Die Gartenlaube (1862)/Heft 1
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No. 1. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Thränen der Rose.
Willst Du im Blumenschmuck der Au’n
Des Frühlings Bild, das schönste, schau’n,
O, wolle zu der Rose gehn,
Wenn ihr im Aug’ die Thränen stehn.
Sie kennt auch Deine Himmelsfreud’,
Und sie, der Blumen schönste Zier,
Theilt gerne Leid und Freud’ mit Dir.
Sieh’ dorten unterm Lindenbaum
Davor, allein mit seinem Schmerz,
Ein gramgebrochen Mutterherz.
Die bleiche Mutter, ganz verarmt,
Sie hält das kleine Grab umarmt,
Hat man versenkt ihr einzig Kind.
Der Abend thaut aus Himmelshöh’n –
Rings blühn die Rosen wunderschön –
Wie sie den Schmerz der Mutter sehn –
Des Vaterlandes schönster Tag –!
O Gott, wer ihn erleben mag!
Der alte Traum seit tausend Jahr
Ist Wahrheit worden golden klar;
Begrüßt zum allerersten Mal
Vom Nordmeer bis zur Alpenwand,
Vom Elsaß bis zum Dünastrand
Ein freies deutsches Vaterland;
Im ganzen Reiche fallen ein –
Es ist ein Morgen, dessen Freuden
Im Himmel Gottes Engel neiden,
Es ist ein Morgen, eine Pracht
Daß das urältste Herze lacht
Und allen Rosen wunderschön
Vor Freuden die Thränen im Auge stehn.
Der Letzte seines Stammes.
Es ist, seit die Dampfwagen und Dampfschiffe die Welt durchsausen, eine ganz neue Art des Reisens unter die Menschen gekommen. Sie sind aus Maßlosigkeit sehr genügsam geworden. Sie sehen das Meer, die Gebirge, die Flüsse, die ausgedehnten Eisenbahnlinien, auf denen die lange Reihe der Wagen sich wie eine geflügelte Riesenschlange dahin bewegt, sie sehen breite Landstraßen, große Städte mit hervorragenden Monumenten, Gebäuden und Gasthöfen, und kleinere Städte und Dörfer mit etwas kleineren Gasthöfen, aber sie sehen das Alles nur wie aus der Vogelperspective. Sie behalten die Physiognomie eines Mitreisenden im Gedächtnisse, dessen Namen sie nicht wissen, lernen den Namen eines Andern kennen, von dem sie nicht viel mehr als eben den Namen erfahren, sie kennen die Einrichtung, die Preise, die Wirthe und Kellner in den Hotels, sie haben verschiedene Kirchen und Gallerien durchlaufen, verschiedene Berge und Thürme erklettert, und ist dann die Reise zurückgelegt, so haben sie Nichts gewonnen, als eine Reihe von äußeren Anschauungen und von Vorstellungen, welche sie sich vollkommen eben so gut und weit weniger beschwerlich und kostspielig in einem Panorama und durch eine illustrirte Zeitung hätten aneignen können. Sie bringen es zu
[2] einer Gesammtanschauung, wie das Geographiebuch sie dem Schüler giebt, zu einigen Privatansichten, die zum großen Theile falsch sind, und der eigentliche Zweck des Reisens, ja sein eigentlicher Genuß, das Heimischwerden in Zuständen, welche von den unseren verschieden sind, das Herantreten des Menschen an den Menschen, das allein die Ferne belebt und das Dunkel aufhellt, in welches sie sich sonst für uns verbirgt, das geht ihnen verloren ein für allemal. Tausende und Tausende reisen alljährlich nach der Schweiz, aber was wissen die Meisten bei ihrer Heimkehr von dem Lande und von seinen Bewohnern?
Sie kennen von Ansehen die grünen Matten, auf welchen die Heerden weiden, und die Sennhütten des Hochgebirges, in denen der Käse bereitet wird. Sie kennen ebenso von Ansehen die gewerbfleißigen Städte, auf deren Wiesen die feuerrothen Schweizerkattune die Sonnenprobe bestehen, und sie sind durch Dörfer gefahren und haben in Häuser hineingesehen, hinter deren kleinen Fenstern der Webestuhl des Seidenwirkers klapperte oder die kunstgeübte Hand der Näherin auf dem Tambourinrahmen die Gardinen für die Prachtsäle der Königsschlösser stickte. Vor den schönen Kunstschnitzereien der großen Interlakener Magazine, vor den Schaufenstern der Uhren- und Goldwaarenfabriken von Genf haben sie eine Weile stille gestanden und sie wissen somit, daß die Schweizer ein Volk von fleißigen Bürgern sind, die Ackerbau und Industrie treiben. Man hat ihnen gesagt, daß in Basel ein sehr reicher, geldstolzer und zum Theil pietistischer Kaufmannsstand existirt, daß die südliche Schweiz einen lebhaften Handelsverkehr mit Italien treibt, und wenn sie etwa das Rheinthal hinauf fahren und ihnen auf beiden Seiten des Weges von den steilsten Felshöhen die Trümmer der Ritterburgen und tiefer hinab die zum Theil noch bewohnten Schlösser der alten Geschlechter in die Augen fallen, so stört sie das in ihrem erlernten Urtheil über das Land und seine Bewohner nicht sonderlich. Sie fragen sich nicht, woher diese Schlösser einer alten Aristokratie in der republikanischen Schweiz, sondern sie rechnen die Ruinen als zur Decoration des Weges gehörend, und sie haben ja auch schon am deutschen Rheine eben solche Burgen gesehen. Was denn aus all den alten Adelsgeschlechtern in der freien republikanischen Schweiz geworden ist, darauf lassen sie sich nicht ein, denn dazu haben sie auf der Reise, die sie ja zu ihrem Vergnügen machen, keine Zeit.
Wer aber etwas mehr Zeit hat, und wer ein anderes Vergnügen von der Reise erwartet, als das möglichst schnelle Durchziehen möglichst weiter Strecken, dem muß es, wenn er vom Bodensee aufwärts durch das Glarner Land nach Graubünden geht, sich auffallend darthun, wie mit dem sanften, lieblichen Charakter der Gegend sich auch die Gestalten und Physiognomien seiner Bewohner ändern, und welch eine Verschiedenheit den blonden Schweizer von St. Gallen und Glarus von dem dunkelhaarigen, schlanken und doch so kraftvollen Schweizer aus Graubünden trennt, über dessen Flecken und Dörfer sich die eisgekrönten Hochgebirge erheben, und in dessen Felsenthäler einzudringen und sich festzusetzen, einst den Beherrschern der Welt, den Römern, eine so schwere Aufgabe gewesen ist.
Noch steht er da, der hohe viereckige Römerthurm mit seinen altersgeschwärzten Quadern, der Ueberrest der alten Curia Rhaetorum, welche einst die kriegerischen Rhätier im Zaum halten sollte. Noch nennt das Volk von Chur, der Hauptstadt des Bündner Landes, diesen Thurm den Spinöl, die spina in oculis, den Dorn im Auge des Volkes, und wie der Zeuge jener grauen Vorzeit noch von der Höhe auf die Hauptstadt des Bündner Landes, auf Chur, hinabschaut, so ist auch das Blut der alten Rhätier noch nicht in den Adern des Volkes versiecht, denn noch heute sind die Bündner ein kriegslustiger und beharrlich ausdauernder Volksstamm.
Wenn schon die Zeiten lange vorüber sind, in welchen die alten Rhätier ihr Land mit wilder Energie gegen das Eindringen der Römer vertheidigten, und den Raubrittern, welche hier im Mittelalter eine furchtbare Tyrannei geübt haben müssen, ihr Gewerbe längst gelegt ist, so schickten doch die alten Geschlechter, die Toggenburg, die Buel, die Liechtenstein, die Salis, die Travens und viele andere, ihre Söhne immer noch in das Ausland, um sie zu Söldnern irgend einer Gewaltherrschaft zu machen und sie das heiße Blut in fremder Sache abkühlen zu lassen. Ein Theil der alten Bündner Geschlechter, der den deutschen Fürsten gedient hatte, setzte sich in Deutschland fest und half die deutsche Adelsaristokratie verstärken; ein anderer Theil aber blieb im Lande, stieg, durch den Wandel der politischen Ereignisse und durch die veränderten Lebensbedingungen gezwungen, aus seinen einsamen Burgen, aus seinen Wäldern und von seinen Felsen in die Thäler und in die Städte hinab, um nach dem Anschluß des Graubündner Landes an die Eidgenossenschaft unter den freien Bürgern der freien Schweiz wenigstens äußerlich ein bürgerliches Leben zu führen.
Trotzdem sind die Spuren der einstigen Adelsherrschaft noch in dem ganzen Bündnerlande sichtbar. Im Rheinthal und an der Via Mala, im Prätigau, im Domleschthal, im Engadin und an den Quellen des Inn, im Bergagliathal und hinab bis zu den italienischen Seen liegen sie weit verstreut, die zahlreichen Schlösser des Adels mit ihren Thürmen und mit ihren mauerumgebenen Gärten, und selbst in Chur und in seiner nächsten Umgebung sprechen die Stadtwohnungen des Adels, die Häuser mit der alten steinernen Wappenzier auch heute noch von dem Reichthum, welchen die Geschlechter einst besessen, als sie noch das Veltlin beherrschten und, römischen Proconsuln gleich, das Land aussogen, das sie erobert hatten.
