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Die Gartenlaube (1862)/Heft 11

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 11.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Im Schloß.
Von Th. Storm.
(Fortsetzung.)


Dies Alles hatte ein plötzliches Ende. An meinem vierzehnten Geburtstag kündigte mein Vater mir an, daß ich die nächsten drei Jahre bis nach meiner Einsegnung, die dort erfolgen solle, bei der Tante in einer großen Stadt sein würde. – Und so geschah es. Ich war wieder, wie in den ersten Jahren meiner Kindheit, auf den Raum einiger Zimmer beschränkt, ohne Wald, ohne Garten, ohne ein Plätzchen, wo ich meine Träume spinnen konnte. Ich sollte Alles lernen, was ich bisher nicht gelernt hatte, ich wurde dressirt von innen und außen, und die Tante, unter deren Augen ich jetzt mein ganzes Leben führte, war eine strenge Frau, die von den gesetzlichen Formen kein Titelchen herunterließ. Der Einzige, der etwas über sie vermochte, war vielleicht der kleine Rudolph, dessen allzu leidenschaftliche Anhänglichkeit mich gegenwärtig zu beunruhigen beginnt. Mit ihm vereint, gelang es mitunter, uns zu einer gemeinschaftlichen Wanderung in die Anlagen vor der Stadt los zu bitten. – Der Aufenthalt wurde mir erst erträglicher, als der Musikunterricht mir größere Theilnahme abgewann und als ich durch Vermittelung meines Lehrers die Erlaubniß erhielt, einem Gesangverein beizutreten. Dann und wann kam ein kurzer förmlicher Brief meines Vaters, der mich ermahnte, in Allem der Tante Folge zu leisten, oder ein längerer des Oheims, der kaum etwas Anderes enthielt, als das Gegentheil, bisweilen freilich auch einen Bericht über Schloß und Garten, der mich mit Heimweh nach diesen einsamen Orten erfüllte. – Endlich war der dreijährige Zeitraum verflossen; Tante Ursula und mein Vater kamen um mich nach Hause zu holen, und Rudolph’s Mutter übergab mich ihnen als ein nicht ganz mißlungenes Werk ihrer Erziehung. Auch mein Bruder Kuno hatte die Reise mitgemacht, er war gewachsen, aber er sah blaß und leidend aus, und es schnitt mir in’s Herz, als bei der Ankunft eine kleine Krücke mit ihm vom Wagen gehoben wurde. Wir waren bald vertraute Freunde; auf dem Heimwege saß er zwischen mir und der Tante und ließ meine Hand nicht aus der seinen.

An einem klaren April-Nachmittage langten wir zu Hause an. Schon als wir über die Brücke in den Hof einfuhren, sah ich den Oheim neben dem Thurme in der Thür stehen. Er war barhäuptig, wie gewöhnlich; sein volles graues Haar schien in der Zwischenzeit nicht bleicher geworden. „Nun, da bist Du ja!“ sagte er trocken und reichte mir die Hand. Als wir hier im Wohnzimmer waren und ich mich aus meinen Umhüllungen herausgeschält hatte, ließ er einen mißtrauischen Blick über meine modische Kleidung gleiten. „Wie willst Du denn mit den Fahnen in die Bel-Etage Deines Gartenschlosses hinaufkommen?“ sagte er, indem er den Saum meiner weiten Aermel mit dem Fingerspitzen faßte, „Und ich hab’ es eben expreß für Dich putzen lassen.“

Aber seine Besorgniß war überflüssig; das Wesen, das in den Kleidern mit Volants und Spitzen steckte, war dem Kerne nach kein anderes, als das in den knappen Kinderkleidern. Es ließ mir keine Ruhe; mit Entzücken lief ich in den Garten, wo eben das junge Grün an den Buchenhecken hervorsprang, durch das Hinterpförtchen in den Tannenwald und von dort wieder zurück in’s Haus. Ich flog die breite Treppe hinauf; es kam mir Alles so groß und luftig vor. Dann begrüßte ich die altfränkischen Herren und Damen im Rittersaal; aber ich trat unwillkürlich leiser auf, es war mir doch fast unheimlich, daß sie nach so langer Zeit noch ebenso wie sonst mit ihren grellen Augen in den Saal hinein schauten. Droben über der Thür neben den kleinen Grafenkindern stand noch immer der Knabe mit dem Sperling; aber mein Herz blieb ruhig. Ich ging achtlos, und ohne seinen trotzigen Blick zu erwidern, unter dem Bilde durch in das Zimmer des Oheims. Da saß er wieder wie sonst in seinem alten Lehnstuhl unter seinen Büchern und seinem lebenden und todten Gethier; Don Pedro, der lahme Staarmatz, krächzte noch ganz in alter Weise, als ich den Finger durch die Stangen seines Käfigs steckte, und auch draußen vor dem Fenster saß wieder ein Käuzchen in einem großen hölzernen Bauer und schaute träumend in den Tag. Der Oheim hatte seine Bücher fortgelegt, und während ich die bekannten Dinge eines nach dem andern wieder begrüßte, fühlte ich bald, wie seine grauen Augen mit der alten Innigkeit auf mich gerichtet waren.

Als ich nach einer Weile in die Wohnstube hinabkam, saß Tante Ursula schon wieder strickend in ihrer Fensternische, und nebenan in seinem Zimmer sah ich durch die offene Thür meinen Vater, über seine Correspondenzen und Zeitungen gebückt. So war denn Alles noch beim Alten; nur eine Vermehrung unserer Hausgenossenschaft stand bevor, da noch am selben Abend ein junger Mann erwartet wurde, der von meinem Vater auf die Empfehlung eines Gymnasial-Directors als Lehrer für den kleinen Kuno engagirt war. Er hatte Philologie und Geschichte studirt und sich nach einem längern Aufenthalt in Italien dem akademischen Lehrfach widmen wollen, war aber durch äußere Umstände zu einer vorläufigen Annahme dieser Privatstellung genöthigt worden. Außer seinen sonstigen Kenntnissen sollte er, was besonders mich interessiren mußte, ein durchgebildeter Klavierspieler sein.

Ich sah ihn zuerst am folgenden Tage, da er unten an der Mittagstafel neben seinem Zögling saß. Das blasse Gesicht mit den raschblickenden Augen kam mir bekannt vor; aber ich sann [162] umsonst über eine Aehnlichkeit nach. Während er die Fragen meines Vaters über seinen Aufenthalt in der Fremde beantwortete, strich er mitunter mit einer leichten Kopfbewegung das schlichte braune Haar an der Schläfe zurück, als wolle er dadurch ein tiefes inneres Sinnen mit Gewalt zurückdrängen. Nach Beendigung des Mittagsessens brachte mein Vater das Gespräch auf Musik und bat ihn, bisweilen meinem Gesange mit seinem Accompagnement zu Hülfe zu kommen.

Obgleich aber dies mit Bereitwilligkeit zugesagt wurde, so verflossen doch einige Wochen, ohne daß ich mich dieser Abrede erinnert hätte; überhaupt bekümmerte ich mich um den neuen Hausgenossen nicht weiter, als daß ich ihn zu Mittag und bei dem gemeinschaftlichen Abendthee in der herkömmlichen Weise begrüßte. Eines Nachmittags aber war mit einer jungen Dame aus der Stadt, mit der ich zuweilen zu singen pflegte, eine Sendung neuer Musikalien angelangt. Wir hatten ein Duett von Schumann hervorgesucht; aber die eigensinnige Begleitung ging über unsere Kräfte. „Wir wollen den Lehrer bitten,“ sagte ich und schickte den Diener nach dessen Zimmer.

Er kam nach einer Weile zurück: „Herr Arnold könne augenblicklich nicht, werde aber sobald wie möglich die Ehre haben.“ So mußten wir denn warten; ich sah nach der Uhr, eine Minute nach der andern verging, es war schon über eine Viertelstunde. Wir hatten uns eben wieder selbst daran gemacht, da ging die Thüre, und Arnold trat herein. „Ich bedauere, meine Damen, die Stunde des Kleinen war noch nicht zu Ende.“

Ich erwiderte hierauf nichts. – „Wollten Sie die Güte haben?“ sagte ich und zeigte auf das aufgeschlagene Notenblatt.

Er trat einen Schritt zurück. „Darf ich bitten, mich der Dame vorzustellen?“

„Herr Arnold!“ sagte ich leicht hin und ohne aufzublicken; ich nannte den Namen des jungen Mädchens nicht, ich wollte es nicht.

Er sah mich an. Ein überlegenes Lächeln glitt über sein Gesicht, und die leicht aufgeworfenen Lippen zuckten unmerklich. „Fangen wir an!“ sagte er dann, indem er sich auf das Tabouret setzte und mit Sicherheit die einleitenden Takte anschlug. Dann setzten wir ein; nicht eben geschickt, ich vielleicht am wenigsten; nur die Sicherheit des Klavierspielers hielt uns. Als wir aber bis etwa auf die Mitte des Stückes gekommen waren, hielt er inne. „Ancora!“ rief er, indem er mit der flachen Hand die Noten bedeckte; „aber jede Stimme einzeln! – Sie, mein Fräulein, – ich darf mir vielleicht Ihren Namen erbitten“

Die junge Dame nannte ihn.

„Wollen Sie den Anfang machen!“ – Und nun begann, bald auch mit mir, eine strenge Uebung; unerbittlich wurde jeder Einsatz und jede Figur wiederholt, wir sangen mit heißen Gesichtern, es war, als seien wir völlig in der Gewalt unseres jungen Meisters. Mitunter fiel er selbst mit seiner milden Baritonstimme ein, und allmählich trat das Musikstück auch in seinen einzelnen Thesen immer klarer hervor, bis wir es endlich unaufgehalten bis zu Ende sangen.

Als er sich lächelnd zu uns wandte, stand mein Vater hinter ihm, der unvermerkt herangetreten war. Das etwas abgespannte Gesicht des alten Herrn, der für Musik kein besonderes Interesse hatte, nahm sich zu der herkömmlichen Freundlichkeit zusammen. „Bravo, mein lieber Herr Arnold,“ sagte er, indem er den jungen Mann auf die Schulter klopfte, „Sie haben den Damen heiß gemacht; aber Sie sollten uns auch nun selbst noch etwas singen!“

Arnold, der noch die eine Hand auf den Tasten hatte, setzte sich wieder und begann eines jener italienischen Volkslieder, in denen die Klage um den Glanz der alten Zeit wie ein ruheloser Geist umgeht. Mein Vater blieb noch einige Augenblicke stehen; dann wandte er sich ab und ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab. Seine Gedanken waren längst bei andern Dingen, vielleicht bei dem Bildniß des Königs, das er durch Vermittelung eines einflußreichen Freundes als Geschenk der Majestät zu empfangen Hoffnung hatte. Statt seiner war der kleine Kuno mit seiner Krücke an’s Klavier geschlichen und lehnte sich schweigend an seinen Lehrer. Dieser legte unter dem Spielen den Arm um ihn und sang so das Lied zu Ende. – „Hörst Du das gern, mein Junge?“ fragte er, und als der Knabe nickte und mit zärtlichen Augen zu ihm aufsah, nahm er ihn auf den Schooß und sang halblaut, als solle es dem Kleinen ganz allein gehören, das liebe deutsche Lied: „So viel Stern’ am Himmel stehen!“

Aber ob mit oder ohne seinen Willen, auch für mich war es gesungen. Er sang es später noch oft für mich; denn unmerklich bildete sich seit diesem Tage ein freundlicher Verkehr zwischen uns. Es war aber nicht nur die Musik, die uns zusammenführte, der kleine Kuno hatte bald seine Liebe zwischen mir und seinem Lehrer getheilt und veranlaßte uns dadurch zu mannigfachem Beisammensein in und außerhalb des Hauses.


Eines Tages im Juli waren der Oheim, Arnold und ich mit dem Knaben in der Stadt, um uns nach einem Rollstühlchen für ihn umzuthun, denn das Gehen wurde ihm oftmals schwer. Da unser Geschäft bald besorgt war, so nahmen wir auf Arnold’s Vorschlag einen etwas weitern Rückweg, der am Saume eines schönen Buchenwaldes entlang führte. Hinter demselben in einem Dorfe ließen wir den Wagen halten und wandelten miteinander die Straße hinab zwischen den meist großen strohgedeckten Bauerhäusern. Nach einer Weile bog Arnold wie zufällig in einen Fußweg ein, welcher zwischen zwei mit Nußgebüsch und Brombeerranken bewachsenen Wällen entlang führte. Wir Andern folgten ihm; Kuno hatte seine Augen auf den Hummeln und Schmetterlingen, welche im Sonnenschein um die am Wege stehenden Disteln schwärmten. Es dauerte indeß nicht lange, so hörten zu beiden Seiten die Wälle auf, und vor uns in einer weiten Busch- und Wieseneinsamkeit lag ein stattlicher Bauerhof. Unter einer Gruppe dunkelgrüner Eichen erhob sich das Gebäude mit dem mächtigen fast bis zur Erde reichenden Strohdache, die braungetünchte Giebelseite uns entgegen, aus der die weißgestrichenen Fenster freundlich hervorleuchteten.

„In jenem Hause“, sagte Arnold, „bin ich als Knabe oft gewesen, und weil es mir hier wie fast nirgend in der Welt gefallen hat, so wünschte ich, daß auch Sie es einmal sähen.“

Der Oheim nickte. „Wer ist denn der Besitzer jenes schönen Gutes?“

„Es ist der Schutze Hinrich Arnold.“

„Hinrich Arnold?“

„Ja, der Bauer auf diesem Gute heißt allzeit Hinrich Arnold.“

„Aber,“ sagte ich jetzt, „heißen Sie denn nicht auch so?“

„Die ältesten Söhne aus dieser Familie tragen alle diesen Namen,“ erwiderte er, „auch bei dem Zweige derselben, der in die Stadt übergesiedelt ist. Der Vater des gegenwärtigen Besitzers war der Bruder des meinigen.“

Mittlerweile waren wir bei dem Hause angelangt; Durch das offenstehende Eingangsthor am andern Ende des Gebäudes führte uns Arnold auf die große, die ganze Länge desselben einnehmende Diele, an deren beiden Seiten sich die jetzt leerstehenden Stallungen für das Vieh befanden. Ein leichter Rauchgeruch empfing uns in dem dämmrigen Raume. Im Hintergrunde, wo vor den Thüren der Wohnzimmer sich die Diele erweiterte und durch niedrige Seitenfenster erhellt war, saß neben einem am Boden spielenden kleinen Knaben eine alte Frau in der gewöhnlichen Bauertracht von dunklem eigengemachtem Zeuge, das graue Haar unter die schwazseidne Kappe zurückgestrichen. Als wir näher getreten waren, stand sie langsam auf und musterte uns gelassen mit ein paar grauen Augen, die unter noch schwarzen Brauen kräftig aus dem gebräunten Gesicht hervorsahen. „Sieh, sieh, Hinrich!“ sagte sie nach einer Weile, indem sie unserm jungen Freunde die Hand schüttelte, scheinbar ohne uns Andern weiter zu beachten.

„Das ist meine Großmutter,“ sagte dieser, „da meine Eltern nicht mehr leben, meine nächste Blutsfreundin.“ Dann bedeutete er ihr, wer wir seien, und sie reichte nun auch uns der Reihe nach die Hand.

Während sie halb mitleidig, halb musternd auf die Krücke des kleinen Kuno blickte, fragte Arnold: „Ist denn der Schulze zu Haus, Großmutter?“

„Sie heuen unten auf den Wiesen“, erwiderte sie.

„Und Ihr,“ sagte mein Onkel, „wartet indessen vermuthlich den jüngsten Hinrich Arnold?“

„Das mag wohl sein,“ erwiderte sie, indem sie die Thür des einen Zimmers öffnete, „so ein abgenutzter alter Mensch muß sehen, wie er sein bischen Leben noch verdient.“

„Die Großmutter,“ sagte Arnold, als wir hineingetreten waren, „kann es nicht lassen, den Jüngeren behülflich zu sein. – [163] Aber,“ fuhr er zu dieser fort, „Ihr wißt es wohl, dem Schulzen ist es schon eine Freude, daß Ihr noch da seid, und daß er und die Kinder Euch noch sehen, wenn sie von der Arbeit heimkommnen.“

„Freilich, Hinrich, freilich,“ erwiderte die Alte, „aber es erträgt Einer doch nicht allezeit, daß der Andere so überzählig nebenhergeht.“ – Sie hatte währenddeß zu dem Antlitz, ihres Enkels emporgeblickt. „Du siehst mir schwach aus, Hinrich,“ sagte sie, „das kommt von all dem Bücherlesen. – Er hätte es besser haben können,“ fuhr sie dann zu uns gewendet fort, „denn sein Vater war doch der Aelteste zum Hof, und er war wieder der Aelteste. Aber der Vater wurde studirt, da muß nun auch der Sohn bei fremden Leuten herum sein Brod verdienen.“

Der Oheim sandte ihr einen beobachtenden Blick nach, als sie bei diesen Worten aus der Thür ging. Bald aber kam sie mit einigen Gläsern Buttermilch zurück, die Arnold für uns erbeten hatte.

In der Stube, die nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt schien, stand eine Reihe sehr großer Tragkisten an den Wänden, grün oder roth gestrichen mit blankem Messingbeschlag, die eine auch mit leidlicher Blumenmalerei versehen, so daß fast nur auf der unter dem Fenster hinlaufenden Bank sich Platz zum Sitzen fand. Ich wollte der Alten eine Güte thun. „Ihr seid hier schön eingerichtet, mit all den saubern Kisten!“ sagte ich.

