Die Gartenlaube (1862)/Heft 45
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No. 45. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Der Junker von Hohensee.
„Als mein Onkel Hans Peter und der Baron Gerold sich
bei uns nun wieder begegneten, schien der Letztere das alte Spiel
auf’s Neue beginnen zu wollen. Mit einem Mal sah er sich aber
meinem Vater gegenüber, und dieser erklärte einmal mit aller Gemüthsruhe
seiner Frau, daß „ihr Herr Bruder“ den seinen ungeschoren
lassen solle oder sein Haus zu meiden habe. Weshalb der
stolze Gerold sich dieser Alternative fügte, weiß ich nicht, aber er
fügte sich wenigstens anscheinend und ließ den Andern ziemlich in
Frieden. Doch soll er, als Hans Peter damals um ein Fräulein
von Ribnitz – sie hieß nur „die schöne Ribnitz“ und war in der
That ein unendlich liebliches Geschöpf – warb, dort plötzlich als
Nebenbuhler aufgetreten sein. Doch holte er sich einen Korb, und
Hans Peter führte die Schöne heim. Ich werde darüber noch weiter
zu reden haben; jetzt aber muß ich von mir berichten.
Mein Verhältniß zur Mutter besserte sich nicht, es wurde vielmehr schlechter von Jahr zu Jahr. Sie wurde stets liebloser und herber, ich stets trotziger und verbitterter, und seit Baron Gerold meine Schwester geheirathet hatte und neben uns wohnte, ward es immer schlimmer. Was sie gegen mich gehabt, mag Gott wissen; denn jenes Mißwollen, das meine Mutter von meiner Geburt her gegen mich hatte, kann es doch nicht allein gewesen sein. Ich war, so viel ich mich erinnere, ein wilder, warmblütiger Knabe, der aber für seine Freunde das Leben ließ, der mit voller Zärtlichkeit jeden Beweis von Zuneigung vergalt, der ihm, sparsam genug, von dieser oder jener Seite gegeben wurde – mein Vater und Onkel, Hans Peter, mein Bruder Julius sogar, wußten wohl davon zu sagen. Ich liebte unseren Lehrer auf das Allerzärtlichste, ich lernte ihm zu Liebe sogar und überwand meinen großen Trieb zum Umherstreifen; er konnte mich um den Finger wickeln, und ein strafendes oder auch nur ernst mahnendes Wort von ihm preßte mir Thränen aus. Kurz, ich war im Ganzen ein Knabe, an dem seine Eltern wohl hätten froh sein dürfen, und der in Wirklichkeit auch – wenn ich so von einem Kinde sagen darf – sehr beliebt war. Ja ich war, so weit das im Wesen und Charakter der Brüder lag und geäußert wurde, der entschiedene Liebling meines Vaters und des Onkels, Hans Peter. Aber meiner Mutter und dem Baron Gerold gegenüber nützte mir Alles nichts; sie bevorzugten meinen Bruder und haßten mich. Schüttelt nicht den Kopf, Vetter,“ setzte der Erzähler mit fast finsterem Ernst hinzu; „es war so.“
„Es kam so weit – ich war damals vielleicht zehn Jahre alt – daß meine Mutter mich mit keinem Blick und keinem Wort mehr beehrte, wenn nicht mit einem bösen oder strafenden und scheltenden, – daß ihre Hand, wenn sie mir dieselbe zu dem gebotenen Morgen-, Mittag- und Abendkuß überhaupt reichte, stets in der meinen zuckte, und daß ihr schönes, stolzes Gesicht von sichtbarem, zürnendem Verdruß und Widerwillen verzogen wurde, daß sie hundert und hundert Mal mich das schlechteste Kind hieß, den bösesten Buben, den Gott erschaffen! Es ist ja natürlich, daß wir uns einander steigerten! – Und Baron Gerold – ich hieß ihn damals nämlich niemals Onkel – accompagnirte dazu in seiner Weise und zeigte seine Stimmung gegen mich noch viel unverhohlener, weil ihm freilich auch nicht verborgen blieb, daß ich ihn in Wahrheit haßte, so sehr das ein Kind in solchem Alter vermag.
Vetter, es ist etwas Seltsames um Kinder! Wir beachten sie viel zu wenig und trauen ihnen viel zu wenig zu, suchen viel zu wenig Regungen und wirklich schon herangebildete Gefühle in ihnen. Seht, ich weiß es von mir, daß ich den Onkel damals haßte, daß ich ihn mit wahrem Grimm dort hinten aus dem Walde, hervor und über den Hof reiten sah, daß ich mit finsterem Zürnen sein Wirken und Walten in unserem Hause, seine langen Conferenzen mit der Mutter beobachtete, aus denen ja auch häufig genug etwas hervorging, was selbst für uns Kinder nicht ohne unbehagliche Nachwirkung blieb; daß ich mit heißer Erbitterung sein Auftreten gegen Onkel Hans Peter und dieses und meines Vaters gutmüthiges – ich nannte es schon feiges – Nachgeben sah. Das Alles war in mir, Vetter, und – kindlich oder unkindlich – so viel wie ich mich in der Folge mit Kindern beschäftigt habe, weiß ich nur zu genau, daß dergleichen leidenschaftliche Empfindungen in den jungen Dingern gar nicht so selten sind.
Ich selber war nicht „feig“ gegen ihn. Mit wildem, finsterem Trotz trat ich ihm, wo er mir zu nahe kam, ungestüm entgegen, was ich natürlich jetzt nicht mehr als etwas Lobenswerthes, aber doch als etwas unter solchen Umständen sehr zu Entschuldigendes hinstelle. Ebenso ungestüm entzog ich mich ihm, wenn er sich einmal mit mir beschäftigen zu wollen schien – ich wußte gut genug, daß dahinter keine Spur von Güte oder auch nur augenblicklichem Interesse steckte, – und wenn die Eltern hin und wieder nach Büzenow hinüberfuhren, hätte mich keine menschliche Gewalt zu ihnen auf den Wagen gebracht. Ich war dann übrigens auch sicher immer so weit vom Hause, daß mich Niemand zu finden wußte. Die Scene, die ich dann Abends nach der Rückkehr oder am anderen Morgen mit der Mutter gewöhnlich zu bestehen hatte, ertrug ich mit finsterer oder kalter Resignation. Und was, [706] wenn Ihr die Sache einmal von anderem Standpunkt betrachten wollt, das Schlimmste war – ich hatte bei meinem Trotz nicht allein die Zustimmung fast sämmtlicher Hausgenossen, die den Baron ebenso wenig leiden konnten, wie ich, sondern ich erlauschte auch einmal das ungewöhnlich feste Wort des Vaters an meine Mutter: „er soll auch nicht mit!“ –
Da geschah es eines Tags im Anfang August 1776, daß ich Nachmittags um die Vesperzeit vom Felde nach Hause kam, und zwar hatte ich den Weg als Lenker eines der großen Erntewagen zurückgelegt und das schwere Fuder vollkommen geschickt vom Felde bis zum Hofe und sogar in die Scheune hineingebracht – denkt Euch selber, wie stolz das einen Knaben machen mußte, der noch nicht elf Jahre zählte! – Und die Leute hatten mir freundlich zugelacht und mir lobende Worte zugerufen, und mein Vater, der, neben dem Scheunthor stehend, diese Fahrerei mit angesehen, schmunzelte und sagte sogar: „na, es geht ja!“ Und als ich aus dem Sattel geglitten war und glühend vor Hitze und Aufregung an ihm vorbei einem andern abfahrenden Wagen zusprang, um das gleiche Kunststück zu wiederholen, hielt er mich an, strich mir über den Kopf und sprach in seiner ruhigen Weise: „Genug, Junge! Geh hinein und laß Dir ein Butterbrod geben. Nachher will ich Dir die schwarze Stute satteln lassen, und Du sollst mit mir zu Felde reiten.“ – Das war nun freilich eine unerhörte Auszeichnung. Auf einem wirklich für mich gesattelten Pferde war ich noch nicht gesessen und noch weniger mit dem Vater ausgeritten. Das war sogar dem Bruder Julius, der dazumal schon seit Jahr und Tag fort und beim Regiment, niemals eingeräumt worden, und mit vor Glück wirbelndem Kopfe folgte ich der Weisung und eilte hinein.
Im Eckzimmer – während der Ernte wurde zur Vesper stets der Eßtisch wirklich gedeckt – wäre freilich mein rechter Platz gewesen, allein ich wollte vorüber und mir mein Brod von der alten Mamsell in der Speisekammer holen; es schmeckte mir dort besser. Doch indem ich vorbeischießen wollte, öffnete sich die Thür, der Baron Gerold trat heraus, packte mich am Arm und zog mich mit den Worten in das Zimmer: „Du hast Recht gehabt, Ulrike, da ist er, und er wollte wirklich wieder vorbei! Das macht das schlechte Gewissen! Aber wir haben Alles gesehen, Bürschlein, und nun sollst Du vor’s Bret.“
Ich war so bestürzt von diesem jähen Anfall und noch mehr von diesen Worten – ich war mir keines Unrechts bewußt –, daß ich zuerst den Onkel wie verdummt angestarrt haben mag. Jedoch faßte ich mich alsbald, ich machte mich ungestüm los und rief: „Was wollen Sie von mir? Ich muß mir ein Butterbrod holen. Papa will mit mir ausreiten!“ – „Ich will Dir was mit ausreiten!“ sagte er und faßte mich wieder hart an. „In’s Loch sollst Du, Bube! So will’s Deine Mutter, damit Du Manier und Gehorsam lernst und Dich nicht mit den Knechten gemein machst. Wir haben Dein Fahren wohl gesehen, Bube! Der Knecht, der Dir’s erlaubt, soll schon seine Hiebe haben, und wenn Du nicht nachgiebst, kann es Dir auch so werden. Es scheint mir damit überhaupt einmal an der Zeit, Ulrike! Der Bube ist nicht mehr zu bändigen.“ – Meine Mutter redete nicht, sondern nickte nur finster, und da setzte er hinzu: „und nun hinauf und Dich nicht gemuckst, bis man Dich wieder herunter ruft.“
„Mein Papa hat mich aber für das Fahren nicht gescholten, sondern gelobt,“ sprach ich heftig und suchte mich vergeblich von dem harten Griff loszumachen. „Ich soll mir ein Butterbrod holen und mit ihm ausreiten.“ – „Also auch noch Lügner?“ fuhr er mich an. „Wir wissen’s wohl, daß Dein Vater auf dem Felde ist.“ – Und da riß ich mich los mit Gewalt, denn ich kleiner Kerl hatte Ehrgefühl in mir, und schrie ihn an: „Ich lüge nicht, Herr Baron, aber Sie thun’s! Und Sie haben mir nichts zu befehlen!“ – „Was wagst Du, Bube?“ rief meine Mutter und sprang auf, und der Onkel langte aus und gab mir eine harte Ohrfeige, die mich zurücktaumeln machte; der große Ring, den er trug, traf mich empfindlich, so daß ich meine Hand, mit der ich unwillkürlich nach der Wange fuhr, leicht blutig zurückzog. Und er murrte grimmig, „ich will Dich schon bändigen, Kröte!“ und holte zum zweiten Schlage aus. Ich aber war betäubt von unbeschreiblichen Gefühlen. Ob meine Mutter mir vielleicht einmal einen Stoß gegeben, weiß ich nicht; geschlagen aber war ich noch niemals worden.
In dem Augenblick, da er wieder ausholte, sprang die Thür auf, und mein Vater trat herein, das einzige Mal also in meinem ganzen Leben, daß ich ihn heftig gesehen. Allein, Vetter, da er es nun einmal war, so war er auch wie ein gereizter und verwundeter Löwe. – „Was geht hier vor?“ rief er mit einer Stimme, daß die Fenster klirrten. „Welcher Cannibale wagt mein Kind blutig zu schlagen?“ Und damit riß er mich ungestüm zu sich und beschaute mich mit vor Zorn funkelndem Blick. – „Mein Gemahl, mäßige Dich – der ungezogene Bube ist frecher gewesen, als zu dulden,“ stammelte meine Mutter – ich sehe sie noch; sie war leichenblaß geworden. – „Ja, ich sah mich dazu genöthigt, Herr Schwager,“ fiel ihr der Baron in’s Wort, der sich gleichfalls verfärbte. „Mein Ring mag ihn gestreift haben, es ist ja nur ein Tropfen, er hätte viel mehr verdient. Außer seinem Ungehorsam und Trotz hat er uns auch noch angelogen und gesagt –“
„Was wahr ist!“ unterbrach ihn der Vater wieder, mit unverminderter Heftigkeit, mit der gleichen donnernden Stimme, und trat hart auf ihn zu. „Mein Kind lügt nicht, aber Ihr selber loget, Ihr! – Als ich hörte, daß Ihr wieder hier, bin ich dem Felix nachgegangen; ich dachte mir so was! Ich habe dort vor der Thür jedes Wort gehört und den Schlag vernommen, der meines Kindes Blut vergossen. Ich habe ihn gelobt, ich habe ihn hinein geschickt – zu Euch und Euresgleichen gewiß nicht! – Ich habe ihm versprochen, daß er mit mir reiten soll, und – Donner und Teufel! – ich möchte den Frechen kennen lernen, der sich in Hohensee’s Hause gegen Hohensee’s Willen zu opponiren wagt! – Komm’ mit, Junge,“ wandle er sich an mich; „mache Dir nichts daraus. Du hast Deinen Vater für Dich, und er wird Dir zu Deinem Recht helfen.“ Und damit führte er mich hinaus, in sein Zimmer hinüber, wusch mir selber die Wange ab, ließ mir mein Butterbrod geben, das mir auf all die Alteration vortrefflich schmeckte, ritt mit mir zu Felde – und es war von dem Geschehenen nicht mehr die Rede.
Ebenso ging es auch Abends, als wir nach Hause zurückkehrten. Ich war todtmüde und durfte zu Herrn Dollenius – das war mein Lehrer – hinauf, um dort alsbald zu essen und in’s Bett zu gehen. Ich schlief auch gleich ein, und das Erste, dessen ich mir wieder bewußt ward, war, daß mein Lehrer mich am folgenden Morgen um vier Uhr weckte, mich rasch aus dem Bett und in die Kleider trieb. Halb wachend frühstückte ich mit ihm, und dann ging es hinab vor die Thür, wo ein bespannter Wagen hielt und mein Vater stand. Er reichte dem Dollenius die Hand, bückte sich dann zu mir, gab mir – Wunder über Wunder! – einen warmen Kuß und sagte: „Sei verträglich und gehorsam, Junge. Gott behüte Dich! Und nun fort!“ – Und ich saß auf dem Wagen, und es ging fort, ich noch immer halb im Schlafe, oder war’s nur betäubt von all dem rasch folgenden Ungewöhnlichen und Unverständlichen ?
Wir fuhren zu meinem Schwager Büren, der, seit dem Frühling mit meiner Schwester Hedwig verheirathet, auf Karlshof wohnte. Er war ein Westphale von Geburt, der das Gut erst vor Kurzem von dem letzten Besitzer ererbt hatte, ein wackerer, gescheidter und jovialer Mann, eng befreundet mit dem Onkel Hans Peter und meinem Vater und gegen Wunsch und Willen der Mutter nun der Mann ihrer Tochter. Denn Hedwig, will ich nur gleich sagen, war ein wenig lebhafter und willenskräftiger als Schwester Marie, hatte den Büren absolut haben wollen und dazu die Zustimmung und Entscheidung des Vaters erhalten: „na, er ist ein Cavalier und Ehrenmann, das Mädchen mag ihn – also ja.“ – Und in der That, Vetter, es wurde eine der glücklichsten und zufriedensten Ehen im Lande. – Kurz, zu denen fuhren wir, und bei denen sollte ich für’s Erste bleiben, bis ich in zwei, drei Jahren Soldat würde.
Es ging mir gut in Karlshof. Das junge Paar war lustig, heiter und voll Liebe für einander so gut wie für mich und alle Welt. Schwach waren sie gegen mich nicht: die Hedwig kanzelte mich im Gegentheil zuweilen ab, daß es eine Art hatte, und der Schwager machte mir gelegentlich, wenn ich’s gar zu arg getrieben, recht tüchtig den Marsch. Allein aus dem Allen blickte die Liebe heraus, und somit war auch Alles gut und ich ein glückseliger kleiner Kerl, dem’s noch nie im Leben so wohl geworden, und der sich – leider, Vetter! – mit keinem Herzschlage nach Hohensee zurücksehnte. Und wie denn das Glück ebensogut wie das Unglück nicht allein kommt, erging es mir auch in allen übrigen Lebens-Accidenzien über die Maßen wohl. Ich war gesund, ich gedieh an Leib, Seele und Geist.
[707] Das Haus in Karlshof war dazumal noch alt und sehr beschränkt, für mich und einen Hauslehrer wäre kaum Platz gewesen, und da ich über die Anfangsgründe hinaus war und, wie gesagt, Soldat werden sollte und wollte, ließ man’s bei dem Unterricht bewenden, den mir täglich in einigen Morgenstunden der kurz zuvor angestellte und verheirathete Prediger in Liebenhagen ertheilte – Magister Gotthold Mühl, Euer trefflicher Vater, Vetter, ein Mann nach dem Herzen Gottes, der die Liebe seines Schülers bald in einem Grade zu gewinnen wußte, wie es nur einem einzigen Menschenkinde in noch höherem gelang.