Ein Zufall hatte uns in Chur zu Bewohnern eines solchen alten adligen Herrenhauses gemacht. Es war von außen eben nicht mehr viel Besonderes daran zu sehen. Unterhalb des Berges, welcher den Dom, den Bischofssitz, das Seminar und das Cantonsgymnasium trägt, war es in einem Garten am Rande der Plessur, des wild rauschenden Bergwassers, gelegen, das, hier aus engem Felsenthale hervorbrechend, sich später in den Rhein ergießt. Hohe Pappeln bezeichneten stattlich des Gartens Eingang, und der räumige Flur, die steinerne breite Treppe im Innern des Hauses, die schönen sich aneinanderreihenden Zimmer der drei Stockwerke mußten selbst einer zahlreichen Familie eine angemessene Wohnung dargeboten haben, als die Grafen von Rottenbuel das Haus noch inne hatten.
Jetzt waren die Grafen von Rottenbuel ausgestorben. Ihre Erben, die Herren von Rottenbuel, besaßen das Haus. Die einzelnen Stockwerke waren schon seit geraumer Zeit an verschiedene Familien vermiethet, und die nicht eben vermögenden Eigenthümer nahmen nur eines derselben in Beschlag. Wenn ihnen aber auch der alte, einstige Reichthum nicht mehr geblieben war, und wenn das im Jahre 1848 im Canton Graubünden erlassene Gesetz ihnen auch das letzte Vorrecht ihres Standes, die Erwähnung ihres Adels in öffentlichen Verhandlungen und Documenten, genommen hatte, so war ihnen doch noch die schöne und würdige Gestalt ihres Geschlechtes als ein letzter und großer Vorzug zu eigen geblieben. Der Typus der Köpfe war noch derselbe, welchen die Ahnenbilder des Hauses aufzeigten, und die Herren von Rottenbuel fühlten sich noch als Bevorzugte und Vornehme, obgleich einzelne Glieder der Familie, gegen die frühere Sitte des Geschlechtes, in bürgerliche Gewerbe überzutreten und Handel und Industrie zu treiben begonnen hatten.
Bei meiner Vorliebe für alles Physiognomische hatte ich mir oftmals die Bilder betrachtet, welche in der Wohnung unserer Gastfreunde und selbst auf den Fluren und Treppenwänden umherhingen, weil die Zimmer sie nicht alle zu fassen vermochten. Ich hatte sie mir dadurch fest in das Gedächtniß eingeprägt. Es waren zum Theil sehr schöne Köpfe, sowohl die der Männer als die der Frauen, und sie waren, namentlich die aus dem fünfzehnten und achtzehnten Jahrhundert, auch von guten Meistern gemalt. Der Zug der Familienähnlichkeit ließ sich durch das ganze Geschlecht hindurch verfolgen. Das dunkle Haar, die breite Stirne über den großen, weitgeöffneten Augen, die starke gradlinig vorspringende Nase und das feste rhätische Kinn mit dem kräftig geschnittenen Munde und den stolz geschwellten Lippen war fast Allen gemeinsam. Nur der Kopf des letzten Grafen von Rottenbuel, welcher nach der Inschrift, die keinem der Bilder fehlte, zu Paris im Jahre 1757 geboren war, wich von dem Familientypus ab.
Das Bild zeigte einen schönen, etwa dreißigjährigen Mann in der Uniform der französischen Schweizergarden und war ebenfalls gut gemalt. Die Grundformen des Kopfes waren freilich die des ganzen Geschlechtes, nur kleiner und weniger scharf ausgeprägt, aber der Graf war blond, und der Ausdruck der großen dunkelblauen Augen und die feinen Züge um die weichen Lippen hatten etwas so Schwärmerisches und so Melancholisches, daß man sich unwillkürlich fragte: was hat der Mann gethan und erlebt?
Wir blieben einige Wochen in dem Rottenbuel’schen Hause und verließen es dann, um einen Besuch auf einem Schlosse im Prätigau zu machen, dessen gegenwärtiger Besitzer, der hochbetagte Herr von Thuris, mit seiner ebenso bejahrten Schwester in dem [3] einsamen Edelhofe Haus hielt. Mitten in der wilden, großartigen Natur machte das zehn Fenster breite dreistöckige Gebäude mit den vier Thürmen an seinen Seiten, mit der starken Gartenmauer, durch deren Gitterthore man schon von außen die hohen Pyramiden und Wände des glattgeschorenen Buchsbaum und Taxus erblickte, einen äußerst wohnlichen Eindruck, und wir hatten daher erst wenige Tage in dem Schlosse gelebt, als wir uns in demselben auch bereits heimisch und bei unseren Wirthen, die wir erst neuerdings kennen gelernt hatten, wie bei alten Freunden eingebürgert fühlten.
Eines Abends, als ein Gewitterregen uns in dem Hause festhielt, hatte Fräulein Ursula die ganze Zimmerreihe des ersten Stockwerks öffnen lassen, und in derselben auf- und niedergehend, kamen wir auch an das Zimmer, das sie selbst bewohnte, und das wir bis dahin noch nicht betreten hatten. Mit jener Zurückhaltung, die an allen Mädchen, je nach ihrem sonstigen Charakter, rührend oder lächerlich sein kann, nöthigte die liebenswürdige Person nur mich allein, ihre Stube in Augenschein zu nehmen, und während die Männer rauchend und plaudernd ihren Wandelgang durch die geöffneten Säle fortsetzten, sah ich mir das kleine, in einem der Thürme gelegene Gemach an, das Fräulein Ursula seit ihrem fünfzehnten Geburtstage, an welchem die Eltern ihr ein eigenes Zimmer gegeben, das heißt seit vollen fünfzig Jahren, inne hatte.
Das Stübchen war traulich und sehr schön gelegen. Aus den mit blendend weißen Gardinen verhängten Fenstern sah man auf die großartige Natur, auf die hohen, wilden Felsenmassen hinaus, welche sich von allen Ecken um das Thal emporhoben, und auf das schwere, düstere Gewölk, das sich bis in das Thal herniedersenkend von dem Sturme hin- und hergetrieben wurde. In dem Stübchen selbst war ein Gegensatz bemerklich zwischen der wohlerhaltenen ursprünglichen Einrichtung des kleinen Gemaches und den einzelnen Möbeln, welche in neuerer Zeit hinzugeschafft worden waren. Neben der schmalen, für ein junges Mädchen berechneten Bettstelle mit den weißen, rosagefütterten Gardinen sahen der bequeme Lehnstuhl und das große Sopha der Matrone befremdlich aus, und doch machte das Zimmer einen guten Eindruck, weil es mit so viel Liebe gehalten war.
„Ich habe hier Alles so belassen,“ sagte Jungfer Ursula, als errathe sie, was mir auffalle, „wie meine gute Mutter es mir eingerichtet. Das sind noch die Tische und Stühle, die sie für mich gekauft; und das Bett, das sie mir hingestellt und geschichtet, soll auch einmal mein Sterbebette sein. Sehen Sie, das Schränkchen dort“ – sie wies auf einen jener altmodigen ausgebauchten und reich mit Messingbeschlägen verzierten Schränke, in welchen man im vorigen Jahrhundert seine Tassen und sonstiges Porzellangeräth aufzubewahren pflegte – „das Schränkchen ist noch von der ersten Pariser Einrichtung meiner Mutter, und ich benutze es wie sie. Es ist eine ganze Sammlung, eine ganze Gallerie von Andenken in dem Schränkchen enthalten. Ich brauche deshalb auch nur darauf hinzublicken, um mich im Geiste von einer Menge von Menschen umgeben zu sehen, die alle schon dahingegangen sind und vorübergezogen, wie dort die Wolken am Berge vorüberziehen.“
Während sie mich auf die ihr werthen Angedenken aufmerksam machte, war mein Auge, von den zierlichen Kleinigkeiten abschweifend, an denen man die Geschmacksveränderung der letzten sechszig Jahre in ununterbrochener Reihenfolge studiren konnte, auf drei in dem Zimmer befindliche, mit grüner Gaze überzogene Oelbilder gefallen; denn auch dem Schlosse Thuris fehlte es nicht an Bildern, und meinem Blicke folgend, sagte Jungfer Ursula, indem sie von dem mittelsten der Bilder den Vorhang fortzog: „das ist meine Mutter!“ Es war ein merkwürdiges Gesicht, das aus der tiefen schwarzen Spitzenhaube hervorsah! Uralt, wie die Frau gewesen sein mußte, als sie zu diesem Bilde gesessen, denn die dunkelbraune Haut war von unzähligen Falten und Zügen wie durchfurcht und die Hände sahen trocken und runzlig wie die Rinde eines Baumes aus, wurde man noch durch den großartigen Schnitt des Profiles und durch den Ausdruck ernster Gradheit überrascht, der aus demselben sprach.
„Die Frau muß ein Charakter gewesen sein,“ rief ich unwillkürlich aus, „und eine Schönheit obenein! Sie sehen ihr auffallend ähnlich, Jungfer Ursula!“
Das gute Mädchen lächelte. „Ja, man hat das immer gefunden, und es ist wahr, meine Mutter muß sehr schön gewesen sein. Ihr aber hat ihre Schönheit, als sie jung war, keinen großen Segen gebracht, und sie hat damals ihren ganzen Charakter nöthig gehabt, um nur mit dem Leben fertig zu werden. Man sollte nicht denken, daß man, wie die Mutter, achtundachtzig Jahre alt werden könnte, wenn man soviel erlebt und getragen hat als sie. Wären Sie vor zwei Jahren hergekommen, so hätten sie meine Mutter noch am Leben gefunden, und Sie hätten an ihr eine ganz andere Gesellschaft gehabt, als an mir. Sie wußte so viel zu erzählen, und sie erzählte so schön!“
„Das gute Erzählen haben Sie auch von Ihrer Mutter geerbt!“ bemerkte ich.
