auf die vordere Schanzkleidung und betrachtete Kinkel von der Seite mit einem Blick, in welchem die Freude über die Errettung des Freundes, die Genugthuung über das Gelingen des Wagestücks und der Triumph über den Sieg wider die Feinde, deren mächtigen Händen er das Schlachtopfer entrissen, sich ausdrückten. Ernst Brockelmann war kaum am Ende der Mole angelangt, als auch schon das Dampfschiff an ihm vorbeidampfte. Darauf machte er Front gegen uns, und in demselben Augenblick, wo die „Anna“ an ihm vorbeipassirte, schwenkte er seine Mütze und warf sie mit lautem, jauchzendem „Hurrah“ wiederholt in die Luft. Die von der Sonne beschienenen grauen Locken wehten um das würdige entblößte Haupt. Wir wurden wie elektrisirt und jubelten laut und grüßten wieder. Kinkel ward überwältigt von dem Moment. Er stürzte sich schluchzend an meine Brust und bebte wie vom Fieberfrost geschüttelt in meinen Armen. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er, melancholisch vor sich hinblickend: „Ich weiß nicht, soll ich mich freuen über meine Rettung oder soll ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher und Ausgestoßener mein theueres Vaterland fliehen muß?“ –

Der Wind war zu Gunsten der Flüchtlinge ein wenig mehr nach Norden umgegangen. Aber er hatte doch noch einen Strich von Osten, so daß die „Anna“ ohne Hülfe des Dampfers die vorspringende „Nase“ nicht anders umschiffen konnte, als wenn sie verschiedene Male gekreuzt hätte. Da wir nun das kreuzen derselben im Angesicht des Hafens vermeiden wollten, so ließen wir sie durch das den stricte nördlichen Cours steuernde Dampfschiff etwa zwei Meilen in See über die „Nase“ hinaus bugsiren. Die „Anna“ setzte darauf die Segel bei, das Schlepptau des Dampfschiffes ward losgeworfen, wir sagten den Flüchtlingen Lebewohl und stiegen in das Boot des Dampfschiffes, um uns an Bord desselben bringen zu lassen. Die „Anna“ drehte inzwischen beim Winde bei, die flatternden Segel füllten sich, und den östlichen Cours haltend schoß sie vorwärts. Zum letzten Abschiedsgruß feuerten wir unsere Pistolen ab, während die Flüchtlinge ihre Seemannshüte schwenkten.

Als wir eine Stunde später wieder im Warnemünder Hafen anlangten, sahen wir von der „Anna“ nur noch einen kleinen schwarzen Punkt. Ernst Brockelmann erwartete uns mit einem Mittagsessen im Wöhlert’schen Gasthause, an welchem die ganze Gesellschaft, welche die Flüchtlinge begleitet hatte, Theil nahm. Wie fröhlich wir waren, mag der Leser sich ausmalen. Am Abende bei herrlichem Mondschein fuhren wir auf unseren Booten nach Rostock zurück.

Noch an demselben Abend ging, unter den gehörigen Vorsichtsmaßregeln, ein Brief an Johanna Kinkel ab.

Am Montag kam, wie verabredet, der Gutsbesitzer X. zu mir. Wie glänzte sein Gesicht vor Freude, als ich ihm die fröhliche Mähr von der gestrigen Abreise der Flüchtlinge meldete! „Nun, da ich weiß, daß sie gerettet sind, will ich gern alle Folgen auf mich nehmen,“ sagte er.

„Aber, mein Herr,“ erwiderte ich scherzend, „wie haben Sie mich und uns Alle so erschrecken und mich in die unangenehme Lage bringen können, Ihnen die Unwahrheit sagen zu müssen!“

„O, Sie haben Ihre Revanche genommen,“ rief er lachend. „Ich kann Ihnen das Zeugniß ausstellen, daß Sie Ihre Rolle meisterhaft gespielt haben.“ Bei einer Flasche Portwein schlossen wir Freundschaft und trennten uns nach einer Stunde wie alte Bekannte. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen.

Aus den Schiffslisten erfuhren wir, daß die „Anna“ am 19. November im Sunde angekommen war, wir wurden aber zugleich durch die Nachricht alarmirt, daß um jene Zeit auch das preußische Kriegsschiff „die Amazone“ den Sund passirt habe. Das Zusammentreffen beruhte indeß glücklicher Weise auf reinem Zufall. Die Ankunft der Flüchtlinge in Leith und Edinburg, wohin sie sich, anstatt nach Newcastle, des besseren Windes wegen gewandt hatten, berichtete Kinkel in einem Briefe an die Brockelmann’sche Familie. Am 1. December hatten sie den freien Boden Britanniens betreten. Von Edinburg waren sie mit der Eisenbahn nach London gefahren. In Paris sah Kinkel seine Frau, welche noch kurz vor ihrer Abreise dahin eine polizeiliche Haussuchung zu bestehen gehabt hatte, und seine Kinder wieder.

In dem nachstehenden, auf der Fahrt nach England entstandenen Gedichte, welches er der Brockelmann’schen Familie zusandte, schildert Gottfried Kinkel die Empfindungen, welche ihn beim Scheiden aus ihrem Kreise bewegten.


An der See.      November 1850.

Nun sinken böse Sterne
Tief hinter mir in Nacht.
Es ladet mich die Ferne
Mit frischer Morgenpracht.

5
Die wanderfrohen Wellen

Mit weißem Kamme schwellen,
Von Süden weht’s mit Macht.

In wenig Stunden fodert
Der Bootsmann mich zum Strand.

10
Durch meine Seele lodert

Des Abschieds scharfer Brand.
Die Lippe fragt so bange:
Wie lang’, ach, auf wie lange
Meid’ ich das Vaterland?

15
Doch eh’ zum schwanken Loose

Ich frisch mich wende nun,
Eh’ neues Schlachtgetose
Mich ruft zu kühnem Thun:
War es mir doch beschieden

20
In deutschen Hauses Frieden

Noch einmal auszuruhn!

Ich kam auf Flüchtlingspfaden
Geächtet und gebannt;
Ich kam von Schmerz beladen,

25
Von Haß und Zorn entbrannt;

Es schlug die Flucht mir Wunden,
Sie wurden mir verbunden
Von mütterlicher Hand.

Hier fand ich deutsche Seelen

30
und echtes Sachsenblut;

Sie setzten ohne Wählen
An mich ihr Glück und Gut;
Hier an des Landes Marken,
Da fand ich noch den starken,

35
Den treuen Opfermuth!


O Eure fromme Güte,
Sie that sich nie genug!
Sie stillt mir im Gemüthe
Den Ingrimm, den ich trug;

40
Ihr habt es mir verliehen,

Daß ich vermag zu ziehen
In’s Elend ohne Fluch.