Karlshof und Liebenhagen liegen, wie Ihr wissen werdet, kaum eine halbe Stunde von einander, eine Strecke, die mein kleiner rauhköpfiger Oeländer[1] Teufel mit mir stets in der halben Zeit zurücklegte. So ritt ich denn Morgen für Morgen hinüber und kam, wenn ich nicht einmal beim Onkel Hans Peter blieb, zu Mittag wieder heim. Einen Besuch auf dem Hofe stattete ich aber alle Tage ab, und es kam je länger, desto häufiger vor, daß ich mich dabei lange genug verweilte, um den Onkel lachend sagen zu lassen: „Na, Junge, nun bleib’ nur da und iß mit uns. Zu Haus’ kriegst Du nichts mehr.“ – Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Als ich nach Karlshof kam, Anfang August Anno 76, war mein Onkel seit etwa sechs Jahren verheirathet, und seine Frau hatte, wie ich schon erwähnt habe, „die schöne Ribnitz“ geheißen. Es wird mit solchen Beinamen sonst gewöhnlich nicht so ernst genommen, und häufig genug ist’s nur eine Bezeichnung wie eine andere, von irgend einem näher Stehenden einmal zufällig aufgebracht, von Anderen, der Kürze wegen, willig angenommen. Hier traf es jedoch zu, wenn ich auch hinzusetzen muß: gewissermaßen, – denn meine Tante war eigentlich weniger schön, als lieblich, anmuthig und holdselig; um „schön“ zu sein, fehlte ihren feinen Zügen nicht nur die classische Reinheit, sondern auch die classische Ruhe. Es sprach Euch daraus der reichste Geist, die liebenswürdigste, kindlich reine Seele an, Ihr fandet darin Leben und Bewegung, wenn auch beherrscht und geregelt durch das, was der Grundsatz ihres ganzen Seins und Wesens war – durch Sanftmuth und Anmuth. Kurz, sie war ein wundervolles und wunderliebes Geschöpf, das selbst meine Mutter einigermaßen für sich eingenommen, und dem alle Anderen, die ihm nahe standen, eine schier abgöttische Liebe und Verehrung weihten. Von ihrem Mann, meinem braven, alten Onkel, will ich gar nichts sagen. Wäre er nicht von so ruhigem Temperament gewesen, so hätte er ihren Verlust, der ein paar Jahre später eintrat, nicht überlebt. Er verlor ohnehin darüber fast den Verstand.
Sie hatten nur ein einzig Kind – ein Mädchen, bei meiner Ankunft vier Jahre alt – und es hieß Livia. Ich muß zu diesem Namen bemerken, daß damals bei uns in einigen Familien die Sitte, oder vielmehr Unsitte, herrschte, die guten deutschen Namen zu verachten und aus der Fremde die möglichst hochtrabenden herbeizuholen. Die Prediger waren im Allgemeinen widerstandslos. Halb waren sie damals zu indifferent, halb wagten sie keine Einwendungen gegen den Wunsch des Patrons; ich rede hier nämlich hauptsächlich von den Adelsfamilien. – Meiner Tante Familie war eine solche neuerungssüchtige, die „schöne Ribnitz“ hieß Livia, und so war denn auch ihr Kind getauft worden.
Es ist das hübscheste, heiterste, anmuthigste Kind gewesen, das ich jemals gesehen, das Ebenbild seiner Mutter, bis auf die Farbe der Augen – meine Tante hatte veilchenblaue, die Kleine dagegen, wie mein Vater und Onkel und auch ich selbst – graue, wohl verstanden aber rein graue, mit keiner grünlichen oder bräunlichen oder gelblichen Mischung wie wir, und sie blieben so bis an ihr Lebensende. Es waren – ich rede sonst nicht gern in Gedichts- oder Romanausdrücken, aber bei Livia traf diese Bezeichnung zu, – „wunderbare“ Augen, voll Melancholie und Träumerei in der Ruhe, voll einer herztiefen Innigkeit in der Theilnahme, voll einer glänzenden und doch süßen Fröhlichkeit in der aufwallenden Jugendlust – an Schnitt, Tiefe und Reinheit denen der Mutter gleich, d. h. tadellos, kurz, Augen, mit denen schon das Kind jeden empfindenden Menschen bezauberte, so daß er nicht mehr von ihnen loskam. Das habe ich früher und später oft genug gehört und beobachtet und am besten an mir selber erfahren.
Meine Neigung zu Kindern und meine Gabe, mit ihnen umzugehen, sie anzuziehen, zeigte sich damals schon fast in derselben Stärke und demselben Umfange wie später. Die Kleine hing an mir und ich an ihr, wie mit Ketten und Banden, und wenn ich die Schönheit und Güte der Tante abrechne, die auf mich, den lebhaften Knaben, einen tiefen Eindruck machten und mich stets mit bewundernder Zärtlichkeit der holdseligen Frau nahen ließen, so war es im Grunde nur Livia, die mich stets wieder in das alte Hofhaus lockte und mich immer länger und glücklicher dort verweilen machte. Mein Onkel nannte uns bald scherzend „das Ehepaar“, meine Tante nickte dann mit mildem, freundlichen Lächeln dazu und verfolgte uns und unser Treiben mit ihren liebevollsten Blicken, und Livia erklärte mit großem Ernst, daß wir freilich ein solches Paar seien und es auch bleiben wollten. Ich selber hatte keine Einwendung, und, was mir natürlich erst viel später klar wurde, Niemand schien sie zu haben. Alle, die bei Gelegenheit von diesem Scherz erfuhren, lachten dazu und hatten sich hinterher irgend eine Bemerkung zuzuflüstern. Aber nun genug davon und zu anderen Dingen. Es geht jetzt rascher vorwärts.
Von Hause hatte ich in diesen zwei Jahren wenig zu hören bekommen, und zu sehen bekam ich noch weniger. Zwei oder drei Mal fuhren wir zu Familienfesten nach Hohensee oder sahen die Meinigen bei uns; ein paar Mal erschien auch mein sonst nicht reiselustiger Vater in Liebenhagen oder Karlshof und war dann in seiner Weise freundlich gegen mich, das war aber auch Alles, und ich kann nicht behaupten, daß ich nach mehr verlangt hätte. Es ging mir eben gar zu wohl in der neuen Heimath. Von der Mutter weiß ich nichts weiter zu sagen, als daß sie bei den paar Begegnungen, meiner Erinnerung nach, weder wärmer noch nachsichtiger gegen mich war. Wir schienen uns immer fremder zu werden.
Im Frühling 1778, als die Kriegsgerüchte immer lebhafter wurden, ließ ich mich nicht länger halten. Mein Vater und Onkel, so einfache Leute sie auch waren, hatten doch gute Connexionen, und da ich für meine zwölf Jahre ungewöhnlich groß und stark war, so gelang es ihnen wirklich, mich bei den Baireuth-Dragonern unterzubringen. Ich marschirte richtig schon in den letzten Maitagen mit dem Regimente aus.
Von den nächsten zehn Jahren ist verzweifelt wenig zu sagen, denn von dem Sinn und Unsinn, den ich als Standartenjunker, Cornet und Lieutenant mitmachte, erlaßt Ihr mir wohl zu reden, Vetter. Es war das Gewöhnliche, und das ist genug. Nur das will ich anführen, daß mir allgemach ein etwas ernsterer Sinn kam, der über die Armuth des Dienstlebens hinausstrebte, so daß der alte Bülow mich einmal wegen meiner „federfuchserischen“ Neigungen gehörig abkanzelte. Nun, das währte so fort, bis ich im Jahre 1785, wo ich neunzehn alt war, endlich zu einem ernsten Streit mit meinem Rittmeister kam, der mir gleichfalls wegen jener Neigung gram war; es erfolgte nach den unglaublichsten Scheerereien ein Duell und in Folge dessen, wie es bei der Weise der alten Majestät nicht ausbleiben konnte, ein kurzer Festungsarrest und meine Entlassung. Ein paar Jahre zuvor hätte mich das noch unglücklich gemacht; jetzt war es mir gerade recht. Ich ging nach Frankfurt an der Oder, dann nach Göttingen und studirte – allerlei, Vetter. Heutigen Tags würde man einen solchen Studiosus etwa einen Cameralisten heißen. – Obgleich die Wissenschaften gerade nicht in meinem Sinn tractirt wurden – das Studentenleben selber reizte mich wenig, denn es war nicht sowohl wild, wie ich selber, sondern vielmehr ordinär – hielt ich an jedem Ort doch ein volles Jahr aus. Dann ging ich nach Hause, um zu sehen, was hier etwa für mich zu hoffen sei, vor allem aber, um von meinem Herrn Papa einen anständigen Wechsel zu einer größeren Reise heraus zu schlagen.
Ich fand, wie Ihr es nehmen wollt, viel und wenig verändert. Meine Tante war schon drei Jahre todt – so lange war ich nicht daheim gewesen – mein Onkel ging umher wie ein Träumender oder Irrsinniger und wurde sichtbar immer schwächer und willensloser. Meine arme kleine Cousine zählte fünfzehn Jahre und hatte statt der Jugendlust und des Jugendglücks wenig Anderes als Trauer, Kummer und Unannehmlichkeiten aller Art, wie sie in einem so großen, Herrn- und aussichtslosen Hausstande, den sie mit dem besten Willen nicht vollständig in Ordnung erhalten konnte, niemals ausbleiben werden. Von Karlshof hatte sie auch keine Hülfe, da Büren mit den Seinen schon seit einigen Monaten in seiner alten Heimath weilte, eine Erbschaftsangelegenheit zu betreiben, die sich [708] bei der damaligen Advocatenwirthschaft noch lange hinziehen konnte. Hohensee war zu fern, und im Uebrigen – wer von dort hätte ihr auch recht was nützen können? Doch erzählte sie nur, daß meine Mutter ein paar Mal herüber gekommen sei und sich – wir hatten keine Geheimnisse vor einander – in der That über Erwarten liebevoll und freundlich erwiesen, besonders auf den armen Vater des Mädchens einen sichtbaren und zwar für jetzt wohlthätigen Einfluß gewonnen habe. Ich schüttelte dazu den Kopf. Die knabenhafte Opposition gegen die Mutter hatte sich freilich aus mir verloren; sie zu lieben aber vermochte ich um so weniger, da ich sie noch immer in der alten intimen Verbindung mit ihrem Bruder wußte.
Ihr seht daraus, daß hier in Hohensee selber noch alles in der alten Weise weiter ging. Wie mein Vater und der Baron sich nach jener Affaire mit mir wieder zusammengefunden, erfuhr ich niemals. Es ist aber auch gleichgültig, denn jetzt lebten sie ganz wie vordem, ja, die Wahrheit zu sagen, eher noch verträglicher als sonst. Man erzählte mir, daß Baron Gerold sich mit meinem Vater sehr in acht nehme, und dieser letztere, nunmehr sechszig Jahre alt, war gleichfalls ein wenig stumpf geworden, daneben wegen seiner großen Stärke wenig beweglich und augenscheinlich mehr als je unter dem klugen Regiment meiner Mutter. Wo er noch gereizt werden konnte, wußte sie besser als irgend jemand, und da sie das auf’s sorgfältigste vermied, konnte sie thun und lassen, was sie wollte.
Er hatte eigentlich nur einen lebhaften Wunsch – daß mein Bruder nach Hause kommen und sich in die Landwirthschaft eingewöhnen möge, denn er hing an seinen Gütern mit einer Art von wirklicher Liebe, und der Gedanke, daß sie in schlechte Hände und damit aus dem für damals musterhaften Zustande kommen könnten, war ihm ein gar peinlicher. Er wollte dem Julius für’s erste Sollnitz geben, damit er dort lerne und zugleich nahe und fern genug von Hohensee sei, um sich nöthigenfalls stets schnell Rath und Hülfe verschaffen zu können und anderntheils doch auch selbständig zu bleiben. Julius hatte aber bisher noch nicht gewollt; das Leben in Berlin, wo sein Regiment stand, gefiel ihm gar zu gut. Er war achtundzwanzig Jahre alt, hatte Geld, so viel er wollte, und gab sich nicht, wie ich, mit „wissenschaftlichen Grapsen“ ab, sondern lebte ein rechtes Lieutenants-Leben.
Für mich und meine Zukunft hatte der Alte bisher weder Pläne noch Wünsche; er mochte sie für gegeben halten, denn er deutete ein paar Mal darauf hin, daß ich dereinst wohl in Liebenhagen sitzen werde. – Gegen meine Reise hatte er nichts, und da, was ich sonst gefürchtet hatte, die Mutter keine Einwendungen machte, so erhielt ich, was ich wollte, und reiste baldmöglichst ab – von der Mutter zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Art von Freundlichkeit entlassen – ich erfuhr es später, was dahinter steckte! – vom Alten mit den Worten: „bleib’ nicht zu lange aus, Junge. Möcht’ Dich doch auch noch gern wiedersehen.“ – Mein guter, alter Papa hatte mich eben in seiner Weise wahrhaft lieb und bewies mir das auch diesmal wieder.
Es wird Euch nicht darnach verlangen, von meiner Reise zu hören, Vetter; genug, wenn ich sage: ich trieb mich fast drei Jahre lang in der Welt umher, da mich der eine Weg immer zu einem anderen lockte, und ich habe Fahrten gemacht, wie sie dazumal noch nicht gerade gewöhnlich waren. Die letzten zwei Jahre zumal war ich recht eigentlich ein Vagabund gewesen, ohne bleibende Stätte und Standquartier. Ich hatte wohl ein paar Mal an die Meinen einen Brief abgeschickt – Schreiben war übrigens nie meine Leidenschaft – aber selten genug war es geschehen, und von ihnen hatte ich gar nichts erfahren, weil selbst mein Hamburger Banquier mich nicht aufzufinden wußte und mir keinen Brief nachschicken konnte; es ging damals eben noch nicht wie heut zu Tage. Als ich nun im December 1790 mit einem Hamburger Schiff, das ich in Smyrna getroffen, direct zurückkam, fand ich doch mehr als ich gedacht, einen ganzen Haufen Briefe.
Es war eigentlich nur Eins darin, was mich wirklich, freilich aber auch um so ernstlicher berührte – das war die Nachricht, daß mein Bruder im vorigen December schon meine Cousine Livia geheirathet hatte und nun, dem Wunsch des Vaters gemäß, auf Sollnitz lebte und wirthschaftete. – Wie sich das gemacht, war nicht recht zu erkennen, nur fand sich in einem Briefe Eures Vaters, des Magisters, der eigenthümliche, mir ewig unvergeßliche Satz: „Ich kann das Verfahren der Ihren, so weit ich davon erfahren, nicht ganz in der Ordnung finden, mein lieber junger Freund. Der Mensch hat in so ernsten Lebensfragen sein eigenes unveräußerliches Recht, seine eigene, niemals zu übertäubende Stimme. Ich sehe nicht klar, mein Freund, aber ich glaube, beides ist hier gar zu wenig geachtet worden. Das theure Kind hat sich indessen gegen niemand geäußert und ist still in sein neues Leben hineingetreten. Gott gebe ihm denn seinen vollen Segen.“
Vetter, das machte mich außerordentlich nachdenklich, und zwar – offen gestanden – mehr als die Sache selbst. Es verletzte mich freilich, daß man die alten Pläne, daß man mich so unbekümmert auf die Seite geschoben; ich fand darin die Abneigung der Mutter, den Haß des Barons Gerold, und die Wange brannte mir, und ich fühlte noch einmal jenen einen Blutstropfen darauf wie geschmolzenes Blei. Allein, ehrlich gesagt, war dieser Verdruß dennoch gewissermaßen nur ein äußerlicher, und von einem tiefer gehenden, wahren Schmerz ward mir nichts fühlbar. Ich hatte meine Cousine nur als Kind gekannt und sie auch das letzte Mal nur als ein solches, wenn auch liebreizendes, kennen gelernt. Sie war, mit einem Wort, nicht dazu angethan gewesen, jene alten Plane der Anderen, die bei mir, dem Knaben, freilich Beifall gefunden, in der folgenden Zeit aber dem Heranwachsenden immer ferner und ferner getreten und aus dem Sinn gekommen waren, mir wieder nahe zu rücken, oder mich gar für sie zu begeistern. Vetter, ich war ein halb träumerisches, halb fideles, vor allen Dingen aber ein gesundes Menschenkind; ich sah die Frauen mit freundlichen, aber nicht mit begehrlichen Augen an, und ich wiederhol’s – so lieb ich die Livia hatte, als Braut oder Gattin, als mein volles Eigen hatte sie mir noch nicht erscheinen können, wie mir bis dahin überhaupt auch noch Keine in solchem Lichte erschienen war.
Aber, was hießen denn nun jene Worte Eures Vaters? Hatte das junge, in seiner Einsamkeit träumende Mädchen die Sache anders angesehen? Hatte Livia anders an mich gedacht? Ich verwarf diesen Gedanken, sobald er gefaßt war. Es war unmöglich! Sie war ja ein Kind, da wir uns zuletzt begegneten, und hatte seitdem so gut wie nichts mehr von mir gehört. Oder hatte sie jemand Anderes im Herzen, und hatte man sie gezwungen, den aufzugeben, und gegen ihren Willen meinen Bruder zu heirathen? Dies Letztere schien mir das Natürlichere zu sein, und wie ich auch zu dem Kinde stand – es regte sich in mir für dasselbe ein tiefes – nennt es: ritterliches – Gefühl; ich hatte mich stets, so lange ich in Livia’s Nähe, als ihren naturgemäßen Schützer betrachtet und sah mich auch noch jetzt so an. Hatte man sie gezwungen oder gequält zu etwas, was gegen ihren Willen? Vetter, ich ballte noch einmal die Faust, und noch einmal brannte der Blutstropfen auf meiner Wange. Ich kannte die Meinen und wußte, in wem von ihnen ich – deutsch heraus – Livia’s und meinen Feind zu finden haben würde.
Ich hatte keine Ruh’ noch Rast. Ich packte meine Briefe zusammen und meinen Koffer nicht aus. In der Nacht schon fuhr ich mit Extrapost der Heimath zu.
Die Judenstadt und der alte Judenfriedhof in Prag.
Wer jemals Gelegenheit hatte, die alte hundertthürmige Residenz
der Böhmenkönige zu sehen, erinnert sich gewiß jenes erhebenden
Eindrucks, den die ehrwürdige Moldaustadt Prag in ihm
hervorgerufen. Und um wie viel großartiger muß der Anblick zu
jener Blüthezeit Prags gewesen sein, als noch frisches Leben in
ihren großartigen Palästen herrschte, vielseitige Industrie dem arbeitenden
Bürger Reichthümer zuführte, Hoch und Niedrig der segensvollen
Regierung Karl’s IV., welcher Böhmens goldene Zeit schuf,
sich einstimmig bewußt wurde!