„Ich habe nur nicht so viel und so Verschiedenes erfahren, ich bin immer hier in unsern Bergen geblieben, und so lange die Mutter gelebt hat, habe ich auch nie daran gedacht, daß es hätte anders sein können, denn es kam mir immer vor, als sei ich nur um ihretwillen auf der Welt. Seit sie aber todt ist, fällt es mir wohl bisweilen ein, daß ich gar nicht für mich gelebt habe. Indeß, Gott hat das eben nicht gewollt, und mein Dasein ist dafür auch ein sehr sanftes und ruhiges gewesen.“
So friedlich sie diese Worte sprach, dünkte mich doch, als höre ich sie einen leisen Seufzer unterdrücken und als glänze ein feuchter Schimmer in ihren schönen Augen. Sie hatte sich aber von mir abgewendet, und von den beiden Portraits, welche zur Rechten und zur Linken von dem Bilde ihrer Mutter hingen, die Vorhänge fortziehend, sagte sie: „das ist mein Vater, und das ist der erste Mann meiner Mutter.“
„Graf Joseph von Rottenbuel?“ rief ich mit Ueberraschung, „Ihre Mutter war mit dem letzten Grafen Rottenbuel verheirathet?“
„Sie kennen das Bild?“ fragte mich Fräulein Ursula sichtlich erstaunt.
„Ich habe das Original desselben, denn dieses scheint mir nur eine Copie zu sein, in dem Rottenbuel’schen Hause gesehen,“ versetzte ich, „und das schöne, schwermüthige Gesicht des Grafen hat mich immer wieder angezogen. Ich habe mich oft gefragt, welche Schicksale dieser Mann gehabt, welche Erfahrungen ihm jenen Zug des Seelenleidens in das ursprünglich so glücklich angelegte Gesicht gezeichnet haben mögen. Und diese ernste, streng blickende Matrone zwischen den beiden jungen und schönen Männern hat nun vollends etwas so Besonderes, daß man ein Verlangen fühlt, mehr von diesen drei Personen zu erfahren.“
Jungfer Ursula nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Ja,“ sagte sie, „die haben viel zusammen erlebt, und das ist nachher Alles hier bei uns zur Ruhe gekommen und hier bestattet worden. Und nicht die Drei allein ruhen hier auf unserm Kirchhof in unserm Erbgewölbe. Die Mutter hat das Herz gehabt, auch die Marquise hier bei uns bestatten zu lassen. Sie war groß in allen diesen Dingen, unsere Mutter. Sie sagte: „die Marquise gehört zu mir, wie Leid zur Freude, wie Schatten zum Licht!“ Sie war groß in all den Dingen! Ich hätt’ es nicht gekonnt, denn die Marquise war ihr böser Dämon!“
Die gute Ursula hatte, wie alle Menschen, welche sich stets in engem Kreise bewegen, die Eigenheit, ihr Wissen von den Dingen auch bei den Andern vorauszusetzen; und ihre Aeußerungen und Bemerkungen über den Charakter ihrer Mutter und über deren Schicksale waren dadurch doppelt geeignet, meinen Antheil und meine Neugierde zu erregen. Ich mochte jedoch an dem Abende ihr mit weiteren Fragen nicht beschwerlich fallen, und erst nach längerem Verweilen in Schloß Thuris, erst nachdem Ursula mich lieb gewonnen und ich sie in ihrer ganzen einfachen Güte hatte schätzen lernen, bat ich sie einmal, mir von der Geschichte ihrer Mutter, von dem Schicksal des Grafen von Rottenbuel und von dem Leben ihres Vaters dasjenige zu erzählen, was sie für die Mittheilung geeignet halte.
Sie zeigte sich augenblicklich dazu geneigt. „Das ist Alles so lange her,“ sagte sie, „daß es mir selbst fast wie ein Stück aus der Historie erscheint. Die Zeiten, das Leben, die Menschen und die Sitten sind hier anders geworden. Damals, als Graf Joseph in französischen Diensten stand, war hier im Lande der Adel noch mächtig und Graubünden noch selbstständig für sich, es hatte damals noch die Herrschaft über das Veltlin und großen Einfluß und Besitz bis an die Seen. Jetzt ist das vorbei. Wir gehören zur Eidgenossenschaft, wir sind hier im Lande nur noch Gutsbesitzer, das Veltlin ist nicht mehr unser, und das Dienen in fremden Ländern ist unsern jungen Männern nun endlich auch verboten.“ Sie hielt inne und meinte dann: „Vielleicht ist das Alles recht und gut! Die Mutter blieb immer dabei, daß es sich für einen Edelmann [4] nicht schicke, außer Landes für eine fremde Sache fechten zu gehen, und sie kannte im Grunde das Alles besser als ich, denn sie hatte es mit erlebt, wozu es führte; und als mein Bruder dann auf Reisen ging und in Neapel Dienste nehmen wollte, hat sie ihm die längsten Briefe dagegen geschrieben, bis er es unterließ.“
„Sind denn überhaupt viel Briefe von Ihrer Mutter erhalten?“ fragte ich.
„Ja freilich! Briefe von der Mutter und von den Andern auch, und Tagebücher ebenfalls. Sie hat sie mir sammt und sonders vermacht, und wenn ich einmal darüber komme, liest es sich wie ein Roman.“
Ich bat sie, mir die Briefe zur Durchsicht zu geben, sie willigte ohne Weiteres ein und schickte erzählend alle die Erklärungen voraus, deren ich nach ihrer Meinung zum Verständniß des Zusammenhanges unter den in den Briefschaften genannten Personen benöthigt war.
„Ich weiß,“ sagte sie, „wenn Sie das Alles gelesen haben werden, so machen Sie gewiß eine Geschichte daraus.“
Ich erkundigte mich, ob sie etwas dagegen einzuwenden haben würde.
„O nein!“ versetzte sie, „meine Mutter kann nur dabei gewinnen, auch meinem Vater und dem Grafen Rottenbuel geschieht keine Unehre damit; und zuletzt ist’s wie mit einem Leichensteine, den man ja auch nur aufrichtet, damit die Todten nicht vergessen werden, wenn Niemand mehr lebt, der sie kannte und der sich ihrer antheilvoll annimmt. Machen Sie mit den Papieren, was Sie wollen. Es liegt der Art hier im Schlosse noch viel mehr aufgespeichert, und es ist bisweilen recht erstaunlich, es zu lesen, auf wie wunderbare Weise die Menschen aus unsern Bergen von jeher mit den Menschen außerhalb in Berührung gekommen sind, und wie mancher Sturm von außen hier den Frieden stören kann. Hier bei uns im Bündner Lande sind oft ganz besondere Dinge vorgegangen!“
Sie ging bei diesen Worten in das Zimmer neben ihrer Stube, in das ehemalige Wohnzimmer ihrer Mutter, dessen Möbel offenbar einer weit zurückliegenden Zeit angehörten. Die Hälfte der einen Wand wurde von einem altersgeschwärzten, unpolirten Eichenschranke eingenommen, von einer Zusammensetzung und innern Abtheilung, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Die Mitte der oberen Hälfte war offen und mit Borden versehen, wie bei einem Schenktisch, und es standen auch verschiedene altmodische Silber- und Porzellangefäße darauf zur Schau. Unten war der Schrank, gleich den beiden Seitenflügeln, mit Thüren verschlossen, und Jungfer Ursula zeigte mir, wie tief der Schrank sei und wie viel Wäsche und Vorräthe allein in der linken Seite desselben aufgestapelt lägen. Die rechte Seite aber hatte in der Mitte einen verzierten Griff von Eisen, von welchem eine etwa drei und ein halb Fuß hohe Stange beweglich herabhing, und ich hatte gleich, als wir in das Zimmer kamen, diese Eisenstange mit Neugierde betrachtet. Nun schloß Jungfer Ursula ein über dem Griffe durch das Schnitzwerk fast verstecktes Schloß auf, und die Eisenstange fiel klappernd herab, um die Stütze für einen kleinen Schreibtisch zu machen, über dessen Platte sich ein ganzer Thurmbau von kleinen Fächern und verborgenen Schiebladen, ein wahres Wunderwerk alter, ausgelegter Schreinerarbeit, aufthat.
„Der Schrank muß zwei-, dreihundert Jahre alt sein!“ rief ich mit Verwunderung aus.
„O gewiß!“ meinte unsere Wirthin. „Es ist ein altes Erbstück aus der Familie meiner Mutter. Sie hat es aus dem Engadin, von Schloß Gunta, wo sie zu Hause war, hierher schaffen lassen, als sie aus Frankreich gekommen ist, um hier meinen Vater zu heirathen, und sie erzählte oftmals, welche Schwierigkeiten es gemacht habe, diesen Schrank über die Berge zu bringen. Er stand sonst immer in dem großen Saale. Als mein Bruder aber das Erbe antrat und die Mutter und ich uns nun ganz auf diesem Seitenflügel des Schlosses einrichteten, ließ sie ihren Schrank und die drei Bilder hier herüber schaffen.“
Jungfer Ursula hatte, während sie also sprach, die betreffenden Papiere aus den verschiedenen Fächern hervorgesucht und händigte sie mir sammt und sonders ein. Es waren Briefe, Notizen, Tagebücher von verschiedener Hand. Dazwischen fanden sich Tauf- und Trauscheine, auch verschiedene Diplome und Officierspatente lagen dabei. Das gute alte Mädchen war sehr gerührt, als sie die Papiere und die Andenken an vergangene Tage und an ein vergangenes Geschlecht vor meinen Blicken auseinander legte.