Drum Segen diesem Heerde
Und Heil ihm ewiglich,

45
Wo noch nicht von der Erde

Das fromme Gastrecht wich!
Auf allen ihren Wegen,
Mein Kind, den Deinen Segen,
Und Segen auch auf Dich!

50
Bald wirst Du selbst ja schalten

Mit mütterlichem Sinn,
Des eignen Hauses walten
Zum freudigsten Gewinn;
Dem trefflichen Gemahle

55
Beutst Du der Jugend Schale,

Du liebe Schaffnerin!

Auch uns, drauf magst Du trauen,
Fällt anders bald das Loos.
Und rasch zu Euren Auen

60
Wiegt mich des Meeres Schooß;

Aus Franken und aus Sachsen
Soll dann Zusammenwachsen
Ein Deutschland frei und groß!

[156]

Ein Leipziger Künstler-Costümball.
(Mit Abbildung.)


Künstlerfeste haben einen eigenen Reiz. Wenn die schaffenden Geister sich einmal mit jugendlicher Frische auf Lustbarkeiten werfen, wenn die Ideen, statt auf Leinewand und in Stein, in lebendigen bunten Bildern und Gestalten hervorsprudeln, dann läßt sich darauf rechnen, daß Prinz Carneval einen reichen Hoftag hält und Gott Humor mitten darin ist. Abgesehen davon, daß jeder Theilnehmer eines derartigen Festes eine nachhaltig schöne Erinnerung behält, so bleibt den Veranstaltern neben dieser Erinnerung die Freude das Gesammtbewußtsein und den Geist des Standes aufgefrischt zu haben, so daß auch der Geringere stolz ist, einem solchen Bunde anzugehören.

Zu einem derartigen Feste vereinigten am Abend des 30. Januar die weiten Räume des Schützenhauses die Leipziger Künstlergesellschaft, ihre Freunde und Gönner in den reichen und interessanten Costümen aller Zeiten und Nationen. Das Bestreben, vom herkömmlichen Maskenwesen abweichend, etwas Echtes und Charaktervolles darzustellen, war fast durchweg von schönstem Erfolge belohnt worden und hatte ein Gemisch von Formen und Farben geschaffen, das im Einzelnen wie im Ganzen einen erfreuenden und wohlthuenden Eindruck machte. So wogte die heitere Menge unter den rauschenden Klängen der Musik, sich freuend und erfreuend, hin und her, bis Trompeten-Fanfaren schmetternd zum Schauen des Festspieles riefen. Der Prolog im Narrengewande kündete das Schönbartspiel[2] „Reineke Fuchs“ an, eine allerliebste dramatische Bearbeitung des allbekannten deutschen Heldenliedes von Otto Roquette, die der beliebte Dichter zu Nutz und Frommen vieler anderer Künstlerseelen wohl der Oeffentlichkeit übergeben dürfte.

Der aufgerollte Vorhang zeigte das thronende Königspaar, umgeben von seinem Hofstaate. Braun, Isegrimm, Grimmbart, Giremund und die Aeffin, Bellin und andere höhere und niedere Personen bildeten mit ihren trefflich charakteristischen Thiermasken und phantastisch-mittelalterlichen Costümen eine originelle und malerische Gruppe. Grimmbart sucht mit wahrhaft hofmännischer Feinheit seinen Vetter Reineke gegen alle Anklagen zu vertheidigen und rührt besonders das Herz der Königin, während Isegrimm durch Erinnerung an Reineke’s Don-Juan-Abenteuer einen Scandal der Damen erregt. Da erscheint Junker Lampe, um Hinz’s Ankunft zu verkünden, der als Bote an Reineke geschickt war und alsbald jämmerlich miauend zu den Füßen des Königs stürzt und in herzbrechender Weise seine Gefangennehmung im Taubenhaus erzählt. Schon wird der König von neuem Zorn erregt, da erscheint Henning, ihm folgen vier weinende Hähnchen, auf der Tragbahre die Leiche der holden Kratzefuß tragend. In rührender Rede fleht der gebeugte Familienvater um Hülfe gegen den Mörder Reineke, der ihm sein Kind erwürgt. Nun ist des Herrschers Milde zu Ende, Lampe wird in Begleitung von Isegrimm gesendet, Reineke zu holen, und mit einem Trauerchoral schließt der erste Act. – Im zweiten öffnet sich Reineke’s Burg, sein zierliches Weibchen ist allein, und bald erscheint Grimmbart, um Reineke zu warnen. Er ist eben im Begriff seiner holden Frau Muhme ein Küßchen zu rauben, als Reineke mit seinen zwei Jungen von der Jagd nach Hause kommt. Mit keckem Uebermuth setzt er sich über Grimmbart’s Besorgnisse hinweg und unterrichtet seine Söhne theoretisch in der Lebenskunde in einer scharf satirischen Rede, die in der vernichtendsten Weise die scheinheiligen Frömmler geißelt. Dann verlockt er Grimmbart mit der Aussicht auf einen saftigen Hasenbraten, Lampe mit ihm zu beseitigen, und das arme Junkerchen, das alsbald seine Botschaft bringt, wird in freundschaftlicher Umarmung erwürgt. Mit einem lustigen Tänzchen schließt der zweite Act. – Im dritten, wo sich wieder das königliche Hoflager zeigt, erscheint Isegrimm mit einem Brief von Reineke, der zu aller Entsetzen Lampe’s Haupt enthält; Isegrimm wird von Grimmbart als Mörder beschuldigt, da erscheint keck und gewandten Benehmens mit tiefen Verbeugungen Reineke im reichen Hofcostüm. Mit erhabenem Schwung begrüßt er die Versammlung und bricht auf des Königs zornige Gegenrede in eine pathetische Wehklage auf Lampe’s Tod aus, doch soll es ihm nichts helfen, er wird zum Galgen verdammt, und Hinz knüpft ihm schon die Schlinge um den Hals; umsonst fleht die Königin um Gnade, da läßt er Andeutungen über ein tiefes Geheimniß fallen und auf Königs Befehl enthüllt er, daß er im Besitz des Nibelungenhortes sei, und beschreibt in glänzenden Farben dessen Herrlichkeit. Er verspricht ihn dem König zu schenken, dieser läßt ihn versöhnt von der Leiter steigen, erhebt ihn zu seinem Vertrauten, und Reineke triumphirt im gelungenen Erfolg seiner herrlichen List.

Die Künstler, denn aus ihnen bestand das gesammte Personal des Stücks, hatten trefflich gespielt, und die gute Wirkung auf die Stimmung der Gemüther krönte ihr und des Dichters Werk.