Sie sah mich forschend an. „Meinen Sie das?“ erwiderte sie, „ich dächte, ein paar eichene Schränke, daneben noch ein Stuhl oder ein Kanapee Platz hätte, wäre doch wohl besser; aber es ist einmal die Mode so.“

Arnold und der Oheim lächelten über meinen verunglückten Versuch, mich angenehm zu machen. Die Alte war nach der Thür gegangen, um von einem über derselben befindlichen Bretchen einen Apfel für meinen Bruder herabzuholen. Da sie nicht hinauf langen konnte, trug ich rasch einen Stuhl herbei, stieg hinauf und reichte ihr den Apfel; zugleich erfreut, dadurch eine Verlegenheit zu verbergen, die ich nicht zu unterdrücken vermochte. Sie ließ mich ruhig gewähren. „Ja,“ sagte sie, während sie dem kleinen Kuno den Apfel in die Hand drückte, „das hat jüngere Beine, da kann man nicht mehr mit.“ Als ich aber bald darauf die strengen Augen der alten Bäuerin mit dem Ausdruck einer milden Freundlichkeit auf mich gerichtet sah, war mir unwillkürlich, als habe ich etwas gewonnen, das ebenso werthvoll als schwer erreichbar sei.

Bald darauf verließen wir die Stube und besahen die Einrichtung des Gebäudes, vorab den große Sauberkeit und Frische athmenden Milchkeller; wie Arnold sagte, das eigentliche Staatszimmer unserer Bauern. Dann, während die Alte bei dem künftigen Hoferben zurückblieb, traten wir aus dem Eingangsthor in’s Freie, unter den Schatten der alten vollbelaubten Eichen. „Ihre Großmutter ist eine Frau von wenig Complimenten,“ sagte der Oheim im Gehen, „aber man weiß nun doch, wo Sie zu Hause sind.“

Arnold lächelte. Er schien mit der Art des alten Herrn schon vertraut zu sein.

Dicht neben dem Hauptgebäude lag das jetzt leerstehende Abnahme-Häuschen. Auf einer Wiese dahinter befanden sich die Reste eines im Viereck gezogenen lebendigen Zaunes, welche die Neugierde meines Bruders erregten. Auch ein paar Pfähle standen noch in den Büschen, zwischen denen einst ein Pförtchen den Eingang in den kleinen Raum verschlossen haben mochte. „Es ist ein Bienenhof,“ sagte Arnold, „den mein Vater als Knabe vor vielen Jahren angelegt hat. Als sein Bruder später das Gut erhielt, hatte er weder Zeit noch Lust, den Betrieb des jungen Bienenvaters fortzusetzen , aber er ließ den Zaun zu seinem Angedenken stehen, und mir zu Liebe hat es auch der Schulze so gelassen.“

Vor uns lag, so weit das Auge reichte, eine ausgedehnte Wiesenfläche, hier und da durch lebendige Hecken oder einzelne Baumgruppen unterbrochen. Arnold wies mit der Hand hinaus und sagte: „Hier ist es mir seltsam ergangen. Als zwölfjähriger Knabe, da ich in den Sommerferien bei dem Oheim auf Besuch war, wanderte ich eines Morgens mit meinem einige Jahre älteren Vetter, dem jetzigen Schulzen, da hinab in die Wiesen. Wir gingen immer gerade aus, mitunter durch ein Gebüsch brechend, das unsern Weg durchschnitt. Ich blies dabei auf einer Pfeife, die mir mein Vetter aus Kälberrohr geschnitten hatte; auch ist mir noch wohl erinnerlich, wie an einigen Stellen das Auftreten auf dem sumpfigen mit weißen Blumen überwachsenen Boden mir ein heimliches Grauen erregte. Nach einer Viertelstunde etwa kamen wir in einen dichten Laubwald, und nach der Sommerhitze draußen umfing uns nun eine plötzliche Schattenkühle; denn der Sonnenschein spielte nur sparsam durch die Blätter. Mein Vetter war bald weit voran; ich vermochte nicht so schnell fortzukommen, wegen des Unterholzes, das überall umherstand. Mitunter hörte ich ihn meinen Namen rufen, und ich antwortete ihm dann auf meiner Pfeife. Endlich trat ich aus dem Gebüsch in eine kleine sonnige Lichtung. Ich blieb unwillkürlich stehen; mich überkam ein Gefühl unendlicher Einsamkeit. Es war so seltsam still hier; ein paar Schmetterlinge gaukelten lautlos über einer Blume, der Sonnenschein lag schimmernd auf den Blättern, und ein schwerer würziger Duft schien wie eingefangen in dem abgeschiedenen Raume. In der Mitte desselben auf einem bemoosten Baumstumpf saß eine glänzend grüne Eidechse und sah mich wie verzaubert mit ihren goldenen Augen an. – – Ich weiß dies Alles genau; ich weiß bestimmt, daß wir vom Bienenhof hier in grader Richtung über die Wiesen fortgegangen sind. Und doch lacht der Schulze mich aus, wenn ich ihn jetzt daran erinnere; denn dort hinunter liegt kein Wald, und hat auch seit Menschengedenken keiner mehr gelegen. – Wo aber bin ich damals denn gewesen?“

„Vielleicht dort nach der andern Seite hin,“ sagte mein Oheim.

„Dann hätte der Weg nicht über die Wiesen führen können.“

„Hm, eine grüne Eidechse? Ich habe hier herum so eine noch nicht gefunden. – Wissen Sie, Herr Arnold, es ist doch gut, daß Sie nicht der Schulze hier geworden sind. Sie sind ja ein Phantast, trotz der Anna da mit ihren alten Bildern.“

Ich weiß nicht, weshalb wir beide roth wurden, als der Oheim uns bei diesen Worten Eines nach dem Andern ansah; aber ich bemerkte noch, wie Arnold mit jener leichten Bewegung den Kopf schüttelte und wie zur Abwehr das Haar mit der Hand zurückstrich.

Auf dem Heimwege, den wir bald darauf antraten, wurde wenig zwischen uns gesprochen. Der kleine Kuno saß bald schlafend in meinem Arm; mir war still und friedlich zu Sinne. Als wir zu Hause anlangten, lagen schon die bräunlichen Tinten des Abends am Horizont, und einzelne Sterne drangen durch den Himmel.


Der Sommer ging auf die Neige, während das Leben im Schlosse seinen ruhigen, einförmigen Verlauf nahm. Arnold und sein kleiner Schüler schienen immer mehr Gefallen an einander zu finden; denn der Knabe lernte leicht und willig, wenn die Unterrichtsstunden auch mitunter durch seine Kränklichkeit unterbrochen wurden. Auffallend schwer wurde ihm dagegen das Auswendiglernen alter Kirchenlieder, von denen er an jedem Sonntagmorgen einige Verse vor dem Vater in dessen Zimmer aufsagen mußte. – Eines Vormittags wollte ich, um ihn zu ermuthigen, das ihm aufgegebene Lied von Nikolai gleichfalls auswendig lernen. Ich war in den Rittersaal hinaufgegangen; bald aber trat ich durch die offenstehende Thür in das Zimmer des Oheims, der, wie gewöhnlich um diese Zeit, im Lehnstuhl an seinem Tische saß. Er warf einen flüchtigen Blick zu mir hinüber und fuhr dann schweigend fort, die am vorhergehenden Tage gefangenen Insecten auf einer Korktafel auszuspannen. Ich ging mit meinem Buche im Zimmer auf und ab, erst leise und allmählich lauter die Worte des Gesanges vor mir hinmurmelnd. So kam ich an den dritten Vers:

„Geuß sehr tief in mein Herz hinein,
Du heller Jaspis und Rubin,
Die Flammen Deiner Liebe.“

Mein Onkel erhob plötzlich den Kopf und sah mich scharf durch seine großen Brillengläser an. „Tritt her!“ sagte er, „was lernst Du da?“ – Als ich Folge geleistet hatte, zeigte er mit dem Finger auf einen schwarzen Käfer, der mit aufgesperrten Kiefern an der Nadel steckte. „Weißt Du,“ fuhr er fort, „wie der carabus den Maikäfer frißt?“ – – Und nun begann er mit unerbittlicher Ausführlichkeit die grausame Weise darzulegen, womit dies gefräßige Insect sich von andern seines Gleichen nährt. – Ich hatte selbst so etwas in unserm Garten wohl gesehen; aber es hatte weitere Gedanken nicht in mir angeregt. Jetzt tauchte eine dunkle Ahnung in mir auf; meine Augen hingen regungslos an den Lippen des alten Mannes; es überfiel mich eine unbestimmte Furcht vor seinen Worten.

[164] „Und das mein Kind,“ sprach er weiter, indem er jedes seiner Worte einzeln betonte, „ist die Regel der Natur. – – Liebe ist nichts, als die Angst des sterblichen Menschen vor dem Alleinsein.“

Ich antwortete nicht, mir war plötzlich, als wäre der Boden unter meinen Füßen fortgezogen worden. Der Ausdruck meines Gesichts mochte das verrathen haben; denn auch mein Oheim schien über die Wirkung seiner Worte bestürzt zu werden. „Nun, nun,“ sagte er, indem er mich sanft in seinen Arm nahm, „es mag vielleicht so sein; nur etwas anders doch, als es dort in Deinem Buche steht.“ – –

Aber die Worte wühlten in mir fort; mein Herz hatte in der Einsamkeit so oft nach Liebe geschrieen, während ich in den weiten Gemächern des Hauses umherstrich, wo nie die Hand einer Mutter nach der meinen langte. Um die Mittagszeit sah ich die Leute von der Feldarbeit zurückkehren. Mir war, als müsse der Ausdruck der Trostlosigkeit auf allen Gesichtern zu lesen sein; aber sie schlenderten wie gewöhnlich gleichgültig und lachend über den Hof.

Am Nachmittage, als müßte ich ihn zwingen weiter zu reden, trieb es mich wieder nach dem Zimmer des Oheims. Die Thür stand offen, aber er selbst war nicht dort. – Mitten auf der Diele lag eine schwarze Katze, eine gefangene Maus zwischen den Krallen, die sich in der Nachmittagsstille hervorgewagt haben mochte. Ich blieb auf der Schwelle stehen und schaute grübelnd zu. Die Katze begann ihr Spiel zu treiben; sie zog die Krallen ein, und die Maus rannte hurtig über den Estrich und an den Wänden entlang. Aber die grünen glimmenden Augen hatten sie nicht losgelassen; ein heimliches Spannen der Muskeln, ein Satz-, und wieder lag das Raubthier da, mit dem glänzenden Schwanz den Boden fegend, die gefangene Maus vorsichtig mit den scharfen Zähnen fassend. Sie war noch nicht aufgelegt, ein Ende zu machen; das Spiel begann von Neuem. Manchmal, wenn sie die kleine entrinnende Creatur immer wieder mit der zierlich gekrümmten Pfote an sich riß, wollte mich fast das Mitleid überwältigen; aber ein Gefühl, halb Trotz, halb Neugier, hielt mich jedesmal zurück.

Während ich so vor mir hinbrütend dastand, hörte ich die gegenüberliegende Thür gehen, indeß die Katze mit ihrem noch lebenden Opfer davon sprang. „Sie, gnädiges Fräulein!“ sagte eine jugendliche Stimme; und als ich aufblickte, sah ich Arnold vor mir stehen, der seit einiger Zeit mit dein O«heim viel verkehrte. Da ich ihm nichts erwiderte, so machte er eine Bewegung, als wolle er sich entfernen; plötzlich aber, als habe er auf meinem Antlitz die Hülflosigkeit meines Innern gelesen, zögerte er wieder und sagte fast demüthig: „Kann ich Ihnen in irgend etwas dienen, Fräulein Anna?“

Es war ein Ausdruck in seinen Augen, der mich reden machte. Ich trat an den Tisch und zeigte ihm das Spannbret des Oheims, auf welchem noch der schwarze Käfer steckte. „Befreien Sie mich von dem,“ sagte ich, „und – von der schwarzen Katze!“ Und als er mich zweifelnd ansah, erzählte ich ihm, was mir am Vormittage hier geschehen und was soeben vor meinen Augen vorgegangen war.

Er hörte mich ruhig an. „Und nun?“ fragte er, als ich zu Ende war.

„Ich habe bisher noch immer den Finger des lieben Gottes in meiner Hand gehalten,“ sagte ich schüchtern.

Seine Augen ruhten eine Weile wie prüfend auf mir. Dann sagte er leise: „Es giebt noch einen andern Gott.“

„Aber der ist unbegreiflich?“

Ein mildes Lächeln glitt über sein Antlitz. „Das sind noch die Kinderhände, die nach den Sternen langen.“ – Er stand einige Augenblicke in Nachdenken verloren; dann sagte er: „In der Bibel steht ein Wort: So Ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich finden lassen! – Aber sie scheinen es nicht zu verstehen; sie begnügen sich mit dem, was jene vor Jahrtausenden gefunden oder zu finden glaubten.“ – Und nun begann er mit schonender Hand die Trümmer des Kinder-Wunders hinweg zu räumen, das über mir zusammengebrochen war; und indem er bald ein Geheimniß in einen geläufigen Begriff des Alterthums auflöste, bald das höchste Sittengesetz mir in den Schriften desselben vorgezeichnet wies, lenkte er allmählich meinen Blick in die Tiefe. Ich sah den Baum des Menschengeschlechts heraufsteigen, Trieb um Trieb, in naturwüchsiger ruhiger Entfaltung, ohne ein anderes Wunder, als das der ungeheuern Weltschöpfung, in welchem seine Wurzeln lagen.

Die Begeisterung hatte seine Wangen geröthet, seine Augen glänzten, ich horchte regungslos auf diese Worte die wie Thautropfen in meine durstige Seele fielen. Da, als ich zufällig aufblickte, sah ich meinen Oheim an dem gegenüberliegenden Fenster stehen, scheinbar an den Käfigen seiner Vögel beschäftigt; als aber jetzt auch Arnold den Kopf zu ihm hinwandte, hob er drohend den Finger. „Wenn das meine brüderliche Excellenz wüßte!“ sagte er. „Steht denn der Unterricht auch in dem allerhöchst genehmigten Stundenplan? – Nun, nun,“ fuhr er lächelnd fort, „ich werde das nicht verrathen!“ Dann trat er an den Tisch, und indem er mit einer gewissen Feierlichkeit seine Hand über die darauf liegenden Werke der neueren Naturforscher hingleiten ließ, sagte er halblaut wie zu sich selber: „Das sind die Männer, die ihn suchen, von denen er sich wird finden lassen; aber der Weg ist lang und mühsam, und führt oftmals in die Irre.“ – – –

Ich gedenke noch, wie dieser Tag sich neigte. – Das Abendroth leuchtete an den Wänden der Wohnstube; mein kleiner Bruder, der an dem Tischchen in der Fensternische saß und über den Hof in den Garten hinausblickte, wollte noch gern einmal in’s Freie, aber ich und der liebe Arnold sollten mit. Da mein Vater auswärts war, so ließ die Tante sich bereden. Nachdem Arnold von seinem Zimmer herabgekommen, packten wir den Knaben in sein Rollstühlchen und ließen es durch den Diener in den Garten bringen. Aber dann durfte wiederum Niemand anfassen, als Arnold und ich, und so schoben wir denn, jeder mit einer Hand, das kleine Gefährte in der breiten Lindenallee auf und ab. Die Tante mit ihrem Filettüchlein um den Kopf ging nebenher und zog mitunter das Mäntelchen dichter um die Füße des Knaben. Aber kaum ein Wort wurde gewechselt; es war still bis in die weiteste Ferne; nur mitunter sank leise ein Blatt aus dem Gezweig zur Erde, und oben über den Wipfeln war das stumme ruhelose Blitzen der Sterne. Das Kind saß zusammengesunken und träumend in seinen weichen Kissen, nur einmal richtete es sich auf und rief: „Arnold, Anna! Da flog ein Goldkäferchen, ganz oben bei den Sternen!“

„Das war eine Sternschnuppe, mein Kind,“ sagte Tante Ursula.

Ich sah, wie Arnold den Kopf zu mir wandte, aber wir sprachen nicht, wir fühlten, glaub’ ich, Beide, daß dieselben Gedanken uns bewegten. Als wir bald darauf mit dem schlafenden Kinde in das Haus zurückgekehrt waren, stand ich noch lange am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Es war ein Gefühl ruhigen Glückes in mir; ich weiß nicht, war es die neue bescheidenere Gottesverehrung, die jetzt in meinem Herzen Raum erhielt, oder gehörte es mehr der Erde an, die mir, wie lange nicht, so hold erschinen war.

(Schluß folgt.)


Johann Gottlieb Fichte.
Von Von Johannes Scherr..
(Schluß.)

So viel war klar, Fichte hatte nicht die kleinste Ader weder von einem Hofrath noch von Einem, der es werden wollte. Aber zum Ruhme der deutschen Regierungen von damals muß gesagt werden, daß es wenigstens etliche gab, welche bei Berufungen akademischer Lehrer das Vorhandensein der Hofrathsader nicht als conditio sine qua non statuirten. Zu Ausgang des Jahres 1793 erhielt nämlich Fichte einen Ruf nach Jena als Professor der Philosophie „supernumerarius“ an die Stelle des nach Kiel berufenen Reinhold. Daß er den Ruf annahm, erregte in Jena bei Männiglich große Freude, nur nicht beim dortigen professor numerarius pilosophiae. Wie weltbekannt sind, die professores ordinarii pilosophiae wirklich meist sehr ordentliche, d. h. sehr

[165]

Johann Gottlieb Fichte.

ordinäre Philosophen, welche Grund haben, die Concurrenz der außerordentlichen zu fürchten. Der liebe akademische Brodneid, in diesem Falle, wie so oft, das Mäntelchen orthodoxer Wissenschaftlichkeit umhängend, machte unserm Fichte schon vor dessen Ankunft in Jena den Krieg, in welchem aber nicht er zu kurz kam.

Sein Auftreten in Jena, wo er im Mai 1794 seine Vorträge eröffnete, war überhaupt ein sieghaftes. Seine Persönlichkeit machte sich überall geltend, wo er auftrat. Nicht leicht hat in einem andern Manne die geistige Potenz auch äußerlich so mächtig sich dargestellt. Denn Fichte’s leibliche Erscheinung war an sich unansehnlich. Von Wuchs eher unter als über Mittelgröße, war er von untersetzter, muskulöser Statur. Aus dem scharfmarkirten, charaktervollen, adlernasigen Gesicht leuchtete unter buschigen Brauen hervor das intensive Feuer dunkler Augen. Schritt und Gang prägten die Festigkeit und Entschiedenheit seines Wesens aus. Nicht minder verkündigte der stolze, gebieterische Klang und Ausdruck seiner Stimme und Sprechweise einen unbeugsamen Willen. Es war etwas Imponirendes, etwas im besten Sinne Cäsarisches in dem Manne, dessen Wirkung auf die akademische Jugend sofort sich bemerkbar machte.