„Ich habe oft in den Blättern gelesen, und ihr Inhalt ist mir wie ein eigen Erlebtes geworden,“ sagte sie freundlich. „Es soll mich wundern, wie Sie, die Sie gewohnt sind, die Menschen zu beobachten und zu beurtheilen, diese Ereignisse und die Charaktere auffassen werden. Manches, was die Mutter erzählte, steht mir so lebendig vor der Seele, daß ich selbst, wenn die Winterzeit uns nicht zum Hause herausläßt und wir hier in unserm Thale von aller Welt abgeschieden, in Schnee und Eis vergraben sind, versucht habe, die einzelnen Scenen und Vorgänge aufzuschreiben und –“
„Das geben Sie mir!“ fiel ich ihr in das Wort, „denn was eine so einfache und wahrhaftige Seele nach mündlichen Berichten niedergeschrieben hat, das muß Natürlichkeit besitzen, welche unsere Reflexionsbildung kaum nachzumachen im Stande ist.“
Die gute Ursula zögerte eine Weile, ließ sich aber denn endlich doch erbitten, und aus ihren Skizzen, wie aus den Tagebüchern des letzten Grafen von Rottenbuel habe ich die folgenden Thatsachen zusammengestellt, nur ergänzend, was die vorhandenen Briefe unklar ließen.
Meister Philipp.
Warum war den 25. August 1518 in Wittenberg Alles in Bewegung? Warum strömen Studenten, Professoren, Beamte, Geistliche dort nach jenem Hörsaale? Der junge, neue Professor, welcher vor vier Tagen hier ankam, hält heute seine Antrittsrede. Schon mehrere Tage lebte man in Spannung, heute ist die Neugierde auf’s Höchste gestiegen. Die Thür öffnet sich endlich, und es erscheint ein kleines, unansehnliches, hageres Männchen in langem, bis auf die Füße reichendem Rocke und geht mit schüchternem Schritt auf den Lehrstuhl zu. Die Erwartung der Hörer sinkt tief, sie glauben, der Kurfürst sei getäuscht worden. Als aber das Männlein sich emporhebt, als von seiner gewölbten hohen Stirn, seinem blauen, geistvollen, aber doch sanften Augenpaar der große und edle Geist strahlt und von seinem Munde eine lateinische Rede in Kraft und Anmuth fließt, da durchzieht jede Brust ein Gefühl der Bewunderung; seine Leistungen übertreffen noch seinen ihm vorausgeeilten Ruf. Selbst Luther, der mit anwesend, ist ganz begeistert. Melanchthon, er war es, sprach von der Verbesserung des Studienwesens und begründete namentlich seine Ansicht, daß es in Staat und Kirche werde besser stehen, wenn die beiden alten Sprachen, Griechisch und Latein, wieder mehr und besser getrieben würden.
Philipp Melanchthon (wie er seinen deutschen Namen Schwarzerd gräcisirt hatte) bezog, erst zwölf Jahre alt, 1509 die Universität Heidelberg, erlangte zwei Jahre später die Würde eines Baccalaureus, ging, weil man ihm hier die Magisterwürde verweigerte, 1512 nach Tübingen, wo er 1514 Magister wurde und als Lehrer auftrat und wo er auf Reuchlin’s Veranlassung 1518 den Ruf nach Wittenberg erhielt.
Weil Melanchthon in der Vertheidigung des evangelischen Glaubens als ein so kenntnißreicher Gottesgelehrter sich bewies, so wurde er bald Baccalaureus der Theologie mit 100 meißnischen
[5]Gulden Gehalt. Später erhöhte sich seine Besoldung, im Jahre 1526 auf 200 Gulden, 1536 auf 300 Gulden und 1541 auf 400 Gulden. Mehr hat er nie erhalten; ja selbst dieses Wenige ging nicht gut ein. Die theologische Doctorwürde nahm er jedoch durchaus nicht an, und doch sagten Alle mit Luther von ihm: „Was wir in den Wissenschaften und der Philosophie wissen, das danken wir Philippo. Es ist zwar ein einfacher Magister, aber auch ein Doctor über alle Doctores!“ Geistlicher und Prediger war Melanchthon nicht. Die Sage erzählt, er habe nicht zu predigen vermocht, da er vor der ganzen Gemeinde stets so viele Angst bekommen habe. Luther redete ihm zu, sich doch Muth zu fassen, zur Probe solle er erst vor einer Menge Töpfe predigen und sich diese als Zuhörer denken. Dies geschah auch; als aber das gelehrte Männchen vor der Gemeinde predigt, bleibt es richtig stecken. Luther, der mit zuhörte, ruft ihm lächelnd hinauf: „Komm herunter, gutes Schaf, laß mich hinauf!“ – Nun besteigt Luther die Kanzel und donnert anders los; aber Melanchthon genht mit den Worten weg: „Ja, Köpfe sind nicht Töpfe!“
Unser Reformator Philippus war ein äußerst fleißiger Mann. Er arbeitete Sommer und Winter von früh zwei oder drei Uhr an bis Abends neun Uhr mit einer solchen Leidenschaft und Anstrengung, daß Alle für seine Gesundheit sehr besorgt waren. Auch die gröbere sächsische Lebensweise, welche gegen die bessere schwäbische Küche sehr abstach, behagte ihm nicht. Er schien daher bald nach seiner Uebersiedelung nach Wittenberg sich körperlich zu verzehren. Der Kurfürst, der den Melanchthon wegen seiner Leistungen liebte, [6] mahnte ihn von seiner übertriebenen Arbeitsamkeit ab und schickte ihm zur Arznei Wein aus seinem Weinkeller, ihn dabei auf I. Tim. 5, 23 verweisend: „Trinke nicht mehr Wasser, sondern brauche ein wenig Wein, um Deines Magens willen, und daß Du oft krank bist.“ Luther aber kam auf ein besseres Heilmittel: die Liebe. Er macht daher Melanchthon den Vorschlag, zu heirathen; darin glaubt er zugleich auch das geeignetste Mittel gefunden zu haben, seinen Philipp in Wittenberg zu halten. Dieser aber will durchaus von Vermählung nichts wissen, da er durch die neuen Vetterschaften und die Kinderstube in seinen Studien gestört zu werden fürchtet. Nach vielem Sträuben und Gegenreden willigt er endlich in das über ihm schwebende Verhängniß. Luther sucht ihm nun eine Braut aus und macht den Freiwerber. Von ihm hatte Melanchthon nichts zu fürchten, da er als Mönch das Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt hatte. Das auserkorene Mägdlein war Katharina Krapp, des Bürgermeisters Hieronymus Krapp zu Wittenberg Tochter, in gleichem Alter mit dem Herrn Bräutigam, 23 Jahre alt. Melanchthon spielt zwar keinen zärtlichen Geliebten, da er mit seinen Gedanken nicht in der irdischen Welt, sondern im kalten Reiche der Wissenschaft lebt; aber er erhält doch das Jawort und wird ein glücklicher Bräutigam, da seine Braut ein stilles, sanftes, frommes Täubchen ist. Am 28. August 1520 verlobt er sich mit ihr, und am 26. November desselben Jahres findet die Vermählung statt, wobei er seinem Käthchen ein neues Kleid schenkt. Als fröhlicher Hochzeitsgast darf natürlich der heitere Martin Luther nicht fehlen. An seinem Hochzeitstage liest Melanchthon kein Colleg, sondern schlägt an’s schwarze Bret: A studiis hodie facit etc. d. h. auf Deutsch: Von den Studien läßt heute Philippus eine angenehme Erholung eintreten und wird Euch nicht des Paulus heilige Lehren verkünden.
Melanchthon’s Gemahlin war eine brave Frau, allein sehr verzagten, ängstlichen Gemüthes, das leicht in weinerliche Klagen ausbrach, wodurch sie, statt den furchtsamen Gemahl aufzumuntern und zu erheben, ihm sein Herz oft noch mehr belastete. Auch war sie mitunter etwas kränklich, und um Küche und Schränke bekümmerte sie sich leider auch nicht übermäßig viel. Uebrigens ging es auch in Melanchthon’s Hause nicht hoch her; man befleißigte sich eines einfachen Lebens, was schon durch die geringen Einnahmen bei der Theuerung der Nahrungsmittel geboten war. Die öffentlichen Vorlesungen hielt Melanchthon meist umsonst, unterstützte viele arme Studenten, die, oft in mißbräuchlicher Weise, ihn bestürmten. Melanchthon’s Zimmer waren nicht mit kostbaren Möbeln geziert, statt des Sophas diente damals eine Art Lotterbett und Ruhebank, Stühle etc. von Holz und massiv und dauerhaft gebaut. – An seinem Tische nahmen einige Zöglinge seiner Privatschule Theil, die seine Hausgenossen waren, mitunter auch Freunde und Gäste. Bei Tische liebte er heitere Gespräche und Scherze. „Wie findest Du den Wein?“ hören wir ihn jetzt einen seiner Gäste fragen, als er guten Wein, den er geschenkt erhalten, präsentirte. Trocken antwortete der Gefragte: „Er ist nicht schlecht!“ „Ei,“ erwiderte der empfindliche Hauswirth, „so muß man guten Wein nicht loben!“ Wieder finden wir den Reformator bei einem Bekannten zum Besuche. Als dieser sich lange beklagt und entschuldigt, daß er in der Eile den Tisch nicht besser habe besetzen können, entgegnete Melanchthon heiter: „Eure Entschuldigung ist wahrlich größer, als mein Magen. Wäre der Appetit überall so groß, wie Ihr zu meinen scheint, so müßte der liebe Gott in dieser Welt sehr viel anschaffen.“
Wenn Melanchthon mit Luther auf der Straße dahinwandelte, so sah es aus, als ging ein Vater mit seinem Sohne, denn Melanchthon reichte seinem kräftigen Freunde nur bis an die Achseln. Melanchton hatte ein hageres Gesicht, das von einem starken Barte und lockigem Haupthaar umwallt war. Die eine Schulter ließ er etwas sinken, was ihm viele seiner Jünger nachahmten. Er ging im bloßen Halse, den nur eine Krause schmückte, und trug einen langen blauen, aus gemeinem Tuch gefertigten Rock mit weiten Aermeln. In seinem Hause fand man ihn oft im langen Hausrock und mit einer Schlafmütze. Von dem berühmten Dr. Reuchlin hatte er die Gewohnheit gelernt, drei leinene Hemden zur Erwärmung seines Leibes über einander zu tragen.