An das Spiel schloß sich ein Festzug an, der besser als bisher Gelegenheit bot, die herrlichen Costüme malerisch zu entfalten und zu bewundern. Vier schwedische Trompeter eröffneten den Zug, ihnen nach folgte die von Herolden getragene Vereinsfahne. Unter den Vertretern aller Zeiten erschien ein oströmischer Kaiser mit seinen schlanken Töchtern; der hörnene Siegfried schreitet einher, markig und siegesfreudig; auch der alte Barbarossa hat seinen unterirdischen Palast verlassen und alsbald eine Genossin in der holden Katharina Cornaro, Königin von Cypern, gefunden. Das Ritterthum stellte seinen Vertreter in dem Edlen Don Quixote von la Mancha, dem auch der treue, auf Schritt und Tritt folgende Knappe Sancho Pansa nicht fehlte. Das Jahrhundert des Wiedererstehens classischer Werke brachte aus Deutschland, Italien, Spanien und England schöne Gestalten; deutsche Patrizier und einfache Bürgersfamilien, Künstler und Gelehrte wechselten mit spanischen Granden und italienischen Edeln, bis die Zeit des dreißigjährigen Kriegs neue Erscheinungen bot. Schweden und Wallensteiner gingen friedlich miteinander; wohlhäbige Niederländer, ernstblickende Puritaner hatten als Nachfolger die Kinder der Zeiten Ludwig’s XIV., welche denn auch in reicher Zahl mit Allongen-Perrücken und weiter mit Zopf und Haarbeutel, Reifrock und Thürmen von Haaren und Puder eine Verbindung mit den Gestalten unserer Tage herstellten. Unter Letzteren erregten zwei Beduinen allgemeine Bewunderung, nicht minder die reizenden Spanierinnen, blonde und schwarzbraun Mädchen aus Schwaben, Thüringen und andern Theilen unsers lieben Vaterlandes. Daß Polen und Griechenland, die Türkei und Mexico nicht fehlten, muß dieser in großen Schritten dahingehenden Schilderung, die leider nur einen oberflächlichen Begriff von der Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit der Costüme geben kann, beigefügt werden.

In der heitersten Stimmung begann die Tafel, in deren Verlauf eine Reihe prächtiger Toaste bald tönend, bald in keckem Humor sprudelnd die gemüthliche Heiterkeit von Schritt zu Schritt hob und steigerte, bis sie in dem darauf folgenden Balle sich bethätigen konnte und dies in frohem munterem Tanze bis zum frühen Morgen durchführte.


Das Frühlingsleben des Meeres.
Von Ernst Hallier.


Das Einzige, was den Winteraufenthalt auf dem Felseneiland Helgoland auch dem Naturforscher erschwert, ist der Gedanke, daß kein Frühling, wie er ihn kennt und liebt, den winterlichen Stürmen folgen werde. Wer beim Leben und Arbeiten in freier Natur Langeweile empfindet, der spricht sich damit gewiß sein eigenes Urtheil, zumal wenn seine Beschäftigung ihn direct in die Natur einführt; aber den größten Enthusiasten überschleicht beim Nahen des Frühjahrs ein unbehagliches Gefühl, wenn er denkt: „Nun steht auf dem Festland Alles in voller Blüthe, Alles giebt sich dem Frühlingsjubel hin; Du aber bist ausgeschlossen, allein in der Meereswüste!“ Das war mein Schicksal in diesem Jahr. Zum ersten Mal im Leben entbehrte ich das innige Grün des Buchenwaldes, den diamantbesäeten, thauduftenden Wiesenteppich, den Klageton der Nachtigall und selbst der Lerche schmetternden Lobgesang. Jenes ahnungsvolle Frühlingsgefühl konnte schon deshalb kaum flüchtig in mir rege werden, weil es auf Helgoland keinen eigentlichen

[157]

Reineke Fuchs, Schönbartspiel v. O. Roquette.

[158] Winter gab. Zwar hatte ich einmal den flüchtigen, reizenden Anblick der schneebedeckten, von der untergehenden Sonne tief gerötheten Dünenlandschaft, zwar drangen die Novemberstürme schrecklich zum Ohr und zum Gemüth, und eine kurze Periode hindurch herrschender Ostwind ward selbst bei glühendem Ofen in den schlecht gebauten Häusern durchdringend fühlbar; aber ich sah, einige Eiszapfen am Felsen abgerechnet, keine Spur von Eis, sehr wenig Schnee, den der Wind bald wieder entfernte, und die Temperatur sank nur auf kurze Zeit unter den Gefrierpunkt, so daß die Rasenfläche des Oberlandes fast den ganzen Winter einen grünen Schimmer beibehielt und hie und da mit Marienblümchen übersäet blieb. Der Rasen auf dem Felsenplateau besteht fast nur aus Festuca ovina L. welche, von den Schafen vortrefflich gedüngt, einen herrlichen Sommerteppich darbietet, schon um die Mitte des Aprilmonats besäet mit weißen und gelben Sternen des Marienblümchens, der Sternblume und des Löwenzahns. Anfangs Mai sieht man den schroffen Felsrand zierlich weißbeblümt mit dem ebenso interessanten als dankbaren kleinen Löffelkraut, welches zwei bis drei Mal im Jahr seine fleischigen, nierenförmigen Blätter, seine weißen Blüthentrauben und kugelförmigen Fruchtkapseln entwickelt, deren Scheidewände zuletzt als zarte Gazefensterchen stehen bleiben; zu ihm gesellen sich hie und da rosenfarbene Trupps der Grasnelke. Im Maimonat sieht man von Sad-Huurn, der Südspitze des Felsenplateaus, aus den ganzen Ostabhang mit den reingelben Blüthenrispen des wilden Kohls bedeckt. Eigentümlich contrastirt das Gelb dieser Pflanze, rein und frühlingsathmend wie das der Schlüsselblumen, zu dem rothen, grünlichweiß gebänderten Felsen. Ueberschreitet man Abends die Felder und Triften, so fehlt es nicht am Duft des Kopfklees, der in höchster Ueppigkeit und in seltener Farbenmannigfaltigkeit gedeiht, vom reinsten Weiß durch alle Uebergänge von Weiß und Rosa bis zum dunkelsten Purpur, und auf’s Zierlichste gestreift. Man empfindet den Duft der großen Bohne und des wilden Senfs; aber alle diese Eindrücke, wenn auch anmuthig in ihrer Art, stehen zu vereinzelt da, um wahres Frühlingsgefühl wachzurufen; sie sind nicht im Stande, das Laubdach des Waldes oder den Gesang der Vögel zu ersetzen.