So wesentliche Spuren der Veränderung auf der „Kleinseite“, dem Stadtviertel der böhmischen Nobile’s und ihrer Paläste, sich unter dem Einflüsse der Jahrhunderte geltend gemacht haben, so
[709][710] gleichmäßig ist wohl die Physiognomie eines anderen Stadttheils geblieben. Auch dieser ist in seinem Ausdrucke ernst und finster, doch herrschte hier bei den Bewohnern nur selten Lust und Freude. Stets unterdrückt und verfolgt, fehlte ihnen, mit Ausnahme weniger Familien, selbst ein mäßiger Wohlstand, so daß die Häuser hier auch nur meist ein ärmliches Aussehen tragen und dieses Viertel gleichsam als die Kehrseite Prags zu bezeichnen wäre. Es ist die Judenstadt, seit 1850 auch Josephstadt genannt.
Eine geschichtliche Erwähnung erfährt die Prager Judenschaft zuerst im Jahre 995, wo hier eine große Anzahl von Juden vorhanden gewesen, welche bei einer Empörung der heidnischen Bewohner, gegen die geringere Zahl von Christen, letzteren[WS 1] nicht unerheblichen Beistand leisteten und „von welcher Zeit an die Juden sich in ganz Böhmen also vermehrt haben: daß dieselben von etlichen Saeculis her einen sehr großen Theil der böhmischen Inwohner constituirt haben“.
Als die Juden nach der Vertreibung aus ihrem gemeinsamen Wohnorte, unterhalb des Schlosses Wyssehrad, (sprich Wischerad) der Wiege Prags, im Jahre 1098, dies Gebiet für die Zukunft meiden sollten, siedelten sie in die heutige Prager Judenstadt über. Eine große Verfolgung, bei der über 10,000 Juden das Leben verloren, erlitten sie im Jahre 1290 unter jenem fränkischen Fleischer Rinntfleisch, welcher, wie in vielen anderen Orten, so auch hier, an der Spitze einer wüthenden Schaar, das Judenviertel durchzog, es plünderte und die Bewohner schonungslos morden ließ. Hieran reiht sich eine lange Kette ihrer Verfolgungen, aus der wir nur die bekannte Judenmetzelei am Ostersonntage, den 18. April 1389, über die ein Zeitgenosse, der Rabbi und Dichter Abigdor, eine Elegie dichtete, welcher später zum Theil dem Ritualgebete des Versöhnungstages hinzugefügt wurde, so wie diejenige des Jahres 1421, die in neuerer Zeit Alfred Meißner den Stoff zu seinem Gedichte „das Passahfest“ gab, erwähnen. Eine besondere Schonung wurde ihnen während der Regierung des in Deutschland durch seine goldene Bulle bekannten Kaisers Karl IV. zu Theil, obwohl sie auch in dieser Zeit nicht ganz ungestört lebten. Hatte man ihnen früher die Versündigung an geweihten Hostien zur Last gelegt, so beschuldigte man sie jetzt, die Brunnen vergiftet und dadurch die herrschende Pest hervorgerufen zu haben. Um sie weniger den Rohheiten des Pöbels auszusetzen, wurden ihnen besondere Rechte zugestanden, welche noch jetzt in dem ältesten Stadtbuche Prags mit der Ueberschrift: „Das seynd der Juden Recht“, verzeichnet stehen. Es wird darin aufgeführt: „Man soll die Juden in ihren heiligen Tagen weder mit Stecken noch mit Steinen betrüben. Ob ein Christ einen Juden verwundet, der gebe dem Könige zu Buß 12 Mark Goldes und dem Juden 12 Mark Silbers und den Arztlohn; ob ein Christ einen Juden zu Tod schlägt, den soll man peinigen, als billig ist, und dessen Gut soll dem Könige gänzlich verfallen sein etc.“ – Im Jahre 1689 brach in der Judenstadt eine große Feuersbrunst aus, welche durch mehre von einem Minister Louvois gedungene Mordbrenner angelegt sein soll, und durch die 318 Häuser und 11 Synagogen abbrannten. Auch in neuerer Zeit hatten die Prager Juden manche Leiden zu ertragen. Als die Preußen nach Eroberung Prags 1744 die Stadt verließen, drangen die ungarischen Truppen und Dalmatiner ein, und mit dem Pöbel verbunden plünderten sie die Judenstadt, was nach einem Berichte des Judenältesten an die böhmische Statthalterei einen Schaden von über 100,000 Gulden verursacht haben soll. Das Schwerste mußten sie jedoch ein Jahr darauf ertragen. Schon früher waren häufig Befehle zu ihrer Vertreibung aus Prag gegeben, doch immer wußten sie durch bedeutende Geldgeschenke die höheren Beamten für sich zu gewinnen, so daß ihnen stets wieder ein längerer Aufenthalt gestattet wurde. Erst während der Regierung der Kaiserin Maria Theresia kam es im Jahre 1745, zufolge eines Majestätsbriefes, trotz vielfacher Vorstellungen der städtischen Behörde, die namentlich auf den bedeutenden Schaden, welcher dadurch der Stadt entstände, hinwies, zu einer umfassenden vollständigen Vertreibung, so daß im darauf folgenden Jahre nicht ein Jude von den zur Nachtzeit die Häuser durchsuchenden Wachen hier aufgefunden wurde. Gleich einer ausgestorbenen Stadt sah jetzt dies Viertel aus, selbst die Kranken mußten außerhalb Prags in Lazarethen untergebracht werden. In den naheliegenden Dörfern, welche überfüllt wurden, flüchteten sich die Juden; Entbehrungen aller Art brachten ihnen bald gefährlich ansteckende Krankheiten, deren weitere Ausdehnung zu befürchten war. Endlich, nach unzähligen Leiden, wurde ihnen am 5. August 1748 die Rückkehr nach Prag, unter der Verpflichtung einer jährlich zu zahlenden Contribution von 211,000 Gulden, gestattet. – Wie uns die Geschichte der Prager Juden eine Reihenfolge ununterbrochener Leiden mittheilt, so bietet auch die Judenstadt in ihrem jetzigen Aussehen noch ein treues Bild ihrer unglücklichen Vergangenheit.
Wenden wir uns vom großen Altstädter-Ring, der mit seinem gothischen Rathhause, der alten Teynkirche und dem schönen Kranze der hohen Häuserfronten wohl einen der interessantesten Plätze Europa’s in charaktervollster Schönheit bildet, in nordwestlicher Richtung, so befinden wir uns nach ganz kurzer Wanderung in der Judenstadt.
Gleich anfangs dehnt sich vor uns in langer, enger Straße der „Tandelmarkt“ aus. Hier herrscht ein gar bewegtes Leben, das sich zur Mittagszeit, wenn der böhmische Bauer seinen Kindern etwas „aus der Stadt“ mitzubringen und hier billig zu kaufen gedenkt, zum regsten Gewühl steigert. In buntester Auslage, Tisch an Tisch, liegen die Waaren vor uns ausgebreitet, welche meistens in Schmucksachen für Kinder aus Blech und Messing mit entsprechender „Vergoldung“, Regenschirmen, Mützen, alten Kleidern etc. bestehen. Die Frage: „Gnäd’ges Herrche, nichts z’ handle?“ hört man unzählige Male im Vorübergehen, und beim Stehenbleiben schließt sich auch sogleich das Aufzählen derjenigen Sachen, mit denen der Verkäufer Handel treibt, in nicht nachzuahmender Zungengeläufigkeit an. Sehen wir in einen solchen „Laden“ hinein, so wundern wir uns, wie der Verkäufer aus diesem Chaos des Untereinanders überhaupt etwas vorfinden kann. Die Unordnung scheint hier meistens zur Regel geworden zu sein. Ost sitzt im Hintergründe ein altes jüdisches Mütterchen zusammengekauert, das in dieser Dunkelheit kaum sichtbar ist, weil ein Fenster in dem Raume selten befindlich und das Tageslicht durch den Eingang nur spärlichen Zutritt hat. Zwischen den hohen, geschwärzten Häusern mit eisenvergitterten Fenstern, deren Glasscheiben theils mit dickem Staube überzogen, theils zertrümmert sind, schiebt sich der rege Verkehr des täglichen Marktes hin und her. So lebhaft es hier zugeht, eben so still ist es in den anderen Straßen. Die finsteren Häuser, von denen ein einzelnes häufig 8 – 10 verschiedene Besitzer zählt, sehen verwettert und trotz ihrer zahlreichen Bewohnerschaft unbewohnt und verlassen aus. Die meisten Straßen sind winkelig und eng; die Atmosphäre in ihnen ist dunstig und ungesund. In dieser abgeschlossenen, stillen und ernsten Umgebung scheint es uns, als ob die Geschichte das tiefe Gepräge langer Leiden der Stadt und ihren Bewohnern unverkennbar aufgedrückt. Wir empfinden die Stimmung, wie sie Alfred Meißner in nachstehender Strophe ausspricht:
O schwarze Judenstadt! Im lauten Prag
Ein stummes, trauerndes Jerusalem,
Durch deine Gassen zieht am hellen Tag
Das ewige Gespenst von Ehedem
Lebend’ges Grab! In deine Räume fällt
Kein heller Schimmer und kein Hauch der Welt,
In deinen Gassen ist die Jugend alt,
Der Frühling duftlos und die Sonne kalt,
Durch hohe Dächer kaum ein Sonnenblick!
Hier schweigt die Lippe, und hier schweigt der Stein,
Hier schläft des Lebens Wettkampf und Geschick,
Nur Juda’s Trauer wacht und schläft nicht ein!
Abends, wenn in den andern Stadttheilen noch das lauteste Leben herrscht, das in fernen Tönen hier herüber klingt, sind die Thüren der Häuser längst verschlossen, die Straßen leer. Hier und da bricht durch die blinden Fensterscheiben ein matter Lichtschimmer, unheimliches Schweigen umgiebt uns. Eine gewisse Spannung lagert sich in den engen Straßen: Wir glauben den hellen Schein des Pechkranzes, jenes unheilvolle Zeichen Prags, von dem Rathhause der Altstadt leuchten zu sehen und jeden Augenblick die Sturmglocken zur Verfolgung dieser Bewohner zu hören!
An öffentlichen Gebäuden besitzt die Judenstadt ein Rathhaus, welches den Juden wegen ihres tapfern Beistandes in der Schwedenbelagerung Prags 1648 mit Thurm und Uhr zu zieren erlaubt wurde, einige Wohlthätigkeitsanstalten und die in geschichtlicher, wie architectonischer Beziehung interessante Synagoge „Altneuschule“ aus dem 13. Jahrhundert, von frühgothischem schlichten Hallenbau, dessen Schiff von zwei schlanken, achteckigen Pfeilern getragen wird. Von düsterer[WS 2] Wirkung ist der Eindruck dieses alten Architecturwerkes. Dichter Staub deckt die schwarzen Wände, an denen viele Blutspuren [711] derjenigen Juden haften sollen, welche während der Judenverfolgung 1389, hier Schutz suchend, ermordet wurden.
Nur wenige Schritte von dieser ältesten Synagoge Prags entfernt, liegt der sich in großen Dimensionen ausbreitende, von einer hohen Mauer und angrenzenden Synagogen umgebene, weltberühmte „alte israelitische Friedhof“, welcher seit Kaiser Joseph II. Zeit geschlossen ist. – Ueber der Eingangsthüre lesen wir auf schwarzer Denktafel in deutscher und hebräischer Sprache:
„Ehrfurcht dem Alterthum,
Achtung dem Eigenthum,
Ruhe den Todten!“
Vielfache sagenreiche Traditionen, welche noch jetzt im Munde der jüdischen Bevölkerung leben, führen das Alter und die Gründung dieser Ruhestätte in die vorchristliche Zeit zurück. Die leichteste und sicherste Antwort ihres Entstehens würden uns die Grabsteine selbst geben, allein auch sie blieben von dem Barbarismus jener früheren Zeiten nicht verschont. Während der ausgedehnten Judenverfolgung im Jahre 1389 wurden fast sämmtliche Grabsteine dieses Friedhofes zerstört; die wenigen, welche man stehen ließ, sind im Verlaufe der Jahrhunderte tiefer und tiefer in die Erde gesunken, so daß jetzt nichts mehr von ihnen zu sehen ist; das Erdreich verschloß sie in seinem Schooße. – Die Mehrzahl der noch jetzt stehenden Grabmäler rührt aus dem 15. bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts her; auf den älteren ist weder Schrift noch Jahreszahl erkenntlich. Eingemeißelte Zeichen geben in symbolischer Weise den Stamm des Verstorbenen an. So bedeuten zwei ausgebreitete Hände den Stamm Aron, dessen Nachkommen an hohen Festtagen den mosaischen Segensspruch vorzutragen oblag; eine Kanne ist das Symbol der Leviten u. s. w. Außerdem sehen wir noch die Zeichen einer weiblichen Figur, welche uns die Ruhestätte einer Jungfrau bezeichnen soll, dann Abbildungen gewisser Thiere und Pflanzen, wie z. B. Wolf, Bär, Schwalbe, Rose, die den hiervon abgeleiteten Namen des Verstorbenen angeben.
Unter den Gräbern erwähnen wir zunächst dasjenige des Rabbi Abigdor, dessen Namen bereits vorhin erwähnt wurde, aus dem Jahre 1439. Derselbe erwarb sich durch seine Gelehrsamkeit eine hohe Ehrfurcht und wurde wegen des streng-ascetischen Lebens von den Juden zu einem Heiligen erhoben. Eine lange Zeit hindurch pilgerten ganze Gemeinden bei unglücklichen Ereignissen wie zu einem Wallfahrtsorte nach seinem Grabe. Nicht minder groß ist die Achtung und Verehrung für Mordachai Meist, dessen Grabstein die, seine Mildthätigkeit kennzeichnende Inschrift trägt: „Weder Armuth noch Mangel kannte die Gemeinde zu seiner Zeit.“ Eine große Zahl wohlthätiger, noch heute bestehender Stiftungen in der Judenstadt sind sein Werk; darunter das jüdische Spital und Waisenhaus. Ferner ließ er die nach ihm benannte Meislsynagoge für 20,000 Thaler bauen und schenkte u. A. den Gemeinden in Posen, Krakau und Jerusalem 30,000 Thaler; bedeutende Mittel wandte er auf, die herrschende Armuth seiner Glaubensbrüder zu mildern. – Ein durch Eleganz auffallendes Grabmal ist das der Hendl Schmiles aus dem Jahre 1628, welches, aus weißem Marmor ausgeführt, ein von Arabesken umgebenes Wappen trägt. Als Gattin des vom Kaiser Ferdinand II. in den Adelsstand erhobenen Jakob Sebas (Schmiles), welcher den Rang eines Hofagenten bekleidete, und dem zugleich die Verwaltung des böhmischen Münzregals, dessen Prägestätte noch heute in den Gewölben seines Hauses in der Judenstadt sichtbar ist, übertragen wurde, machte sie sich ebenfalls durch ihre bedeutenden Unterstützungen um die ärmeren Juden verdient. Bemerkenswerth sind außerdem noch die Grabmäler Simon Spiro’s, des Oberlandesrabbiners Oppenheim, Rabbi Fischels und vor allen das des „hohen Rabbi Löwi“, aus dem Jahre 1609. Durch seine theologische Gelehrsamkeit berühmt, hatte er sich ebenso bedeutende Kenntnisse in den Naturwissenschaften und namentlich der Astronomie angeeignet, so daß Tycho de Brahe, welcher zu jener Zeit am Hofe Kaiser Rudolfs II. lebte, in nahe freundschaftliche Beziehung zu ihm trat. Die Sage erzählt über Löwi, welcher als weiser Magier von den Juden bezeichnet wird, daß, als eines Tages der Kaiser, durch den berühmten Astronomen auf den gelehrten jüdischen Rabbi aufmerksam gemacht, diesen mit seinem Besuche beehrte, ihm Löwi die kaiserliche Hofburg, welche der Judenstadt gegenüber auf dem jenseitigen Flußufer liegt, in das Judenviertel gezaubert habe. Wahrscheinlich geschah dies mittelst einer Camera obscura, als deren Erfinder der Vater „Bezalél Löwi“ genannt wird. – Zahllose kleine Steine, welche als Zeichen der Achtung von den diese Ruhestätte Besuchenden niedergelegt wurden, lassen das nahe der Friedhofsmauer befindliche Grabmal leicht von den anderen unterscheiden. Ihm zur Seite wurden die Gattin und 32 seiner liebsten Schüler beerdigt.
Dieser Friedhof, von den Juden Beth-Chaim (Haus des Lebens) genannt, ist von Fouqué treffend als eine echt ossianische Erscheinung bezeichnet worden. Mitten im Gebiete des werkthätigen Lebens befindlich, fühlen wir in ihm schroff genug die hier herrschende plastisch-abgeschlossene Ruhe, aus der wir nur zuweilen das wirre Durcheinander der Andächtigen hören, welche nach der Schwüle der Tagesarbeit in den angrenzenden Synagogen zu ihrem Jehovah beten. Tausende von Grabsteinen decken den dürren, hügeligen Boden; Trümmer von Grabmälern, alte, dichtbemooste Leichensteine starren uns in wild zerrissenen Zügen entgegen, und alte, längst abgestorbene Hollunderstämme recken dazwischen ihre kahlen, knorrigen Aeste in die Höhe. „Ein wundersames, schauerliches Gefühl“ – sagt Carl Herloßsohn – „erfaßt den Eintretenden in dieser laut- und farblosen Oede. Keinem christlichen Gottesacker ist dieser Friedhof zu vergleichen. Ueber jenem zucken noch, wenn auch Kreuze und Gräber bemoost, versunken, einzelne Lichtblicke; der Mensch fühlt sich daselbst nicht so entsetzlich verlassen, allein, elend! Hier aber wohnt ein seltsames Grauen; die Hoffnung, das Gefühl der Auferstehung wagt es nicht einzuziehen in die Brust des Christen, der hier weilt. Beim ersten Schritt in diese Mauern, in dieses Irrgewinde von umgesunkenen Steinen und verworrenen Baumgruppen fühlt der Christ, daß er hier die Grabstätten eines anderen Volkes, eines andersgläubigen Geschlechtes betritt. Keine, nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit der Monotonie eines herrnhutischen Gottesackers, düster der Contrast mit der Freundlichkeit einer muhamedanischen Begräbnißstätte! Und wie verschieden, wie uralt gegen alle modernen Judenfriedhöfe! Es waltete hier der dumpfe, gepreßte Schmerz, das fatalistische Entsagen, das Hineinbrüten in Tod und Verwesung. Lange wird hier der Christ, welcher zum ersten Male diese Stätte betritt, nicht weilen; denn nirgend aus der Erde, selbst im tiefsten Kerker, kann es so unheimlich sein. Und doch weht die Luft hier frei, blickt der Himmel hernieder auf diese Zweige und Blätter, auf die Gräser und Moose.“ – Der alte Friedhof ist eine Reliquie seither geblieben und hat sich nicht, wie es bei christlichen Kirchhöfen der Fall, in einen freien Platz verwandelt; er gewährt dem Leben keinen Raum und empfängt, wenn gleich selbst todt, nichts Todtes mehr!