Die Universität Jena hatte, wie bekannt, zu jener Zeit gerade ihre Glanzperiode angetreten, und Fichte’s Lehrtätigkeit trug zur Erhöhung dieses Glanzes nicht wenig bei. Die kleine Stadt an der Saale war damals in Wahrheit bis zum Ausgang des Jahrhunderts die geistige Hauptstadt Deutschlands, wohin nicht nur aus allen deutschen, sondern so ziemlich aus allen europäischen Ländern die Musenjünger strömten. Fichte behagte sich in seiner erfolgreichen Wirksamkeit um so mehr, als derselben, wie überhaupt seiner Art und Weise, von Seiten des Herzogs Karl August die freundlichste Anerkennung zu Theil ward und er in dem freundschaftlichen Entgegenkommen von Männern wie Goethe, Wieland und Schiller eine noch werthvollere Schätzung seines Talents und seines Eifers erkennen mußte. Ein Beobachter von Fichte’s damaligem Gebahren, Forberg, hat in scharfen Zügen ein Bild desselben entworfen. Entlehnen wir einige Striche dieser Zeichnung. „Der Grundzug von Fichte’s Charakter ist die höchste Ehrlichkeit. Ein solcher Charakter weiß gewöhnlich wenig von Delicatesse und Feinheit. In seinen Schriften kommen auch wenige eigentlich schöne Stellen vor, sein Trefflichstes hat immer den Charakter der Größe und Stärke. Auch spricht er eben nicht schön, aber alle seine Worte haben Gewicht. Sein Vortrag rauscht daher wie ein Gewitter, das sich seines Feuers in einzelnen Schlägen entladet. Fichte’s Auge ist strafend, und sein Gang ist trotzig. Er ist wirklich gesonnen, durch seine Philosophie auf die Welt zu wirken. Bei jeder Gelegenheit schärft er ein, daß Handeln! Handeln! die Bestimmung des Menschen sei.“

Ein Mann und Lehrer dieses Schlages war ganz dazu angethan, Allem, was er für thöricht oder schlecht ansah, rücksichtslos zu Leibe zu gehen. So stieß sich denn seine bis zum Rigorismus gehende sittliche Energie an das damalige studentische Ordenswesen, in welchem er die Wurzel aller akademischen Uebel sah. Er wollte diese Wurzel durchschneiden und zwar zunächst mittelst seiner Vorträge über „die Bestimmung des Gelehrten“, die er später nach einem erweiterten Plane hielt und zwar, weil nur an diesem Tage dazu Raum und Zeit war, am Sonntag. Dies war nun der Orthodoxie gerade recht, welche dem kühnen Philosophen, der nicht an das Credo von Nikäa glaubte und, schrecklich zu sagen! noch dazu im Geruche des Demokratismus stand, schon lange auf den Dienst gelauert hatte. Flugs ging eine Denunciation nach Weimar, daß Fichte „die bisherige gottesdienstliche Verfassung untergraben wolle.“ Damit begann die Hatz, welche unsern Philosophen glücklich aus Jena weghetzte … Es ist eine trübselige Geschichte. Die Dunkelmänner schlugen gegen Fichte Lärm zu Weimar, zu Dresden und an allen den umliegenden Höfen. Auch [166] gelang es, einen Theil der Studentenschaft gegen ihn zu verhetzen, obgleich die Autorität seines Wortes so groß gewesen, daß beim Beginne dieser Wirrsale die Mitglieder der drei zu Jena bestehenden Orden dem verehrten Lehrer feierlich hatten erklären lassen, sie seien ihm zu Liebe bereit, ihre Verbindungen aufzulösen. Nun kam noch ein Anlaß, welchen Fichte’s Feinde zu benutzen sich beeilten. Er veröffentlichte nämlich in dem von ihm und Niethammer herausgegebenen philosophischen Journal seinen Aufsatz: „Ueber die Gründe unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung.“ Hierauf basirten seine Feinde die Anklage auf Atheismus, und sie agirten so geschickt, daß der Dresdner Hof, obscur wie er war, diese Anklage zu seiner Sache machte und zu Weimar drohende Schritte that. Fichte ließ gegen diese Machinationen eine „Appellation an das Publicum“ ausgehen, worin er klar darthat und unumwunden, vielleicht zu unumwunden, aussprach, daß nicht sein wirklicher oder angeblicher Atheismus der Grund der Anklage sei, sondern vielmehr der Geist der Freiheit und Selbstständigkeit, zu welchem seine Philosophie erziehe. Die Weimarsche Regierung suchte den Handel in einer Weise beizulegen, die, wie sie glaubte, für Fichte so schonend als möglich wäre. Er sollte sich nur einen Verweis „wegen Unvorsichtigkeit“ gefallen lassen. Allein Fichte, den Kampf für Geistes- und Lehrfreiheit mit stolzer Entschiedenheit durchfechtend, war nicht so Einer, der einen Verweis hinnimmt, wo er von seinem Recht überzeugt ist. Er drang auf eine ehrenvolle Freisprechung von der gegen ihn erhobenen Anklage oder auf seinen Abschied. Den letztern erhielt er und zwar in ziemlich brüsker Weise.

Man muß, um der Weimarer Regierung nicht Unrecht zu thun, unbedenklich zugestehen, daß in dem ganzen Handel Fichte’s oben berührter Mangel an „Delicatesse und Feinheit“ sich sehr bemerkbar gemacht hat. Aber bei alledem war er doch unzweifelhaft in seinem Rechte, und darum ist es schmerzlich, sagen zu müssen, daß sich Goethe und Schiller in dieser Angelegenheit nicht benahmen, wie sie gesollt hätten. Goethe’s höfischer Quietismus macht freilich das bedauernde Achselzucken, womit er dem Ausgang der Sache zusah, erklärlich; die Verehrer Schiller’s aber müssen lebhaft wünschen, daß derselbe den, milde gesagt, sehr unschillerschen Brief, worin er sich am 14. Juni 1799 gegen Goethe über Fichte’s „Unklugheit“ und „incorrigible Schiefheiten“ ausließ, nicht geschrieben haben möchte. Hier geziemte sich fürwahr nicht nörgelnde Wiederholung feindseligen Klatsches, sondern herzliche Theilnahme.

Mit Wegweisung aus Jena bedroht und vom Fürsten von Rudolstadt, in dessen „Staaten“ er eine Zuflucht suchen wollte, abschlägig beschieden, ging Fichte im Juli 1799 auf Gerathewohl nach Berlin, wohin er Frau und Kind – es war ihm zu Jena ein Sohn geboren worden – nachkommen ließ, als seinem Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt kein Hinderniß in den Weg gelegt wurde und seine Existenz daselbst mehr sich befestigt hatte. Es gereicht Friedrich Wilhelm III., der damals noch nicht, wie später geschah, in Leuten wie Kamptz, Schmalz und Tzschoppe Stützen von Thron und Altar erblickte, zu hoher Ehre, daß er, nicht im Sinne der Bischoffswerder-Wöllner’schen Periode, sondern im Geiste der Zeit Friedrich’s des Großen, dem verfolgten, auch in Berlin gehörig denuncirten Philosophen den Aufenthalt in seiner Hauptstadt gestattete und zwar mit der Aeußerung: „Ist es wahr, daß Fichte mit dem lieben Gotte in Feindseligkeiten begriffen ist, so mag das der liebe Gott mit ihm abmachen. Mir thut das Nichts.“ … Auf die damaligen Berliner Zustände werfen die Briefe, welche Fichte während der ersten Zeit seines dortigen Aufenthaltes an seine Frau schrieb, mitunter ein sehr eigenthümliches Licht. Wir sehen da ein Gemisch von Bettelhaftigkeit, Prätension und Unsittlichkeit, das zuweilen einen Anstrich von Komik hat, z. B. wenn Fichte erzählt, wie Beamte mit 300 Thalern jährlicher Besoldung lebten. Brief vom 17. August 1799: „Ich kenne einen Kriegsrath, der einen Bedienten in prächtiger Livree hält. Dieser kochte verwichenen Sonnabend für die Familie ein halbes Pfund Rindfleisch und für sechs Pfennige Kartoffeln und Mohrrüben zum Mittagsessen. Es findet sich, daß das Fleisch nicht weich gekocht ist, es wird sonach nur das Gemüse verspeist und das halbe Pfund Fleisch, den andern Tag wieder gekocht zum Sonntagsessen. Seine Frau wäscht das Hemd, das sie den Sonntag tragen will, Sonnabends selbst in ihrer Stube und geht indeß ohne Hemd. So sollen viele Berliner leben.“

Fichte’s Sohn hat mit Grund bemerkt, daß die Uebersiedelung seines Vaters nach Berlin auch „innerlich einen wichtigen Abschnitt“ in dessen Leben bezeichne. Die Richtung seines Philosophirens auf praktische Ziele blieb dieselbe, ja sie erhöhte sich sogar noch, wie wir sehen werden; allein sein System erfuhr eine völlige Erneuerung und Umbildung, dadurch nämlich, daß er in demselben, wie früher die moralische, jetzt die religiöse Weltanschauung zur Geltung zu bringen suchte. Daß übrigens die Religiosität Fichte’s eine lichte und helle war und blieb, ist selbstverständlich. Dieser Kopf war nicht dazu organisirt, sich à la Schelling mystisch benebeln zu lassen. Er hatte, ohne eine amtliche Stellung zu besitzen, in Berlin bald eine zahlreiche Zuhörerschaft für seine Vortrage gewonnen. Die hervorragendsten Männer besuchten sein Auditorium, welches für eine Weile auch das Curiosum darbot, daß daselbst die Todfeinde A. W. Schlegel und Kotzebue friedsam neben einander saßen. Fichte erkannte, daß sich ihm auf dem Boden der Hauptstadt Preußens eine bedeutende Wirksamkeit eröffne; er fühlte, daß er hier eine Mission zu vollziehen habe. In diesem Bewußtsein trug er tapfer, wie er ja all sein Schicksal getragen hat, das Prekäre seiner Existenz und schlug erst einen an ihn ergangenen Ruf nach Charkow in Rußland und dann einen zweiten nach Landshut aus.

Zum Dank erhielt er auf Beyme’s, Altenstein’s und Hardenberg’s Betreiben die Bestallung als Professor der Philosophie an der (damals noch preußischen) Universität Erlangen, und zwar mit der besondern Vergünstigung, nur im Sommersemester dort lesen zu müssen, den Winter aber in Berlin zubringen zu dürfen. Im Mai von 1805 trat er sein neues Lehramt an. Allein im Spätherbst des folgenden Jahres erfolgte die Schlacht bei Jena und mit ihr der Zusammensturz des „Staates Friedrich’s des Großen“, an welchem von oben bis unten Alles morsch und faul geworden war. Nicht gewillt, es zu machen, wie es z. B. Johannes von Müller machte, d. h. dem übermüthigen Sieger so oder so sich zu unterwerfen und dann etwa nach Art des Genannten ein westphälischer Figurant am Lenkseil bonapartischer Polizei zu werden, verließ Fichte vor dem Einrücken der Franzosen Berlin und begab sich nach Königsberg, von wo er am 4. Mai 1807 an seine in Berlin zurückgebliebene Frau, die ihm gemeldet hatte, daß Müller sich zu Napoleon bekehrt habe und von diesem zu Gnaden angenommen worden sei, die Worte schrieb: „Müller beneide ich nicht, sondern freue mich, daß mir die schmachvolle Ehre nicht zu Theil geworden, wie ihm; auch daß ich frei geathmet, geredet, gedacht habe und meinen Nacken nie unter das Joch des Treibers gebogen.“… Er schiffte sich dann, da bei der trostlosen Lage Preußens zunächst nach dem Frieden von Tilsit kein Raum zu gewünschter Wirksamkeit für ihn sich finden wollte, zu Memel nach Kopenhagen ein, wo seiner jedoch nur Enttäuschungen warteten. Um sich darüber, wie über den Kummer der Zeit, hiuwegzuheben, studirte er in jenen trüben Tagen eifrigst das Pestalozzi’sche Erziehungssystem, ein Studium, aus welchem der große Gedanke der Begründung einer nationalen Erziehung des deutschen Volkes erwuchs, dem Fichte bald so beredte Worte leihen sollte.

Denn gegen Ende Augusts 1807 kehrte er nach Berlin zurück, wo damals jenes glorreiche Werk der Wiedergeburt des preußischen Staats an die Hand genommen wurde, welches zu kennzeichnen man nur die Namen Stein und Scharnhorst zu nennen braucht. Sogar dem stumpfsten Verstande hatte das Unglück die Einsicht aufgedrungen, daß mittelst des Junkerthums, mittelst jenes Junkerthums, welches bei Jena commandirt, bei Prenzlau capitulirt und die stärksten Festungen unerhört schmachvoll dem Feinde überliefert hatte, Preußen aus seiner tiefen Erniedrigung nicht wieder aufzurichten sei. Man mußte sich schon bequemen, es ging nicht anders, man mußte „den Geist anrufen in der Noth“. Der Geist ist aber ein gutmüthiger Geselle; er hilft auch solchen aus der Patsche, von denen er weiß, daß sie ihn eben nur in der Noth anrufen und nachmals wieder verleugnen werden.

Noch im Laufe des Jahres 1807 faßten erleuchtete Patrioten den Plan der Gründung einer Hochschule zu Berlin ins Auge, und Fichte arbeitete einen Entwurf aus, welcher den alten Universitätsschlendrian, den mittelalterlichen Formalismus ganz bei Seite warf. Dieser Entwurf ist freilich selber bei Seite gelegt worden, weil mit Stein’s Entfernung vom Staatsruder die preußische Staatsreform überhaupt ihren energischen Schwung einbüßte. Die Berliner Universität wurde dann bekanntlich ganz in der gewohnten Weise gestaltet, aber da Lehrer wie Fichte an sie berufen wurden, so hat sie wenigstens in der ersten Zeit ihres Bestehens im [167] reformistisch-patriotischen Sinne gewirkt. Bevor ihm jedoch die Lehrthätigkeit an der neuen Hochschule eröffnet war, hatte Fichte, seinem innersten Herzensdrange folgend, eine Arbeit gethan, welche ohne Frage die beste seines Lebens gewesen ist. Denn im Winter von 1807–1808 hielt er im Akademiegebäude seine „Reden an die deutsche Nation“.

Die preußische Hauptstadt war damals von den Franzosen besetzt, Alles lag chaotisch durcheinander, schwer wie Blei wuchteten die Bestimmungen des Friedens von Tilsit auf dem niedergetretenen, ausgesogenen Lande. Da unternahm es der tapfere Philosoph, die verdüsterten Gemüther wieder hoffen zu lehren und ihnen eine Zukunftsbahn zu weisen. Die alte Zeit ist todt, laßt uns eilen, sie zu bestatten. Die neue ist geboren, sie lebt, aber sie muß erzogen werden. Wodurch wird sie es? Durch eine völlige Umschaffung unserer Gesinnung, durch eine gänzliche Erneuerung der Volksgesinnung durch alle Stände hindurch. Und wie diese Umschaffung, diese Erneuerung zuwegebringen? Mittelst einer umfassenden Nationalerziehung … Dies waren die Grundgedanken, welche Fichte in seinen berühmten Reden ausführte. An die ganze Nation gerichtet, haben sie auch auf die ganze Nation gewirkt. Unbeirrt und ungeschreckt durch das Wirbeln französischer Trommeln, welches draußen durch die Straßen von Berlin ging, zeigte drinnen der begeisterte Redner dem preußischen, dem deutschen Volke den Weg, den es zu wandeln habe, um die übermüthigen Eroberer wieder aus Deutschland hinauszuwerfen.

Ueberhaupt war in der Zeit von 1807 bis 1813 des Mannes ganzes Lehren und Wirken dem großen Ziele zugewandt, der Befreiung und Wiedergeburt des Vaterlandes. Und das eben ist und bleibt Fichte’s bester Ruhm, eine Philosophie der That verkündigt, mit in der Vorderreihe der Männer gestanden zu haben, welche die deutsche Erhebung gegen Napoleon anbahnten und vorbereiteten. Glücklich ist er zu preisen, daß ihm beschieden war, die Zeit nicht mehr zu erleben, wo den berechtigten Erwartungen des edelsten Enthusiasmus die schmerzlichsten Enttäuschungen bereitet wurden.

Als Jahr und Tag der Erhebung gekommen, entließ Fichte mit begeisternden Worten seine Zuhörer in den Kampf. Er selbst ist, so darf man wohl sagen, ein Opfer desselben geworden, wenn er auch nicht auf der Walstatt gefallen. Wie damals so viele deutsche Frauen, hat sich nämlich auch die Gattin unseres Philosophen um das Vaterland wohlverdient gemacht mittelst heroischer Mühwaltung in den Lazarethen. Nach fünfmonatlicher eifriger Erfüllung dieser schweren Pflicht, wurde sie vom Nervenfieber ergriffen, wie es die Lazarethatmosphäre auszubrüten pflegt. Nach heftigem Ringen mit dem Tode trat eine wohlthätige Krisis ein. Der Arzt benachrichtigte Fichte davon, und dieser neigte sich, von Freude überwältigt, über die Kranke, um die Gerettete, ihm neu Geschenkte zu begrüßen. Wahrscheinlich hat sie ihm schuldlos in diesem Augenblick den Keim der Krankheit mitgetheilt. Schon am Tage darauf war er leidend, und rasch wuchs das Uebel so, daß keine Aussicht auf Rettung blieb. Auf sein Sterbelager warf die Botschaft vom Rheinübergange Blücher’s noch einen hellen Freudenschein. Da hat sich der Kranke noch einmal in patriotischer Begeisterung ergossen. Später sprach er wenig mehr und unter dem Wenigen eines Tages das Wort: „Ich bedarf keiner Arznei mehr; ich fühle, daß ich genesen bin.“ Ob er damit, wie vormals Sokrates mit einer ähnlichen Aeußerung, die Genesung vom Leben meinte? In der Nacht des 27. Januar 1814 ist er dann gestorben, noch nicht ganz zweiundfünfzigjährig, in der Vollkraft des Geistes und auch des Körpers: sein Mund hatte noch keinen Zahn verloren, und die Schwärze seines Haares spielte noch nicht in’s Graue. So hat er denn, wie Goethe schön von Schiller sagte, als ganzer Mann gelebt und als ganzer Mann ist er von uns gegangen.