Vogelgesang? Woran erinnert mich dieses Wort? Wenn einmal eine unglückliche Nachtigall auf ihrem Durchzug auf der Insel rasten sollte, so wird man sie nicht anders, als gebraten oder gekocht zu sehen bekommen. Statt der Jubelhymnen der kleinen befiederten Sänger hört man nur ihren Todesschrei, da ihnen auf alle erdenkliche Weise nachgestellt wird. Es ist auf alle Fälle ein Unglück, wenn ein Volk die soliden Erwerbsquellen verläßt und im Trüben zu fischen sucht; was aber soll man von einem Volke sagen, welches so von seiner Regierung vernachlässigt wird, daß nicht einmal ein ordentlicher Schulzwang besteht, so daß die Kinder von früh an zum Müßiggang und zu allerlei schlechten Streichen förmlich erzogen werden. Leider habe ich von erwachsenen jungen Leuten oft Grausamkeiten an Thieren verüben sehen, welche mich schaudern machten, aber empörend ist es, wenn Menschen die Zielscheibe von Unbilden sind, welche von Rohheit und Müßiggang eingegeben werden. Wenden wir uns ab von diesen trüben Eindrücken und dem Meere zu.

Alle ästhetischen Eindrücke des Meeres tragen den Charakter des Großartigen, Erhabenen, Unendlichen. Von den schreckenerregenden Bildern der Octoberstürme, unter deren Tosen und Brüllen ich diese Zeilen niederschreibe, von den schneeweißen Sturmwogen der Brandung, welche über den Mastspitzen des gescheiterten Schiffes auf der Ande oder Südspitze der Düne schäumend zusammenschlagen, bis zu der spiegelglatten, ungeheueren Fläche am heißen Sommertage, so still, daß man es für unmöglich hält, diese friedliche Fluth könne jemals in so Entsetzen erregende Bewegung gerathen, oder in der Nacht, wenn der Mond sein silbernes Licht darüber ausgießt. so daß sie, sanft bewegt, wie Millionen Funken aufglitzert, in allen Stimmungen drückt sich die Empfindung ungeheurer, unendlicher Größe, Kraft und Erhabenheit aus, in allen fehlt das Milde, Sanfte, Anmuthige, oder wo es vorhanden zu sein scheint, da finden wir uns meist in einer Täuschung befangen. So glaubt man oft, in warmer, mondheller Nacht auf der Düne lustwandelnd, selbst bei wolkenlosem Himmel das leise Rauschen eines milden Frühlingsregens zu vernehmen, bis man seinen Irrthum gewahr wird. Tausende und Abertausende einer kleinen Crustacee, den eßbaren Krabben ähnlich, aber kleiner, hier Sandflöhe genannt, am Tage im Sande vergraben, kommen Nachts schaarenweise hervor aus ihren Verstecken und springen bei Annäherung des Menschen hoch empor, wodurch sie das eben erwähnte Geräusch hervorbringen, welches täuschend dem Rieseln sanften Regens gleicht. Trotz alledem ist der Meeresfrühling wunderbar ergreifend, überwältigend schön. Wer im Sommer am warmen, stillen Nachmittag hinausfährt auf die Seehundsklippen, dann zwischen den bewachsenen Reihen der Kreideriffe hinabschaut in die vollkommen durchsichtige Fluth, indem er sich über den Bord des Bootes neigt; wer dort unten in nicht unbedeutender Tiefe die submarinen Waldungen erblickt, die langen, über einen Fuß breiten, wellenförmig gebogenen, glänzenden Bänder des Zuckertangs, auf langen, fleischigen Stengeln schwankend bewegt, – den noch schöneren Riesentang oder Fingertang, dessen breites Blatt aus mehrere Fuß langem Stamm fingerförmig in lange Riemen sich spaltet, gleichsam eine Fächerpalme des Meeres darstellend; zwischen diesen Riesen der Nordsee die verschiedenen Blasentange oder an seichteren Stellen den höchst eleganten Schotentang, von einer dicken, glockenförmigen Wurzelscheibe einen vielfach verästelten, mit zierlichen Schoten und platten Zweigen bedeckten Stengel entsendend, das Unterholz des Meeres darstellend; ferner die viele Ellen langen, unverzweigten Meeresbindfaden, in Büscheln vereint aus ziemlicher Tiefe bis an die Oberfläche aufsteigend; wer dann zwischen ihnen am Meeresboden zierliche Seesterne, Schnecken und Muscheln, auf den Riffen zahlreiche Seeanemonen, auf den großen glatten Tangen die allerliebste Schüsselschnecke erblickt, schwarzbraun mit himmelblauen, metallglänzenden Längsstreifen; – wer dieses Alles und unzähliges Andere zur Sommerzeit gesehen hat, der jubelt wohl auf über den Reichthum des Meeres, aber von der ungeheuern Mannigfaltigkeit der erstaunlichen Pracht der Meeresvegetation und der Meeresfauna zur Frühjahrszeit hat er kaum ein schwaches Spiegelbild erhalten.

Es ist zwei bis drei Tage nach Vollmond und einer jener stillen, friedlichen Tage, wie das Meer sie nur im Spätherbst und im Vorfrühling aufzuweisen hat. Kaum bemerken wir das leise Säuseln des Ostwindes, welcher die Atmosphäre gereinigt hat, so daß das Firmament im reinsten Hellblau erscheint, die Wasserfläche im Vordergrund tiefblau, in größerer Entfernung immer mehr in das Silberglänzende hinüberspielend, so daß in ungemessenen Entfernungen ein Silberstreifen nach dem andern sichtbar wird, bis an den Horizont, welcher so weit, so klar, so bestimmt um uns sich ausbreitet, wie wir im Sommer ihn niemals oder doch höchst selten gesehen haben. Ostwind und Springebbe vereinigen sich, um die Nordsee ungewöhnlich weit von der oberen Fluthmarke zurücktreten zu machen, so daß wir im Stande sind, rings um Helgoland weit hinaus zu schreiten auf den rothen Klippengrund. Das Wasser gestattet uns vermöge seiner außerordentlichen Klarheit und Durchsichtigkeit einen Blick bis in beträchtliche Tiefen. Wir betreten die langen, mit den größeren Tangen dicht bewachsenen Klippenreihen, zwischen denen sich lange Spalten (Gotteler) von größerer oder geringerer Tiefe befinden, welche, nur selten mit weißem Sand ausgefüllt, in den meisten Fällen das Leben des Meeres in üppigster Fülle zur Anschauung bringen. Dort sind die wunderbaren Waldungen, die uns in ihren seltsamen, fast fremden Gestalten ein Feenmärchen vor die Seele zaubern. Ja, fremd schauen dem Uneingeweihten im Anfang Pflanzen wie Thiere des Meeres entgegen; dennoch fühlt er, daß ihm hier eine Schönheit, Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen entgegentritt, wie sie nur im Tropenwalde ihres Gleichen finden.