Von Dr. A. G.
Wenn ich in dem Folgenden ein den Naturwissenschaften entnommenes Thema kurz zu besprechen beabsichtige, so leiten mich weder jene großen Tendenzen des Jahrhunderts, welche die Forschungen des Gelehrten in passender Weise zum Eigenthum des Volks zu machen streben, noch fürchte ich damit die Reihe gefährlicher Halbwisser zu vermehren, welche der Geist der Forschung nie geadelt hat. Es gilt nur eine praktische Belehrung, welche mir im Sinne der Humanität geboten scheint, und welche ich, in schmerzvoller Erinnerung an so manches, durch eine gefährliche Unkenntniß zerstörte Lebensglück blos in der Absicht gebe, künftigem Unglück nach Kräften zu steuern.
Unter den eine unheilbare Erblindung herbeiführenden Augenkrankheiten stand noch vor etwa acht Jahren mit in erster Reihe das sogenannte „Glaucom“, dem Volke mehr noch unter dem Namen des „grünen Staars“ bekannt. Diese mit einer dämonischen Sicherheit zu einem völligen Ruin des Auges führende Krankheit hatte von jeher vielfach den ärztlichen Scharfsinn und Fleiß beschäftigt. Vergeblich suchte man dem eigentlichen Wesen [712] der Erkrankung beizukommen, vergeblich strebte man mit einer Legion von Heilmitteln ihrem traurigen Verlaufe entgegen zu treten. Erst in neuester Zeit feierte die Wissenschaft den großartigen Triumph, diesem tückischen Feinde menschlichen Glücks seine bisher machtlos bestrittne Gewalt zu rauben, und jene früher absolut unheilbare Krankheit ist jetzt, wenn sie nur früh genug erkannt und richtig behandelt wird, mit derselben Sicherheit zu beseitigen, mit welcher sie vorher zur Erblindung führte. Die enthusiastische Freude eines großen Theils der Aerzte über diese Errungenschaft konnte nur zunehmen, als die Erfahrung lehrte, daß das eingeschlagne Heilverfahren nicht nur einen vorübergehenden, sondern einen bleibenden Erfolg hatte, und vor der Macht der Thatsachen, vor den Dankesausbrüchen der Genesenen mußte endlich auch der Theil der Aerzte sich beugen, welche diesem mit argwöhnischen Augen angesehenen Wunderkinde der jüngern wissenschaftlichen Bestrebungen gern die Legitimitätserklärung versagt hätten. Eine hochwichtige Bedingung erfordert jedoch die Beseitigung der genannten Krankheit: dieselbe ist nur in ihrem ersten Auftreten und auch dann nur durch ein einziges Mittel, nämlich einen durchaus gefahrlosen operativen Eingriff, sicher und vollkommen zu heilen. In diesem Umstande liegt die Erklärung für die noch immer so zahlreich vorkommenden Erblindungen in Folge des Glaucoms. Die von dem Uebel ergriffenen Kranken verlieren, unbekannt mit dem Wesen desselben, die kostbare Zeit, in welcher durch Anwendung des allein wirksamen Mittels die Rettung des Sehvermögens gesichert wäre. Ohne eine Ahnung davon zu haben, mit welch’ gefährlichem Feinde sie ringen, brauchen sie erfolglos oder auch wohl mit scheinbarem Erfolge dies oder jenes angepriesene Mittel und schleppen sich Tage- und Wochenlang mit Heilversuchen hin, während doch oft schon einige Tage, ja in einzelnen Fällen sogar vierundzwanzig Stunden genügen, um das Auge für immer zu zerstören.
Zu diesem Uebelstande gesellt sich ein anderer, noch weit gefährlicherer. Es ist eine alte Erfahrung, daß jede neue Wahrheit nur mühsam sich zur Anerkennung durchringt. Die oft getäuschte Menschheit setzt nicht mit Unrecht gerade den glänzendsten Verheißungen das meiste Mißtrauen entgegen. So giebt es, irre ich nicht, noch immer eine Anzahl Aerzte, welche, da ihnen vielleicht die Gelegenheit mangelte, durch eigene Anschauung sich von der sichern Heilwirkung und der völligen Gefahrlosigkeit des gegen das acute Glaucom gerichteten Verfahrens zu überzeugen, ihre Kranken mit andern Heilversuchen hinhalten, bis das Uebel seinen unheilvollen Verlauf vollendet hat. Es ist eine tief betrübende, von mir wohl mit allen andern Augenärzten getheilte Erfahrung, daß von etwa zehn zur Untersuchung kommenden Glaucomatösen nur einer noch für die Operation passend erscheint – die andern sind ihrem dunkeln Schicksal verfallen, weil die sachverständige Beurtheilung zu spät kam. Nur wer selbst Arzt ist, nur wer die herrlichen Erfolge jener großen ärztlichen That in tiefster Seele mit erlebt und gefeiert hat, kann den herben Schmerz ermessen, welchen man solchen Fällen gegenüber empfindet. Ein durch bloße Unkenntniß und durch Fahrlässigkeit verschuldetes Unglück ist doppelt traurig. Ergebung und Fassung findet man hier viel schwerer, als da, wo ein unabwendbares Verhängniß gewaltet hat. Traurige Anhäufungen solcher Erfahrungen haben mich veranlaßt, diesen Gegenstand einmal einem größern Leserkreis vorzuführen und eine kurze, wo möglich belehrende Skizze jenes Krankheitsbildes zu liefern. Selbstverständlich können die Symptome der glaucomatösen Erkrankung hier nur so weit namhaft gemacht werden, als sie auch von dem Laien zu beobachten sind.
Das Uebel stellt sich zuweilen ziemlich plötzlich ein; bei weitem häufiger gehen ihm jedoch, gleichsam als warnende Zeichen, gewisse Vorboten voraus. Monate, ja Jahre lang vor dem eigentlichen Ausbruch sehen die Kranken, namentlich wenn sie in eine Kerzen- oder Lampenflamme blicken, nicht allein das Bild derselben leicht verwischt, sondern zugleich umsäumt von gewissen Farbenphänomenen. In den Farben des Regenbogens sind entweder Streifen radienartig um die Flamme gruppirt, oder dieselbe erscheint von ebenso gefärbten Ringen und Bogen umgeben. Die Gleichmäßigkeit des Sehens zeigt sich gestört; ab und zu erscheint das Gesichtsfeld von einem mehr oder weniger dichten Nebel verhüllt, in welchem alle Gegenstände undeutlicher als gewöhnlich sich präsentiren – nach einer kurzen, übrigens in ihrer Dauer schwankenden Zeit verschwindet der Nebel wieder, um erst nach Tagen, Wochen oder Monaten in gleicher oder ähnlicher Weise von Neuem aufzutreten. Aufmerksame Kranke können während einer solchen Periode des Nebelsehens sehr oft Folgendes beobachten. Blicken sie mit dem allein oder vorwaltend leidenden Auge, während das andere geschlossen wird, z. B. auf einen in der Mitte einer großen schwarzen Schultafel gezeichneten Kreidepunkt, in dessen Umgebung nach allen Seiten hin beliebige Zahlen verzeichnet stehen, so erscheinen diese in der Umgebung des fixirten Punktes liegenden Zahlen nach einer Richtung hin undeutlicher als nach der andern. Braucht man das rechte Auge zu diesem Versuche, so werden zumeist die links vom Beobachter liegenden Zahlen (oder Gegenstände) undeutlicher erscheinen; braucht man das linke, so erscheinen die rechts liegenden mehr verschleiert. Dies pflegt Regel, jedoch keine Regel ohne Ausnahme zu sein. Neben diesen Farben- und Nebelerscheinungen klagen die Kranken über Schmerzen, welche periodisch zu- und abnehmen, nicht selten einen hohen Grad erreichen, in der Stirn, über einem Auge mehr als über dem andern, gleichsam im Knochen fixirt sind, übrigens auch über die ganze betreffende Kopfhälfte bis in das Hinterhaupt hineinschießen. Es werden diese sehr bedeutsamen Empfindungen wegen des eben geschilderten Charakters meistens in die Schablone der „Kopfgicht“ untergebracht und einer specielleren Würdigung nicht unterworfen. Alle bisher genannten Erscheinungen zeigen, wie bereits bemerkt, den Charakter der Periodicität. Es ist fast nicht möglich, etwas weiteres, allgemein Gültiges hierüber zu sagen. Nur findet man, daß vor Allem ein gestörter Nachtschlaf, wohl auch Gemüthserregungen und sonstige körperliche Indispositionen die oben geschilderten krankhaften Erscheinungen in vermehrtem Grade hervorrufen, während dieselben, wenn sie schon habitueller geworden sind, am Morgen nach einer ungestört durchschlafenen Nacht merklich zurücktreten. Werden die freien Intervalle seltner, die Farben- und Nebelerscheinungen sowie die Schmerzen hingegen intensiver und andauernder, so ist ein naher Ausbruch des eigentlichen Uebels zu fürchten. Wie schon bemerkt, umfaßt dieses Stadium der Vorboten einen sehr verschiedenen Zeitraum. Man hat Beispiele, wo dasselbe jahrelang gedauert hat; am häufigsten findet man es auf einige Monate, seltner nur auf Wochen oder Tage beschränkt; zu den Ausnahmefällen gehört es, wenn der gleich zu schildernde acute Anfall ohne alle Prodromalzeichen den Kranken überrascht.
Der acute Ausbruch der Krankheit findet meist des Nachts statt. Der Leidende erwacht mit bohrenden Schmerzen in den Augen, während zugleich die schon oben erwähnten Empfindungen in Stirn und Kopf oft eine so furchtbare Höhe erreichen, daß selbst die willenskräftigsten Kranken sie nicht zu ertragen vermögen und verzweifelnd nach Hülfe jammern. Das stark thränende Auge ist hierbei geröthet, die Lider sind angeschwollen, die Pupille des leidenden Auges ist etwas weiter als die des nicht ergriffenen, erscheint rauchig, getrübt und wechselt ihre Größe nicht, wie im gesunden Zustande, bei abwechselnder Einwirkung von Licht und Schatten. Diese Beurtheilung der Pupille wird indessen immer nur einem aufmerksamen Beobachter möglich sein. Während farbige und leuchtende Phantasmen vor dem Auge spielen, ist das Erkennungsvermögen plötzlich erloschen; oft werden nur noch größere Gegenstände (z. B. eine menschliche Figur) in matten Umrissen erkannt, während in andern Fällen nur noch das Unterscheidungsvermögen zwischen hell und dunkel fortbesteht. Nachdem diese traurige Scene einige Stunden (vier bis zwölf) lang gespielt hat, bessert sich der Zustand entweder spontan oder bei Anwendung von Arzneimitteln. Die Schmerzen verringern sich, Thränenfluß, Schwellung und Röthe des Auges lassen nach, das Sehvermögen nimmt zu, bleibt indessen meist immer etwas verschleiert, der Kranke faßt neue Hoffnung – da kehrt nach kurzer Zeit (meist nach ein bis zwei Tagen, seltner erst nach Wochen oder gar Monaten) der Anfall mit erneuter Heftigkeit zurück. In periodischem Wechsel folgen sich nun acute Anfälle und freie Intervalle wochen- und monatelang, die Intensität der erstern ist bald größer, bald geringer; auch während der freieren Intervalle schweigen die Schmerzen nicht gänzlich. Jede Spur von Lichtschein geht endlich hierbei zu Grunde. In welcher Periode die Blindheit bereits eine unheilbare ist, hängt von verschiedenen, hier unmöglich zu erörternden Umständen ab. Ich bemerke nur, daß dies schon kurz nach dem ersten Ausbruch der Fall sein kann, während auch Fälle vorkommen, in denen noch nach monatelanger Dauer dieses traurigen Turnus wenigstens einige Hülfe möglich ist. Für den Arzt ist das Krankheitsbild [713] in den obigen Angaben keineswegs erschöpft, in seiner Hand liegen vielmehr die Mittel zu einer weit eingehendern, für den Leidenden unendlich wichtigen Beurtheilung. – Ich habe noch hinzuzufügen, daß die Krankheit mehr in den mittleren und späteren Lebensjahren vorkommt, daß das jugendliche Alter jedoch keineswegs ganz sicher vor derselben ist. Rheumatische und gichtische Constitutionen erscheinen besonders zu derselben disponirt. Fast ohne Ausnahme befällt sie beide Augen, wenn auch nur selten zu gleicher Zeit. – In einzelnen Fällen hat man beobachtet, daß nach dem ersten heftigen Anfalle ein zweiter nicht folgt, sondern daß nach demselben das Sehvermögen successive zu Grunde geht, während nur ähnliche Symptome, wie die des Vorbotenstadiums, diesen Verfall begleiten.
Der tückische Charakter der Krankheit ist namentlich in der auch spontan eintretenden periodischen Besserung begründet. Treten die heftig entzündlichen Erscheinungen des ersten Anfalls bei Anwendung der gewöhnlich zunächst gebrauchten entzündungswidrigen und schmerzstillenden Mittel (Blutentziehungen, Quecksilbermittel, die Narcotica etc.) zurück, bessert sich das Sehvermögen hiernach wohl gar bis zu seiner Norm, so schlummert bei Arzt und Kranken die Besorgniß ein, und man meint wohl, in jenen Mitteln eine sichere Hülfe gegen die Krankheit gefunden zu haben. Der weitere Verlauf wird dieses Vertrauen jedesmal täuschen. Es ist deshalb jedem von der Krankheit Bedrohten oder Ergriffenen zu rathen, in solcher Gefahr mit den Stunden zu geizen, wie mit den kostbarsten Gütern, und ohne jedes Bedenken mit möglichster Eile sich der gedachten, die Gewalt der Krankheit sicher brechenden operativen Behandlung zu unterziehen. Mir ist von glaukomatös Erblindeten, wenn ich sie um die Ursache ihrer verzögerten Berathung befrug, fast einstimmig eingewendet worden, sie hätten wegen der „Entzündung“ und wegen des damit verbundenen körperlichen Leidens nicht reisen können, oder sie wären der Meinung gewesen, daß eine Operation, wie es ja beim grauen Staare der Fall sei, erst nach eingetretener Erblindung vorgenommen werden könne – Beides die traurigsten, unsägliches Leid verschuldenden Irrthümer! Mag der Anfall noch so heftig, das denselben begleitende körperliche Uebelbefinden noch so bedeutend sein, niemals dürfte dies ein Grund werden, die Berathung mit einem sachverständigen Arzte, wenn ein solcher nicht an Ort und Stelle ist, hinauszuschieben. Die meist sehr überschätzten Gefahren einer etwaigen Reise sind durch ein umsichtiges Arrangement sehr zu beschränken und werden unter allen Umständen von den verderblichen Consequenzen, welche ein längeres Abwarten hat, in nicht zu vergleichender Weise überwogen. Man bedenke nur, daß durch den gedachten operativen Eingriff nicht allein das Sehvermögen gerettet, sondern auch den quälenden, die gesammte Constitution nicht selten zerrüttenden Schmerzen ein fast augenblickliches Ende gemacht wird. Daß es zum Gelingen der Operation der Hand eines Arztes bedarf, der nicht allein mit dem Wesen der Krankheit, sondern auch mit der Technik der Operation völlig vertraut ist, versteht sich von selbst. Es muß Sache des Kranken bleiben, sich über diesen Punkt ein Urtheil zu verschaffen.
Bei der Schwierigkeit, das Publicum über ärztliche Dinge zu unterrichten, verhehle ich mir nicht, daß ich durch Publication vorstehenden Aufsatzes hier und dort eine vielleicht ungegründete Besorgniß rege machen könnte, zumal da die Anzahl der sogenannten Augen-Hypochonder eine sehr bedeutende ist. Das eine und andere der genannten Symptome findet sich wohl auch bei Krankheiten von viel geringerer Bedeutung, und es ist nöthig, aus dem gegebenen Bilde nicht einzelne Züge herauszureißen, sondern dasselbe immer als ein Ganzes im Sinne zu behalten, um in dem einzelnen Falle einer ungegründeten Befürchtung nicht anheimzufallen. In zweifelhaften Fällen frage man eben bei Zeiten einen unterrichteten Arzt; es ist immer besser, hundert Mal zu fragen, wo es nicht nöthig wäre, als ein einziges Mal die Frage zu unterlassen, wo sie wirklich nöthig ist. –
Nr. 1. Die Quitze.
Am Morgen des 24. Juni 1412 hatten sich die Bürger der alten Hauptstadt Brandenburg im schönsten Festesschmuck vor den Thoren aufgestellt. Eine zahlreiche Volksmasse wogte in den engen Gassen auf und nieder und drängte sich besonders nach der Wittenberger Straße, denn auf dieser erwartete das Volk den neuen Landeshauptmann der Mark Brandenburg, den Burggrafen Friedrich VI. von Nürnberg, der endlich Ordnung und Recht in der verwahrlosten Mark wieder herstellen sollte.