Auf dem Kirchhofe vor dem Oranienburger Thor wurde der große Todte zur Ruhe gebracht. Das Prophetenwort, welches ich an die Spitze dieser Skizze gestellt, ward ihm auf den Grabstein gemeißelt. Es haben fürwahr ihrer nicht gar Viele gelebt, deren Grab diese Inschrift so sehr verdiente, wie das Grab von Johann Gottlieb Fichte.[1]


  1. Nach neuesten Mittheilungen, die sich auf das Zeugniß von Fichte’s Vater selbst gründen, ward unser großer Philosoph in dem Pfarrpachterhause zu Rammenau geboren, von dem längst keine Spur mehr vorhanden ist. Unser Bild stellt das Wohnhaus der Eltern Fichte’s dar, das sie sich einige Jahre später auf der Gemeindeau erbauten, in welchem Fichte seine Knabenzeit verlebte und das im Jahre 1860 ebenfalls einem andern Hause Platz machen mußte. Wir benutzen diese Gelegenheit, um unsern Lesern ein Ziel für die Regungen der Pietät zu zeigen, die ohne Zweifel in weiten Kreisen am Jubeltage der Fichtefeier wach gerufen sind. Die Einwohner von Rammenau haben nämlich beschlossen, ihrem größten Abkömmling zu Ehren ein kleines Denkmal zu errichten: eine abgebrochene Granitsäule mit entsprechender Inschrift im Sockel, und dazu noch eine Fichtestiftung zur Unterstützung armer befähigter Knaben, welche eine höhere Bildungsanstalt (Universität ausgenommen) besuchen. Ihre öffentliche Bitte um Beisteuern von Seiten der Verehrer des Gefeierten ist bis jetzt vollständig überhört worden. Wir machen hiermit diese Bitte zur unsrigen; vielleicht fühlen viele brave Männer noch heute sich als geistige Schuldner Fichte’s und freuen sich, auf die angeregte Weise einen kleinen Theil ihrer Schuld abtragen zu können. Die Red.     




Vom verlassenen Bruderstamme.
Nr. 4. Der Märtyrer von Oland.
(Schluß.)
Ein großer Deutscher – Schilderung eines Wurtdorfes – Kein Trinkwasser – Besuch beim Pastor – Geschichte des Märtyrers – Der brave Soldat – Eine arme Mutter – König Bomba und Dänemark.

„Ist denn Euer Pastor zu Hause?“ fragte ich eine alte Frau, welche einige Minuten ausruhte, um nach Westen zu sehen und die Wolkenberge zu beobachten, die eine immer drohendere Gestalt anzunehmen schienen.

„Der Pastor ist im Wurtdorfe. Er muß im Pfarrhause sein; Sie wollen ihn wohl besuchen? Unser Pastor ist erst seit zwei Monaten auf der Hallig. Er war früher auf Silt. Da haben die Dänen ihn hierher geschickt; er ist ein großer Deutscher.“

„Er ist ein großer Deutscher,“ wiederholte mein Freund. „Sehen Sie, nun sind wir auf einmal im Klaren, weshalb der Pastor Müller nach Oland verbannt ist. Oland ist das Cayenne für die Deutschen auf den friesischen Inseln.“

Und dann erzählte uns die alte Frau, daß sie noch nie auf dem Festlande gewesen, daß sie noch niemals einen Berg, nie ein Pferd, nie einen Fluß oder einen Baum gesehen habe. Die alte Frau sprach das Hochdeutsch recht rein und gut. Plattdeutsch verstand hier Niemand. Das Hochdeutsche ist die Sprache des Predigers und der Bibel. Die gewöhnliche Sprache ist das Friesische. Auf den kleinen Inseln, welche an der schleswigschen Westküste wie Brocken im unendlichen Weltmeere schwimmen, hat sich die friesische Nationalität am reinsten bewahrt. So fand ich es auch in den schleswigschen Marschen. In den Marschen an der Elbe, an der Weser, im Bremischen und Oldenburgischen giebt es dagegen nur wenige Striche, wo Friesisch gesprochen wird. Dort haben die Friesen Plattdeutsch gelernt, was hier Niemand verstand.

In Gesellschaft der Halligbewohner, welche ihre Arbeit beendigt und das Heu geborgen hatten, gingen wir nun in das Wurtdorf. Ein aus einem Baumstamme bestehender Steg führte über den letzten, breiten Schlot, welcher von dem einen Ende der Insel zum andern reichte, und durch den die Wellen des Meeres lustig hindurchplätscherten.

Ich muß jetzt für einige Momente meine Darstellung unterbrechen, um das Wurtdorf zu beschreiben. Ueberall an der Nordsee findet man Wurtdörfer; sie hängen mit dem Leben am Meere eng zusammen, und haben viel Sonderbares und Eigenthümliches. Ich erwähnte, daß die Halligen, aus der Ferne gesehen, schmalen Streifen Landes gleichen, welche auf dem Meere zu schwimmen scheinen, und über deren Flächen sich Burgen und Vesten erheben. Die Burgen und die Vesten sind die hochgelegenen Wurtdörfer. Die Wurten sind künstlich angelegte, längliche Hügel, 20, 30, 40 Fuß hoch. Die Höhe der Hallige ist die mittlere Höhe der Meeresfluthen. Bei jeder Fluth überströmt das Meer die ganze Insel, und nur die Wurt ragt mit ihren Häusern und mit ihrem Kirchthurm über die Wasserfläche hervor. Deshalb giebt es auch auf [168] den Halligen keine Aecker. Zwei Mal an jedem Tage würden die salzigen Wellen diese Aecker zerstören und umwühlen. Um sich vor diesen Fluthen zu schützen, bauen die Halligbewohner ihre Wurten dicht an einander. Eine Wurt schützt und stützt die andere; Pfähle und eiserne Klammern halten die Hügel zusammen. Die Kirche hat eine besondere Wurt, auf der auch gewöhnlich das Pfarrhaus steht. Aber auch diese besondere Wurt ist mit den andern Wurten, auf denen die Häuser stehen, fest verbunden. In der Regel kosten die Wurten weit mehr Geld, als sämmtliche Gebäude, welche sich auf denselben befinden und dicht aneinander geschaart stehen. Der Raum ist auf den Halligen kostbar; er ist mit großer Mühe gewonnen. Deshalb muß man sparsam mit demselben umgehen. Bei jedem Hause sind einige kleine Räume durch Pfahl- oder Gitterwerk eingezäunt, ein kleiner Garten, in dem einige Stachelbeerbüsche, einige Kohlpflanzen und einige Rüben wachsen, und ein oder zwei Räume für den Viehbestand des Hauses, für ein halbes Dutzend Schafe oder Schweine; den größten und schönsten Garten hat regelmäßig das Pfarrhaus; neben den Stachelbeerbüschen, zwischen den Kohlpflanzen und Rüben blühen dort zuweilen Rosen und Lilien. Die größte Noth auf den Halligen besteht aber darin, daß es keine Süßwasserquellen giebt. Die Halligbewohner leiden eine doppelte Wassersnoth. Während sie immerfort mit den salzigen Wellen des Meeres auf ihren Wiesen kämpfen, müssen sie oft Durst leiden, weil sie kein Trinkwasser haben. Statt rieselnder Bäche hat die Natur sie mit salzigen Meereswogen beschenkt, statt des Brodes, das auf den Feldern und Marschen des Festlandes wächst, hat sie ihnen Heu gegeben. So müssen sie sich statt des Trinkwassers mit dem Regen begnügen, welchen ihnen der Himmel herabsendet, und wenn es Wochen lang nicht regnet, oder wenn die salzigen Meereswellen in ihre Cisternen strömen, dann müssen sie durch Sturm und Wellen nach dem Festlande segeln und sich dort Trinkwasser erbitten, um nicht vor Durst zu sterben.

Wohl hatte der alte Plinius Recht, wenn er von der „Misera gens“ sprach, welche an der Nordsee in ihren Wurtdörfern wohne. Deshalb hat jedes Haus seine Cisterne, in der das Regenwasser vorsichtig gesammelt und aufbewahrt wird, wie ein kostbarer Schatz. Bei meinem ersten Besuche auf einer Hallige bemerkte ich neben den Häusern im Boden eine Oeffnung, welche einen Durchschnitt von ungefähr vier Zoll hatte und mit einem Steine oder auch mit einem runden Holze zugedeckt war. Wozu diese Röhre diene, konnte ich nicht errathen. Da nahm ein Halligmann den Stein von der Oeffnung, zeigte mir, daß das Loch sich nach unten erweitere, und daß dieser Raum zum Auffangen von Regenwasser bestimmt sei, welches durch Röhren und Rinnen aus der nächsten Umgebung hineingeleget werde. Diese Art von Cisterne nenne man „Soth“, sagte er mir, und das auf diese Weise gesammelte Regenwasser diene als Trinkwasser für die in dem Wurtdorfe wohnenden Menschen. Ich war erstaunt. „Und Euer Vieh, Eure Kühe, Schafe und Schweine, wie tränkt Ihr denn diese?“ fragte ich. „Für den Viehbestand ist doch das im „Soth“ enthaltene Trinkwasser nicht ausreichend?“

Und dann führte er mich zwischen die auf dem höchsten Punkt des Wurtdorfes liegenden Häuser und zeigte mir mehrere tiefe, mit Rasen ausgelegte Bassins, in denen sich das Regenwasser ebenfalls sammele, wie in den Cisternen.

„Aber wenn nun die Wellen des Meeres über das ganze Dorf hinwegströmen, wenn die Fluth bis in Eure Häuser und Stuben steigt, dann wird doch das in den Cisternen befindliche Trinkwasser so versalzen, daß es nicht mehr zu trinken ist?“

„So ist es. Ja, wir haben viel Noth und Sorge mit dem blanken Hans.“

Ich dachte unwillkürlich an die Gefangenen, welche zu einer Freiheitsstrafe, geschärft durch Wasser und Brod, verurtheilt sind, und mußte mir sagen, daß eine solche Gefängnißstrafe bei Wasser und Brod oft dem Leben auf einer Hallige vorzuziehen sei.

Das Wurtdorf auf Oland glich in Allem den Wurtdörfern, welche ich auf den andern Halligen gesehen hatte. Nur war es noch ärmlicher, enger und kleiner. Dreizehn Häuser standen eng an einander gedrängt und umschlossen einen kleinen Raum, den mittlern Raum der Wurt, durch den zwei Stege hindurch führten. Zwischen den ärmlich aussehenden, aber sehr reinlich gehaltenen Häusern lagen kleine, nur einige Fuß breite Gärten, welche kaum einen solchen Namen verdienten, die mit dünnem, hölzernem Pfahlwerk eingezäunten Ställe für das Vieh und drei mit Rasen ausgesetzte Regenwasserbassins oder „Fadings“, wie man hier sagte. Zwischen mehreren Häusern standen hohe, massive Heuschober, fast so hoch, wie der Kirchthurm, der neben dem Pfarrhause die eine Ecke des Wurtdorfes bildete. Diese Heuschober waren mit einem Netz von Stricken umgarnt, an denen schwere Steine befestigt waren, welche das Heu fest aufeinander preßten. Die Heuschober sind die festesten Punkte auf der Hallige. Das vom Meerwasser getränkte Heu preßt sich durch den Druck der Steine und der Stricke und durch die eigene Schwere eng und fest aneinander. Mitten zwischen den brandenden und schäumenden Meereswellen hält ein solcher Heuschober unerschütterlich Stand. Das Gebälk und die Mauern der Häuser reißen die Wogen auseinander; dann besteigen die Halligmänner mit ihren Frauen und Kindern die Gipfel ihrer Heuschober, und erwarten dort das Zurücktreten der Fluth – oder den Tod.

Wir gingen nun zurück zum Pfarrhause, um den „großen deutschen Mann“, wie die bei der Heuernte beschäftigten Halligfrauen ihn nannten, zu sehen, der von den Dänen auf dies wüste Eiland geschickt war, um in diesem nordischen Cayenne des dänischen Regiments in Schleswig-Holstein seine Charakterfestigkeit, seine Consequenz und seine erhabenen Tugenden zu büßen. Er ist ein Märtyrer für die Freiheit und nationale Unabhängigkeit Nordfrieslands in dem beginnenden Kampfe mit dem Dänenthum.

Auf dem kleinen Flur des Hauses war Niemand zu sehen. Wir klopften an die Stubenthüre, welche in die Wohnung führte, und traten ein. Ein großer, hochgewachsener Mann mit gelbblondem Haar, das Haupt etwas gebückt, kam uns entgegen. Sein Gesicht hatte scharfe, markirte Züge, seine blauen Augen blickten mild und gütig, auf der hohen Stirn thronten Geist und Verstand. Ich überreichte ihm die Karte eines Freundes vom Festlande, dessen Name in ganz Schleswig mit Hochachtung und Verehrung genannt wird, und mit der Tournure eines Mannes von Welt hieß er uns willkommen und ersuchte uns, Platz zu nehmen. „Die Sonne und der Sommer“, sagte er lächelnd, „haben Oland heute in den Festanzug gekleidet, aber die arme Hallige trägt diesen Festanzug selten, bald setzt sie die Nebelkappe auf und zieht den nassen Regenrock an. Wir bringen deshalb schnell die Heuernte in Sicherheit.“

„Schon vor einigen Tagen sah ich Oland aus der Ferne in Nebelkappe und Regenrock, Herr Pastor,“ erwiderte ich lachend; „ich war unterwegs zu Ihnen, aber Sturm und Wetter trieben meinen kleinen Schooner an die Küste von Föhr zurück. Stand das Wasser hier hoch bei Ihnen?“

„Die Springfluth ging über die ganze Insel und stieg bis zur Höhe der Wurt, auf der die Häuser stehen. Es sah gefährlicher aus, als es war. Sie wissen wohl, die gefährlichen Fluthen und die Stürme kommen erst im November. Aber meine arme Frau und meine Kinder, welche erst seit drei Wochen auf Oland sind, fürchteten sich sehr. Wir sahen die Springfluth zum ersten Male so in der Nähe.“

„Und wie lange sind Sie auf Oland, Herr Pastor?“

„Erst seit drei Monaten. Meine Frau blieb zwei Monate länger in Silt, um unsere Hauseinrichtung zu verringern und die Mobilien, welche wir in diesem kleinen Hause stellen konnten, herüberzuschaffen.“

Ich blickte unwillkürlich in dem Zimmer umher und warf einen Blick in die beiden anstoßenden Gemächer, deren Thüren geöffnet waren. Die Decke war recht niedrig. Wenn die hohe Gestalt des Predigers aufrecht stand, mochte zwischen seinem blondgelockten Haupte und der niedrigen Decke kaum der Raum eines Fußes sein. Die Wände sahen uns ärmlich und dürftig an. Die Mahagonymöbels bildeten mit der ärmlichen Umgebung einen sonderbaren und traurigen Contrast.

„Waren Sie lange Pfarrer auf Silt, Herr Pastor?“

„Eine lange Reihe von Jahren. Es war eine schöne und reiche Pfarre. Hier ist es anders.“

„Und darf ich Sie fragen, weshalb die dänische Regierung Sie auf dies armselige Eiland schickte, auf dessen Wiesen die Meereswellen alle Tage spazieren gehen und das die nächste große Springfluth in die Tiefe reißen kann?“

Der Märtyrer von Oland sah mich mit einem langen und traurigen Blicke an. „Die nordfriesischen Inseln kämpften bis jetzt nur mit dem Sturme und mit dem Meere,“ sagte er; „vor Kürzern hat der Kampf um ihre nationale Selbstständigkeit mit dem [169] Dänenthume begonnen. Hier wiederholt sich nur die Geschichte der vertriebenen Prediger auf den: Festlande – wenn …“

„Ja, wenn man nicht ein Renegat an der Nationalität und Freiheit seines Landes werden und in das Lager der Dänen überlaufen will,“ unterbrach ihn mein Freund; „ich weiß, auf Föhr hat man schon vollständig aufgeräumt, und die Pastoren und Beamten, welche sich nicht zur Danisirung der Insel hergeben wollten, in’s Elend gejagt. Aber man sagte mir doch“ fügte er lachend hinzu, „Sie hätten einen Fehler gemacht, Sie hätten den Danebrog einmal nicht zu rechter Zeit aufziehen lassen, oder sonst so Etwas.“

In den blauen Augen des Pastors erschien wieder jener Blick des Ernstes und der Wehmuth. „Das sind so Dinge, die man sich im Lande umher erzählt, weil man nach einem Grunde meiner Verbannung sucht und ihn nicht finden kann. Niemals habe ich einen Fehler gemacht. Ich erhielt plötzlich ein Decret der dänischen Regierung, daß ich meines Pastorats in Silt entsetzt sei und mich binnen vierzehn Tagen hierher zu begeben habe. In dem Decret war gar kein Grund für ein solches Verfahren angegeben. Mir ist der Grund aber recht wohl bekannt. Auch kennt ihn auf Silt Jedermann. Ich that, was meine Pflicht war. Ich widersetzte mich den Danisirungsversuchen in der Communalverwaltung, in der Kirche und in der Schule. Da schickte man mich fort, um mich zu bestrafen und um meine Wirksamkeit zu brechen.“

„Ja, ja,“ rief mein Freund lachend, „das ist der Mythus, der im Laude umhergeht. Als meine Regierung mich absetzte, da flüsterten sich die Leute in die Ohren, ich sei nicht streng genug gegen die Wilddiebe verfahren.“

„Und Ihre Pfarre, Herr Pastor? Nun, ich kann mir das Weitere denken. Ein Däne hat sie bekommen, der mit Minister Monrad in Kopenhagen in dasselbe Horn bläst. Mein Freund kennt die dänischen Prediger auf dem Festlande, welche die Stellen der braven Pastoren eingenommen haben, die man in’s Elend jagte. Er hat mir wunderbare Dinge davon erzählt.“

„Der neue Pfarrer auf Silt ist ein ganz unbedeutender Mensch; er wird Alles thun, was man in Kopenhagen verlangt.“

„Ist Ihre Stelle hier schlecht auf Oland, Herr ,Pastor?“ fragte ich.