Der große Zauber der Frühlingsvegetation des Meeres und ihrer Ueppigkeit liegt erstens darin, daß die meisten Algen entweder nur im Frühling zum Vorschein kommen oder wenigstens um diese Zeit ihr schönstes Kleid anlegen. Fast alle Algen, ganz besonders aber die prachtvollen Florideen, haben zu verschiedenen Jahreszeiten ein so durchaus verschiedenes Aeußere, daß nur ein aufmerksamer Beobachter die zu einer Art gehörigen Formen als zusammengehörig anerkennt. Der zweite Umstand, welcher zur Erhöhung des Eindrucks dient, ist der, daß die Algen vorzugsweise im Frühjahr oder in den letzten Wintermonaten in Blüthe stehen oder richtiger Früchte tragen. Ist einerseits der Zustand der höchsten Fruchtentwickelung bei diesen merkwürdigen Pflanzen auch der Zustand der größten Schönheit und Vollendung der Form, so kommt andererseits bei der ganzen großen Gruppe der Rhodospermeen oder Rothfrüchtigen noch hinzu, daß man bei jeder Art verschiedenartige Früchte aus verschiedenen Pflanzen findet, oft einander [159] so unähnlich, daß man sie leicht als verschiedenen Arten angehörig betrachten könnte. Endlich drittens sind in der angegebenen Jahreszeit die Pflanzen fast durchweg mit äußerst feinen Fäden, sogenannten Gliederfäden bedeckt. Diese und seine, schmarotzende Gebilden besonders aus der so reichen mikroskopischen Welt der Diatomeen, aber auch andere Algen aller Gruppen, theils als junge Keimlinge und Sprößlinge, theils in ausgewachsenen mikroskopisch kleinen Arten, geben den ohnehin sehr zierlichen Formen eine Zartheit der Umrisse, wie wir sie bei Landpflanzen, selbst bei den feinsten Bärlapppflanzen und Farrenkräutern, niemals antreffen. Die eigentlichen Gliederfäden, welche an unzähligen Algen zu bestimmter Zeit hervortreten, um später völlig wieder zu verschwinden, sind eine den Forschern noch sehr dunkle Erscheinung, die aber höchst wahrscheinlich mit der Fortpflanzung in nahem Zusammenhange steht. Sie zeigt sich schon bei manchen der größeren Tange, so bei Sporochnus. Der gewöhnliche Stacheltang, zu allen übrigen Jahreszeiten nur als ein abwechselnd fiederig verzweigter Strauch von dunkelbrauner Farbe erscheinend, an den Endzweigen fiederförmig mit feinen Stacheln besetzt, trägt jetzt an der Stelle jener Stacheln zarte, hellgrüne Pinsel, aus äußerst feinen Fäden zusammengesetzt, und interessant ist es, daß man gerade bei dieser Pflanze bisher die Früchte nicht hat auffinden können. Viele der größeren Formen, so die Gattungen Chorda, Chordaria, Mesogloea und andere, finden wir jetzt mit einem zarten Ueberzug schleimiger Fäden wie mit einem neuen Kleide überzogen; lange, gegliederte Fäden, einzeln oder in Endbüscheln, sind bei manchen Gattungen besonders auffallend, so bei Lophura und Polysiphonia, wo sie theils auf den gewöhnlichen Fruchtexemplaren, theils aber auch auf besonderen, von jenen verschiedenen Individuen vorkommen und die durch die zarte Gliederung ihrer Aeste und zierliche Anordnung der Fruchtzweige ohnedies entzückend schönen Formen noch reizender erscheinen lassen.

Aber werfen wir jetzt einen Blick hinab in das zierliche Gewirre von Tausenden kleiner Stämme, Zweige und Zweigelchen, die mit den verschiedensten Farben vom hellsten Gelbgrün bis zum dunklen Olivenbraun, vom zartesten Weiß und Rosa bis zum tiefsten Purpur und Schwarzviolett geschmückt sind, um auch das Treiben der zahllosen belebten Bewohner dieser herrlichen Waldungen wahrzunehmen. Beim Beschreiten des tangbewachsenen Bodens hören wir ein beständiges Knacken und Knistern unter den Füßen, hervorgerufen durch das Zerplatzen der Vesikeln des Blasentanges, welcher nebst seinem in tieferem Wasser vorkommenden Bruder, dem einreihigen Blasentang durch im Stengel vertheilte Luftblasen sich ausgezeichnet, die ihn schwimmend erhalten und unter unseren Fußtritten die eingepreßte Luft durch eine kleine Explosion entlassen. Zahlreiche Schnecken aus den Gattungen Litorina, Patella, Purpura, Trochus, Buccinum u. s. w. finden auf diesem wie auf einigen anderen der größeren Tange ihre Nahrung; diese Gewächse sind außerdem mit pflanzenartigen Polypen bedeckt, neben Corallinen, welche man, obschon sie echte Pflanzen sind, wegen ihrer zierlichen Kalkbedeckung weit eher für Korallenbildungen ansieht. Ueberhaupt gilt im Meere das Faustrecht im Bezug auf den Grundbesitz. Nicht nur die Algen wachsen beständig eine auf der anderen, sondern noch mehr sind manche Thiere geplagt, die nicht nur Thiere anderer Geschlechter, sondern außerdem oft ganze Algenwaldungen auf dem Rücken tragen. Wir treten auf einen bräunlichen Stein, plötzlich bewegt er sich seitlich fort, dem Wasser zueilend, und wir erkennen in ihm einen großen Taschenkrebs. Wie der Arme sich plagen muß! Auf jeder Seite des großen, starken Brustpanzers hat sich eine Auster angeheftet, und er ist verdammt, diese beiden Insassen beständig mit umherzuschleppen, und selbst wenn sie sterben sollten, weiß er sich doch ihrer Schalen nicht zu entledigen. Sein Hinterleib trägt außerdem einen ganzen Wald kleiner Polypen und einen großen Büschel des purpurrothen Horntangs, dessen zierlich gegliederte Zweige in zangenförmige Zweigelchen endigen. Freilich trägt der Taschenkrebs nur die gerechte Strafe für seine eigenen Vergehen mit sich umher, denn, wie alle Krebse, ist er ein Räuber und daher der schlechteste Bewohner für ein Aquarium. Ist doch nicht einmal die Schnecke sicher in ihrem festen Kalkgehäuse. Wir haben hier die beste Gelegenheit, den von Lewes in seinen „sea side studies“ so anziehend beschriebenen Kampf der Einsiedlerkrebse um leere oder bewohnte Schneckenhäuser zu beobachten. Hier kriecht eine arme Kegelschnecke einher. Sie kann sich kaum fortbewegen, denn ein ursprünglich zarter Büschel der Lophura gracilis, einer purpurfarbenen Alge, welcher sich auf der Spitze des Gehäuses angesiedelt, ist zu einem wahren Riesen herangewachsen. Aber auch diese kümmerliche Existenz sucht ein kleiner Eremit ihr zu rauben, dem die Schale der Uferschnecke, in die er seinen von Geburt an kahlen Hinterleib gesteckt hat, zu eng geworden ist. Sobald der Trochus seinen zierlichen Deckel öffnet, dringt der Krebs ein, es gelingt ihm bald, die Schnecke zu verspeisen, schon versucht er, den nackten Hinterleib in das leere Haus hineinzuschieben, da fährt blitzschnell ein anderer Krebs aus seinem Gehäuse hervor, kneipt jenem den wehrlosen Hinterleib ab und flüchtet sich in die geraubte Schale. In großer Anzahl sieht man überall diese merkwürdigen Einsiedler mit Schneckenhäusern auf dem Rücken, die sich in seltsamer Schnelligkeit fortbewegen, in sonderbarem Contrast zu denjenigen, welche noch ihre rechtmäßigen Insassen bergen.