Kaiser Sigismund hatte den Burggrafen, seinen alten, treuen Freund, für viele und wichtige Dienste, mit der Landeshauptmannschaft der Mark betraut und ihm das volle Souverainetätsrecht über dieselbe mit allen Herrschaften und Lehnen übergeben, mit dem Versprechen, daß er, wenn er jemals die Mark zurückfordern solle, dies nur gegen eine Entschädigung des Burggrafen durch die Summe von 100,000 Goldgulden thun wolle.[2]
Jetzt kam der Burggraf, um die Herrschaft seines Landes anzutreten. Die Bürger freuten sich des neuen Herrn, und als nun Friedrich an der Spitze eines kleinen Reiterzuges, begleitet durch den Herzog Rudolph von Sachsen und seinen Unterstatthalter, den Edlen Wend von Ileburg, erschien, da empfingen ihn freudig strahlende Gesichter, aber kein lauter Jubelruf erschallte, wie ihn der neue Herrscher erwartet hatte. Schweigend ließ die zahlreich versammelte Volksmenge den Landeshauptmann vorüber reiten.
Friedrich schlug seine Residenz in der Burg auf; er ließ sofort einige angesehene Männer aus Brandenburg zu sich entbieten, um von ihnen Auskunft zu erhalten über die Stimmung des Volkes, über den seltsamen Empfang, der ihm geworden. Wohl ahnte er, welche Gründe die Bürger von Brandenburg zum Schweigen veranlaßt hatten, denn es war längst sein Bestreben gewesen, sich genau mit den Verhältnissen des Landes, dessen Wohl und Wehe ihm jetzt anvertraut war, gewissenhaft bekannt zu machen; aber er wollte sich nicht auf die vielleicht parteiisch gefärbten Berichte verlassen, welche er in Süddeutschland erhalten hatte.
Der Bischof von Brandenburg, Henning von Bredow, der Edle Wend von Ileburg, der Provisor des Klosters, Engelbert Wusterwitz, ein gelehrter Mann, der Geschichtsschreiber jener Zeit, der treffliche Abt des Klosters Lehnin, Heinrich Stich, erschienen vor dem Burggrafen und gaben ihm auf sein Verlangen eine wahrheitsgetreue Schilderung der Zustände, welche in der Mark herrschten, eine Schilderung, welche wohl jeden Andern, als den thatkräftigen, kühnen, selbstbewußten Friedrich von Hohenzollern, von dem Versuche abgeschreckt hätte, Ordnung in die chaotische Verwirrung der Verhältnisse zu bringen.
Die Mark Brandenburg war damals ein gänzlich vernachlässigtes Stück deutscher Erde; seit vielen Jahren hatte das unglückliche Land nur dazu gedient, seine Fürsten zu bereichern. König Sigismund von Ungarn, der die Mark von seinem Vater, dem Kaiser Karl IV., geerbt, hatte dieselbe seinem Vetter Jobst von Mähren, einem geldgierigen Geizhals, verpfändet, und dieser suchte nun während seiner ganzen Regierung aus dem ohnehin armen Lande, der Streusandbüchse des heiligen römischen Reichs, so viel Steuergelder zu pressen, als irgend möglich. Um die Regierung der Mark bekümmerte er sich gar nicht, er überließ dieselbe seinen schwachen Statthaltern.
Ein Zustand vollkommener Gesetzlosigkeit war die natürliche Folge. Wer die Gewalt besaß, der hatte auch das Recht. Der schloßgesessene Adel kümmerte sich bald gar nicht mehr um den Landesfürsten, er lebte frei auf seinen stolzen Schlössern, sammelte auf denselben eine Schaar raubgieriger Knechte und führte mit diesen unaufhörliche Kriege gegen die Städte und selbst gegen die der [714] Mark benachbarten Fürsten. An der Spitze des märkischen Adels standen zwei Bruder, Dietrich und Johann von Quitzow, tapfere und talentvolle Männer, welche sich ein gewaltiges Ansehen unter ihren adligen Genossen verschafft halten. Ueber 24 feste Schlösser, welche theils ihnen selbst, theils ihren nächsten Freunden gehörten, konnten sie gebieten, und von diesen Festungen aus führten sie Krieg gegen Jedermann, der es wagen wollte, ihnen zu widerstreben. Der „böse Quitz“, so wurde Dietrich von Quitzow, der älteste der Brüder, seiner Härte und Grausamkeit wegen vom Volke genannt, herrschte fast unumschränkt in der Mark, denn willig beugten sich ihm die übrigen stolzen Adligen, welche ihn, seiner höhern geistigen Fähigkeiten wegen, als ihr Haupt anerkannten.
Die Adelsherrschaft war eine furchtbare Geißel für das unglückliche Land. Die Quitzow’s und ihr Anhang bekriegten die Städte nach frecher Willkür, meist ohne auch nur den Schein des Rechts zu wahren. Ihre räuberischen Knechte lagerten auf den Landstraßen und fingen die Kaufleute ab, sie raubten denselben ihre Güter, und glücklich der Bürger, der allein mit dem Verlust seines Eigenthums davon kam, oft genug wurden die Kaufleute gefangen in die Burgen geführt, in das tiefste Verließ geworfen und dort so lange in grausamster Gefangenschaft gehalten, bis ihre Freunde sich herbeiließen, sie aus derselben durch Zahlung großer Geldsummen zu lösen. Die Dörfer, welche den Städten oder geistlichen Stiften gehörten, mit denen irgend einer der adligen Räuber in zufälliger Fehde lag, wurden von den Rittern schonungslos verheert. In dunkler Nacht erschien plötzlich eine Räuberschaar, warf die Brandfackel in die Strohdächer, erbrach die Thüren der Häuser und trieb die jammernden Bewohner aus denselben. Die Männer wurden oft schonungslos, mitunter mit ausgesuchter Grausamkeit gemordet, die Frauen und Mädchen entehrt. Jedes werthvolle Eigenthum wurde zusammen geschleppt, was sich fortbringen ließ, packten die Räuber auf Wagen, das Uebrige überließen sie der Vernichtung durch die Flammen. Jubelnd und frohlockend zogen nach solcher Mordnacht die adligen Herren nach ihren festen Burgen, eine wüste Brandstätte da zurücklassend, wo am Tage vorher noch ein blühendes Dorf gestanden hatte.
So hatte der Adel seit langen Jahren in der Mark gehaust; war es da wohl ein Wunder, daß das unglückliche Land mehr und mehr in Armuth und Noth versank? „Rauben und Stehlen,“ so sagt ein Zeitgenosse, „war damals in der Mark die größte Kunst und das beste Handwerk,“ und ein Anderer erzählt, „daß, je näher Jemand den Marken gekommen ist, je gefährlicher er gereiset oder gewandert hat.“
Inmitten seiner tiefsten Noth leuchtete endlich dem Volke wieder ein Hoffnungsstern! Kaiser Sigismund hatte dem Burggrafen Friedrich IV. von Nürnberg, dem in ganz Deutschland seines trefflichen Charakters, seines Edelsinns, seiner Kraft wegen geachteten Hohenzollern, die Landeshauptmannschaft der Mark übertragen, dem Fürsten, dessen Wahlspruch: „Es ist die Pflicht der Fürsten, das Recht zu schirmen und das Unrecht zu kränken!“ im ganzen Volk bekannt war. Da athmeten die Bürger und Bauern wieder auf, sie hofften auf eine neue Zeit, sie jubelten dem Fürsten entgegen, und auch die Brandenburger hätten Friedrich gern mit lautem Jauchzen empfangen; aber als sie die kleine Reiterschaar sahen, an deren Spitze er in die Mark kam, da zagten sie und glaubten, daß der Landeshauptmann des mächtigen Adels nicht Herr werden möge, sie fürchteten die Rache des gewaltigen Johann von Quitzow, dessen uneinnehmbares Schloß Plaue ihnen so nah auf dem Nacken lag, des übermüthigen Wichard von Rochow, der seit langer Zeit das Einzugsrecht in Brandenburg hatte, wenn sie den Burggrafen zu laut und freudig begrüßten.
So hoffnungsvoll die Bürger und Bauern die Nachricht von der Ernennung Friedrich’s von Hohenzollern empfangen hatten, so widerwärtig war dieselbe dem Adel gewesen. Auf den Schlössern der Quitzow’s in Friesack und Plaue hatten sich die adligen Herren versammelt, um zu berathen, wie sie den Hohenzollern empfangen sollten, von dem sie im voraus wußten, daß er sich mit kräftiger Hand ihren Machtübergriffen, ihrem gesetzlosen Treiben, dem schandbaren Räuberunwesen, entgegenstellen werde. Da waren sie alle zusammengekommen, Dietrich und Johann von Quitzow, der Edle Kaspar Gans von Puttlitz[WS 3], Wichard von Rochow, die Holzendorffs, die Bredows und Alvenslebens, Albrecht von Uchtenhagen, die Brüder von Maltitz, die Gorentzke und so viele Andere, die an den Quitzow’s hingen.
Ein mächtiger Widerstand gegen den Hohenzollern! Das war das Losungswort der adligen Herren; einen „Nürnberger Tand“, so nannten sie den Fürsten. „Und wenn es alle Tage Burggrafen vom Himmel regnet,“ rief Dietrich von Quitzow, „wir wollen uns ihnen nicht unterwerfen!“ Damals, wie in allen Zeiten, hielten es die Adligen mit den Fürsten nur so lange, als sie durch dieselben einen Vortheil erwarten konnten.
Ein fester Adelsbund wurde gegen Friedrich von Hohenzollern geschlossen, und die Quitzows entblödeten sich nicht, zu diesem auch auswärtige Hülfe heranzuziehen, sie verbündeten sich mit Friedrich’s Feinden, den jungen Herzögen von Pommern-Stettin.
So standen die Verhältnisse, als der erste Hohenzoller einzog in die Mark Brandenburg; aber Friedrich zagte nicht, er war sich bewußt, das Rechte zu wollen, und er fühlte die Kraft in sich, es zu vollbringen. – Mit ruhiger Mäßigung und kraftvoller Entschiedenheit begann er die Regierung, fest entschlossen, das gebrochene Recht wieder herzustellen.
Vor allen Dingen kam es dem Burggrafen darauf an, die Stimmung im Lande kennen zu lernen, zu sehen, ob er sich auf die Sympathien des Volkes stützen könne; so zog er denn von Stadt zu Stadt, überall nach der Sitte der Zeit die Huldigung der Bürger entgegennehmend. – Wohin er kam, da wurde er von Bürgern und Bauern mit Jubel empfangen, das Volk stand zu ihm, darüber durfte er außer Sorge sein, und selbst manche der besser denkenden Edelleute, wie die trefflichen Grafen von Ruppin, wurden durch Friedrich’s einfache Rechtlichkeit für ihn gewonnen; aber die Mehrzahl des Adels blieb ihm fremd. – Wie sehr sich der Burggraf auch bemühte, die Widerstrebenden durch Milde und Freundlichkeit an sich heranzuziehen, alle seine Anstrengungen waren vergeblich, sie hatten nur den Erfolg, daß die stolzen Quitzows höhnend aussprachen, „der Nürnberger Krämer“ fürchte sich vor ihnen, sie wollten ihn bald genug mit Schimpf und Schand’ aus dem Lande jagen! – Sie weigerten sich der Huldigung, sie zogen das Raubgesindel aus dem ganzen Lande auf ihren Schlössern zusammen und rüsteten mächtig.
Die Langmuth des Burggrafen wurde endlich erschöpft, er sah ein, daß er gezwungen sei, mit Waffengewalt den rebellischen Adel zu Paaren zu treiben; aber er verhehlte sich auch nicht, daß dies ein gefährliches Unternehmen sei, denn aus seinen fränkischen Landen konnte er vorläufig nur eine kleine Kriegerschaar herbeiziehen, und die Zuzüge der Städte reichten nicht hin, um den Krieg gegen die mächtigen Quitzows zu beginnen. Friedrich suchte deshalb Bündnisse mit den benachbarten Fürsten zu schließen, und dies gelang ihm auch; aber ehe er noch vollkommen gerüstet war, kam es im October zum Kampf. – Friedrich’s kleines und aus wenigen fränkischen Rittern und Bürgern der Städte bestehendes Heer wurde von den Quitzows und den Pommern in großer Ueberzahl angegriffen und geschlagen, obgleich die Bürger mit wahrem Heldenmuthe gekämpft hatten.
Die Quitzows triumphirten, schon glaubten sie den Burggrafen vollständig besiegt zu haben, mordend und plündernd zogen sie mit ihren Schaaren umher und verwüsteten die Dörfer des Erzbischofs von Magdeburg, der ein Bündniß mit Friedrich geschlossen hatte; aber bald genug sollten sie zu ihrem Schrecken gewahren, daß sie zu früh frohlockt hatten; die Herzöge von Pommern weigerten sich, den Kampf fortzusetzen, und Kaiser Sigismund nahm sich plötzlich mit nicht geahnter Energie seines Freundes an; er bedrohte die Quitzows und ihre Freunde mit der Reichsacht und Oberacht, wenn sie sich länger der pflichtmäßigen Huldigung weigern würden.
Wieder fanden auf den Schlössern der Quitzows vielfache Zusammenkünfte der vornehmsten märkischen Adeligen statt, wieder ernste und oft aufgeregte Berathungen. – Des Kaisers Oberacht schreckte gar manche von denen, welche früher zu den festesten Verbündeten der Quitzows gehört hatten, die Schaar ihrer Anhänger verminderte sich, und endlich mußten sie sich überzeugen, daß sie bei einem erneuerten Kampfe Alles auf’s Spiel setzen, vielleicht Alles verlieren würden. – Sie entschlossen sich, nachzugeben, den Huldigungseid zu schwören, wenn Friedrich sie in ihren Rechten und Privilegien bestätigen würde; aber der Eid sollte ihnen nur ein Mittel sein, um den Burggrafen sicher zu machen, sie waren entschlossen, ihren Schwur zu brechen bei der ersten günstigen Gelegenheit. –
Am 4. April 1413 fand im hohen Hause in der Brüderstraße [715] in Berlin (dem jetzigen Lagerhause in der Klosterstraße, welche damals Brüderstraße hieß) die feierliche Huldigung statt. Friedrich begrüßte die zu ihrer Pflicht Zurückgekehrten mit freundlicher Herablassung und edler Offenheit. Die liebreizende Gemahlin des Burggrafen „Schön Elfe“, wie sie vom Volke bezeichnend genannt wurde, zog sie zur Tafel und zwang selbst die rauhen märkischen Bären zur Bewunderung ihrer bezaubernden Liebenswürdigkeit.
Der Friede schien hergestellt, die Quitzows zeigten sich sogar bereit, den Burggrafen auf einem Zuge gegen die Brüder von Maltitz auf Trebbin zu begleiten und diese ihre frühern Freunde für ihre Räubereien zu bestrafen; aber trotzdem war es nur ein Scheinfriede, denn im Geheimen rüsteten die Quitzows kräftiger denn je; sie befestigten ihre Schlösser mehr und mehr, verproviantirten sie und richteten sie auf eine längere Belagerung ein; sie waren entschlossen, den Kampf mit dem Landeshauptmann sobald als möglich wieder zu beginnen, und schlossen deshalb feste Schutz- und Trutzbündnisse mit den vornehmsten Adeligen der Mark ab, mit dem Edlen Kaspar Gans von Puttlitz[WS 4]. mit dessen Schwiegersohn Wichard von Rochow und manchen Anderen.
Friedrich hatte befohlen, daß endlich die wilden, das Land verwüstenden Fehden der Adeligen unter einander und mit den benachbarten geistlichen Stiften aufhören sollten. An diesen Befehl aber kehrten sich weder die Quitzows noch ihre Freunde. Kaspar von Puttlitz unterhielt eine wilde Fehde mit dem Bischof von Brandenburg, die Quitzows und Wichard von Rochow machten täglich wüste Raub- und Plünderungszüge in das Magdeburgische, verbrannte Dörfer auf ihrer Spur zurücklassend.
Friedrich von Hohenzollern ermahnte die wilden Händelsucher vergebens zum Frieden, mit Hohn wurde er zurückgewiesen; „der schildgeborene Adel,“ so antworteten die Quitzows und Puttlitz auf die Ermahnungen des Burggrafen, „habe das Fehderecht so gut wie der Fürst, und dürfe sich dasselbe nicht verkümmern lassen;“ und als ihnen endlich Friedrich drohend den vom Kaiser gebotenen Landfrieden in’s Gedächtniß rief und ihnen befahl, die Waffen gegen seinen Verbündeten, den Erzbischof von Magdeburg, ruhen zu lassen, widrigenfalls er selbst sich mit dem Erzbischof gegen sie verbünden müsse, da wiesen sie auch diese ernste Ermahnung mit Verachtung zurück; sie glaubten sich jetzt gekräftigt genug zum siegreichen Kampf gegen ihren Landesherrn.
Friedrich’s Geduld war endlich erschöpft, er entschloß sich zum Kampfe und rüstete zu demselben mit rastloser Thätigkeit, denn er war sich sehr wohl bewußt, daß eine Niederlage für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust der Mark Brandenburg war. – Vom Kaiser erwirkte er die Achtserklärung gegen die Landfriedensbrecher, von den Städten erheischte er die Stellung kräftiger Hülfsschaaren, welche ihm freudig bewilligt wurden, und mit den benachbarten Fürsten schloß er Bündnisse, in denen ihm zahlreiche Hülfstruppen zugesagt wurden.
Das Glück begünstigte den Burggrafen in dieser Zeit der ernsten Entscheidung. Der mächtigste Freund der Quitzows, Kaspar von Puttlitz, wurde auf einem Raubzuge gegen den Bischof von Brandenburg gefangen und dadurch unschädlich gemacht, die Herzöge von Pommern weigerten sich aus Furcht vor dem Kaiser, den Geächteten beizustehen, und viele der kleineren Adeligen zogen sich scheu zurück, als es zum ernsten Kampfe kam, weil des Burggrafen schnell wachsende Macht sie schreckte.