„Sie ist mit einem Gehalt von einigen hundert Thalern dotirt,“ erwiderte er lächelnd. „Doch darauf kommt es nicht an. Aber meine Frau und meine Kinder leben fortwährend in einer entsetzlichen Angst vor diesen Fluthen, welche täglich die Insel überströmen. Noch ist das ja nicht gefährlich. Aber der Herbst und der Winter werden mit ihren Nordweststürmen und mit den großen Springfluthen kommen. Sie wissen ja, die ganze Nordseeinselkette ist dem allmählichen Untergänge geweiht. Und da wird Oland zuerst in die Tiefe des Meeres hinabgerissen. Alle fünfzig Jahre kehren die großen Springfluthen wieder. Bald ist das halbe Jahrhundert wieder um. Olands Tage sind gezählt, und mit ihnen die unsrigen. Vielleicht schon eine Decembernacht im kommenden Winter! Doch, wie Gott der Herr es will! Aber meine Frau, meine armen Kinder werden gleich von der Wiese kommen. Sprechen wir dann nicht mehr davon.“

„Aber weshalb sind Sie nicht auf das Festland gegangen, Herr Pastor? warum kamen Sie nicht nach Deutschland? Es haben viele von den vertriebenen schleswigschen Predigern bei uns Brod und Arbeit gefunden.“

Da erhob sich der Prediger von seinem Sessel. Hoch richtete er sich auf. Seine blonden Locken berührten beinahe die Decke des niedrigen, ärmlichen Gemachs. Seine blauen Augen strahlten; die harten Züge seines charakteristischen Gesichts überflog ein Schimmer hoher, geistiger Verklärung. Er sah us, wie einer jener Apostel des Christenthums, welche erhobenen Hauptes und mit blitzenden Augen im Colosseum zu Rom den Sprung des Löwen erwarteten, welcher bereits an dem Eisengitter seines Käfigs tobte.

„Warum nicht?“ sagte er mit fester und sonorer Stimme. „Ich besitze hinreichendes Talent und genügende Kenntnisse, um in Deutschland den Lebensunterhalt für mich und meine Familie erwerben zu können. Aber ein braver Soldat kämpft auf seinem Posten weiter und stirbt – selbst wenn der Posten ein Verlorner ist. Ich bleibe hier und, wenn es sein muß, sterbe ich mit Oland in den Wellen.“

Stumm blickten wir den Mann an. Wieder dachte ich an die Märtyrer des Christenthums auf dem blutigen Sande des Colosseums. Die Nachmittagssonne blickte durch die kleinen Fenster in die ärmliche Stube, und wob um die blonden Locken des Priesters eine strahlende Aureole. Mein leidenschaftlicher Freund sprang auf, reichte ihm die Hand und erging sich in heftigen Ausrufen gegen die hirnverrückte Partei in Kopenhagen, welche in wirklich toller Weise im Lande regiere, und gegen Deutschland, welches sich eine so tolle Wirthschaft auf eigenem Grund und Boden von einem halben Dutzend verrückter Schulmeister gefallen lasse. Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild eines andern Mannes, der kürzlich in Schleswig dieselben Worte zu mir sprach: „Das Bestreben der Dänen geht seit zehn Jahren dahin, die Intelligenz aus dem Lande zu treiben; denn sie wissen, daß der Widerstand gegen ihre Danisirungsversuche in der Intelligenz sich verkörpert. Deshalb verbannten sie auf einmal allein in der Stadt Schleswig 68 den ersten und intelligentesten Ständen angehörige Familien. Mit dem kleinen Bürger und dem Bauer, denken sie, wollen wir allein schon fertig werden. Darum ist es Ehrensache, hier zu bleiben, und so lange im Kampfe mit diesem Gesindel von Beamten und Polizisten auszuhalten, wie es irgend angeht. Auch ich verlasse deshalb das Land nicht.“ So sprach jener Mann in Schleswig. Sein Haar ist grau geworden, das Gesindel hat sein Vermögen und seine ganze bürgerliche Stellung ruinirt. Vielleicht hat kein Mensch in Schleswig so viel von den fortwährend angewandten kleinlichen Tracasserien, von den feigen und heimtückischen Streichen, in denen die dänischen Polizisten und Beamten so zähe und so unerschöpflich sind, zu leiden gehabt, wie dieser Mann. Aber standhaft und muthig hat er ausgehalten auf seinem Posten im Kämpfe mit dem Dänenthnm. Dahier wird man in der traurigen Geschichte des unglücklichen Landes seinen Namen immer mit Hochachtung und Verehrung nennen. An diesen Mann dachte ich, als die Nachmittagssonne durch die kleinen Fenster blickte und um die blonden Locken des Pastors die goldene Aureole zeichnete.

Da öffnete sich die Thüre, und herein trat die Gattin des Pastors. Ihr voran stürzten die Kinder, zwei hübsche blonde Mädchen und ein kräftiger Knabe, sämmtlich in dem Alter von zehn bis fünfzehn Jahren. Sie sprangen auf den Vater zu, kletterten an ihm hinauf und umarmten und küßten ihn. Der Pastor stellte uns seiner Gemahlin vor. Sie gehörte einer der vornehmsten dänischen Familien an, und ich sprach mit ihr von ihrer Cousine, deren Verlobung mit einem unserer berühmtesten Aerzte ich kürzlich gelesen hatte. Dann kam das Gespräch, wie von selbst und wie immer in Schleswig, auf die Zustände oder, wie man dort zu sagen pflegt, auf „das Unglück im Lande“. Jedes lebendige Wesen von den windumrauschten Inseln der Nordsee bis zu den mit Eichen- und Buchenwäldern gekrönten Küsten des Ostens sprach mit mir von „dem Unglück im Lande“, der Kutscher, der mich in dem hochrädrigen holsteiner Wagen fuhr, der Schiffer, der mich durch den „Schlick“ auf seinen Schultern aus dem leichten Schooner auf die weißen Dünen von Ameram trug, der Edelmann im mit Marmor und Bildwerk geschmückten Saale seines alterthümlichen Schlosses in Angeln, der Bauer, dem ich auf der Landstraße begegnete, der Flensburger Holzhändler, mit dem ich auf das Deck des Dampfschiffes stieg, um nach Kopenhagen zu fahren, die Kinder, wenn sie aus der Schule kamen und Unterricht in der dänischen Sprache gehabt hatten, das Hausmädchen, welches mir Morgens im Wirthshause den Kaffee brachte. Ich konnte es zuweilen nicht mehr aushalten, und als zwei junge Damen aus Kiel mich während eines Concerts unter den schattigen Buchen von Düsternbrock auch vom Unglück im Lande unterhielten, da entfloh ich auf drei Tage nach Hamburg – um dann dieselbe Unterhaltung in dem Staatszimmer eines Hofbesitzers in Angeln auf’s Neue zu beginnen. Das Leid ist zu groß in Schleswig. Die Presse, welche übrigens auch nur aus einigen unbedeutenden Wochenblättern besteht, hat einen Knebel im Munde, der ihr jedes Wort unmöglich macht. Der Unglückliche findet einen Trost darin, wenn er sein Leid klagen kann. So sprach auch die Frau des Märtyrers von Oland von dem Unglück im Lande.

Am meisten fürchtete sie sich vor dem Aufenthalt auf der armseligen Insel während der stürmischen Wintermonate. Sie war erst seit wenigen Wochen mit den Kindern auf der Hallig. Der allerdings sehr starke Contrast mit Silt war ihr noch zu neu. Silt ist durch mächtige Dünen vor den Wellen des Meeres geschützt, und ist eine große, mehrere Meilen lange Insel. Um den ganzen Strand von Oland kann man in einer starken Viertelstunde gehen, und bei einer heftigen Fluth bespülen die Wellen die Schwelle [170] des Pfarrhauses. Die hohe Springfluth, welche die Wellen der Nordsee vor einigen Tagen über die ganze Insel hinweggeführt hatte, war der armen Frau eine ganz neue und abschreckende Erscheinung. Entsetzen blickte aus ihren Augen und aus den Augen der Kinder, als sie uns erzählte, wie das Meer immer und immer höher gestiegen sei, wie nach und nach die Wellen die ganze Fläche der Insel in eine schäumende See verwandelt haben, wie mit dem dunkeln Schatten des Abends die Wasser wiederum gewachsen seien, wie gegen Mitternacht der Sturm geheult und getobt und die ganze Wurt erschüttert habe, auf der das Pfarrhaus und die Kirche steht.

Dann sei der blanke Hans über die Wurt gestiegen und habe mit seinem nassen Finger an die Schwelle ihres Hauses geklopft. Nun wäre sie mit ihren Kindern auf das Dach des Hauses gestiegen. Die Kinder hätten geschrieen vor Angst und vor Entsetzen. Und alle die entsetzlichen Bilder, die schrecklichen Nächte mit den untergegangenen Dörfern, mit den im Mondlichte schwimmenden Leichen in den schäumenden Wogen, von denen ihr die alten Leute auf Silt so oft erzählt hätten in den langen Winterabenden, seien wieder aufgestiegen in ihrer Erinnerung; wie Gespenster hätten die Leichen sie angeblickt mit den weit geöffneten Augen und den bleichen Todtengesichtern, und die langen Haare hätten getrieft von salzigem Meerwasser, und seien durchflochten gewesen mit dem grünen Seetang und mit weißen Wasserblumen, und dann hätte sie rund um Oland alle die versunkenen Friesendörfer mit ihren weißen Häusern und gothischen Thürmen, mit den gelben Kornfeldern und den grünen baumlosen Wiesen aus den Fluthen steigen sehen – und dann sei ihr vor Entsetzen das Bewußtsein geschwunden.

„Es war eine schreckliche Nacht,“ rief sie, „und diese Nächte werden im Winter häufig wiederkehren, bis – –

Sie vollendete den Satz nicht. Wir schwiegen. Ich wußte, was sie sagen wollte, und was sie nicht auszusprechen wagte.

„Und ist es nicht grausam,“ begann sie von Neuem, „es ist kein Arzt auf der Insel, und während des Winters sind wir Wochen lang ganz abgesperrt vom Festlande; wenn die Kinder krank werden, sie werden sterben ohne jede Hülfe. Und wenn die salzigen Wellen in unsere Cisternen strömen, dann haben wir kein Trinkwasser. Kein Brod und kein Wasser! Es ist grausam.“

Mein Herz war voll von Wehmuth und Schmerz. Ich schwieg. Worte konnten diese Schreckbilder der Phantasie nicht verscheuchen, welche vielleicht in der nächsten Nacht wieder aus der Tiefe des Meeres hervorstiegen und auf den Stürmen und Wolken heranzogen.

Ich kenne an der orangengeschmückten Küste Siciliens nicht weit von Trapani eine ähnliche Insel, wo der König Bomba die politischen Gefangenen verwahrte, welche ihm als seiner Regierung besonders gefährlich erschienen. Es ist die Insel Favignana, auf der sich der berüchtigte Bagno der heiligen Catharina befindet. In diesem Bagno war bis zum 4. Juni 1860, wo die bourbonischen Truppen den Soldaten Garibaldi’s Trapani überließen, der junge Baron Nicotera eingesperrt, der Freund Carlo Pisacane’s, Herzogs von San Giovanni, welcher vor mehreren Jahren in einem Aufstande in Calabrien den Heldentod für Italien starb. Nicotera war durch die Kriegsgerichte in Salerno zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurtheilt und in den Bagno von Favignana eingeschlossen worden. Während der ersten sechs Monate befand er sich in einem der unterirdischen Gefängnisse. Für einige Sous Brod bildete seine tägliche Nahrung. Alle Tage mußte in den Regentagen das in das Gefängniß eingedrungene Regenwasser ausgeschöpft werden, wenn der Gefangene nicht in seinem Kerker ertrinken sollte. Es befanden sich oft an hundert Eimer Wasser in demselben. Der Gefangene des grausamen und blutdürstigen Königs beider Sicilien brauchte aber weder vor dem Hungertode, noch vor dem Tode durch Ertrinken zu zittern. Er wußte, daß ihm regelmäßig Brod und Trinkwasser, um sein Leben zu erhalten, gereicht wurden; er wußte, daß seine Kerkermeister das Regenwasser ausschöpften, das zuweilen einige Fuß hoch an den Wänden seines Gefängnisses hinanstieg.

Und der Märtyrer von Oland? Er weiß nicht, ob in den kalten und stürmischen Nächten des Monat Januar nicht die Wogen der Nordsee bis zum Giebel seines einsamen Hauses hinansteigen und ihn und seine Frau und seine Kinder in die Tiefe des Meeres hinabreißen; er weiß nicht, ob ihm nicht Tage lang das Brod und das Trinkwasser fehlen wird; er weiß nicht, in welcher Sturmnacht die letzte Stunde für Oland vom Thurme seiner einsamen Kirche schlägt

G. Rasch


Der Bergsturz bei Schandau.

Von M. M. von Weber.
(Schluß.)


Mit der Besonnenheit der Todesnähe werden die Lebensmittel Aller, aus dem mitgebrachten Mittagbrode bestehend, dem alten Linke übergeben, der sie ihnen sparsam zumessen soll, denn es kann nothwendig werden – lange zu hungern und zu dursten – und zu frieren. Macht doch die Kellerluft nach und nach das Blut erstarren. Das wenige Stroh, das in der Höhle ist, wird in einen Winkel getragen, dort sollen sich die Mattesten hinlegen, wenn der Hunger grimmiger wird, um da zu ruhen – um da zu sterben – wenn’s Gott nicht anders will. –

Langsam schleichen die unendlichen Stunden, die auf den Uhren ein dann und wann aufflackerndes Streichhölzchen zeigt. Todtenstill ist’s in der Höhle, nur hier und dort in der Finsterniß ein leises Weinen, oder das Murmeln eines Vaterunsers, oder ein leiser, schluchzender Ruf nach lieben Kindern, oder der armen verzweifelnden Frau daheim. Den Hunger bannt noch den ganzen ersten Tag die Erschütterung der Seele, aber die Kälte kriecht mit tausend eisigen Schlangenringen an die Armen heran, die in ihren dünnen Arbeitsanzügen auf dem Steinboden liegen und sich aneinanderdrücken, um nicht zu erstarren.

Tröstlich, und wie ein Ton vom Leben draußen, klang es durch die wehevolle Stille, wenn der alte Linke seine zitternde Stimme erhob und einen Vers der heiligen Schrift sprach. „Es war so,“ sagte ein Geretteter später, „als wenn’s zum Gottesdienste läutete und als spräche uns Gott selbst Trost zu!“


Draußen aber war der Donner des Sturzes weit und breit gehört worden; aus allen nahegelegenen Brüchen hatte man gesehen, daß da alle Arbeiter im Fröde-Pieschelschen Bruche verschüttet waren, und die Schreckenspost lief im Nu auf Wegen, Schienen und Drähten in die Heimath der Verschütteten, nach den Sitzen der Behörden, nach den Brüchen, wo die wackern Arbeitsgenossen der Verunglückten thätig waren.

Und diese eilten schnellsten Laufes herbei, ohne Rücksicht auf die verlorenen Löhne, ohne zu wissen, wer ihnen Nahrung und Obdach gewähren würde während der schweren Arbeitstage – nur um zu retten! Die städtischen Behörden von Schandau, alle königlichen Mittel- und Unterbehörden der Umgegend waren spornstreichs zur Stelle, so daß schon am Mittag des Unglückstages über 100 geübte Steinbrecher, eine Anzahl Bergleute aus Gießhübel und alle öffentlichen Autoritäten, die das Rettungswerk fördern konnten, den Felstrümmerberg umstanden, der die Armen deckte. Die ungeheure Masse desselben, die Gefahr, die Jedem, der ihm nahte, noch durch die von der Felswand von Zeit zu Zeit herabstürzenden Bröckel und Massen drohte, ließen auch die Arme des arbeitsmuthigsten Laien muthlos am Körper herabsinken. Dazu begann eisiger Regen herabzupeitschen, der Strom, über den her alle Hülfsleistung kommen mußte, führte starkes Treibeis, die Wege wurden glatt und schlüpfrig, jeder Tritt gefahrvoll, und überdieß zerriß das Wehklagen der durchnäßt und frierend allenthalben auf Felsblöcken und Rainen umhersitzenden Angehörigen der Verschütteten die Herzen, so daß tiefe Depression der Gemüther den Beginn der eigentlichen Arbeiten fast bis gegen Abend hinausschob.

Doch war die Zeit bis dahin nicht ungenützt verstrichen. Mit einer Todesverachtung, die des höchsten Lobes werth ist, und von der genausten Kenntniß des Bruches, seiner Gesteinschichten

[171] und Lage der Massen geleitet, bekletterte der Leiter der Arbeiten in den Fröde-Pieschelschen Brüchen, der wackere Bruchmeister Richter, trotz bröckelnden Gesteins und nachstürzenden Gerölls, mit fünf unerschrockenen Männern den Trümmerberg, um sich einen Plan für die Rettungsarbeiten zu bilden. Mit ängstlicher Spannung verfolgte das versammelte Volk den Weg der Braven, die bald auf Geröllhügeln auftauchten, bald zwischen riesigen Felsblöcken verschwanden. Plötzlich sah man sie, fast auf der höchsten Höhe des Trümmerbergs, Halt machen und einen von ihnen versinken. Fast unmittelbar an der Felswand hatte sich zwischen zwei gebrochenen, fast 16 Fus; dicken Steinbänken eine Kluft gezeigt, die weit in der Richtung, in der man die Verschütteten liegend wußte, hinabzuführen schien. In diese entsetzliche Kluft, kaum so breit, daß ein Mensch sich durchzwängen konnte, kroch ein junger Steinbrecher, Linke mit Namen, der Sohn des Alten drunten in der Gruft, trotz nachstürzenden Gesteins, trotzdem, daß die noch in Bewegung befindliche Masse jeden Augenblick ihn in der verengerten Kluft erdrücken konnte, hinein – drei Viertelstunden lang harrte man auf seine Rückkunft, ja gab ihn verloren – da tauchte er unter freudigem Zuruf wohlbehalten wieder auf; die Männer stiegen herab, und der Kampfplan war nun gemacht!