Mitunter treffen wir unsern Philippus zu Mittag in seiner Behausung nicht an; er sitzt in der befreundeten Lutherischen Familie, neben Frau Käthchen und einem Gaste. Wenn bei Luthers ein Geburtstag gefeiert wird, so darf Nachmittags und Abends Meister Philipp natürlich nicht fehlen. Da geht es nicht immer gelehrt, sondern öfter noch humoristisch her; die werthe Hausfrau giebt nicht selten, wenn sie vor der männlichen Gelehrsamkeit aufkommen kann, auch ihr Wort mit dazu. An Doctor Luther’s Tische hätte es uns übrigens auch gefallen können. Die Frau Doctorin war eine recht solide Köchin, der Herr Doctor liebte und hatte ein recht trinkbares Glas Wein; Geist und Witz umsprudelten den Rebensaft – was begehrt ein Gast mehr? –
Welche herrliche Stunden verlebten die Wittenberger auch zusammen bei Bier und Kegelspiel im Gasthaus zum schwarzen Bären! Dort kam man oft Nachmittags zusammen. Aus dicken steinernen Krügen trank man das damals berühmte Eimbecker Bier, mit dem auch Luther 1521 nach seiner kräftigen Rede auf dem Wormser Reichstage vom Herzog von Lüneburg erquickt wurde. War gutes Wetter, so ging man auf die Kegelbahn im Garten, zog die Röcke aus und kegelte; bei Regenwetter und Abends begab man sich hinein in die Wirthsstube. Dabei ist Dr. Martin immer der heitere Mann, der Andere anregt, neckt und schraubt, auch unsern guten M. Philipp mit; dieser ergötzt sich zwar an der munteren Geselligkeit höchlich, spielt aber immer den stillen Schüchternen und Feinen, der jedoch mitunter auch mit einem geistreichen Gedankenblitz, einem treffenden Witzfunken plötzlich zündend in die Gesellschaft einschlägt, daß allgemeine Heiterkeit entsteht.
Rührend ist das erste Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn nach sechsjähriger Trennung, als Melanchthon 1524 von Wittenberg aus zum ersten Mal wieder in seine Heimath reist. Auf die Erholungsreise begleiten ihn der Professor Nesen von Wittenberg, ferner Joachim Camerarius, sein treuester und bester Freund, den er wie seinen Bruder liebte, und zwei seiner Zöglinge, Franz Burchard von Weimar und Johannes Silberborner von Worms. Sie reisten zu Pferde, und da dieselben nicht zu den besten gehörten, die gelehrten Herren aber auch nicht die besten Reiter waren, so ging der Spazierritt langsam, und es gab viel zu lachen. In Frankfurt, wo Nesen zurückblieb, hielten sie sich nur kurze Zeit auf. Nun ging es weiter, dem hochgeliebten Schwabenlande zu. Je näher Melanchthon demselben kam, desto freudiger klopfte sein Herz, und als er endlich die Thürme und Giebel seiner theueren Vaterstadt Bretten wiedersah, stieg er vom Pferde, fiel voll Rührung auf seine Kniee und rief, seine Hände faltend: „O heimathlicher Boden! Wie danke ich Gott dem Herrn, daß ich Dich wiedersehen durfte!“
Jetzt endlich sieht er das alte liebe Haus wieder, in dem er auf des Vaters Schooße gesessen und an dem Herzen der liebreichen Mutter gelegen hatte! Aber ach, der gute Vater ist nicht mehr! Da erblickt er seine Mutter, sie stürzen einander in die Arme, vor Schmerzen und Freude weinend, drücken sich fest und innig und wollten nicht von einander lassen. Mit Wonne blickte die Mutter ihren Sohn an, aber nun nicht mehr auf ihn herab, sondern zu ihm hinauf; sie war eine schlichte Meistersfrau geblieben, er aber ein gelehrter Professor und berühmter Mann geworden. Als unvollendeten Jüngling hatte sie ihren Philipp verlassen und als vollendeten Mann sah sie ihn wieder. In ihrem kindlichen Gemüth und Verstand war sie eine gute Katholikin geblieben und sie schüttelte gar bedenklich ihr Haupt, daß ihr Sohn der neuen Lehre zugethan war und sie gar noch verbreitete; er suchte zwar seine Mutter über das Evangelium aufzuklären, aber sie verharrte beim Alten. – Während nun Philipp’s Gefährten weiterzogen, blieb er bei seiner Mutter. Wie staunte diese, wenn vornehmer Besuch, wie mehrmals geschah, zum Herrn Sohn kam! So erschien ein Schriftführer des päpstlichen Gesandten, Compegius, um Melanchthon von der evangelischen Sache abwendig zu machen, aber Melanchthon war kein schwankes Rohr, er erklärte: „Was ich als Wahrheit einmal erkannt habe, das behaupte ich ohne alle Rücksicht unter allen Umständen.“ So überbrachten ihm drei Professoren von der Universität Heidelberg als Ehrengeschenk einen schön gearbeiteten silbernen Becher. – Nur mit schwerem Herzen riß der Magister sich von der Heimath wieder los.
So viel Ansehen und Ehre Melanchthon auch genoß, so war doch keineswegs sein Lebensbild aus lauter Licht gemalt. Im Jahre 1540 auf einer Reise zu einer kirchlichen Versammlung in Weimar überfiel ihn plötzlich eine heftige Krankheit und brachte ihn dem Tode nahe. Der kurfürstliche Hof schickte ärztliche Hülfe und ließ Luther von Wittenberg holen. Melanchthon aß und trank nicht und war ganz verfallen. Erschrocken von diesem Anblick ruft [7] Dr. Luther aus: „Behüt Gott, wie hat mir der Teufel dies Werkzeug geschändet!“ Durch Gebet und kräftige Zusprache rettete ihn Luther, der allein der rechte Arzt war. Melanchthon war von großer Angst krank geworden. Er hatte des Landgrafen Philipp von Hessen ungesetzlichen Schritt, noch eine zweite Frau zu nehmen, gebilligt; und dieser wollte jetzt Melanchthon’s Gutachten veröffentlichen. Luther ruhte nicht eher, bis sein Freund wieder aß. „Damals,“ sagt Martinus, „mußte mir unser Herrgott herhalten; denn ich warf ihm den Sack vor die Thür und rieb ihm die Ohren mit allen seinen Verheißungen, daß er mich erhören mußte.“ – Melanchthon gesteht selbst zu: „Wäre damals Luther nicht gekommen, so wäre ich gestorben.“
Der schwerste Schlag traf Philippus im Jahre 1546 durch den Tod seines treuen Freundes und Mitreformators Dr. Luther. Als dieser am 23. Januar von Wittenberg nach Eisleben abreiste, sahen sich die beiden großen Männer zum letzten Male; am 18. Februar ward Luther zu seinen Vätern versammelt. Mit ihm hatte Melanchthon 28 Jahre lang, treu verbunden, gelebt und gestrebt, gelitten und gestritten. Am 19. Februar, wo Melanchthon durch Dr. Jonas den Heimgang des lieben Vaters erfahren, kommt Ersterer früh 9 Uhr mit verweinten Augen in das Colleg, um über den Brief an die Römer Unterricht zu halten, und erzählt den Studenten Luther’s letzte Lebenstage und Tod. „Ich bin so bekümmert und leidend,“ sprach er unter Thränen, „daß ich zweifle, ob ich fernerhin dies mein Amt in der Schule ausrichten möge.“ Nachdem er nun in einer Rede seine große Betrübniß ausgesprochen, faltet er seine Hände und betet um Schutz für die Kirche. Alle Studenten weinen und schluchzen laut, wie die Kinder, und es scheint, als ob auch die Wände des Saals mit in laute Klagen ausbrächen. – Melanchthon’s liebster und einziger Freund war nur noch Joachim Camerarius, der immer in seiner Nähe war und ihn auf seinen Reisen begleitete; die meisten andern waren gestorben.
Ein Bild der Wehmuth ist der gefeierte Reformator als heimathloser Flüchtling. Der schmalkaldische Krieg 1547 spielte sich auch nach Wittenberg und Umgegend. Am 6. November wurde die Universität aufgelöst, am 9. flohen Professoren und Studenten, Greise, Frauen und Kinder in furchtbarem Schneegestöber aus der Stadt, und auch Melanchthon ergriff den Wanderstab und entwich auch mit Frau und Kindern. Er verlor den größten Theil seiner Bücher und Habe und irrte als armer Flüchtling, den die Noth bisweilen trieb, fremde Hülfe in Anspruch zu nehmen, in Dessau, Zerbst, Magdeburg, Braunschweig, Nürnberg und a. O. unstät umher. Selbst vom Unglück verfolgt, nahm er sich dennoch der ebenfalls fliehenden Wittwe und Kinder Luther’s, über die er Vormund war, liebreich an und geleitete sie sicher nach Braunschweig.