So sahen sich die Quitzows plötzlich auf sich allein angewiesen, nur Wichard von Rochow, den ebenfalls die Acht getroffen halte, hielt treu zu ihnen. – Sie hätten jetzt recht gern nachgegeben, aber es war zu spät, ihre Friedensanerbietungen wurden zurückgewiesen, der Burggraf sammelte sein Heer und der Kampf begann.
Noch immer hofften die Quitzows auf einen endlichen Sieg, freilich konnten sie sich nicht, wie früher am Kranner Damm, in eine offene Feldschlacht wagen, dazu reichten ihre Streitkräfte nicht aus; aber sie konnten sich zurückziehen in ihre festen, für uneinnehmbar gehaltenen Burgen, dort konnten sie dem Burggrafen Monate, vielleicht Jahre trotzen, bis die Kraft desselben erschöpft war, bis ihn seine Bundesgenossen verließen, bis sie endlich doch als Sieger aus dem schweren Kampfe hervorgingen. – Diesem Plane gemäß zog sich Dietrich von Quitzow mit dem Kern seiner Mannschaft nach Schloß Friesack zurück, Johann von Quitzow hielt das gewaltige Schloß Plaue besetzt, Wichard von Rochow blieb in Schloß Golzow.
An einem und demselben Tage begannen die Heere des Burggrafen und seiner Verbündeten die Umlagerung der drei mächtigen Schlösser. Der Erzbischof von Magdeburg legte sich vor Schloß Plaue, Herzog Rudolph von Sachsen vor Schloß Golzow, der Burggraf selbst vor Friesack.
Schloß Friesack lag mitten im wilden und sumpfigen havelländischen Luch, geschützt durch die unergründlichen Moräste, welche im Sommer jede Belagerung unmöglich machten, jetzt aber im Februar 1414 gefroren waren. Starke Mauern und feste Thürme schützten das Schloß, welches nach den Begriffen jener Zeit uneinnehmbar war. Dietrich von Quitzow war so fest von der Trefflichkeit seiner Festungswerke überzeugt, daß er nur spöttisch lachte, als er vom Altan des Schlosses auf das zahlreiche Belagerungsheer hinab blickte; – aber es ging ihm doch nahe, daß er unter den Fahnen, welche die Belagerer auf ihren Zelten aufgepflanzt hatten, manche ihm früher befreundete erblickte, denn viele Edelleute hatten den sinkenden Stern der Quitzows verlassen und waren dem aufsteigenden der Hohenzollern gefolgt.
Im weiten Kreise zogen sich die Zelte des Belagerungsheeres rings um Schloß Friesack, ritterliche Banner wehten neben den Fahnen der Städte, die Bürger tummelten sich im Waffenspiel neben den Mannen der Fürsten und den Rittern. Vorsichtig hatte Friedrich zu dem entscheidenden Kampf die ganze Kraft aufgeboten, er hatte sich einen neuen Verbündeten gewonnen, der in diesem Kampfe den Ausschlag geben sollte, – ein gewaltiges Geschütz, welches er vom Landgrafen Friedrich in Thüringen geborgt hatte.
Die großen Geschütze waren damals noch unbekannt in der Mark Brandenburg, und die „faule Grete“[3], so nannte man die thüringische Kanone, erregte deshalb bei den Rittern im Lager, welche bisher nur kleine Böller gesehen hatten, großes Staunen, man wartete mit Begier auf die Wirkung, welche die Kugeln des mächtigen Geschützes auf Festungswerke haben würden. Alle Erwartungen, welche Friedrich selbst von der Kraft seines Geschützes hatte, wurden von dem Erfolg weit übertroffen. – Schon der erste Schuß zeigte, daß Schloß Friesack dem Untergange geweiht war. – Die gewaltige steinerne Kugel durchbrach krachend die Wand eines festen Thurmes und verschwand im Innern desselben. – Noch wenige Schüsse, und der Thurm stürzte zusammen. -
Dietrich von Quitzow schaute mit Entsetzen auf das Zerstörungswerk, binnen wenigen Tagen sah er die Mauern seines Schlosses von den Kugeln der faulen Grete zusammensinken und eine weite Bresche sich öffnen. – Er war verloren, er konnte jetzt der Ueberzahl nicht länger widerstehen. – Da faßte er den Entschluß, wenigstens seine Freiheit zu retten; an der Spitze seiner Reiter machte er mit Beginn der Nacht einen Ausfall, es gelang ihm, die Reihen der Belagerer zu durchbrechen, und in wilder Flucht jagte er von dannen. Am folgenden Morgen fiel Schloß Friesack.
Schloß Golzow war schon früher genommen worden. Wichard von Rochow halte sich dem Herzog Rudolph von Sachsen ergeben müssen; er erhielt Begnadigung unter der Bedingung, daß er sich im Büßergewande, den schmachvollen Strick um den entblößten Hals gelegt, flehend dem Herzog zu Füßen werfe. –
Noch stand Plaue, das gewaltigste der Quitzow’schen Schlösser. Auf der äußersten Spitze einer in die Havel strebenden Landzunge gelegen, von 14 Fuß dicken Mauern umgeben, spottete die Festung den Belagerungskünsten des Erzbischofs; aber auch hier sollte sich die mörderische Kraft der faulen Grete, welche von Friesack nach Plaue gebracht wurde, bewähren. – Eine Kugel nach der andern schlug gegen die Umfassungsmauern, immer an dieselbe Stelle. – Johann von Quitzow lachte über das wahnsinnige Unternehmen, solche Mauer niederlegen zu wollen, spottend sah er die Kugeln an den Steinen zersplittern; aber bald wich das Lachen der Besorgniß, ein paar Steine wurden durch die Kugeln gelöst, diesen folgten mehrere, und in vier bis fünf Tagen war die Mauer fast bis zur Hälfte ihrer Dicke durchbrochen. –
Johann’s Muth war erschüttert, aber nicht gebrochen! Die faule Grete, der gefährlichste Feind, mußte unschädlich gemacht werden, und dies konnte durch einen kühnen Ausfall geschehen. – In dunkler Nacht wurde die Ausfallspforte geöffnet, die Quitzow’schen Reiter stürmten hervor; aber sie wurden kräftig empfangen und zurückgeschlagen. Mit jedem Tage erweiterte sich die Bresche, jetzt [716] konnte sich Johann von Quitzow nicht mehr verhehlen, daß Plaue fallen müsse. – Er beschloß zu fliehen, in der Nacht verließ er das Schloß zu Fuß und ging über das Eis, um sich im Rohrdickicht der Havel zu verbergen; ein treuer Knecht erhielt den Befehl, ihm sein Streitroß nachzuführen. –
Johann erreichte glücklich, von den Belagerern unbemerkt, das Dickicht, hier wartete er; – nach kurzer Zeit erschien auch der Knecht, er führte das Pferd des Quitzow am Zügel, schon glaubte Johann sich gerettet, da bäumte sich plötzlich das Roß hoch auf, riß sich los und jagte im sausenden Galopp davon über das Eis, dem Lager der Feinde zu. –
Johann war verloren, er konnte nicht mehr fliehen, nach kurzer Zeit war er der Gefangene einer Schaar erzbischöflicher Reiter, welche ihn nach dem Städtchen Plaue führten und den verhaßten Ritter dort unter Verwünschungen und Verhöhnungen in den Stock legten; – am folgenden Morgen wurde er nach Calbe in den Kerker gebracht, sein Schloß Plaue ergab sich. –
Der Burggraf hatte einen glänzenden Sieg gefeiert, in wenigen Wochen hatte er diese rebellischen Adligen unterworfen, ihre Macht für immer vernichtet und die Herrschaft der Hohenzollern in der Mark Brandenburg begründet. – Er benutzte seinen Sieg mit ernster Strenge, aber auch mit weiser Mäßigung. Das Vergangene vergaß er, selbst Wichard von Rochow wurde später von ihm begnadigt, aber mit eiserner Energie wachte er darüber, daß der übermüthige Adel nicht ferner der Gesetze spottete. – Er vergaß es nicht, daß er der Treue und Liebe der Bürger die Herrschaft verdankte, welche ihm der Eigennutz des Adels hatte streitig machen wollen. – Wollten doch auch seine Nachkommen dies niemals vergessen! –
Die Macht der Quitzow’s war für immer vernichtet. Dietrich trieb sich als ein Flüchtling unstät umher. – Von glühendem Haß gegen den Burggrafen beseelt, diente er den Feinden desselben, den Herzögen von Pommern und später dem Erzbischof von Magdeburg als Söldner gegen Friedrich. Er machte an der Spitze feindlicher Schaaren noch manchen Fehdezug in die Mark und wüthete hier in fürchterlicher Weise, endlich aber starb er, von allen seinen Freunden verlassen, im August des Jahre 1417 zu Harbke, einem Gute seiner Schwester.
Ueber das Schicksal des Johann von Quitzow fehlen uns zuverlässige Nachrichten. Die meisten Geschichtsschreiber behaupten, er sei im Gefängniß gestorben; andere Quellen aber melden uns, daß ihn der Erzbischof von Magdeburg endlich freigelassen habe, um den tüchtigen Heerführer gegen Friedrich in einer Fehde zu verwenden. Später soll sich Johann von Quitzow dem Kurfürsten unterworfen und dessen Gnade nachgesucht haben, welche ihm auch von dem trefflichen Fürsten gewährt worden sei.
Ein Vorkämpfer protestantischer Glaubensfreiheit.
Ueber die Seele kann und will Gott niemand lassen
gebieten denn sie selbst allein.
Luther.
Seit dem Jahre 1837, wo König Ernst August von Hannover bei seinem Regierungsantritt durch ein Patent das Staatsgrundgesetz des Landes aufhob, ist die Bevölkerung desselben nicht in eine so allgemeine Aufregung versetzt worden, als durch den in jüngsten Tagen dort ausgebrochenen Kampf auf kirchlichem Gebiete um die sogen. „Katechismusfrage“. Und da es sich bei diesem Streite eben um nichts Geringeres als die Sicherung der bisherigen protestantischen Glaubens- und Lehrfreiheit handelt, welche durch mächtige Gegner nicht nur theoretisch in Frage gestellt, sondern factisch geschmälert werden sollte, so ist es wohl erklärlich, daß diese zuerst anscheinend nur speciell hannover’sche Sache bald eine von allgemein deutschem Interesse geworden ist, soweit es nämlich deutsche protestantische Gemeinden giebt, welche an dem Fundamentalsatze der Reformation „freie wissenschaftliche Forschung in der Bibel und den Schriften der Reformatoren selbst, zur Anwendung der dadurch gewonnenen Erkenntniß für die Lehre in Kirche und Schule“ – festhalten und entschlossen sind, diese als das mit dem Blute des dreißigjährigen Krieges, mit dem Opfertode Gustav Adolf’s und unzähligen anderen Opfern theuer erkaufte Palladium der höchsten Freiheit, wenn wieder gefährdet, auf’s Neue jeder Zeit und jeden Ortes mit Wort und That zu vertheidigen.
Kaum dürfte es gegenwärtig eine deutsche Landeskirche geben, in welcher die kirchliche Restaurationspartei thatendurstiger wäre, als im Königreich Hannover. Schlag auf Schlag folgen sich hier die „kirchlichen Thaten“. Candidaten der Theologie werden aus den Listen des Kirchendienstes gestrichen, Glaubensgerichte werden gegen nicht fügsame Pfarrer eingesetzt, in Kirchenblättern wird gegen die freiere Richtung gepoltert, auf Conferenzen gelärmt, Kniebänke werden eingerichtet, der Beichtzwang wird wieder hergestellt, die Schullehrer werden bedroht und gemaßregelt, die theologische Facultät in Göttingen wird geleitet und beeinflußt. Die thatendurstige Partei baut Kirchen (wenn die Stände das Geld dazu bewilligen, was nicht immer der Fall ist) und organisirt Landesconsistorien, sie seufzt nach den verlassenen Fleischtöpfen Aegyptens, den schönen Ceremonien des katholischen Cultus, und wetteifert mit dem Pater Roh in Stylproben, welche lebhaft an die Bildungsstufe der deutschen Geistlichkeit nach dem dreißigjährigen Kriege erinnern. Aber alle diese Bemühungen wären umsonst, wenn es ihr nicht gelänge, das Denken und Glauben der Nation aus dieselbe Bildungsstufe zurückzuführen.
Es bedurfte daher einer letzten That, welche den bisherigen, welche allen vorangegangenen reactionären Bestrebungen der herrschenden kirchlichen Partei in Hannover die Krone aufsetzt. Sie war angekündigt, und sie ließ nicht lange auf sich warten. Am 14. April dieses Jahres wurde der mehr als siebzig Jahre in Gebrauch stehende „Katechismus der christlichen Lehre“ der evangelischen Kirchen und Schulen des Königreichs Hannover vom 10. August 1790 abgeschafft und – auf den Betrieb der thatendurstigen Partei – „Luther’s kleiner Katechismus mit Erklärung für die evangelisch-lutherischen Kirchen des Königreichs Hannover“ eingeführt.
Das „Ausschreiben“ des hannoverischen Consistoriums vom 22. April d. I. fordert nun aber „conservative Fortbildung“, d. h. Rückbildung der Zustände und Einrichtungen des hannoverschen Landeskirche um zweihundert Jahre, bis in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Der lutherische Katechismus sollte in Hannover im Jahre 1862 noch eben so erklärt werden, wie er im Jahre 1662 erklärt worden ist; das war und ist der Kern dieser neuen kirchlich-conservativen Fortbildungstheorie. – Was hat doch eine zweihundertjährige Entwickelung, welche alle Wissenschaften umgestaltet, das gesammte öffentliche Leben erneuert hat, einem solchen Standpunkte gegenüber zu bedeuten? Diese ist für die hannoversche Landeskirche nicht vorhanden; die „vermeinte Wissenschaftlichkeit der Universitäten“ muß ja abgethan, der lebendige Strom, der von dem Lebensbrunnen des öffentlichen Geistes ausgeht, muß abgegraben werden. Ein weiland Generalsuperintendent zu Celle, Namens Walther, ein heftiger Gegner des freier denkenden Helmstädter Professor G. Calixt, ein lutherischer Streittheologe des siebzehnten Jahrhunderts, ist als derjenige erkannt worden, zu dessen „Erklärung des lutherischen Katechismus“ die hannover’sche Landeskirche „conservativ fortgebildet“ werden muß. Also nicht mit einem neuen, sondern mit einem zweihundert Jahre alten, aus der orthodoxen Streittheologie des 17. Jahrhunderts herausgewachsenen Katechismus hat das Kirchenregiment die evangelischen Gemeinden Hannovers beglückt! –
Auf den Inhalt dieses sogenannten „neuen Katechismus“ einzugehen, all die veralteten, theils über-, theils abergläubischen Lehrsätze desselben zu citiren und zu beleuchten, verbietet uns hier der Raum. Führen wir des Beispiels halber nur an, was darin über den „Teufel“ gesagt wird. Daß nämlich der Teufel stets mit Vorliebe im neuen Katechismus erwähnt wird, daß sogar ein eigener Lehrsatz über ihn vorkommt (S. 80, Fr. 21.), der sich auf die zweifelhafte Stelle Jud. 6 gründet, darf uns natürlich nicht in Erstaunen setzen. Daß die Versuchung zur Sünde vorzugsweise dem Teufel zugeschrieben wurde, und deshalb die citirte Schriftstelle Jac. 1, 13. f. verstümmelt angeführt wird, weil sie mit dem Katechismus sonst nicht stimmte: das könnte vielleicht überraschen. –
[717]Der Katechismus stellt sich ferner auch vor, daß der Teufel uns durch „äußerliches Blendwerk“ zur Sünde locke und dränge; er fordert somit den Glauben an sichtbare Teufels-Erscheinungen (S. 132, Fr. 56.). Ja, er setzt sogar die wirkliche Thatsache übernatürlicher Zauberei und Hexerei voraus; denn er sagt mit ausdrücklichen Worten, daß Wahrsager, Zeichendeuter, Geistesbanner, Zauberer etc. „wissentlich oder unwissentlich mit dem Teufel in Verbindung treten“ (S. 49, Fr. 47.)!
Der Katechismus nimmt also nicht nur die Möglichkeit, sondern die Strafbarkeit realer Bündnisse mit dem Teufel an. Von einer solchen Annahme aus fehlt zu der Wiederkehr von Zauberer- und Hexenprocessen nur noch ein kleiner Schritt. Ein Mensch, der sich wissentlich mit dem Teufel, diesem ebenso mächtigen als tückischen Potentaten der Finsterniß, zu bösen Streichen verbindet, ist – die Realität des Teufels vorausgesetzt – in der That auch einer der schändlichsten Verbrecher; und warum sollte einen solchen das Schwert der öffentlichen Gerechtigkeit nicht auf’s Empfindlichste treffen?
In gleich ungeheuerlich altorthodoxer Weise spricht sich die vom Consistorium dem ursprünglichen Texte desselben beigegebene „Erklärung des kleinen lutherischen Katechismus“ aus über die „Erbsünde“, die „Taufe“, die „Privatbeichte“ und den „Beichtzwang“, die „Macht der Sündenvergebung durch den Beichtvater“, die „Auferstehung des Fleisches“, die „Erlösungslehre“ etc. etc.