Auf drei Wegen wollten die Retter versuchen vorzudringen. Zunächst sollte, und davon hoffte man den schnellsten Erfolg, ein Stollen an der Felswand selbst hin, durch die Sturzmasse getrieben werten. Dieser mußte fast 40 Ellen lang sein, um bis zu den Verschütteten zu reichen. Eine zweite, kleinere, aber aus besonders muthigen, freiwilligen Leuten bestehende Abtheilung, wurde beordert, den Weg durch die hohlen Räume, der Sturzmasse von oben her zu verfolgen, auf dem Linke, wie er behauptete, bis auf 20 Ellen Distanz zu den Verschütteten niedergedrungen war. Eine dritte Abtheilung sollte endlich, von Westen her, versuchen, sich durch einen, anscheinend besonders lockergefallenen, Theil des Schuttkegels durchzuarbeiten. Letzterer Versuch wurde bald als zu weitaussehend aufgegeben.

Zeitig brach die tiefe Nacht ein. Unheimlich glühte im Licht der Fackeln und Kienkörbe, mit tiefen Schlagschatten, die Felswand und die gewaltige Grabpyramide in die dunkle Gegend hinaus. Der Regen goß in Strömen herab. Der Sturz neuer Schutt- und Steinmassen machte jede Annäherung an die Stelle, wo die Arbeiten beginnen sollten, lebensgefährlich.

Die Nacht wurde dazu verwendet, Schutz gegen dieses vernichtende Batteriefeuer von oben zu schaffen. Im nächsten Forste, gleichviel wem er gehörte, schlug man ein halbes Hundert Stämme, die, in mannsstarke Hölzer von 8–10 Ellen Länge getrennt, so, Stamm an Stamm, gegen die Felswand gelehnt wurden, daß sich ein fast bombenfestes schräges Dach bildete, das die herabstürzenden Gesteine weit von sich schleuderte und in dessen Schutz die Leute rüstig zur Stollenarbeit vorgehen konnten. Schwieriger war für die Wackern, die von oben in die Klüfte dringen sollten, ein Schirm gegen den Steinschlag zu schaffen, und ungenügender fiel er aus, da der Transport von wirklichen Stämmen auf die Höhe der so tief zerklüfteten Schuttmasse unmöglich war. Nur aus Stangen gelang es endlich, ein dürftiges Schild herzustellen, durch das hindurch sie oft genug mit Sand, Schlamm und Geröll überschüttet wurden.

Keiner der wackern Arbeiter wich, trotz Kälte und Nässe, vom Platze. Wärmende Getränke und Speisen langten von Schandau, Königstein, Pirna an, der Arbeitsplatz wurde zum ernsten Feldlager vor einer Schlacht. Und welcher Schlacht!! Keiner solchen, in der Fanatismus, Nationaleitelkeit, Völkerzwietracht oder Fürstenlaunen mit einander streiten und verblendete Kämpfer zusammenjagen, sondern einer Schlacht, wo Menschenliebe mit der todten Naturgewalt um das Leben des Nächsten ringt.

Welcher Kampf ist des Schweißes und Blutes der Edeln werther?!

Weit rings umher saßen, frostzitternd in sich gebeugt, die Angehörigen der Verschütteten, kleine Kinder schmiegten sich weinend an die Erwachsenen, die kraftlos waren wie sie.

Der Tag graute, der Ton der Frühglocken zitterte von Schandau herauf. Da begann die Thätigkeit aus allen Theilen. Heut war heiße Arbeit Sabbathfeier und das Keuchen der Anstrengung das Gott wohlgefälligste Gebet. Die Hoffnung, mit dem Stollen am Felsen hin zuerst ans Ziel zu kommen, erwies sich trügerisch. Das Geröll war zu mächtig und dabei zu lose.

Theilweise Auszimmerung ward nöthig, welche die Arbeit verzögerte. Nichts desto weniger kroch der Stollen, getrieben von Wackern, die weder das Zusammenrollen der Schuttmassen, noch den tückischen Fall der deckenden Felsstücke fürchteten, stündlich tiefer in’s Gestein.

Ueberraschend hingegen förderte sich die Arbeit von der Höhe herab in die Klüfte zwischen den gestürzten Bänken des Felsens. Hier arbeiteten sich fünf der allerwackersten und todesmuthigsten Steinbrecher in einem gewundenen, vielfach gebrochenen, dunkeln, engen Schachte in die Tiefe hinab. Was kümmerte es diese Tapfern, daß das Gestein um sie knirschte und sie in ihrer engen Kluft jeden Augenblick, weit furchtbarer als die da drunten, zu begraben drohte? Das Geröll wurde in Klüfte gestopft, die größeren losgearbeiteten Steinstücke von Hand zu Hand zu Tage hinausgereicht. Um das Aus- und Einfahren zu begünstigen, wurde eine Webe Segeltuch von einem Schiffsherrn im Thale geholt und in den schrägen Schacht gehängt, so daß die Leute, ohne Geröll mit fortzureißen, Hinabrutschen konnten. Gefährlich liegendes Gestein wurde mit Stempeln abgespreizt, hindernde Ecken wurden abgeschlagen; dennoch war der Schacht an vielen Stellen so eng, daß ein Mann sich kaum durchzwängen konnte.

Die Wackern, die in dieser Kluft, deren Befahrung schon eine That großen Muthes war, fast 50 Stunden lang, ohne Rast arbeiteten, waren der junge Linke, Hardig aus Postelwitz, Winkler, der Muthigste und Beste von Allen, und der treffliche Bruchmeister Richter, der, vom Stollen zum Schacht und vom Schacht zum Stollen eilend, auch immer ein Wort des Trostes für die armen Weiber und Kinder draußen, hatte.

Schon will, von fast zwanzigstündiger Anspannung der Kräfte, der Muth sinken, die Schläge werben matter, die Aufgabe bewältigt die Leute – da quillt es zwischen den Geklüftspalten bläulich empor – es ist Rauch aus dem Innern der Schuttmasse – Nicht Alle sind todt – sie haben Feuer – sie leben! – Diese Gewißheit haucht alle Müdigkeit weg und kühlt die brennenden Hände. Am Sonntag Nachmittag ist der Schacht volle 40 Ellen tief. Die rastlosen Vier da unten lassen in kurzer Pause die Flasche kreisen – da – tick – tick – tick – klingt es aus der Tiefe – Hammerschläge – sie arbeiten von unten!! – –

Die Freudenpost fliegt durch das ganze Thal, und nur die Angehörigen fragen doppelt bange: Wer lebt?


Drunten in der Gruft schlich die Nacht grabesstill. Träumen war so schlimm wie Wachen, und Wachen ein böser Traum. Sonntag Morgen! Die Uhr zeigt Kirchgangzeit – Glockengeläut – Ob man es je wieder hört? – Der alte Linke ruft: „Kinder, jetzt beten sie in der Kirche für uns, laßt uns mit beten!“ Und die zitternden, heisern Stimmen erheben sich im dunkeln Felsengrabe zu „Befiehl Du Deine Wege,“ und „Auf Dich, mein lieber Gott, ich traue,“ und verhallen zwar dumpf in der niedrigen Gruft, aber dringen durch Felsen und thurmhohes Gestein hinauf zu dem großen Gotte der Liebe, der die Berge aufbaut und versinken macht.

Und kaum ist der Gesang verhallt, als Petters, der mit dem Rücken am Felsen lehnt, aufspringt und ruft: „Kinder, still! still! hört! – „Es klang aus dem Berge heraus, als ob ein kleiner Gnom drin scharre. – Der erste Ton der Außenwelt - Gott sei gelobt! da ist die Hoffnung!“ Und wieder sangen sie und hatten schon klingendere Stimmen. Mit der Hoffnung aber kehrt auch die volle Empfindung der Entbehrung zurück. Man versucht ein Feuerchen anzumachen, der Rauch zieht emsig durch die Spalten ab und kündet oben das Leben. Kaffee wird gekocht und zunächst dem einen von Schreck, Weinen und Kälte halb todten Knaben eingeflößt, der in einem Winkel auf Stroh liegt – dann feuchten sich die Männer die Lippen an und essen einen Mundvoll Brod. – Dann und wann halten sie den Athem an, um das leise Nagen zu hören, das da stets zu ihnen herabflüstert. – Wie ringt nun Hoffnung und Angst miteinander! – „Werden wir aushalten, bis sie zu uns durchdringen? Sind sie auf dem rechten Wege? Gott wird sie leiten!“ Und Er that es. – Von Stunde zu Stunde wird das Nagen lauter, bald klingt es dumpf, wenn die Arbeit am Geröll wühlt, bald hell, wenn sie feste Bänke durchbricht. Mit dem Ohr am Boden, an den Wänden, an der Decke der Höhle lauschen die Männer der himmlischen Musik der Arbeit, die so oft ihre Pein und Plage war. Immer bestimmter wird die

[172]

Das Grab der Verschütteten.
Nach der Natur aufgenommen von August Reinhardt.


Richtung der erst diffusen Töne unterscheidbar. – Mit gewaltigen Hammerschlägen gegen die Felswand sucht man sich nach oben kund zu geben. – Jetzt beginnt es auch von Osten her nagend zu bröckeln – die Arbeit im Stollen wird hörbar – die Hoffnung steigt und die Todesangst beginnt fieberischer, verzehrender Spannung Raum zu geben. – Beim Abendgottesdienste mischt sich schon Lauschen auf den Ton der irdischen Rettung in die Erhebung zum himmlischen Erlöser. – Und die Hoffnungsreichen lassen sich durch das Geknirsch der Gnomenarbeit in einige Stunden unruhigen Schlummers wiegen.




Weit und breit hatte während des Sonntags das Elbthal geschwiegen! Keine Musik, kein Tanz in den lebenslustigen Städtchen ringsumher. Wer hätte jubeln mögen während der Todesqual der Brüder! Aber hinausgeströmt war die Menge, für die wackeren Arbeiter Erquickungen mit sich führend, und umstand das gewaltige Felsengrab schweigend – die Nacht unterbrach die Arbeiten nicht. Bänke wurden durchsetzt, Leitern in Klüfte gesenkt, immer neue nach unten gehende Spalten zeigten sich, die, schnell erweitert, den Weg förderten. Mehr als einmal trieb es freilich auch den Allermuthigsten aus dem furchtbaren Schlotte, in dem sie weilten, wenn das Gestein, das sie berührten, knackte und knirschte, aber kaum schwieg der grauenhafte Ton, waren sie wieder in der Tiefe, bei der Arbeit. Auf den luftigen Höhen des berühmten Basteifelsens steht ein Sprachrohr, mit dem der Reisende dem auf sonniger, ferner Höhe stehenden Genossen einen Jubelruf zuzutönen pflegt; das war herbeigeschafft worden, um Menschenlaute hier in das Grab hinab dringen zu lassen. Als sich beim Wegräumen einer Schuttmasse ein tief hineingehender Spalt zeigte, setzt es Richter an den Mund und hinab dröhnt’s: „Lebt Ihr?“ Und sie hören es drunten, die lebendig Begrabenen – die Menschenstimme von draußen, und fallen auf die Kniee und schreien wie aus einem Munde: „Ja, wir leben Alle!“ Aber das Geräusch da draußen verschlingt den leisen Ton aus der Tiefe. – Vierzig Stunden unablässig hatten die schlichten, tapfern, wackeren Retter gewirkt, da erreichte der Schacht die 16 Ellen dicke, massive Platte, die das Grab der Verschütteten deckt, und ein gütiger Gott hatte Meißel, Brecheisen und Spaten gelenkt, der Schacht traf genau die Kante der ungeheuren Steinmasse, so daß man sie nicht zu durchbrechen brauchte, sondern in einer Kluft leicht an ihrer Seite hinab gelangte.

Plötzlich hörten die Eingeschlossenen die Arbeitstöne nicht mehr über sich, sondern deutlich stromwärts, fast in gleicher Höhe mit der Höhle, in genau zu bestimmender Richtung. „Jetzt drauf und dran, Freunde!“ rief Linke „kaum zwanzig Ellen von uns, da drüben müssen sie schon sein! Die letzten Kräfte zusammengenommen! Wir wollen ihnen entgegen.“ Und der Knabe schleißt Spähne und hält sie in Brand, und unter der Felsplatte hin wühlen die Leute emsig den Schutt weg, den draußen Arbeitenden entgegen. [173] Jetzt leitet auch die Platte den Ton, und auf den Ruf: „Lebt Ihr?“ dringt die Menschenstimme aus dem Grabe: „Alle vier und zwanzig.“ Leider verstand der wackere Bruchmeister „vierzehn“, und die Kunde, daß nur vierzehn lebten, lief daher von Munde zu Munde den Schacht empor und hinaus unter Weiber und Kinder, und den erschütterten Gemüthern war es gerade, als könnte Vater, Gatte, Bruder nicht unter den Lebenden sein.

Nicht lange sollte die Ungewißheit dauern. Da drunten dröhnte nun von außen und innen Stoß um Stoß, Schlag um Schlag. Das Blut quoll den wackern Rettern unter den Nageln vor. Sie arbeiteten, um schnell vorwärts zu kommen, einen so niedrigen Stollen aus, daß sie auf dem Bauche liegen mußten; Einer schob dem Andern das Losgerissene zu, daß sie sich fast selbst den Ausgang vermauert hätten.

Wer sollte denen da drinnen zuerst die Hand drücken?!

Jetzt nur einen Augenblick Pause, um Athem zu schöpfen! – Da frug Richter wieder: „Wie steht’s drinnen?“ „Wir sind alle 24 wohl und gesund!“ Da schreien die Leute vor Jubel auf, und der Schrei hallt von da hinaus und kündet ein Wunder, ein hohes Wunder Gottes! Eine Felsenlast von über zweimalhunderttausend Centnern stürzt über 24 Männer herab, begräbt sie 56 Stunden lang lebendig, und keinem wird ein Haar auf dem Scheitel gekrümmt! ! –

Und Weib und Kind hören’s und weinen fort und können’s nicht glauben und zweifeln noch immer.

Und drunten wieder Stoß auf Stoß, rechts und links – jetzt rollt Schutt und Sand und – eine Menschenhand faßt die andere – die sich in Liebe durch Felsen zu einander gearbeitet haben. „Hier sind sie!“ ruft der wackere Winkler, indem er des Verschütteten August Petters Hände faßt – dann herrscht einen Augenblick tiefes Schweigen in den Klüften – denn Retter und Gerettete weinen. – Doch im Nu ist die Bewegung, die die Thätigkeit lähmt, bemeistert. Die Oeffnung wird erweitert und Petters herausgezogen. „Seile herunter!“ ruft Richter, und eine Minute darauf kniet der erste Gerettete, zusammengebrochen, unter Gottes Himmel, den er nie wieder zu sehen gehofft hatte. Ihm folgte der alte Linke und so alle 24 dem Alter nach.

Die große versammelte Menschenmasse, welche die Halden, das Thal und die Nachbarhöhen bedeckte, und deren vorderste Reihen die Angehörigen der Verschütteten bildeten, hatte stumm zugeschaut, wenn einer nach dem andern aus dem Schacht emporgezogen auf der Höhe des Trümmerberges, den niemand besteigen durfte, erschien, und nur hie und da kündete ein heller Aufschrei: „Der Vater! der Bruder! der Sohn!“ daß Kind, Bruder, Mutter oder Vater den Lieben erkannt hatten. Aber als der letzte der 24 gesund und wohl emporgezogen war, da brach das Volk in nicht enden wollenden Jubel aus, und die braven Gensd’armen und Beamten, in deren Augen selbst Thränen glänzten, konnten es nicht hindern, daß der Strom sich nach dem Schuttberge hin ergoß und die von ihren Rettern, halb geführt und halb getragen, herabgeleiteten, matten, glücklichen Verunglückten im Triumphe nach dem breiten Strohlager führte, das in der Eile für sie bereitet war, und wo Aerzte, stärkende Weine und Nahrungsmittel ihrer harrten.

Aber sie aßen nicht und tranken nicht, weinend saßen sie mit gefalteten Händen im Kreise, weinend hingen die Ihrigen an ihnen, weinend umstand sie die erschütterte Menge – – Da hebt plötzlich eine Stimme aus derselben an, den schönen Choral zu singen: Nun danket alle Gott! und grade als habe jede Brust diesen Ausdruck für ihr Empfinden gesucht, lief der Klang auseinander, wie die Welle auf der Fläche des Teiches, Stimmen auf Stimmen gesellten sich hinzu, voller und voller hob sich der Ton zum Himmel, im Thal und auf den Höhen, am Ufer und auf den Halden, auf den Barken und jenseits des Stroms sangen die Menschen aus voller Seele mit. – – Es war ein Gottesdienst, wie ihn größer und schöner nie ein Dom umschloß. – Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, weiter zu schildern, wie die Geretteten sorgsam heim gebracht, verpflegt und gespeist wurden, wie wackere Beamte und ein würdiger Geistlicher den erschütternden Empfindungen, die in allen Herzen lebten, Worte zu leihen suchten, nicht Zweck dieses Aufsatzes, die Verdienste aufzuzählen, die sich Behörden, Gemeinden, der Besitzer des Steinbruchs, hohe und niedere Beamte und viele wackere Privatpersonen durch Eifer, Selbstverleugnung, Muth und Opfer aller Art um das Rettungswerk erwarben, es ist ferner nicht am Platze, auszuführen, wie weit die Mildthätigkeit der Bewohner Sachsens für die Verschüttetgewesenen die Hand öffnete, wie reich man zu Ehrengeschenken für die wackern Retter steuerte, – aber es ist heilige Pflicht für den Augenzeugen, davon Kunde zu geben, wie edel sich die innere Natur des Mannes der Arbeit bei diesem furchtbaren Ereignisse bewährte, mit welchem anspruchlosen Heldenmuthe schlichte Arbeiter fünfzig Stunden lang unablässig mit Todesgefahren rangen, bloß weil Nebenmenschen in Gefahr waren. Hier feuerte den Kämpfer kein Trompetengeschmetter, kein Schlachtgewühl, kein Blick auf Lohn und Ehre an; sie wußten nicht, wer für die Ihren sorgen würde, wenn sie in diesem Kampfe mit Elementargewalten unterliegen sollten; ja nicht einmal, wo sie das tägliche Brod hernehmen würden, während sie retteten – aber sie wußten, was sie als Menschen und Christen zu thun hatten, und – thaten es!