Gegen Ende des Jahres 1547, nachdem des Krieges Ungewitter sich verzogen, finden wir Melanchthon wieder in seiner gewohnten Thätigkeit zu Wittenberg. Benutzen wir diese friedliche Zeit, um Melanchthon im Kreise seiner Familie zu beobachten.
Große Männer gehören der Welt an; die ganze Menschheit ist ihre Familie, sie können in der Regel ihrer eigenen Familie sich nicht hinreichend widmen. Melanchthon’s Herz war indeß nicht zu weit, als daß es für seine Familie nicht laut genug geschlagen hätte. Er lebte ihr, so viel er konnte, und die Familienstube war ihm die kleine Kirche, in welcher die kleinen Englein seine Seele mit himmlischem Frieden und himmlischen Freuden umschwebten.
Da Melanchthon durch zu viele Geschäfte von der Kindererziehung abgehalten wurde, so mußte sein treuer Diener Johann die Kinder, als sie noch klein waren, aufziehen und unterrichten. Melanchthon erlebte an seinen Kindern nicht lauter Freude. Sein ältester Sohn Philipp erbte nicht des Vaters Geist der Weisheit und des Verstandes; auch erfüllte er nicht immer des Vaters Willen, wie er sich z. B. als 19jähriger Student ohne Vorwissen seines Vaters mit einem Leipziger Mädchen heimlich verlobte. Der zweite Sohn starb frühzeitig. Sein ältestes Kind, Anna, dagegen, ganz das Ebenbild des Vaters, war nicht nur ein sehr talentvolles und gebildetes Mädchen, welche z. B. sehr gut Latein sprach, sondern sie war auch sehr schön und liebenswürdig.
Die Geschichte hat eine rührende Scene von ihr aufbewahrt. Als kleines Kind kommt sie einst zu Melanchthon, der sie unter Allen am meisten liebte, auf die Studirstube gehüpft und findet ihn weinend. Es waren böse Nachrichten eingelaufen, die Melanchthon um eine schöne Hoffnung ärmer machten. Sie sah ihn mit ihren schönen großen Augen eine Weile sinnend an, dann ging sie leise zu dem Weinenden, schmiegte sich weich an seine Kniee und hob ihr Schürzchen, um ihm die Thränen zu trocknen. „Nicht weinen, lieb’ Väterle!“ sagte sie selbst unter Thränen. „Dein Aennchen kann das nicht sehen!“ In der Umarmung seines Kindes vergaß der Vater seines Harmes. – Als sie ein andermal allzulange aus dem Hause weggeblieben ist, fragt Melanchthon die Zurückgekehrte: „Was willst Du nun der Mutter antworten, die Dich tüchtig ausschelten wird?“ – „Nichts,“ war die schnelle Antwort des Kindes im Bewußtsein seiner Schuld. Dieses Wort machte ihm ungemeine Freude, und er wendete es oft an, wenn ihn seine Feinde mit Schelten und Vorwürfen verfolgten. „Was werde ich meinen Feinden antworten? Ich weiß es. Nichts, gar nichts.“ Vierzehn Jahre alt verheirathete sich Anna Melanchthon mit Georg Sabinus, früher Schüler des Philippus, später ein Gelehrter und berühmter lateinischer Dichter. Dieser behandelte indeß seine Frau nicht gut, es war eine unglückliche Ehe, und Anna starb vor Gram. Viele Freude bereitete dem Reformator die zweite Tochter Magdalena, die sich neunzehn Jahre alt mit dem Arzt Dr. Peucer vermählte, der später Leibarzt des Kurfürsten von Sachsen wurde. Von ihren zehn Kindern wurden viele in Melanchthon’s Hause erzogen, wie auch Anna’s Kinder daselbst die Erziehung genossen. Als Anhänger des Calvinismus schmachtete Peucer zwölf Jahre lang im Kerker. – Nachkommen von diesem Arzt Peucer und dessen Frau, also aus weiblicher Linie Melanchthon’s, leben noch mehrere, z. B. in Weimar.
Wie ein Kind wurde von Philippus auch sein treuer Diener Johann, ein gutmüthiger Schwabe, gehalten, der 34 Jahre lang Melanchthon’s Wirthschaft führte und dem die ganze Familie das größte Vertrauen schenkte. Wenn Melanchthon auf Reisen war, so schrieb er an ihn lateinische Briefe. Wir sehen daraus, wie aus dem ferneren Umstande, daß er Melanchthon’s Kinder unterrichtete und Predigten las, daß Johann ein nicht ungebildeter Mann, also wohl mehr ein Famulus war, wie sie die Gelehrten früher hatten.
Melanchthon hatte in seinem Hause zehn Jahre lang auch noch eine Erziehungsanstalt, die er theils aus Liebe zur Jugendbildung, theils um seines Unterhaltes willen errichtete. Wie sorglich er mit seinen Schülern war, beweist ein Brief, in welchem er dem Vater eines Zöglings schreibt, er solle nur fünf Thaler schicken, er wolle schon sorgen, daß der Sohn damit auskomme. Viele dieser Schüler aßen mit an seinem Tische. Einer derselben, der „poetische König“ genannt, führte bei der Mahlzeit den Vorsitz, nämlich der, welcher in der vorher gehaltenen Versammlung das schönste Gedicht geliefert; einen andern erwählte Melanchthon als „König des Hauses“ zur Aufsicht. Melanchthon befaßte sich viel mit diesen Jünglingen, ging mit ihnen aus, ließ sie in seinem Hause vor eingeladenen Gästen lateinische und griechische Theaterstücke aufführen, die Melanchthon mit einem Prolog einleitete. – – –
So groß Melanchthon als Reformator der Kirche, der Schule und der Wissenschaften dastand, und so erhaben er über seine Zeit war, so war er doch nicht ganz frei von den Vorurtheilen derselben. Er glaubte steif und fest an einen persönlichen Teufel und an die Sterndeuterei. Sein Schicksal las er, wie Wallenstein, in den Sternen. Mit Luther fuhr er einst auf einfachem Wägelchen, auf das einige Bündel Stroh gelegt sind, an einem tiefen Abhange vorbei. „Philippe! wie sehr müßte sich doch,“ sprach Luther, „der Teufel freuen, wenn er uns hinunter stürzte und uns den Hals bräche!“ Lächelnd stimmte Melanchthon bei.
Auf einer Reise von Leipzig nach Wittenberg zurück zog sich M. Philipp 1560 ein Fieber zu. Obwohl Melanchthon anfangs von der Krankheit sich nicht ganz niederwerfen ließ und noch mehrere seine gewohnten Arbeiten erledigte, so vermuthete er doch sein Ende, auch die Constellation der Gestirne schien ihm dies zu verkünden. Als die Schwäche sich mehrte, sagte er zu seinem Freunde Camerarius, der von Leipzig zu ihm beschieden worden war: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.“[WS 1] Da am 17. April vorübergehende Besserung eingetreten war, ritt Camerarius wieder nach Leipzig zurück. Beide sahen sich nicht wieder. Die Krankheit des Magisters verschlimmerte sich. In der Nähe seines Bettes hing eine große Landkarte, welche er fleißig betrachtete. Da drehte er sich um und sagte mit lächelnder Miene: „Virgundus hat mir einmal aus der Sternguckerkunst prophezeit, ich werde Schiffbruch leiden auf der See; jetzt bin ich nicht weit davon.“ Er verstand [8] darunter die gemalte See auf der Landkarte. Da seine Kräfte mehr und mehr schwanden, ließ er sich am 18. April auf seiner Studirstube ein Reisebett aufschlagen. Im Hineinlegen sagte er: „Das heißt ein Reisebett, wie, wenn ich darin abreisen müßte?“ – Er segnete darauf seine Enkel und seine Tochter, bestellte sein Haus und befahl Gott seine Seele. Am 19. brach sein Todestag an. Seine letzte Sorge war nur noch die Eintracht der Kirche. Auf die Frage Dr. Peucer’s, ob er noch etwas verlange, erwiderte er: „Nichts, als den Himmel!“ – Als Melanchthon im Todeskampfe lag, beteten Professoren und Studenten, und alle Bürger Wittenbergs trauerten.
Abends kurz vor 7 Uhr hatte er geendet und gesiegt. Noch im Tode küßten und liebkosten viele Bewohner Wittenbergs das theure Haupt, und bei seinem Begräbniß, am 21. April, sah man kein Auge thränenleer.
Kleine amerikanische Sittenbilder.
Es war ein dunkeler, milder Abend, und im Herzen der Stadt M. wogte es durch die erleuchteten Straßen wie in einem Bienenstock, der schwärmen will. Vor dem Courthause (Gerichtshause) hat sich eine unruhige Menge gesammelt und horcht theilweise den Worten eines schon heiser geschrienen Redners auf den Stufen des Gebäudes, während ein anderer Theil sich mit Privat-Discussionen beschäftigt, bis deren anschwellende Laute des Redners Worte zu verschlingen drohen, ein hundertstimmiges brüllendes „Ruhe!“ eine nur noch stärkere Opposition schafft und die Versammlung in’s Chaos überzugehen droht.