Ueberall strecken, an den Klippengrund geheftet, Anemonen ihre hundert in bunten Farben schillernden Fangarme hervor; auch einige Arten von Medusen glaube ich schon zu so früher Jahreszeit gesehen zu haben, obwohl es vielfach bestritten worden. Hie und da treffen wir eine der sonderbar gestalteten, zierlichen Nacktschnecken Doris und Aeolis in einem seichteren Tümpel, während am Felsen, soweit er nur vom Meere bespült wird, weiße Balanen haften, die ihre Schalen abwechselnd öffnen und schließen, wobei sie ihre feinen Rankenfüße ausschieben und einziehen, nach Beute begierig. Kleine seltsam gestaltete Fische durchstreifen, bald langsam und bedächtig, bald, durch irgend ein Geräusch erschreckt, pfeilschnell diese Wälder, deren Boden mit purpurfarbenen Seesternen der verschiedensten Größen übersät ist. Hier windet sich langsam der kaum fingerdicke, ellenlange, schlangenförmige Windfisch mit seinem schnabelförmigen Kopf zwischen den Stämmchen hindurch, dort schießt schnurgerade sein Bruder, der Stechfisch durch die klare Fluth mit sechseckigem Körper und langem, nadelförmigem Schwanz, welcher in die breite, fächerartige Schwanzflosse endigt. Zahlreiche Meerscorpione, von den Helgoländern Störe genannt, mit breitem, stacheligem, gepanzertem Kopf, der sich plötzlich in den ganz kleinen Leib zusammenzieht, wandern beutelustig umher und geben uns das lebhafteste Bild von der unglaublichen Gefräßigkeit der meisten Seegeschöpfe. So fand ich in dem Magen eines kaum spannelangen Exemplares über ein Dutzend Litorinen mit ihren Gehäusen, mehrere kleine Taschenkrebse und verschiedene Würmer. Seltener und nur nach heftigen Stürmen sind wir so glücklich, eines echten Seeteufels, eines Knurrhahns, eines Lumps oder wohl auch eines der verschiedenen kleinen Haie habhaft zu werden, welche die Nordsee bewohnen. Repräsentiren die genannten Fische die abenteuerlichsten, fast dämonischen Thiergestalten des Erdballs, so treffen wir andererseits in den Gattungen Blennius, Golius und anderen uns geläufigere und daher weniger unheimliche Fischformen.

Während wir indessen versunken hinabschauen in das bunte, wunderbare Treiben da unten, umfließt uns ein lichter Glanz und mahnt an die Heimkehr. Die untergehende Sonne hat die rothen Felsen in Purpur getaucht, welcher weithin seinen magischen Schein der ganzen Umgebung mittheilt. Es ist ein wunderbar ergreifender Naturgenuß, hinter den riesigen Felsenthoren des Jung-Gatts und Mörmers-Gatts die Sonne untergehen zu sehen. Dort taucht sie hinab hinter der weiten, weiten, stillen Meeresfläche. Uns, die wir noch berauscht sind von der Fülle der ewig regen lebendigen Wasserwelt, läßt sie allein und einsam zurück mit dem Gefühl der Winzigkeit unseres eigenen Daseins gegenüber dem Allleben der Natur.



Ein deutscher Fürst für Wilhelm Bauer und seine Erfindungen.


Die Klage, mit welcher unsere „Schicksals-Parallele“ (in Nr. 8 der Gartenlaube) geschlossen werden mußte, ist in Deutschland nicht unbeachtet verhallt. Mit freudigem Herzen ergreife ich heute die Feder, um allen Freunden unseres Blattes, durch deren werkthätige Theilnahme für Bauer dessen Erfindungen wenigstens vor dem Schicksal eines stillen Untergangs bewahrt worden sind, nun eine Nachricht zu bringen, die sie alle ebenso freudig willkommen heißen werden.

Einem deutschen Manne, wie dem Herzog Ernst von Coburg-Gotha, konnten die Bestrebungen Wilhelm Bauer’s nicht unbekannt bleiben; war er es doch, welcher Bauer, nachdem dessen Erfindungen von den größten deutschen Regierungen zurückgewiesen worden waren, seinem Bruder, dem unvergeßlichen Prinzen Albert, empfahl, und hatte Bauer die Aufnahme und die Unterstützungen, die er in England fand, mittelbar dem Herzog Ernst zu verdanken. Daß die eingeleiteten Unternehmungemn dort [160] scheiterten, lag an englischen Verhältnissen, deren Beseitigung nicht in der Macht der fürstlichen Brüder stand und unter denen ja selbst Prinz Albert nicht selten zu leiden hatte.

Unsere Leser wissen, daß W. Bauer, durch die „Gartenlaube“ der Nation zur Unterstützung empfohlen, in den Stand gesetzt wurde, mittelst unserer Sammlungen und des Vorschusses eines deutschen Patrioten, Herrn F. Streit in Coburg, nicht nur die nothwendigsten Apparate zur Schiffhebung herzustellen, sondern auch die ersten Hebeversuche mit den Ballons und unterseeischen Kameelen an dem baier. Postdampfer „Ludwig“ im Bodensee vorzunehmen. Auch die Ursachen, die diese Herbstarbeiten des vorigen Jahres nicht zum Ziele kommen ließen, haben wir unsern Lesern mitgetheilt; eine derselben muß jedoch nachträglich noch etwas mehr hervorgehoben werden. Der „Ludwig“ würde ohne Zweifel schon damals geborgen worden sein, wenn Herr Bauer nicht, um an den Ausgaben möglichst zu sparen, für die Luftdichtmachung der Ballons ein billigeres Surrogat statt des ursprüglich beplanten Materials angewendet hätte. Diese leider bei der ihm damals zur Verfügung stehenden Summe nothgedrungene Ersparniß hat bittere Früchte getragen; es stellte sich bei der genauen Untersuchung der Ballons im Verlaufe dieses Winters heraus, daß von der Herstellung derselben nach dem ursprüglichen Plane das Gelingen des Unternehmens abhänge, und daß demnach diese erste Durchführung der Erfindung noch bedeutende Opfer erfordere.