Bessere Kränze, als sie in ihrem schlichten Sinne ahnen mögen, ruhen auf ihren anspruchslosen, von schwerer Arbeit gebeugten Stirnen!




Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung.)

Die Flucht des Königs, die unheilvolle Rückkehr desselben und die Ereignisse, welche sich daran knüpften, hatten dem Grafen den Anlaß geboten, einen Plan auszuführen, dessen Gelingen ihm jetzt, nachdem er die Leidenschaft Ulrich’s für Veronika kennen lernen hatte, einen Ausweg aus der innern Bedrängniß zu zeigen schien, welche mehr und mehr auf ihn einzustürmen begann, denn keine seiner Empfindungen war eine reine und ungebrochene.

Bei aller seiner Leidenschaft für die Marquise, bei der willenlosen Hingebung, mit welcher er ihr Veronika geopfert hatte, und trotz des Zutrauens, welches ihre zur Schau getragene Begeisterung für die königliche Sache ihm einflößte, fehlte ihm jener rechte persönliche Glaube an Franziska, der sein Glück und seinen Frieden in den Händen eines geliebten Weibes wohl aufgehoben weiß. Es kamen doch immer wieder Stunden, in welchen er nicht vergessen konnte, was einst geschehen war, und in welchen er die ganze Stärke seiner Leidenschaft für sie heraufbeschwören mußte, um die Zweifel zu übertäuben, die sich in ihm gegen sie erhoben und ihn dann an sich selbst und an der Berechtigung seines ganzen Thuns irre werden ließen. Er machte sich dann das Unglück Veronika’s zum Vorwurf, er hätte sie lieben, Franziska vergessen mögen, und fand Beides unmöglich. Er konnte sich keine Zukunft für sich ohne Franziska vorstellen, und hatte nicht Härte genug, gleichgültig an das künftige Loos seiner Gattin zu denken, obschon er sich nicht scheute, sie unglücklich zu machen, da sie noch in seinem Hause und in seiner Nähe lebte.

Unentschlossene Menschen halten sich für frei und selbstständig, eben weil sie unentschlossen sind und sich also beständig in der Lage befinden, ihren Entschluß noch fassen zu können; und sie meinen eine Wahl aus innerer Ueberzeugung getroffen zu haben, wenn ein von außen kommender Anlaß sie zum Handeln antreibt. In solcher Lage war es, daß Graf Joseph seiner Schwester schrieb, auf dem Rottenbuel die Zimmer Veronika’s zu ihrem Empfange herrichten zu lassen. Die Zustände in Paris boten einem besorgten Manne Anlaß genug, an die Entfernung seiner Frau zu denken, und der Graf traute es sich zu, von Veronika, die wirklich leidend war, die Einwilligung zu einem Wechsel ihres Aufenthaltes zu erlangen. War sie erst fern von Paris, dann hoffte er Alles sowohl von ihrer Güte, als von ihrem Stolze. Er wußte, daß sie ihn liebte und ihn glücklich zu sehen wünschte, er kannte sie auch darauf, daß es ihr nicht möglich wäre, seine Gattin zu bleiben, wenn [174] er nur einmal das Verlangen ausgesprochen, seine Ehe getrennt zu sehen, und er, aus dessen Herzen Veronika’s starke und ausdauernde Liebe die Marquise nicht hatte verdrängen können, überließ sich der Zuversicht, daß Ulrich’s Liebe Veronika’s Herz gewinnen und daß sie dahin kommen werde, in einer Ehe mit Ulrich das Glück zu finden, das er selbst ihr nicht hatte bereiten können.

Regte sich dann jenes Gefühl der Eifersucht in ihm, mit dem er die Frau, welche er zu lieben geglaubt und die er als sein Weib besessen hatte, sich nicht als die Gattin eines Andern denken konnte, so kämpfte er es nieder, oder bezeichnete sich seine Eifersucht als die Strafe und Buße, welche er zur Sühne für den Irrthum seines Herzens und zur Herstellung und Aufbauung eines allseitigen Friedens und Glückes freiwillig über sich nehmen müsse. Er hatte den vollen Leichtsinn eines durch sein günstiges Loos verwöhnten und darum zu beständigem Selbstbetrug geneigten Menschen.

Sein Schreiben, das bei der damaligen Lage der Dinge nur durch die Vermittelung vertrauter Personen über die Grenze zu bringen war, erreichte die Freifrau erst, als der Sommer sich schon zu seinem Ende neigte, und hätte Veronika daran gedacht, sich der Anordnung ihres Gatten zu fügen, so hätte sie sich bereits auf dem Rottenbuel befinden müssen, ehe des Grafen Brief seiner Schwester zu Händen kam. Indeß wie sehr der Graf auch in Veronika drang, Paris für den Augenblick zu verlassen, in dem einen Pnnkte fand er sie unnachgiebig, da er aus Scheu vor den Erörterungen und Erschütterungen, welche einer solchen Erklärung nothwendig folgen mußten, ihr nicht von seinem Verlangen nach einer Trennung seiner Ehe zu sprechen wagte.

Veronika’s Leben wurde von diesem Zeitpunkte ab also nur noch trauriger. Ulrich, dessen treue Liebe ihr stets ein Trost gewesen, ließ sich nicht mehr sehen, und ihm zu schreiben mußte sie sich versagen. Die Freunde und Gesinnungsgenossen des Grafen, von denen Veronika einst mit so auszeichnender Zuvorkommenheit empfangen worden war, hatten die Theilnahme für sie verloren, weil der Graf selbst sie vernachlässigte und weil man ihr, Dank den Andeutungen der Marquise, zu mißtrauen angefangen hatte. Man wußte, daß der Freiherr von Thuris, ihr Freund und Jugendgenosse, unter den Mitgliedern der National-Versammlung Bekannte und Freunde zählte, und blind wie der Parteihaß es in Zeiten gewisser Krisen immer ist, kostete es Franziska wenig Mühe, das plötzliche Ausbleiben des Freiherrn aus dem gräflichen Hause mit der politischen Unzuverlässigkeit Veronika’s in Verbindung zu bringen, gegen welche ihr Gatte es endlich nöthig gefunden habe, sich zu schützen.

Niemand sprach davon mit dem Grafen. Eine Treulosigkeit seines Weibes wäre in den Augen der Gesellschaft, zu welcher er gehörte, für ihn keine solche Schmach gewesen, als ihre mangelnde Hingebung an die gute Sache und an das königliche Haus, und da man, sonst an Huldigungen und Ehrenauszeichnungen aller Art gewöhnt, jetzt der Beleidigungen und Demüthigungen genug zu tragen hatte, machte man sich ein Vergnügen daraus, diejenige, bei welcher man eine abweichende Gesinnung voraussetzte, die Kränkungen entgelten zu lassen, die man von dem Volke hinnehmen mußte.

So kam es, daß die Gräfin, von den Freunden ihres Mannes nicht gesucht und sie ebenfalls nicht suchend, weil sie mehr oder weniger Freunde und Anhänger der Marquise waren, sich mitten in Paris in einer Einsamkeit befand, die herabdrückend war, weil ihr die Ruhe und der Friede freiwilligen Alleinseins fehlten. Und als endlich die wachsende Gefahr für die Sicherheit der königlichen Familie dem Grafen die Pflicht auferlegte, seine Dienstwohnung in der Kaserne seines Regimentes zu beziehen, um in jedem Augenblicke auf seinem Posten zu sein, herrschte in dem schönen Hotel, in welchem Veronika traurig und verlassen weilte, eine Stille, als befände sie sich in einem Kloster.

Was von außen durch die Zeitungen und durch die Berichte ihrer Leute zu ihr drang, trug dazu bei, ihr die Verlassenheit noch schwerer zu machen, und die Besuche, welche der Graf ihr abstattete, ließen sie nur zu deutlich empfinden, daß er keine Gemeinschaft mehr mit ihr habe, daß ihr kein anderer Antheil mehr an ihm geblieben, als die Angst und die Sorge, mit welcher sie ihn im Geiste begleitete, wenn er von ihr entfernt war. Selbst die Hoffnung auf irgend einen Zufall, welcher eine Aenderung in dem Sinne ihres Gatten erzeugen oder ihr die Gelegenheit geben würde, seine Neigung wieder zu gewinnen, fing an ihr zu entschwinden.

Tag auf Tag, Monat auf Monat waren so dahingeschlichen, der Herbst, der Winter waren vergangen, der Frühling zurückgekehrt und von dem Sommer verdrängt worden, und Veronika hatte die lange Zeit nach Stunden abgezählt und in Gram durchmessen. Aber auch der Frau von Thuris war es in ihrem Schlosse nicht besser ergangen. Sie war stets die Vertraute ihres Sohnes gewesen, seit er selbst sein Herz erkannt hatte, und sie wußte Alles, was in Paris zwischen ihrem Bruder und ihrem Sohne vorgefallen war. Ulrich’s Briefe, der Herzenskummer, welchen sie aus jedem derselben herauslas, auch wenn er sich nicht beklagte und nicht von sich sprach, die Schilderungen, die er ihr von Veronika’s leidendem Zustande machte, und ihres Bruders wiederholtes Verlangen, daß sie die Gräfin bestimmen möge, nach der Schweiz zurückzukehren, ließen der Freifrau endlich keine Ruhe mehr in ihrem Schlosse. Abwarten, Zusehen, Geschehenlassen war nicht in ihrer Art, und sie hatte sich schon seit Jahren den Zwang der schweigenden Zurückhaltung auferlegt. Das war ihr um so schwerer gefallen, als ihre ehrliche und strenge Gewissenhaftigkeit es ihr beständig vorgehalten, daß sie es gewesen sei, welche die Heirath ihres Bruders mit Veronika geplant, daß sie es gewesen, welche die Beiden für einander einzunehmen und zu gewinnen gestrebt, und daß ihr Verlangen, den Stamm der Grafen von Rottenbuel nicht erlöschen zu sehen, mitbestimmend auf den Entschluß ihres Bruders eingewirkt, der, als er von Frankreich gekommen war, im Gefühl seiner Abhängigkeit von Franziska, nur wenig an eine Heirath gedacht hatte.

Wo sie gefehlt, Unheil gestiftet zu haben glaubte, wollte sie auch, so viel an ihr war, herstellen und tragen helfen; vor allen Dingen aber wollte sie bei den Ihren sein, wollte mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören, den Sohn, die Pflegetochter, den Bruder womöglich aus einem Banne erlösen, dessen unselige Folgen vielleicht durch ein zu rechter Zeit gesprochenes Wort noch zu beschwören waren, und wenn Gefahr ihnen drohte, wollte sie sie theilen, statt sie aus quälender Ferne mit verdoppelter Herzensangst für Alles, was sie Geliebtes auf Erden besaß, an jedem Tage zu befürchten.




Die Freifrau hatte sich in der letzten Hälfte des Juli auf den Weg gemacht, aber es war damals nicht leicht, vom Auslande her die französische Grenze zu passiren, und schwerer noch, nach Paris zu gelangen, wenn man einen aristokratischen Namen trug. Conradine hatte sich also entschlossen, in ihrem Passe auf denselben zu verzichten. Ihr Kammerdiener, der artig in Holz zu schneiden verstand, hatte den Paß für sich und eine kranke Schwester ausstellen lassen, welche in Paris einen Arzt berathen sollte, während er die Holzwaaren, die man aufgekauft hatte, an den Mann zu bringen suchte.

Auf weiten Umwegen, nach beschwerlicher Reise langte die Freifrau auf diese Weise in ihrem bescheidenen, mit Kisten bepackten Wagen, den stolzen Kopf in der weißen Dormense der Bürgerfrau verhüllt, vor den Thoren von Paris an, das sie seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Es war der achte August des Jahres siebzehnhundert zweiundneunzig. Die Sonne war schon untergegangen, aber es war noch nicht Nacht. Der Tag war heiß gewesen, es regte sich kein Windhauch; ein schwerer Dunst erfüllte die ganze Luft und hüllte die Stadt in ein dumpfes, fahles Grau ein.

Auf dem Wachtposten am Thore ging es unruhig her. Männer in Trachten, die einen militärischen Anstrich halten und doch nicht irgend einer Uniform des französischen Heeres angehörten, saßen zwischen den Soldaten, welche den Posten besetzt hielten. Es war ein Trupp von den siebenhundert Föderirten, die einige Tage vorher von Marseille nach der Hauptstadt gekommen waren, und das Erste, was die Freifrau in Paris vernahm, war ein freches Spottlied auf die Königin.

Je weiter sie in die Stadt hineinfuhr, um so mehr fiel ihr die Veränderung auf, welche sich in derselben vollzogen hatte. Sie kannte die Straßen, es waren die alten Wege und die alten Häuser, aber ihre Bevölkerung schien nicht mehr dieselbe zu sein. Nationalgarden mit der blau und rothen Kokarde von Paris, pikenbewaffnete Männer und dazwischen die kleinen, braunen, stets lärmenden südfranzösischen Föderirten, Weiber und Männer aus dem Volke, welche sonst am Wochentage ihre Werkstätte in den entlegenen Vorstädten nichr zu verlassen pflegten, trieben sich in müßiger Unruhe auf den Boulevards umher und waren, als die Freifrau [175] den Platz Ludwig’s des Fünfzehnten passirte, um sich nach der im Faubourg St. Germain belegenen Wohnung ihres Sohnes zu begeben, auf dem Platze in großer Anzahl und in aufgeregter Stimmung versammelt.

An einer Stelle, an welcher ihr Wagen halten mußte, weil man in dem Gewühle sein Herankommen nicht beachtet hatte, bog Conradine sich heraus, um zu erfahren, was sich da begeben.

„Was geht hier vor?“ fragte sie den Nächststehenden, einen Mann in guter bürgerlicher Kleidung. Er sah sie verwundert an. „Woher kommen Sie, Madame,“ entgegnete er, „daß Sie nicht wissen, was heute geschehen ist? Sie haben Lafayette, den Verräther, freigesprochen, und es ist Zeit, daß man solchen Freisprechungen ein Ende macht!“

Ulrich war nicht zu Hause, als seine Mutter bei ihm anlangte. Er hatte den Brief nicht erhalten, in welchem sie ihm ihre Absicht, nach Paris zu kommen, mitgetheilt, es war also keine Vorkehrung irgend einer Art für sie getroffen worden. Nur der alte Diener, welcher Ulrich begleitet hatte, seit er zuerst auf Reisen gegangen, empfing seine Herrin; aber er wußte weder zu sagen, wohin sich Ulrich begeben, noch wann er wiederkehren würde. Auf Conradinens Frage, ob der Junker wohl sei, antwortete der Diener bejahend, indeß er fügte achselzuckend hinzu: „So wohl, als Einer es hier bleiben kann, wo Alles drunter und drüber geht. Unser Junker ist auch nicht mehr derselbe. Er hat keine Ruhe mehr. Bald ist er hier, bald dort. In der letzten Woche ist er ein paar Mal mitten in der Nacht noch aufgestanden und fortgegangen, wenn es unruhig in den Straßen war. Heute ist der Junker seit dem frühen Morgen nicht nach Hause gekommen und, gnädige Frau verzeihen, daß ich dies sage, zu ihren gräflichen Gnaden dem Herrn Onkel und der Frau Tante ist er seit Jahr und Tag nicht mehr gegangen! Die gnädige Frau werden auch finden, daß unser Junker nicht mehr seine rothen Backen und seine hellen Augen hat, wie sonst!“

Erst nach Mitternacht kehrte Ulrich heim, und seine Mutter mußte sich überzeugen, daß der alte Diener wahr gesprochen. Ulrich war sehr verändert. Seine Gestalt war noch fester und männlicher, aber sein Antlitz war schwermüthig geworden, seine Wangen waren bleich und in seinen Augen leuchtete eine dunkle Gluth, die sich hier und da unter den schmerzlich und müde herabsinkenden Lidern verbarg. Es war unverkennbar, daß er viel gelitten, und daß ihm neben der Ruhe der Seele auch körperlich die nöthige Ruhe gefehlt hatte.

Sie hatten viel mit einander zu sprechen, die Mutter und der Sohn, und der Morgen dämmerte herauf, als die Freifrau sich ermüdet für eine Stunde auf des Sohnes Lager legte, der in einem Sessel an ihrer Seite ruhte. Er nannte es den ersten erquickenden Schlaf, den er seit lange genossen hatte, als er, von der Helle des Tages erweckt, mit erleichtertem Herzen in das ernste, klare Auge seiner Mutter schaute.

Als Couradine am Arme ihres Sohnes die Straße betrat, um sich zu Fuß nach dem Hotel ihres Bruders zu begeben, fanden sie es auf ihrem Wege ruhig. Die Stadt war stiller als seit langer Zeit. Wie ein Löwe, ehe er sich zu gewaltigem Sprunge entschließt, einen Schritt zurückweicht und, Kraft zum Ansatz sammelnd, schweigend daliegt, so ruhte die Volksmasse von Paris am Morgen des neunten August.