Es klingt etwas unglaublich, aber es ist wahr: die Urheber des neuen hannoverischen Katechismus sind der Meinung: seit 200 Jahren habe die gesammte theologische und kirchliche Entwickelung innerhalb des Protestantismus nichts Neues als Abfall und Sünde producirt; man müsse daher eiligst den Schwamm ergreifen und diese sündhaften Hervorbringungen von der Gedächtnißtafel der Geschichte gründlich hinwegwischen. Davon, daß der Rationalismus, die Theologie der Aufklärung, die durch das Läuterungsfeuer der philosophischen Freiheit und Speculation hindurchgegangene moderne theologische Wissenschaft nothwendige Entwicklungsmomente in der Geschichte des Protestantismus sind, haben die „conservativ“ fortbildenden Kirchenhäupter in Hannover keine Ahnung. Ihrem umflorten Blicke verbirgt sich namentlich auch ein hochwichtiges Phänomen. Die Orthodoxie des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts war besonders in einem Punkte eine große Verirrung. Sie verwechselte die Theologie mit der Religion, die correcte Lehre mit dem evangelisch-christlichen Leben. Sie erhob die Dogmatik, und zwar eine unvolksthümliche, noch immer in dem Vorstellungskreise der mittelalterlichen Scholastik festgebannte Dogmatik, zum Mittelpunkte ihres Wollens und Schaffens. Die orthodoxe Lehrformel wurde der protestantische Papst. Wir kennen die Folgen dieses papierenen Papstthums. Die deutsch-protestantische Kirche wurde auf diesem Wege an den Rand des Verderbens geführt. Aergerliche Lehrstreitigkeiten füllen von jetzt an die Blätter ihrer Geschichte. Der lächerlichste und schmählichste Teufels- und Hexenglaube wird von den protestantischen Theologen und Juristen, diesen Trägern der Orthodoxie, am meisten gehegt und gepflegt! – Jesuiten und Pietisten erheben sich endlich gegen die scheußlichen Hexenverbrennungen, während die protestantischen Orthodoxen sich daran erlaben. – Der alte Generalsuperintendent Walther hätte in den Blutströmen des dreißigjährigen Krieges die Früchte des Systems, dem er sich selbst mit Leib und Seele ergeben, erkennen können. Die confessionelle Intoleranz führt, wenn ihr nicht bei Zeiten Einhalt gethan wird, zuletzt immer in den Jammer [718] des Bürgerkriegs und der nationalen Zerfleischung. Die innere geistige und sittliche Zerrüttung geht eine Zeitlang der äußeren Verwilderung voran, und leider stellt uns bereits die Gegenwart in den meisten deutschen protestantischen Landeskirchen das Bild der Verwirrung vor Augen. Mit Ekel und Verachtung wenden die Gebildeten von dem widerwärtigen Schauspiel der orthodoxen Restauration sich ab; die Massen verhalten sich gleichgültig oder sind innerlich verstimmt; die Führer der Restauration liegen sich aber bereits selbst in den Haaren, und Einer erhebt Mund und Hand zu Flüchen und Schlägen wider den Andern.
Der hannoversche neue Katechismus aber ist – seinem gesammten Inhalte nach – ein Product des orthodoxen, ausschließlich confessionalistisch gesinnten, lutherischen Dogmatismus. Den Kindern die altorthodoxe Dogmatik – gehe es, wie es gehe – wieder beizubringen, mit allen ihren Härten und Unbegreiflichkeiten, in ihrer abstoßenden Schulsprache und ihrer gemüthlosen Trockenheit: das ist die Aufgabe, an deren Lösung alle evangelischen Lehrer und Geistlichen Hannovers von jetzt an mit Hülfe des neuen Katechismus arbeiten sollten.
Auf diesen größtentheils, Gottlob! längst überwundenen, fast mittelalterlichen Standpunkt sollte und mußte – nach dem Willen und der Meinung der hochkirchlichen Leiter Hannovers – die christliche Lehre in Schule und Kirche ihres Landes gewaltsam, durch einen absoluten Act, zurückgeschraubt werden. Solches war der schlimme Zustand, welcher dem Lande Hannover allgemein nahe bevorstand und der in vielen Gemeinden auch schon thatsächlich durch blinden passiven Gehorsam der Schullehrer und Geistlichen angebahnt wurde; denn bereits waren gegen 200,000 Exemplare des „Neuen Katechismus“ gedruckt, und täglich wurden davon Ballen in die Gemeinden geschickt. Das auch im Lande Hannover theuer erkaufte und verbriefte staatsbürgerliche Recht der „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ erschien damit auf’s Aeußerste bedroht, und der trübe, geistesverschlammende Strom religiöser Verdummung schien damit unaufhaltsam und unvermeidlich sich über das ganze Land ergießen zu sollen. Zwar hatte die liberale hannoversche Presse schon seit länger gegen dies aufsteigende theologische Ungewitter geeifert und gewarnt; allein ihre Zeitungsartikel wurden einerseits durch sophistische Entgegnungen und Verdrehungen der conservativen Blätter neutralisirt und waren anderntheils, wie Zeitungsartikel überhaupt in solchen Umständen, nicht mächtig genug, einen Sturm der öffentlichen Meinung hervorzurufen, dessen Donnerstimme bis an das Ohr des einzigen Sterblichen, von dem Abhülfe möglich, des Monarchen, dringen konnte, um aus dessen höchster, über dem Parteilärm und Parteiinteresse stehender Einsicht ein rettendes Veto in dieser höchsten Noth des Gewissens und Glaubens seines Volkes hervorzurufen.
Zu solchem Rufen und Anrufen bedurfte es eines Mannes, eines im Leben und Wandel unbescholtenen, dabei im vollen Verständniß der Sache stehenden Mannes, bedurfte es einer gleich sehr mit Erkenntniß wie Willenskraft ausgerüsteten Persönlichkeit. Und dieser Mann erstand der bedrohten hannoverschen Glaubensfreiheit in der Person des Pastor Baurschmidt im hannoverschen Städtchen Lüchow an der Unterelbe. Mit einer von ihm verfaßten Broschüre, betitelt „Prüfet Alles. Ein Wort über den neuen Katechismus etc.“, nahm dieser bislang über seinen Kirchensprengel nicht hinaus bekannte und wirksam gewesene Landprediger entschlossen den Fehdehandschuh gegen das hannoversche Consistorium und dessen gemeingefährliches Verfahren auf. In allgemein faßlicher eindringlicher Rede wies er selbst für den Laien, Bürger und Bauer verständlich die Vernunftwidrigkeiten des Inhalts dieser aufoctroyirten neu-alten Katechismuserklärungen zusammt der verfassungswidrigen Einführung desselben nach. Wie ein Blitz schlug dies Baurschmidt’sche öffentliche Wort in alle für das heilige Gut der Glaubensfreiheit noch nicht indifferenten Gemüther und rief sie wach. Den ersten Impuls aber erhielt seine Sache, die gute Sache der Gesammtheit des Volkes dadurch, daß die Kunde sich verbreitete: „Pastor Baurschmidt sei vor das hannoversche Consistorium citirt worden, zu einem Verhör und eventueller Verurtheilung wegen seiner angeblich aufrührerischen Broschüre!“
Und so war es wirklich. Pastor Baurschmidt war wegen seiner genannten Schrift auf den 8. August zur Vernehmung vor das Consistorium in Hannover geladen worden, und Alles in Stadt und Land sah mit höchster Spannung diesem Tage entgegen. Unterdessen nun fing die Opposition gegen den „Neuen Katechismus“ an, sich zu gemeinsamen Schritten zu organisiren. Am 1. August wurde in Hannover selbst durch eine Anzahl namhafter Bürger eine „allgemeine Bürgerversammlung im Saale des Thalia-Vereins“ zur Berathung und Entwerfung einer Petition an Se. Maj. den König um Abhülfe in dieser Katechismusangelegenheit berufen. Die Adresse, mit Tausenden von Unterschriften bedeckt, kam unverzüglich zu Stande und ging zu ihrer Bestimmung ab. Diesem Beispiele der Residenz folgten alsbald die Städte Hameln, Hildesheim, Celle, Lüneburg, welchen in steigender Bewegung gleicherweise die meisten anderen Städte des Landes und die größeren Landgemeinden nach und nach sich angeschlossen haben.
Unterdessen rückte der für die Annalen der Residenzstadt denkwürdig werden sollende Tag heran, wo der Pastor Baurschmidt vor dem hannoverschen Consistorium sich stellen sollte. Es war in der Stadt bekannt geworden, daß er daselbst am 6. August Nachmittags mit dem Eisenbahnzuge von Celle eintreffen werde.
Schon in Celle war Baurschmidt mit großem Enthusiasmus begrüßt worden. Sein Empfang von Seiten der Bürgerschaft Hannovers aber überstieg Alles, was diese Stadt je Aehnliches erlebt hat. Viele Tausende, darunter alle angesehensten Bürger, Kaufleute, Handwerker etc., hatten in der Halle und auf dem Bahnhofsplatze sich versammelt. Nichtendender Jubel begrüßte den mit den Seinigen, mit Frau und Tochter, Aussteigenden. Er sprach einige Worte des Dankes. Vor dem Bahnhofe erwartete ihn der Wagen seines Gastfreundes und engeren Landsmannes (aus Lüchow gebürtig), des Weinhändlers Schultz. Neuer Jubel und Hochrufe beim Besteigen des Wagens, die er erwidert mit den schlichten Worten: „Es ermuthigt mich, daß meine Sache die so Vieler und hoffentlich auch die Dessen dort oben ist.“ Langsamen Schrittes fährt der Wagen durch die Tausende, welche nur eine Fahrgasse lassen, den viertelstündigen Weg bis zu Schultz’s Wohnung. Abermalige endlose Rufe hier, welchen Baurschmidt mit den Worten antwortet: „Ich wünsche, daß Gott mir Kraft verleihe, morgen nur halb die Worte zu finden zu dem, wovon ich heute durchdrungen bin.“ – Nachdem die „dem Verfechter von Wahrheit, Recht und Licht“ gebrachten abermaligen Hochs verklungen waren, stimmte die ganze Menge, stimmten die Tausende, welche alle anstoßenden Straßen dichtgedrängt ausfüllten, feierlich und erhebend an Luther’s Lied: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Ernste Andacht, erhebende Begeisterung erfüllte alle Gemüther, und zahllosen Augen entquollen die Thränen. Als Baurschmidt am folgenden Morgen sich von seiner Wohnung aus nach dem Consistorium begab, begrüßten ihn wiederum die Zurufe der zu Tausenden versammelten Volksmenge; angesehene Bürger bildeten Spalier längs des Wegs, und junge Mädchen bestreuten den Weg mit Blumen. Die Vernehmung vor dem Consistorium erledigte sich dahin, daß Baurschmidt jede sofortige Einlassung seinerseits ablehnte, sich dagegen zu einer schriftlichen Rechtfertigung auf die ihm zuzumittelnden Beschwerdepunkte bereit erklärte. Abends wiederholten sich vor Baurschmidt’s Wohnung dieselben Scenen wie am Tage seiner Ankunft; die verschiedenen Liedertafeln brachten ihm Ständchen, wobei das „Harre meine Seele“, „Der Tag des Herrn“ und „Eine feste Burg ist unser Gott“ gesungen wurden. Bei seiner Abreise von Hannover begleitete eine zahllose Menschenmenge in langsamem, feierlichem Zuge den Wagen, der den allverehrten Mann trug, bis zum Bahnhofe. Auf dem Markte wurden Wagen und Pferde mit Blumen geschmückt, ebenso war die Locomotive, welche ihn davon führte, mit Blumen bekränzt. Herzlich war der Abschied. Stets wiederholte Lebehochs bezeugten dem Gefeierten und bis zu Thränen Gerührten die Theilnahme der Bevölkerung. Auf seiner Weiterreise über Einbeck, Nordheim und Göttingen nach Osterode wurden Baurschmidt gleiche Ovationen dargebracht; in großartigster Weise geschah dies namentlich in Osterode, Baurschmidt’s Geburtsorte, wo man nicht mit Unrecht seine Aufnahme mit derjenigen verglich, welche Luther bei seinem Erscheinen vor dem Reichstage in Worms einst zu Theil geworden.
Unterdeß nun nahm die Aufregung gegen den „Neuen Katechismus“ und die Auflehnung gegen dessen Einführung immer größere Dimensionen an. Der Adressen- und Petitionensturm aus den Stadt- und Landgemeinden wurde allgemein und so groß, daß der König endlich eine andere Ueberzeugung in dieser Angelegenheit gewinnen mußte, als ihm wohl früher die Herren vom Consistorium beigebracht hatten. Und die Hoffnung des Volkes auf die höhere Einsicht ihres Landesvaters und Abhülfe durch ihn – [719] nachdem ihm nur erst die ganze unverfälschte Wahrheit der Sachlage zur Kenntniß gekommen – sollte nicht zu Schanden werden. Am 19. August erschien eine königliche Verordnung, durch welche „das Gebot der allgemeinen Einführung des neuen Landeskatechismus aufgehoben wurde, so daß der Gebrauch desselben nur da stattfinden sollte, wo er mit Bereitwilligkeit aufgenommen werde.“ – Damit war denn der hauptsächlichste Sieg erfochten. Es war dieser freilich nicht so groß, als wenn die königliche Verordnung den neuen Katechismus durch ein Machtwort ganz und gar wieder abgeschafft und annullirt hätte; allein es war nun doch den Gemeinden (und damit allen Eltern) die Freiheit zurückgegeben, aus eigener Wahl und Entschließung, ob für, ob gegen das neue Religionsbuch und dessen Gebrauch für ihre Kinder sich zu entscheiden. Sie haben denn, Gott sei Dank! bis jetzt auch recht wacker von diesem ihnen neu zuerkannten Rechte Gebrauch gemacht. In den meisten Schulen, wo das Buch schon eingeführt worden, hat es, oftmals nicht ohne einigen Kampf gegen die renitenten Pastoren, wieder abgeschafft werden müssen, und wo dies bis jetzt noch nicht geschah, steht es doch zuversichtlich zu erwarten. Aber damit ist noch nicht Alles gethan zur Sicherung der Glaubensfreiheit im hannoverschen Lande und zur Verhinderung der Wiederkehr ähnlicher Vorkommnisse, wie dieser Katechismusstreit. Erst wenn der §. 23 der Landesverfassung, wonach dem Lande die Einführung einer Landessynode versprochen ist, zur Wahrheit geworden, darf auch in Hannover die Glaubensfreiheit und die vernünftige Fortentwickelung auf kirchlichem Gebiete als gesichert betrachtet werden. Dieses wohl erwägend und entschlossen, sein Werk nicht halb gethan zu verlassen, hatte Baurschmidt auf den 7. October nach Celle eine Versammlung aller ihm gleichgesinnten Geistlichen des Landes zusammenberufen. Dieselbe hat denn auch unter lebhafter Betheiligung des Publicums stattgefunden. Unter den von den versammelten 44 Geistlichen gefaßten Beschlüssen ist der dritte schließlich der wichtigste, welcher lautet: „Es ist ein dringendes Bedürfniß, daß die lutherische Kirchengemeinde zu einer festen und lebendigen Gemeindeordnung gelange mit genügendem Einfluß auf die Wahl der Prediger und Lehrer, und daß ein gemeinsames Band in einer Provinzial- und Landessynode gewonnen werde. Es soll zur Realisirung dieser Wünsche eine Versammlung von Geistlichen und Laien veranstaltet werden; ein zu wählender Ausschuß soll dieselbe vorbereiten und Ort und Zeit bestimmen.“ –
Wünschen wir denn, daß das so begonnene Werk fortan gedeihe und wachse, und insbesondere, daß auch ihm, dem ersten Werkführer desselben, dem braven Landprediger, unserm Baurschmidt, noch lange ungeschwächt die Kraft verbleibe, an diesem Werke weiter zu schaffen. Wer weiß, wohin es ohne ihn, der so kühn und unbekümmert um seine persönliche Existenz sich an die Spitze stellte, mit der Glaubensfreiheit und der religiösen Volksaufklärung des hannoverschen Landes gekommen wäre. Mit Recht betrachtet und ehrt das Volk ihn als seinen ersten Glaubenskämpfer in dieser Zeit.
Mögen dieser Ruhm und diese Bedeutung ihm ungeschmälert verbleiben!
Das neue Babylon von Eugen Pelletan. Der französische Märtyrer der Presse, Eugen Pelletan, neulich in allen Zeitungen als Redner im Congresse für sociale Wissenschaften in Brüssel genannt und excerpirt mit seinen Hauptstellen: „ganz Frankreich ein 300 Meilen weites Zuchthaus, – nichts mehr frei, als die Pflastersteine, – Freiheit nur durch Straßenfrechheit der Mädchen ersetzt – die französische Presse nur eine Form des Schweigens“ etc. – dieser Eugen Pelletan hat im Gefängnisse, wo er für einen im Courrier du Dimanche veröffentlichten Artikel büßte, das jetzige Napoleonische Paris in einem besondern Buche als „La Nouvelle Babylone“ geschildert. Dieses neue Babylon hat in Frankreich, wo man seit Jahren keine freie Herzens- und Gallenergießung in die Öffentlichkeit kommen ließ, ungemein viel eifrige Käufer und Leser gefunden.
Das Buch ist im Sinne eines „vieux provincial“ geschrieben, der Paris nach dreißig Jahren zum ersten Male wieder sieht und es natürlich kaum wieder erkennt in seiner furchtbaren innern Häßlichkeit unter äußerem koketten, lügnerischen Glanze.
Pelletan schildert seine Landsleute als eine entartete, verlebte Race, die für nichts mehr Sinn haben, als für die groben materiellen Genüsse, die man sich für Geld und allerhand unsittliche Kunststücke der Civilisation erkaufen kann, erschwindeltes oder in der Lotterie der Börse gewonnenes Geld im Café Anglais verprassend oder es mit gefräßigen Werkzeugen ihrer Lust verlotternd, die nach keiner Literatur fragen, wenn sie nicht aus dem Sinnlichkeitskitzel eines Flaubert oder Feydeau besteht – Menschen ohne Ehrgefühl und Selbstachtung, Freiheit als zur „Politik“ gehörig und deshalb als langweilig meidend und verspottend, Lakaienseelen in Affenkörpern, die nur noch von den niedrigsten Lastern eines orientalischen Sensualismus bewegt und bestimmt werden.
Diese Art von Charakteristik beschränkt er nicht etwa auf das männliche Geschlecht, nein, das weibliche besteht aus pflichtvergessenen Töchtern, schlechten Müttern und liederlichen Gattinnen. Kleiderluxus und Gefallsucht ist die große und ganze Arbeit ihres Lebens. Er giebt nicht blos zu verstehen, sondern stellt es geradezu als ausgemachte Thatsache hin, daß Frauen und Töchter schlechtbezahlter Beamten oder knickeriger Hausväter nicht anstehen, ihre Ehre zu verschachern, um die Rechnung eines unangenehm werdenden Modisten zu berichtigen und diese Art von Geschäften zu wiederholen, um sich einen neuen Hut oder einen neuen Kleiderstoff zu kaufen.