In derselben Zeit dieser Erkenntniß stand es gerade mit den Mitteln für Bauer am schlimmsten, ja fast trostlos. Die Einnahmen durch die Sammlungen gingen zwar in derselben gemüthlichen, aber auch in derselben langsamen Weise, wie vom Anfang an, fort; ihre Erträgnisse durften außerdem nicht für Bauer, sondern mußten zur Abtragung der Darlehen verwendet werden. Es drohte bereits die Aussicht, daß dieses ganze Jahr 1863 für die Erfindung verloren gehen würde. Dazu trat eine Gefahr um die andere immer näher an sie heran: drei Amerikaner benutzten die Beschreibungen der Schiffhebung in der Gartenlaube, um in Amerika dieselbe sich als ihre Erfindung patentiren zu lassen, und sie trieben die Unverschämtheit so ungenirt, daß sie selbst die von Bauer gebrauchten Benenuungen der einzelnen Apparate, wie „Taucherkammer“, „Hebekameele“ u. s. w. beibehielten; ferner haben die Dänen sich des Princips angenommen und machen bereits glückliche Hebeversuche mit eisernen Ballons; endlich aber ging mit dem 3. März Bauer’s englisches Patent für seine sämmtlichen auf das Taucherwerk bezüglichen Erfindungen zu Ende, und es möchte, wenn erst Engländer mit englischen Mitteln und englischer Energie diese Sache in die Hand genommen, den Deutschen schwer werden, mit ihnen den Kampf der Concurrenz zu bestehen.

So stand es. Da gelang es Bauer, einen der größten schweizer Industriellen, dessen Name später genannt werden soll, für seine Erfindungen zu gewinnen. Derselbe streckte Herrn Bauer, welcher ihm keine andere Sicherheit als den Werth seiner Apparate dagegen bieten konnte, eine Summe vor, mit welcher allerdings die Erneuerung des englischen Patents und die Verbesserung der Apparate bestritten werden konnte. Mehr aber auch nicht, und da war, nach den vorangegangenen Erfahrungen, wohl zu befürchten, daß die Hast nach Fortsetzung seiner Thätigkeit ebenso, wie seine Bescheidenheit und der Trieb, auch mit unzulänglichen Mitteln das Schwerste zu wagen, unsern Bauer abermals an die Klippe führen werde, an der er wiederholt gescheitert ist: das Mißlingen aus Mangel an den nöthigen Mitteln! Und ebenso gewiß ist, daß ein abermaliges Mißlingen der Hebung ihn und alle seine Erfindungen in Deutschland für immer zu Grunde gerichtet haben würde.

Und diese Gefahr war es, vor welcher Bauer und die ganze so wichtige nationale Angelegenheit nun fest und sicher bewahrt ist. Als Bauer eben im Begriff stand, die Reise nach London anzutreten, gelangte an ihn und den Unterzeichneten eine Einladung zu Sr. Hoheit dem Herzog Ernst nach Gotha. Der Herzog wünschte, über das Wesen der Erfindung, wie über den dermaligen Stand des Unternehmens genau unterrichtet zu sein. Wir folgten der ehrenden Einladung und trafen Beide am 18. Februar in Gotha ein, wo uns, als Gästen des Herzogs, im Schloß Friedrichsthal Wohnung angewiesen ward.

Noch desselben Tags fand im herzogl. Palais die Vorstellung statt, und schon während der Tafel nahm der Herzog Gelegenheit, aus der Vergangenheit des Erfinders und der Erfindung das Wesentlichste zu erfahren. Das Interesse des hohen Herrn zeigte sich sofort als ein warmes für den Mann und seine Sache, und es steigerte sich mit jedem neugewonnenen Einblick in die Großartigkeit und Tragweite der Bauer’schen Erfindungen bis zu unverhohlener Anerkennung und ernster Theilnahme. Für den eigentlichen Vortrag Bauer’s ward vom Herzog sofort die neunte Stunde des Abends bestimmt.

Wir fanden in einem Salon des Palais eine kleine Gesellschaft versammelt, zu der auch als eine wissenschaftliche Autorität Professor Hassenstein zugezogen ward. Bauer’s Planzeichnungen waren aufgelegt, seine Modelle der Taucherkammer und der Schiffhebungsapparate aufgestellt, und eine Wanne voll Wasser stand für die Experimente bereit. Zur bestimmten Zeit erschien der Herzog mit der Frau Herzogin, die schon bei Tafel den Erzählungen Bauer’s mit sichtlicher Theilnahme gefolgt war, und der Vortrag begann. Diesmal saß jedoch kein schweigsames Auditorium da, der Herzog Ernst ließ nichts an sich vorüber gehen, was ihm noch im Geringsten dunkel war. Diese bis in’s Einzelnste eingehenden Fragen führten Bauer zu Erörterungen, namentlich über seine physikalischen Beobachtungen in der Meerestiefe und der eingeschlossenen Luft, zu denen er früher nie in solcher Weise veranlaßt worden war. Bauer ging von seiner ersten Erfindung, dem Brandtaucher, aus und von diesem zur Taucherkammer über, die er in der Wasserwanne arbeiten ließ, und schloß mit der Hebung des Dampfers „Nürnberg“, der, gehorsamer als der böse „Ludwig“, an seinen Ballons sich prächtig aus der Tiefe an die Oberfläche erhob. Während des ganzen Vortrags hielt der Herzog Bauer fest in den Schranken des Praktischen und zunächst Ausführbaren, er ging nicht auf die militärische Anwendung der Bauer’schen Instrumente ein, noch verlangte ihm nach der Auseinandersetzung des Bauer’schen Luftschiffs. Mit stiller, aber tiefer Achtung beobachtete ich diesen ernsten, praktischen, jeder Abweichung in das Gebiet des abenteuerlich Erscheinenden abholden Sinn des Fürsten, und in mir sprach die feste Ueberzeugung: „Der spielt nicht mit dieser Erfindung nur fürstliche Unterhaltung, der will Etwas thun und wird etwas Tüchtiges thun.“

Es war weit nach Mitternacht geworden, als wir, Bauer und ich, aus dem Palais in die stille Straße stiegen, aber in unseren Herzen war es tagesmunter, so freudig schien die Sonne der Hoffnung für unser nun seit vier Jahren gemeinsames mühe- und sorgenvolles Streben nach Durchführung der großen Erfindung hinein.