Man wußte, was in der gesetzgebenden Versammlung vorging, man kannte den Bericht im Voraus, welchen der Maire von Paris an dem Tage verlesen lassen würde, denn die Insurrection, vor der er warnen zu wollen schien, war bereits eine beschlossene Sache. Die Minister verlangten in der Versammlung den Schutz derselben für den König, und in dem Club der Cordeliers, in welchem die Marseiller Conföderirten sich befanden, beschuldigte Danton Ludwig den Sechszehnten, daß er eben an diesem Tag und in dieser Nacht die Hauptstadt mit Feuer und Schwert zum Gehorsam und in seine Gewalt zu bringen beabsichtige. Er erinnerte daran, daß die fremden Alliirten in ihren Manifesten geschworen, in Paris keinen Stein auf dem andern zu lassen; und der Vorsatz des Volkes, keinen Stein des Tuilerien-Schlosses auf dem andern zu lassen, war die Folge jener Rede. Jedermann wußte es, Jeder mußte sich es sagen, man stand vor einer schweren Entscheidung, vor dem Beginn des furchtbaren letzten Kampfes, es handelte sich um Erhaltung oder Untergang der Monarchie. Und neben diesem die Welt bewegenden Vorgänge, um welche Gefahr und welche Verluste hatte der Einzelne sich zu sorgen!

Als die Freifrau in dem Hotel des Grafen erschien, fand sie Veronika nicht zu Hause. Ihre Unruhe hatte sie angetrieben, nach dem Schlosse zu fahren, wo die Schweizergarde ihren Dienst that. Die Oberofficiere kamen schon seit Tagen kaum zur Ruhe, denn man hatte eine Abtheilung der Schweizer in die Normandie geschickt und sie nicht zurückberufen, weil die gesetzgebende Versammlung überhaupt die Entfernung der Schweizer gefordert hatte. Es waren ihrer also kaum noch tausend in Paris, der Haß der ganzen Bevölkerung war gegen sie gerichtet, und der Graf war bereits seit mehreren Tagen nicht in seinem Hause gewesen. Die wiederholten Aufläufe hatten ihn in den Tuilerien festgehalten. Jede Stunde konnte einen Kampf bringen, konnte unter den obwaltenden Verhältnissen die letzte für ihn werden, und Veronika’s ganze Seele war darauf gestellt, ihn zu sehen, ihn zu sprechen. Indeß die Posten im äußeren Umkreis des Schlosses waren nicht von den Schweizern, sondern von den Nationalgarden besetzt, und nach allen ihren vergeblichen Versuchen, Einlaß in das Schloß zu erhalten, kehrte die Gräfin, ohne ihren Zweck erreicht zu haben, in ihr Hotel zurück.

Bleich, erschöpft, im Innersten verzagt, so trat sie in ihr Zimmer und mit einem Aufschrei, der das ganze Elend ihres Herzens offenbarte, sank sie, als sie die Freifrau so unerwartet vor sich sah, der Freundin, der Schwester ihres Gatten in die Arme.

Daß Ulrich, der sie so lange gemieden, jetzt wieder in ihr Haus gekommen war, schien ihr nicht aufzufallen. Sie hatte nur einen Gedanken, die Gefahr, welche dem Grafen drohte, nur ein Verlangen – Kunde zu erhalten von dem, was in der Stadt geschah, was für ihn zu fürchten war.

Ulrich ging und kam. Er vergaß sich selbst, vergaß die zornige Abneigung, welche er gegen den Grafen hegte, es war kein Tag, an welchem ein Mann wie er an sich selber denken konnte. Spät am Abende klopfte es an das äußere Thor des Hotels. Veronika sprang empor, es war der Graf, sie kannte seine Art und Weise. Das Aussprechen ihres lang verhaltenen Grames, die vertrauten Unterredungen mit der Freifrau hatten das Herz der Gräfin aufgeregt, die Erinnerung an die Lage des Glückes, welche sie als Braut und als Neuvermählte unter Conradinens Augen verlebt, hatte ihr wieder auf’s Neue das volle Bewußtsein ihrer großen Liebe für den Grafen gegeben, und als ob Nichts sie getrennt hätte alle diese Jahre her, so eilte sie ihm entgegen.

„O, Gott Lob, daß Du da bist, daß Du lebst!“ rief sie aus, da er in die Halle eintrat, und warf sich ihm an die Brust.

Der Graf schloß sie in seine Arme, das war lange nicht geschehen. „Armes Weib!“ sagte er, „Du freust Dich, daß ich lebe, und ich habe Dir doch keine Freuden gebracht!“

Er war erhitzt von raschem Gange, und eine tiefe Schwermuth umhüllte sein Gesicht; aber Veronika bemerkte das kaum. Der Ton der Güte, welcher von seinen Lippen erklang, die Worte, welche er zu ihr sprach, nahmen ihren ganzen Sinn gefangen, und die Hoffnung, daß jener Augenblick der Herzenswandlung gekommen sei, auf den sie sich in den Zeiten ihres bittersten Schmerzes doch noch oft vertröstet hatte, der Gedanke, daß die Stunde der Gefahr ihn in sein Inneres habe blicken lassen, und daß er erkannt habe, was er an der Liebe seiner Gattin besitze, schwellte ihre Seele mit Freude und Zuversicht.

„Komm! komm!“ rief sie, indem sie ihn mit zärtlicher Hast nach dem Saale leitete, in welchem die Freifrau und deren Sohn sich aufhielten, „komm und sieh es selber, wie in guter Stunde uns alles Gute wiederkehrt.“

Die Thüren waren offen geblieben, als Veronika dem Grafen entgegengeeilt war, und mit den nächsten Schritten vorwärts sah der Graf seine Schwester und seinen Neffen vor sich. Seine Wange erbleichte, als er sie gewahrte, er war seiner eigenen Empfindungen nicht sicher, in so raschem Wechsel lösten sie einander ab; indeß er faßte sich gewaltsam, und Beiden, der Freifrau und Ulrich, die Hände reichend, sprach er: „Ihr seid, wie Freunde in der Noth, zu rechter Zeit, gekommen!“

(Fortsetzung folgt.)
[176]
Blätter und Blüthen.


Der Heiligenschein. Diese Bezeichnung wird hauptsächlich von den Malern gebraucht und zwar von denen, welche sich in der geschichtlichen Abtheilung der Kunst mit Darstellungen aus dem Leben der Kirchengründer und Heiligen befassen. Aber nicht von diesen tellerartigen gemalten Heiligenscheinen wollen wir heute unsern Lesern erzählen, sondern von solchen, mit welchen die Natur das menschliche Haupt umgiebt, von Erscheinungen, welche herrlicher und geistiger sind, als alle Kunststücke des Malerpinsels, welche dem Elmsfeuer vergleichstun wären, wenn dieses sich je um ein menschliches Haupt geschlungen hätte. Ich muß jedoch vorbemerken, daß diese Erscheinung nicht an der menschlichen Gestalt selber, sondern nur an deren Schatten zu entdecken ist. Möge der Leser sich in der Morgenfrühe nach einer thauigen Nacht hinaus auf die Wiese begeben, wo der Thau noch an den Spitzen der Grasblättchen hängt. Am besten geschieht dieses im Frühlinge, wo die Grasblättchen noch kurz sind, oder im Herbste, wo die abgeschorenen Halme wieder sprießen, wo die Blättchen also eine ziemlich ebene Fläche darbieten. Der Beobachter hat in dieser Zeit auch nicht so frühe aufzustehen, um den Thau noch frisch im Morgenlichte auf den Gräsern spielen zu sehen. Je schärfer nun der Schatten des Wanderers sich auf dem Rasen abhebt, je schärfer und kräftiger wird er den Heiligenschein um sein Haupt, d. h. um seines Hauptes Schatten erglänzen sehen. Wenn Hunderte von Beobachtern auf der Wiese ständen, so wird jeder die demantfunkelnde Strahlenkrone beobachten können, welche ihn unter die Heiligen emporhebt. Dabei findet leider die Erscheinung jedesmal statt, welche bei manchen kirchlichen Heiligen wohl auch vorzukommen pflegt, daß Jedermann nur seinen eigenen Heiligenschein bemerken, den der andern, selbst seiner nächsten Nachbarn, aber nicht entdecken kann.

Die genannte Erscheinung kann nur im ersten Augenblicke überraschen. Wenn der Leser sich in dem Morgensonnenscheine auf die Wiese stellt und dabei sein Angesicht dem Schatten zuwendet, fällt sein Blick, wenn er nach dem Schattenhaupte sieht, gleichlaufend mit den Sonnenstrahlen. Seine Blicke ruhen daher senkrecht auf dem Flecke der Thautröpfchen, welche seinen Hauptschatten zunächst umgeben, mithin funkeln diese um so greller und feuriger, abgesehen davon, daß sie noch durch das Dunkel des Schattens um so mehr hervorgehoben werden. Je weiter die Tröpfchen von dem Rande des Schattens abstehen, desto geringer erscheint dem Auge der erleuchtete Fleck, weil das Auge ihn nur unter einem Winkel erfassen kann. In der Entfernung von einem Fuß bis zu achtzehn Zollen kann man aber diesen glänzenden Fleck nicht mehr gewahren, das Auge trifft also dann nur das frische Grün der bethauten Wiese.

Der Heiligenschein des Schattens bietet auf diese Weise eine prächtige Lichtwirkung dar, welche von dem höchsten dem Auge noch wohlthuenden Glanze sich ohne merkliche Abstufungen bis zum leisesten Schimmer verwäscht und in diesem auf dem grünen Rasen verschwindet. Kein Maler wird im Stande sein, dieses so lebendige und doch so zarte Lichtgefunkel durch seine Kunst wieder zu geben, und der, welchem es gelänge, den Strahlenkranz von seines Hauptes Schatten auf sein Haupt zu bringen und in dieser Zierde von Allen gesehen umherzuschreiten, würde als Meerwunder angestaunt werden. Dennoch mag ein großer Theil der gebildeten Welt diese Erscheinung, die man beobachten muß, um sich einen Begriff von ihr zu machen, noch niemals erblickt haben, eine Lichterscheinung, die unseres Wissens noch in keinem Handbuche der Naturwissenschaften verzeichnet steht, obschon sie beinahe jedem Menschen täglich mehr oder minder prächtig geboten wird.

Wir würden uns für die geringe Mühe der Darstellung genugsam belohnt finden, wenn der eine oder andere Leser dieser Zeilen sich einmal an einem schönen Morgen früher dem Lager enthöbe, sich hinaus machte und sein byzantinisch ausgestattetes Schattenbild auf dem frischbethaueten Grase beobachtete. Wir dürfen auf seine Anerkennung, auf seinen Dank rechnen! –

W. v. W.





Eine Schlangen-Pyramide. Ein Reisender in Südamerika war Zeuge eines sehr seltenen, scheußlichen Schauspiels. Derselbe reiste in den Savannen von Izacubo in Guyana. Die Reisegesellschaft bestand aus zehn Personen zu Pferde, von denen zwei Schwarze voraus ritten. Einer derselben kam in vollem Galopp zurück und rief: „Herr, kommen Sie und sehen Sie die Schlangen alle auf einem Häufen.“ Dabei zeigte er auf eine Masse in einer sumpfigen Stelle der Savanne, die wie eine Waffenpyramide aussah. Einer der Gefährten des Reisenden rief: „Das ist sicherlich eine der großen Schlangenversammlungen, die nach einem Sturm stattfinden, von denen ich oftmals gehört, sie aber niemals gesehen habe. Kommt, wir wollen vorsichtig näher reiten.“ Die Reisenden blieben in einer Entfernung von zwanzig Schritt, da es unmöglich war, die entsetzten Pferde näher heran zu bringen. Plötzlich kam Leben in die Pyramide, und schreckliches Zischen tönte daraus hervor. Tausende von Schlangen, spiralförmig um einander geringelt, streckten aus diesen, gräßlichen Häufen ihre Köpfe hervor und zeigten ihre furchtbaren Fangzähne und feurigen Augen. Der Reisende hatte große Lust umzukehren, aber als er sah, daß der Haufen beisammen blieb und mehr zur Vertheidigung als zum Angriff geneigt schien, ritt er rings herum, um die Schlachtordnung der Schlangen zu recognosciren, die dem Feind von allen Seiten Front bot. Vermuthlich fürchtete diese Schlangenart irgend einen Feind, vielleicht eine große Schlange oder einen Kaiman, und vereinigte sich, um diesem Feind in Masse besser widerstehen zu können. Ein solches Schauspiel ist noch niemals von einem Reisenden berichtet worden.





Erinnerung an Ollmütz. Nach der ersten Zusammenkunft, welche Kaiser Franz Joseph mit dem Kaiser Nikolaus nach der Bewältigung der ungarischen Revolution in jener Stadt hatte, machte der österreichische Kaiser dem russischen die Schmeichelei, daß er, beim Hinausgehen aus dem Berathungssaal auf eine Statue Sobiesky’s deutend, sagte: „Da steht der erste Retter Oesterreichs, und Ew. Majestät sind der zweite.“ Nikolaus strich das Compliment als gebührende Huldigung ein und wurde so fest von der Unterwürfigkeit Oesterreichs überzeugt, daß er vor dem Beginn des Krieges gegen die Türkei im Jahre 1853 dem englischen Gesandten versicherte, Oesterreich wolle dasselbe, was Rußland beabsichtige. Graf Buol-Schauenstein suchte in dieser Zeit jedoch das Vermächtnis Schwarzenberg’s dahin zu erfüllen, „daß die Welt noch einmal über Oesterreichs Undank erstaunen solle“. Das Wiener Cabinet gab die heilige Allianz für das Bündnis mit den Westmächten preis. Als zu dieser Zeit Nikolaus den vergeblichen Versuch gemacht hatte, den Kaiser Franz Joseph zu bekehren, sagte er zu ihm in demselben Saale des Rathhauses von Ollmütz, wo er die obige Schmeichelei entgegen genommen hatte, beim Weggehen vor der Statue Sobiesky’s: „Da steht der erste Narr Europa’s, und ich bin der zweite.“






Ein Wort für Wilhelm Bauer
um Unterstützung seines „deutschen Taucherwerks“ zum Heben und Bergen untergegangener Schiffe und Güter.

Mit Beziehung auf zwei Artikel der „Gartenlaube“ („Ein deutscher Erfinder“ und „Die unterseeischen Kameele“), welche dem deutschen Volke das Schicksal eines Mannes aus dem Volke an das Herz legten, der durch eigene Kraft sich aus niederer Lebensstellung zu höherem Streben empor gearbeitet und nun seit Jahren vergeblich gerungen hat, seine Erfindungen zu praktischer Geltung und Wirksamkeit zu bringen; – und in Berücksichtigung, daß die vielen freiwilligen Gaben, welche seitdem bei der Redaction der Gartenlaube für Herrn W. Bauer eingegangen sind, zu der Hoffnung berechtigen, daß die nun einmal für ihn und seine Erfindung so erfreulich erregte Theilnahme eine gründliche Aushülfe für beide gewähren könne, – haben die Unterzeichneten sich zu einem Central-Comité vereinigt, welches sich der geschäftlichen Ordnung und Leitung der Gabensammlungen für Herrn W. Bauer unterziehen und Sorge dafür tragen will, daß die eingehende Gesammtsumme zur Erprobung und Nutzbarmachung der oben genannten Erfindung verwendet werde.

Dafür, daß auch diese Erfindung Bauer’s „auf richtigen Principien beruht und ausführbar ist“, sprechen sämmtliche uns vorgelegte Gutachten und Zeugnisse technischer Commissionen und wissenschaftlicher Akademien und ebenso mehrere hiesige Autoritäten der Wissenschaft, deren Urtheil wir, als nicht Fachmänner auf diesem Gebiete, einzuholen für unsere Pflicht hielten.

Gilt es allerdings zunächst erst durch Versuche im Großen zu erproben, bis zu welchem Grade die Kraftentfaltung der Bauer’schen Apparate möglich sei, so sind dies doch eben Versuche in einer wahrhaft großartigen Sache. Es liegt der Nation eine Erfindung vor, die, wenn sie sich bewährt, von einer noch gar nicht zu bemessenden Wichtigkeit ist. Sollte für die Erprobung einer solchen Erfindung die Summe von 12,000 Thalern aus den Taschen des gesammten deutschen Volks zu viel gewagt heißen? Sollten wir ein Unrecht an der Nation begehen, wenn wir ihre Unterstützung für einen Versuch begehren, der, wenn er mißlingt, ihr weder zum Schaden noch zur Schande gereicht, wenn er aber glückt, eine neue Ehre ihres Namens ist?

Wir glauben dies nicht, ja, wir sind vom Gegentheil so fest überzeugt, daß wir mit gutem Gewissen diesen Aufruf für W. Bauer und sein Werk erlassen.

Wir bitten hiermit alle Redactionen deutscher Zeitungen und Zeitschriften, dieses „Wort für W. Bauer“ unentgeltlich in ihre Blätter aufzunehmen und sich der Gabensammlung anzuschließen, oder wenigstens ihren Lesern darüber zu berichten. Möge in jeder Stadt, in jedem Ort, wo dieses an die Vorstände von Kunst- und Gewerb-, Arbeiter- und Bürger-Vereinen und an alle Gesellschaften, welche, im rechten Geiste unserer aufsteigenden Zeit, nur in der gemeinsamen Unterstützung alles edlen Vorwärtsstrebens den höchsten Genuß der Geselligkeit finden. Wo die Gaben kleiner Orte zu gering sein sollten für eine Postsendung, da mögen mehrere Orte die ihrigen dazu vereinen. Auch dient es zum Vortheil des Unternehmens, wenn alle Einsendungen frankirt geschehen, weil unfrankirte Sendungen nur das Porto vertheuern. Sämmtliche Beiträge adressire man an die Redaction der Gartenlaube mit der besondern Bemerkung „für W. Bauer’s deutsches Taucherwerk“.

     Somit senden wir unseren Gruß nach allen Seiten in’s liebe Vaterland und stehen zum Empfang der Gaben zum obigen Zweck hiermit bereit.

          Leipzig, den 28. Februar 1862.

               Das Central-Comité für W. Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“.

                    Dr. Heyner. Adv. Dr. Georgi. Dr. Fr. Hofmann. Ernst Keil.