Aus einer einmündenden Straße klingt Musik; heller, strahlender Lichtschein, die Gaslaternen verdunkelnd, bricht mit den Tönen um die Ecke; ein Fackelzug naht, Raketen steigen und das Hurrah der begleitenden Menge füllt die Luft; in der Versammlung am Courthause aber scheint plötzlich jeder Zwist erloschen, und wie auf Commando erklingt beim Sichtbarwerden der Nahenden ein ohrzerreißendes Gemisch von Grunzen, Bellen, Pfeifen und Zischen – nur noch stärker antwortet das Hurrah; aber der Weg scheint sich den Herankommenden zu versperren, die Fackeln gerathen aus ihrer Linie, werden hier auf Trupps zusammengedrängt und verlieren sich dort einzeln unter der Menge; die Musik schweigt, scharfe, böse Worte durchgingen den Tumult und finden eine noch schärfere Entgegnung, ein Kampf bereitet sich vor, und die friedlichen, parteilosen Spaziergänger brechen sich Bahn nach geschützten Orten. Da erhebt sich auf den Schultern der ihn Umstehenden eine schlanke, gelenkige Gestalt, schwingt seine Fackel über der erregten Menge, daß sie einen feurigen Kreis um ihn beschreibt, und ruft, die momentan eintretende Stille benutzend: „Frieden, Bürger! Meinungsfreiheit! und wer ein ehrenhafter Amerikaner ist, der schändet nicht als Raufbold die Rechte, die er für sich selbst beansprucht! Morgen am Wahlkasten ist es die Zeit sich zu messen!“
„Frieden, Frieden!“ klingt es unter der Menge, während der Sprecher verschwindet.
„Und Hurrah für einen freien Schluck Whiskey!“ ruft eine schnapsselige Stimme dazwischen; ein jolendes Gelächter bricht los und der Friede ist gesichert, die Fackeln ordnen sich, und unter der wiederbeginnenden Musik setzt sich der Zug von Neuem in Bewegung.
Es ist ein tiefeingreifendes Interesse, was heute, am Abend vor der Wahl, die Bürger in die Straßen treibt und zu gegenseitigen Demonstrationen veranlaßt. Die städtischen Abgaben sind hoch und doch die öffentlichen Zustände nichts weniger als befriedigend; die Gelder verschwinden, ohne daß ihr Verbleib sich recht begreifen, oder daß sich ein Blick in den städtischen Haushalt erlangen ließe. Jahr für Jahr schon hat eine Oppositionspartei gearbeitet, um die Männer der bisherigen Regierung bei einer Neuwahl zu stürzen, aber in genauer Kenntniß der Mittel, welche bei Abstimmungen die große Masse des Volks zu leiten im Stande ist, haben diese mit einer kleinen Zahl ergebener Anhänger Jahr für Jahr allen Angriffen siegreich Trotz geboten, und erst jetzt sind die Freunde der Reform, durch ihre Niederlagen klüger geworden, in einer Masse und Organisation zusammengetreten, die auf einen bessern Erfolg für morgen hoffen lassen. Auf der Seite der Reform steht die ganze junge intelligente Bürgerschaft; sie hat die gewöhnlichen politischen Parteiunterschiede bei Seite geworfen und auf ihre Fahne nur „Sturz der Corruptions-Verwaltung!“ geschrieben. Auf Seite der herrschenden Partei stehen alle die Männer, welche seit langen Jahren aus der Politik eine Profession gemacht und von den erlangten Aemtern gelebt haben, stehen die Lieferanten und Contractoren, die, mit der bisherigen Regierungspartei unter einer Decke, sich Reichthümer erworben, steht die irländische Bevölkerung, die blind nach dem Commando ihrer geistlichen und politischen Führer stimmt. Die Reform vertraut auf ihre gute Sache und eine ehrlich zu erringende Mehrheit am Stimmkasten; die Partei des bisherigen Systems auf ihre Schlauheit und Erfahrung, auf die Macht des Geldes und den Einfluß ihrer Mitglieder auf die abhängigere Arbeiterbevölkerung. Die Reform hat Namen für die zu besetzenden Aemter aufgestellt, welche bis jetzt nur im bürgerlichen Geschäftsleben einen guten Klang haben; die alte Partei bringt Männer, welche die Bevölkerung noch nie anders, als in Verbindung mit einer amtlichen Stellung gekannt. –
In einem geräumigen Zimmer des im Mittelpunkte der Stadt gelegenen Hotels schreitet ein Mann mit raschen Schritten auf und ab, dem das Wohlleben aus den rosigen Hängebacken und dem wohlgerundeten Bauche redet. Auf dem Sopha lehnt eine zweite Gestalt, einen Fuß auf dem Tische vor sich, den zweiten auf einem Stuhle zur Seite ruhen lassend, rauchend und der Cognac-Mischung vor sich zusprechend.
„Ich wollte, Sir, ich hätte ein Bein gebrochen, als ich zum ersten Male für ein Amt lief!“ beginnt der Erstere plötzlich stehen bleibend. „Wenn morgen die Geschichte schief geht, bin ich ein zu Boden geschlagener Mann, der kaum wieder an’s Aufstehen zu denken braucht!“
„Aber wenn Sie durchkommen, haben Sie auch binnen zwei Jahren Ihr Schäfchen im Trocknen! “ erwidert der Andere phlegmatisch.
„Ja, wenn –! ich glaube dieses Mal nicht daran. Ich habe bei meinen kleinen Aemtern nicht einsacken können wie die Uebrigen, und was sich hat machen lassen, ist für die Kosten zu der neuen Wahl wieder drauf gegangen. Aus dem regelmäßigen Geschäfte ist man heraus, wäre auch kaum mehr im Stande, selbst anzufassen wie früher, dazu habe ich sechs Kinder, und wenn morgen –“ er hält inne und stampft mit dem Fuße auf den Boden.
„Mit dergleichen Jammer gewinnt sich keine Wahl, Sir!“ wirft der Andere hin, gleichmüthig sein Glas leerend.
„Richtig, und ich denke, es ist gethan worden, was sich nur thun läßt – wenn man sich aber eine Schuldenlast aufgeladen hat, wie ich, um den ersten großen Schlag zu wagen, wenn man sieht, daß die Gegner arbeiten wie die Teufel, daß man von dem alten bekannten Boden kaum mehr weiß, worauf zu rechnen, so überläuft den Menschen wohl einmal ein Gedanke –“
Das geräuschvolle Oeffnen der Thür unterbricht den Sprechenden, dessen Mienen plötzlich den Ausdruck einer lächelnden Zuversichtlichkeit annehmen. „Nun, Bonner, wie steht’s?“ ruft er dem Eintretenden, einem Manne in Arbeitstracht, entgegen.
„Ich denke, die erste Ward[1] steht fest, Sir!“ erwidert dieser, ein verschmitztes Auge hebend, „wir brauchen aber noch etwas Whiskey-Zuschuß, die Irländer scheinen alle doppelte Löcher im Magen zu haben, und die Wirthe fangen an, etwas schwierig zu werden – es wird hart von der anderen Seite gearbeitet –!“
Nur ein kaum merkliches Zucken geht über des Gesicht, als er das mit Papiergeld gefüllte Portemonnaie zieht. „Zehn Dollars genug?“ fragt er sich halb wegwendend.
„Ein paar Dollars mehr wären besser – aber wie Sie wollen!“ ist die Antwort, bei welcher sich von Neuem die Thür öffnet und einen sichtlich erregten jungen Mann einläßt.
„Aber, Liebster, das ist doch ein unverzeihlicher Bock, der da
[9] begangen worden,“ ruft er, kaum in’s Zimmer gelangt; „der Schuhmacher Price ist einer der einflußreichsten Männer in der fünften Ward, und Niemand hat an ihn gedacht. Er ist im Stande, uns noch heute den Rücken zu kehren und seinen ganzen Anhang umzustimmen, wenn er nicht sofort engagirt wird, für uns am Wahlkasten zu arbeiten.“
Ein neues Klappen der Thür, welchem der Eintritt zweier anderen Persönlichkeiten folgt, läßt den Angeredeten seine Antwort verschieben. „Ah, Gentlemen!“ ruft er mit einem Lächeln des Willkommens, „nur einen Augenblick Entschuldigung, hier sind Brandy und Cigarren, bedienen Sie sich!“ und zieht sodann den früher Eingetretenen hinter die Vorhänge des Fensters. „Die 5. Ward kostet mich schon mehr für einflußreiche Männer, als ich allein fast ermöglichen kann,“ sagt er hier, seine Stimme zum halben Flüstern dämpfend, „mögen die Anderen auch etwas Uebriges thun, ich kann nicht mehr!“
„Aber die Anderen sind zerstreut in allen Wards, und Sie sind hier, um das Hauptquartier zu halten,“ klingt die ebenfalls halblaute Antwort; „berechnen Sie sich nach der Wahl mit den Uebrigen, aber wenn nicht sofort das Nöthige geschieht, so stehe ich morgen für nichts!“
Noch folgt ein leiseres gegenseitiges Flüstern; dann treten Beide hinter der Umhüllung vor; der junge Mann einige Banknoten in der Hand zerknitternd, der Andere einen Schatten bleicher geworden.
„Ich habe Ihnen nur eine kurze Meldung zu machen!“ beginnt jetzt Einer der letzt Angekommenen, den Empfangenden wieder in die Fenstervertiefung führend. „Sie können,“ fährt er hier murmelnd fort, „auf 400 Eisenbahnarbeiter, die ich morgen selbst nach der Stadt bringen werde, rechnen; Mayor Reynolds hat mir die nöthigen Fonds dafür angewiesen, er überläßt aber Ihnen die passendste Verwendung, da ihre Stimmen wahrscheinlich in der deutschen Ward am nöthigsten gebraucht werden mögen. Wollen Sie mir morgen früh ein Wort im Gasthaus „zur Sonne“ gleich am westlichen Ende der Stadt hinterlassen, so werde ich rechtzeitig auf dem Platze sein können.“
„Soll bestens geschehen, dank’ Ihnen, Sir!“ erwidert Jener, mit einem Athemzuge der Erleichterung den sich Entfernenden nach der Thür geleitend. „Und Sie kommen aus der deutschen Ward?“ wendet er sich dann an den letzten der Fremden.