Am andern Morgen erzeigte uns der Herzog die Ehre, uns zum Frühstück zu sich bescheiden zu lassen. Es ist hier leider nicht der Ort, die reizende Gewächshalle und die häuslich-friedliche Anmuth zu beschreiben, mit welcher die Herzogin den Tisch schmückt; der Raum zwingt, bei der Sache zu bleiben. Der Herzog richtete noch manche nachträgliche Fragen über die Erfindung an Bauer und bestimmte dann die Stunde um vier Uhr des Nachmittags zu einer Berathung über die Mittel und Wege, die für die Erfindung nunmehr nöthig seien.

Dieser Berathung wohnten auch der Geh. Cabinetsrath G. v. Meyern-Hohenberg und Cabinetsrath Dr. Tempeltey bei. Nachdem ich, auf den Wunsch des Herzogs, über die Wirksamkeit des Central-Comités von der Gründung an und über die Erfolge desselben bis zur Gegenwart kurzen Bericht erstattet und den mißlichen Stand der Sache für die nächste Zukunft dargethan hatte, erklärte der Herzog, daß es ihm nicht mehr an der Zeit scheine, mit so geringen Mitteln fortwährend nur auf Erprobung der Erfindung hinzuwirken. Die Erfindung sei genügend erprobt durch die dreimalige Hebung des „Ludwig“ mittelst der Tonnen, gegen die Richtigkeit des Princips sei kein Zweifel zu erheben, es gelte also jetzt nur noch, eine erste Schiffhebung und Bergung vollständig zu sichern, einerlei ob diese am „Ludwig“ oder einem Schiff an den norddeutschen Seeküsten geschehe. Vor Allem sei es nöthig, Bauer von allen Sorgen und Arbeiten zu befreien, die ihn von seiner Hauptaufgabe abzögen, es müsse ihm eine tüchtige Hülfe zur Seite gestellt werden, die alles rein Geschäftliche ihm abnehme, am wenigsten aber dürfe es ihm an ausreichenden Mitteln fehlen, denn bei einer Erfindung von solcher Wichtigkeit dürfe die Höhe der erforderlichen Summe gar nicht in Betracht kommen. Er halte es daher für nöthig, daß für die Durchführung der Erfindung das Comité erweitert werde, daß namentlich Techniker von deutschem Ruf beigezogen würden, und er selbst erbiete sich, diesem Comité beizutreten, um Bauer und seinen Erfindungen für die Zukunft mit all seinem Einfluß den nöthigen Schutz gewähren zu können. Nachdem hierauf der Herzog mich beauftragt hatte, diese seine Ansicht dem Leipziger Comité mitzutheilen, forderte er Bauer auf, eine möglichst genaue Berechnung aller Erfordernisse für die nächste Schiffhebung, nicht Erprobung, aufzustellen und ihm einzureichen, und sicherte ihm im Voraus einen Credit von 10–12,000 fl. zu, damit er in keiner Weise bei seiner nächsten Hebung von den vereinzelten Eingängen der Sammlungen abhängig sei. Was diese Sammlungen selbst betreffe, so sei er überzeugt, daß sie weit reichlicher eingehen und daß auch die Leute des Capitals sich an ihnen betheiligen würden, wenn sie die Zuversicht gewonnen hätten, daß ihre Gaben nicht für unzulängliche Erprobungen, sondern gleich für die Ausführung der Erfindung und dadurch zum wahren Nutzen und zur Ehre Deutschlands verwendet würden. – Damit schloß diese Berathung, deren erhebender Eindruck uns zur nun folgenden Tafel begleitete, während welcher selbstverständlich die Erfindungen Bauer’s mit ihren mannigfachen Schicksalen und Aussichten Gegenstand der interessantesten Unterhaltung waren.

Möchte die Sicherheit, welche für die Ausführung der Erfindung Bauer’s nunmehr dadurch gewonnen ist, daß ein wahrhaft deutscher Fürst sich ihrer mit so werkthätiger Theilnahme angenommen, nun auch neubelebend auf die Sammlungen einwirken; möchte nicht die Philisterklugheit schließen, daß ebendarum jetzt das nationale Unternehmen auch ohne eigenes Zuthun zum Ziele geführt werde. Die Nation darf nicht den Vorwurf auf sich laden, daß sie nicht einmal 12,000 Thaler für eine so populär gewordene Erfindung aufzubringen vermochte, zumal die ganze von ihr dargebrachte Summe einst, nach Bauer’s festem Plane, der Nationalstiftung für deutsche Erfinder zu gute kommen soll. Die Bitte am Schlusse der Nr. 8 unserer Gartenlaube bleibt nach wie vor in voller Berechtigung.

Nicht für die Vergangenheit der Erfindung, nicht für ihre Erprobung, sondern für die Sicherheit der Durchführung derselben bietet Herzog Ernst die Hand, er hat sofort durch Anweisung einer bedeutenden Summe Bauer in den Stand gesetzt, in England selbst die nöthigen Ankäufe zu machen, die Apparate ganz nach seinem Plane zu vervollständigen und an die Hebung mit dem Bewußtsein zu gehen, daß die Mittel zur Durchführung in seiner Hand liegen. Möge der Dank, der dem edlen deutschen Fürsten für diese neue deutsche That gebührt, von der Nation in der rechten Weise bewährt werden! –

Am Nachmittag des 20. Februar verließen wir das gastliche Schloß Friedrichsthal, Bauer, um sofort nach London zu reisen, ich, um an meinen Schreibtisch zurückzukehren. Welcher Unterschied in unseren Herzen zwischen jenem Abend, als wir von den Signalstangen des Ludwig im kleinen Kahne zur Schweizerküste fuhren, hinter uns ein mißlungenes Unternehmen und zertrümmerte Hoffnungen und vor uns keine Aussicht auf die so nöthige rasche Hülfe – und diesem Nachmittag voll fester Zukunft! Gottlob, es gilt einer Sache, die den Neid nicht herausfordert. Jeder brave Deutsche wird Bauer es gönnen, daß er mit einer Brust voll Freudigkeit von dannen fuhr, und mir auch.

Dr. Fr. Hofmann.

  1. WS: Im Original Staasanwalt
  2. Schönbartspiel: eigentlich gut Nürnbergisch Schembartspiel, von scema, f. v. a. Maske, Larve.