Die Presse ist dem Verfasser natürlich ein Hauptsymptom des sittlichen und intellectuellen Verfalles. Seine Schilderung des Journalismus ist so graphisch und, wie es scheint, richtig, daß wir sie möglichst treu wiedergeben wollen.
„Ein Fremder im Gasthof wacht auf, klingelt und fragt den Kellner, wie’s Wetter aussehe. Der Kellner öffnet das Fenster, sieht auf und antwortet: „sieht nach gar nichts aus, Monsieur.“ Das ist die öffentliche Meinung in Paris, Niemand bekümmert sich mehr um die politischen Zustände seines Landes, einige alte Narren ausgenommen, die immer noch von Freiheit faseln. Da kam mir neulich so ’n alter Raisonneur in die Quere, der mich als Mann der Presse etwa so abkanzelte: „Wer könnte sich heutzutage noch für ’n Zeitungsartikel interessiren? Einige alte Kerls, wie Sie selbst, Veteranen der liberalen Presse, quälen sich wohl noch gelegentlich einen Leitartikel ab, weil’s mal Ihr Geschäft war. Und statt nun auf den Straßen umherzubetteln – was mit der Polizei in Conflict bringt, ziehen Sie’s vor, sich durch Zeitungsschreiberei der Gefahr eines hypothetischen Verbrechens gegen die Februar-Ukase auszusetzen. Aber, ehrlich gestanden, worüber können Sie denn überhaupt schreiben, wenn Sie bei jedem Worte fürchten müssen, daß irgend eine Anklage darauf begründet werden könne? Sie schreiben in Räthseln, plagen sich mit dunkeln Anspielungen und verwahren und entschuldigen sich. Sie sagen nicht, was Sie meinen, und wenn wir sagen wollen, wir können lesen, müssen wir klar herausfinden, was Sie sorgfältig verschwiegen haben. Im besten Falle tischen Sie ein Bischen Wahrheit auf, niedlich in ein Räthsel eingepackt. Sie schreiben immer unter dem Fluche, Ihre wahren Gedanken verbergen zu müssen. Sie sind zu ehrlich, um mir nicht Recht zu geben, wenn ich sage, daß uns Ihre ängstlichen Sprünge auf dem gespannten Seile keinen Spaß machen. Wir lesen zwar immer noch Zeitungen, weil man doch einmal etwas lesen will, und – Gott sei Dank! Anzeigen giebt’s ja noch alle Tage. Frankreich fürchtet sich vor dem Denken, wie vor ’ner Krankheit, und trägt eine Chloroform-Binde um die Stirn.“
So sprach der alte Raisonneur. Hat er Recht? Ich weiß nicht. Alles, was ich sehe, ist, daß die Presse im Sterben liegt und daß die Zeitungsbogen bald mit nichts mehr bedeckt sein werden, als einem der französischen Sprache ähnlichen Kauderwälsch. Die halbofficielle Presse lebt von der Hand in den Mund und veröffentlicht ihre Meinungen und Grundsätze fertig geschnitten und mundgerecht, wie sie vom Hauptquartier geliefert werden. Sie legt sich schlafen auf das Bett des Schutzzolls und erwacht am Morgen in den Armen des Freihandels, ist bald für, bald gegen den Papst und bleibt immer ergebenst und unabhängig. Aber so wie sie ist, ziehe ich sie noch immer der Schein-Opposition jener feurigen Demokraten vor, die mit einer Hand dem Radicalismus die Hand schütteln und sich mit der andern an die Rockschöße der Regierung klammern, bald dem einen, bald der andern in’s Ohr flüsternd und beide belügend. Wir sind verflucht zu einer Art von Bastard-Journalismus, voll von Haß gegen die Jesuiten und tartüffischer als Tartüffe selber, am Morgen eine Verwarnung entgegennehmend und am Abend mit dem Beamten soupirend, der sie am Morgen brachte – feierlich gegen Regierungsschutz protestirend mit einem Regierungs-Anstellungs-Decrete in der Tasche. Diese amphibische Presse bringt dann und wann einen starken Freiheits-Artikel und meint damit das Publicum zu betrügen. In der That aber scheert sie sich um Freiheit ebenso wenig, wie eine Marquise unter den Ludwigs ihren Gatten liebte. – Sie lebte mit ihm unter demselben Dache, hatte aber mit ihm nichts gemein. Manchmal begegneten sie sich auf der Treppe, grüßten sich gegenseitig mit den studirtesten Höflichkeiten und gingen ab in entgegengesetzten Richtungen. So leben freie Presse und Freiheit mit einander. –
Die tägliche Zeitung wird alle Tage stummer – denn ihre Artikel sind blos verkapptes Schweigen. – Die Neugier und Leichtgläubigkeit des Publicums, just aufgestachelt durch dieses Schweigen – hat eine Art von anonymen Journalismus in’s Dasein gerufen, den man sich gegenseitig ganz dicht in’s Ohr flüstert und der von Mund zu Mund circulirt. Eine Art von Mund-Presse hat die gedruckte Zeitung verdrängt. Sie ist unsichtbar wie die Luft, schnell wie der Wind und weht, gleitet, dringt überall hin, sagt was und wie’s ihr beliebt und wird geglaubt. Die ganze Welt ist Redacteur und Herausgeber, und das Publicum schätzt sie um so höher, je eifriger es daran mitarbeitet. Wenn irgend ein mißmuthiger Geist eine scandalöse Anekdote hört oder erfindet, setzt er sie in seiner Gesellschaft in Umlauf, im Café, beim Diner etc., und die Anekdote fliegt auf den Fittigen der Conversation von Salon zu Salon in ganz Paris, und mit Hülfe der Briefmarken verbreitet sie sich schnell über ganz Europa.“
Das ist Alles sehr wichtig, wie in jedem Lande, wo die Presse unter polizeilicher Willkür schweigen, lügen und heucheln lernt. Besonders treffend [720] schildert Pelletan jenes geheimnißvoll freimaurerische Privat-Intelligenz-Blatt, das aller Censur und Polizei spottet, alle Warnungen und Drohungen verlacht. Diese mündlich von Ohr zu Ohr geflüsterte Scandal-Presse demoralisirt und verpestet die ganze Gesellschaft. Sie ist aber noch ein viel gefährlicheres Uebel für die Regierung, welche durch ihre Willkürmaßregeln gegen die Presse „sich des einzigen Mittels beraubt, den Herz- und Pulsschlag des Volks zu fühlen.“ Es giebt nach Pelletan’s scharfsinnig motivirtem Urtheil nichts Unsichereres, als die Stellung der jetzigen Regierung, die ein Volk von Hypokriten zu beherrschen meint, der die Presse öffentlich schmeichelt und die sie im Redactionszimmer, in allen Privatkreisen verflucht, die sich des Gehorsams ihrer Unterthanen rühmt und nicht weiß, „daß diese Unterthanen alle durch die Freimaurerei des Hasses gegen sie verschworen sind.“
Es ist kaum zu erklären, wie ein so schlauer Potentat nicht sehen kann, daß seine Unterdrückung der Presse „der giftigen Schlange nur ihre warnende Klapper bindet, ohne ihr die Giftzähne ansziehen zu können.“ Sie wird dann wahrscheinlich auch einmal plötzlich, ohne vorher warnend klappern zu können, tödtlich stechen und beißen.
Schluß der Quittung aus Nummer 44. 2 Thlr., gesammelt in der Gesellschaft Germania in Roitzsch – „Entschlossenheit, Muth und Ausdauer führen zum Ziele!“, durch Lehmann; 7 Thlr., ges. beim Stiftungsfest des allgem. Turnvereins zu Zittau, durch H. Knothe; 1 Thlr. von Adv. Francke in Bernburg; 2 Thlr. von L. in Darmstadt; 3 Thlr. von einigen Wittenberger Turnern, durch G. Seidel; 1 Thlr. von Pr-Lieut. Mittelstädt zu Ludwikow, zweite S., und W. Hoffmann aus Schwarzwald – „Auf und an, deutscher Mann, greif Dein Werk nur herzhaft an! All brave Mann’n, legt Hand daran, daß das Werk gelingen kann!“ –; 1 Thlr. „noch ein Scherflein“ von v. H. in Chemnitz; 6 Thlr. 19 Ngr. 2 Pf., ges. bei dem am 28. Septbr. abgehaltenen fünften Stiftungsfest des „Berg-Officianten-Vereins“ zu Zwickau, durch O. Christinek in Schedewitz; 3 Thlr. 10 Ngr. von einigen Lesern der Gartenl. zu Landshut in Schlesien, durch F. H.; 2 Thlr. von Karl Ht. in Sch. und Wilh. Gr. in Berlin; 3 Thlr. durch A. Lincke’s Buchh. in Friedrichshafen, von einigen Sonne-Gästen und W. N.; 1 Thlr. von C. F. in Lübz; 1 Thlr. vom Kaufmann J. E. Mitsche in Rathenow; 2 Thlr. 5 Ngr. von fünf Gebern: „Ein Vergnügen seltner Art ist doch so ’ne Wasserfahrt!“; 2 Thlr. 24 Ngr. 6 Pf. von dem Kegel-Verein zu Baerwalde in der Neumark, durch v. Brugnier; 16 Thlr. aus Neustrelitz: Gut Heil!; 9 Thlr. 6 Ngr., ges. durch Würkermeister L. Hahn in Apolda, durch C. M. Teubner das.; 1 Thlr. von A. G. in Plauen; 3 Thlr. von Männer-Turnvereinen zu Ratzeburg (Herzogth. Lauenburg); 4 Thlr. 15 Ngr., ges. beim Feste des Männer-Turnvereins zu Reichenbach, durch A. Hermeyer; 10 Thlr., ges. beim Festmahl der Sänger und Turner während der Festlichkeiten bei Eröffnung der gewerblichen Ausstellung zu Pleschen, durch Justizrath Le Sieur das.; 6 Thlr. 2 Ngr., ges. auf dem Schützenfeste des Wursten-Hadler Schützen-Corps in Midlum, durch P. G. Bohln in Lüdingworth; 1 Thlr. von G. Engler in Leipzig; 1 Thlr. 17½ Ngr., ges. in einer Abendgesellschaft in Darmstadt, durch E. K.; 3 Thlr. 15 Ngr., ges. bei einem Vergnügen von der Bruchschützen-Gesellschaft zu Chemnitz, durch den Senior derselben; 15 Thlr. Ertrag eines Concertes für W. Bauer’s deutsches Taucherwerk, gegeben von der Liedertafel zu Forst, durch den Vorstand Rendant J. A. Fr. Henschke. Die so außerordentlich zahlreichen deutschen Liedertafeln könnten sehr viel für diese, wie für so manche andere nationale Sache thun, wenn sie ihre Kräfte entschlossen dazu benutzen wollten! – 13 fl. rhn., ges. in Bechtheim und Mettenheim, durch Dr. Stammler in Westhofen; 3 Thlr. „eine kleine Gabe deutscher Brüder am rechten Weichselufer; 8 Thlr. 3½ Ngr. (14 fl. 12 Xr.) „Jubiläumsfest, durch die Lehrer in Oberrad“; 8 fl. österr. Währ. als Erträgniß einer Sammlung in Görkau, durch Ad. Pöllner, Oberrealschüler in Elbogen; 5 Thlr., ges. beim Turnfest zu Rosenberg in Oberschlesien, durch W. Golisch; 1 fl. rhn. durch Ulrici in Karlsruhe; 5 Thlr. 23½ Ngr, ges. durch Knopfm. Vöste in Peine, durch H. Heuer das.; 26 Thlr. 21½ Sgr., ges. durch das Hagener Kreisblatt und hauptsächlich aufgekommen durch eine Sammlung des Turnvereins zu Hagen, durch G. Butz das.; 3 Thlr. von der Gesellschaft „Leimsudia“ in Frankfurt a. M.; 7 Thlr. als erste Sendung der Unter-Secundaner der Realschule am Zwinger zu Breslau, durch B. Stein; 2 Thlr., ges. bei Gelegenheit eines Gemsbock-Schmauses in Aue, durch Kaufm. G. Sch.; 17 Thlr., ges. unter jungen Deutschen und Schweizern in Hâvre, durch Herm. Kühn; 2 Thlr. von mehreren Mitgliedern des Gewerbevereins zu Rothenburg a. d. Tauber, durch A. H.; 10 Ngr. von E. W. aus Callnberg; 15 Ngr. „zur Ueberwindung des Fluchs, der auf dem Genie lastet“, durch W. Eissing zu Schreibersdorf bei Poln. Wartenberg; 1 Thlr, von der Gesellschaft „Gemüthlichkeit“ in Eilenburg; 2 Thlr., ges. bei einem Balle des Jugendvereins „Freundschaftsbund“ in Geringswalde, durch H. Eckardt; 3 Thlr. von G. Müller, als Leser der Gartenl., zu Oberleutersdorf; 17 Ngr. 4 Pf. von Apoth. Rathstolk in Fraustadt, durch K. Zieger; 6 Thlr., ges. in der Gesellschaft „Höckerchen“ zu Eilenburg, durch den Vorstand derselben; 15 Thlr., ges. im Gewerbeverein zu Frankfurt a. d. O., durch A. Schiefer; 20 Thlr., ges. in Dirschau, und zwar von Arbeitern und Technikern der königl. Maschinenbauanstalt 14 Thlr. 10 Ngr., vom Gewerbeverein das. 5 Thlr., von C. 5 Ngr., „aus deutschem Herzen“ 15 Ngr. – durch Paul Becker in Dirschau.
Summe dieser (22.) Quittung: 438 Thlr. 8 Ngr., 39 fl. rhn. und 8 fl. östr. W. – Diese Gulden in Thaler verwandelt, ergiebt sich als Summe der Baar-Einnahme des Central-Comités 3870 Thlr. 19½ Ngr. Hierzu haben wir eine Baarsendung des Comités zu Bremen mit 2000 Thaler zu fügen, wodurch unsere bisherige Gesammt-Baareinnahme die Höhe von 5870 Thlr. 19½ Ngr. erreicht. Dazu werden wir von nun an auch die bei dem Comité zu Nürnberg eingegangenen Beisteuern zu zählen haben, da dasselbe seine Sammlungen fortsetzt und die künftigen Eingänge dem Central-Comité zugehen lassen wird. Dies kann jedoch erst nach genauer Angabe der an Herrn Bauer direct abgegebenen Summe und wird demnach schon in nächster Quittung geschehen.
Auch für die Nationalstiftung für deutsche Erfinder sind bereits Beiträge gekommen, und zwar 5 Thlr. vom Vorstand des Gewerbevereins, C. Rud. Jünger, und von Dr. E. Böhme in Radeberg.
Die dritte, 10,000 Exemplare starke Auflage des schon bei seinem ersten Erscheinen mit allgemeinem Willkommen begrüßten Werkes:
Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig.
ist vergriffen und die vierte, durchgchends verbesserte und vermehrte ist soeben in der ersten bis siebenten Lieferung erschienen.
Der Verfasser sagt in der ersten Lieferung in einer Ansprache an das Publicum:
„Jeder Mensch hat von Natur die Macht und deshalb auch die Verpflichtung, sich und, soweit es in seinen Kräften steht, auch seine Mitmenschen gesund und bei langem Leben zu erhalten. Denn Krankwerden, frühzeitiges Altern und vorzeitiges Sterben sind ebensowenig wie Gesundbleiben und ein langes Leben weder Zufälligkeiten noch Vorausbestimmungen, sondern die nothwendigen Folgen unsers Verhaltens; sie hängen von ganz bestimmten Ursachen ab und gehen nach feststehenden Naturgesetzen vor sich. Es ist deshalb die Aufgabe jedes wirklich Gebildeten, überhaupt Jedes, der den Namen „Mensch“ verdienen will, sich mit jenen Bedingungen und Gesetzen nicht nur vertraut zu machen, sondern denselben auch nach Kräften nachzukommen, um Krankheit und frühen Tod zu verhüten.
Die anerkannte Gemeinnützigkeit dieses Buches und die glänzende Aufnahme, welche es in seinen drei ersten Auflagen überall gefunden, wo deutsche Zungen reden, überhebt die unterzeichnete Verlagshandlung jeder Anpreisung desselben.
Die 4. Auflage des Buches vom gesunden und kranken Menschen erschien in sieben Lieferungen, die in beliebigen Zwischenräumen bezogen werden können. Der Subscriptionspreis jeder Lieferung von 5–6 Bogen ist nur 7½ Ngr., wofür auch der weniger Bemittelte im Stande ist, sich diesen Helfer in der Noth nach und nach anzuschaffen.
Leipzig, im November 1862.Ernst Keil.
- ↑ Kleine, lebhafte und kräftige schwedische Pferde, noch bis auf den heutigen Tag in diesen Gegenden häufig und gern gebraucht.
- ↑ Das alte Märchen, Friedrich von Hohenzollern habe die Mark Brandenburg für die Summe von 100,000 Gulden von Kaiser Sigismund gekauft, erhält sich noch bis heute in vielen Geschichtswerken. Der um die märkische Geschichtsforschung so verdienstvolle Niedel hat jedoch auf das Klarste bewiesen, daß die sogenannte Verpfändung der Mark nur ein Scheingeschäft gewesen ist. Sigismund wählte diese Form der Schenkung, um den etwaigen Einsprüchen seines Bruders Wenzel zu begegnen. Die Belehnung der ersten Hohenzollern mit der Mark war lediglich ein Act der Dankbarkeit des Friedrich vielfach verpflichteten Sigismund.
- ↑ Der Name „die faule Grete“ ist nach neuern Forschungen wahrscheinlich
noch nicht in jener Zeit gebräuchlich gewesen, wir haben ihn aber
beibehalten, weil er in die Volkssage übergegangen ist.
Der Verf.