„Mr. Cox läßt Ihnen sagen,“ meldet dieser, „daß kaum viel zu hoffen sein würde, wenn nicht noch ein eindringlicher Schlag geschähe. Ihr Gegencandidat von der Reform, Mr. Simmers, arbeitet dort selbst und hat den größten Theil der Stimmberechtigten am Faden. Mr. Cox läßt fragen, wie es mit dem morgenden Maueranschlag stände.“
„Es würde Alles besorgt werden,“ ist die Antwort, aus der es wie eine Art Grimm klingt, „und wir wollten die deutsche Ward gewinnen, wenn auch noch zehn solche Menschen sich gegen mich zusammenthäten!“ Und als Jener das Zimmer verlassen, verschließt er die Thür und wendet sich an den Mann im Sopha. „Dieser Reformcandidat ist derselbe Mensch, der meiner Aeltesten auf Tritt und Schritt nachging, den ich aber gründlich heimschickte. Er ist ein Deutscher so gut als ich, hat aber nichts und stand immer in der Politik auf der andern Seite. Jetzt meint er mich stürzen zu können, und möglicherweise bin ich morgen Abend ärmer, als er es gewesen; aber umsonst soll er nicht gegen mich aufgetreten sein! Hier ist noch etwas zu thun für Sie, das ich nicht gut Jedermann anvertrauen kann!“ fährt er fort, ein zusammengelegtes Papier aus der Brusttasche ziehend, „es ist deutsch und englisch, und ich denke, es soll ziehen. Es muß diese Nacht noch gesetzt und gedruckt, morgen vor Tagesgrauen aber an allen Ecken angeschlagen sein. Lassen Sie in die Druckerei ein Faß Bier bringen und sorgen Sie, daß die deutsche Ward mit dem Anschlag reichlich bedacht wird. Ich will gehen und nach anderen Dingen sehen, sonst wird mir hier, ehe eine Stunde vergeht, noch der letzte Dollar abgenommen!“
Das war Capt. Bitter, welchen die Regierungspartei in diesem Jahre zum Candidaten des Schatzmeisteramtes aufgestellt – mit seinem derzeitigen Adjutanten Jim Sullivan, der das ganze Jahr nur von dem lebte, was er sich bei den einzelnen Wahlen durch seine Local- und Personalkenntniß heraus zu schlagen wußte.[WS 2]
Die Führer der Reformpartei aber durchwandern währenddem die einzelnen Wards. Gerüchte von einem Verzweiflungsschlag, welchen die Partei der alten Verwaltung zu führen beabsichtige, sind im Umlaufe. Die Irländer, heißt es, sollen gegen die Deutschen gehetzt werden, um deren Stimmabgabe möglichst zu verhindern, an anderen Orten aber jeder Reformmann eine gewaltsame Zurückhaltung vom Wahlkasten erleiden. In allen Wards finden noch Versammlungen voll enthusiastischer Reden statt. Vigilance-Committees, welche vom Tagesgrauen an ihren Stimmplatz besetzen, unrechtmäßiges Stimmen verhindern und für den Schutz des Reform-Stimmzettels sorgen sollen, werden ernannt und Verabredungen für alle sonst möglichen Fälle getroffen; noch spät nach Mitternacht findet sich Simmers, der junge Schatzmeister-Candidat der Reform, auf der Straße, aus der letzten entfernten Ward nach seiner Wohnung heimkehrend. Er ist überall mit Jubel empfangen worden, denn von seiner bekannten strengen Geschäftsrechtlichkeit hofft die jüngere Bürgerschaft eine Aenderung der bisherigen schreienden Mißbrauche. Noch liegt er indessen keine Stunde auf seinem Lager und hat soeben erst die Augen geschlossen, als ihn ein heftiges Pochen an seiner Hausthür wieder auffahren läßt. „Auf, Simmers, es giebt Arbeit!“ hört er, und bald tritt schweißtriefend ein junger Handwerker ein, breitet ein Papier vor das schnell entzündete Licht und sagt: „Hier, lesen Sie, dies wird soeben an allen Ecken angeschlagen!“ In des jungen Kaufmanns Augen starrt eine Schmähschrift, die ihn beschuldigt, mit unterschlagenem Gelde nach Amerika gekommen zu sein und damit sein kleines Geschäft begründet zu haben; die Beweise werden versprochen, sobald sie verlangt werden; die Bürger werden gewarnt, den Stadtschatz nicht einem Manne anzuvertrauen, der, im Kleinen nicht getreu, es um so weniger im Großen sein könne. – Allerdings ist keine Unterschrift vorhanden; der Eindruck aber, den eine so bestimmte Beschuldigung am Morgen der Wahl hervorrufen muß, ist kaum zu berechnen. Simmers erbleicht leicht beim ersten Durchblicken der Zeilen – dann beginnt er schärfer jeden einzelnen Satz zu prüfen. „Capitain Bitter hat das nicht geschrieben,“ sagt er endlich, wie in Beantwortung eines eigenen Gedankens; „aber er mag seine Hände im Spiele gehabt haben. – Nun, wir wollen dem vorbeugen, und ich danke Euch, Freunde, für Euere Wachsamkeit,“ wendet er sich an den Ueberbringer, „heute Abend sprechen wir weiter zusammen.“ Dann nimmt er einen Streifen Papier von seinem Schreibtische, schreibt darauf: „Neue Lüge der Corruptions-Partei!“ und klebt dies über den Kopf des Maueranschlags. Aus einem verschlossenen Kasten aber zieht er ein anderes, wohlverwahrtes Papier, fügt es an das Ende des Schmähschrift, und der Handwerker liest mit leuchtenden Augen:
„Mr. Henry Simmers ist sieben Jahr, zuletzt als Disponent, in unserm Geschäfte thätig gewesen und obgleich er uns nur mit so viel Mitteln verläßt, als ihm Sparsamkeit und streng geregelte Lebensweise zu erübrigen erlaubten, so hat er doch jeden zu gewährenden Credit bei uns, und wir sind gern bereit, bei unseren Geschäftsfreunden für ihn einzustehen.“ Eine wohlbekannte New-Yorker Firma bildet die Unterschrift, und mit einem: „Hurrah, mir jetzt um Gotteswillen rasch!“ erhebt der Lesende den Kopf.
„Ich gehe nach unserer Druckerei, es wird dort die Nacht durch gearbeitet,“ erwidert Simmers, „sorgen Sie nur binnen einer Stunde für eine Anzahl treuer Leute, die jeden Maueranschlag mit dem rechten Kopfe und Schwanze versehen, und der Spieß ist umgedreht.“ –
Es ist kaum sieben Uhr früh, aber Capitain Bitter ist bereits auf den Beinen, um sich nach dem Hauptquartiere zu begeben und dann, zur Ueberwachung der getroffenen Maßregeln, wie zur Ermuthigung seiner Partei, die Runde bei den Stimmkasten in den verschiedenen Wards zu beginnen; kaum betritt er aber die Straße, als ihm auch der nächtlich angeheftete Maueranschlag mit einem dreifachen „Lüge“ versehen entgegenstarrt, eine gedruckte Riesenhand auf die Widerlegung der Beschuldigung deutet und ihm eine plötzliche Schwäche in die Beine kommt. Er sieht, wie die Vorüberpassirenden zu kurzem Lesen stehen bleiben, sich dann aber lachend entfernen, und er dreht den Kopf weg, um nicht erkannt zu werden.
Im „Hauptquartier“ sind bereits alle die Führer der alten Partei versammelt, aber eine gedrückte Stimmung liegt sichtlich auf den Anwesenden. Nur hier und da fällt eine kurze Bemerkung und wird ebenso beantwortet. „Die Kerls müssen es mit dem Teufel halten!“ ruft Bitter, kaum eingetreten, als sei er froh, den innern Grimm herauslassen zu können, und damit scheint sich [10] eine Art Bann von den Uebrigen zu lösen; ähnliche Aeußerungen fallen und halblaute Gespräche entspinnen sich, bis eine Stimme, die anderen übertönend, laut wird. „Ich habe wohl schlimmere Aussichten für einen Erfolg gesehen und nicht verzweifelt; ich denke, Gentlemen, wir gehen auf unsere Posten und arbeiten, so viel sich noch thun läßt. Wenn nichts versäumt wird, sehe ich noch kaum einen Grund zu besonderer Sorge!“ Aber nur langsam treten einzelne Gruppen zu kurzen Verabredungen zusammen, sich dann auflösend und geräuschlos entfernend.
In den Straßen ist es stiller als gewöhnlich; die zahlreichen Trinklocale sind geschlossen, und nur in der Nähe der einzelnen Stimmplätze läßt sich durch die immer dichter stehenden Menschengruppen die Bedeutung des Tages erkennen. Bitter hat sich mit Jim Sullivan dem nächsten Spritzenhause, wo der Wahlkasten der Ward zwischen den vereidigten Wahltrichtern aufgestellt ist, zugewandt. „Hurrah für das reguläre Ticket!“[2] werden schon von Weitem vereinzelte Stimmen laut, kein Oppositionsruf antwortet, und Bitter’s Gesicht beginnt sich etwas aufzuklären. „Es sind meist Arbeiter aus den großen Werkstätten!“ bemerkt Jim mit einem scharfen Blicke in das sich entwickelnde Menschengewühl, welches die Straße völlig sperrt, „sie haben einen halben Tag frei und bekommen ihn bezahlt, ich traue aber trotzdem dem Frieden noch nicht! – Halloh, Bob, wie steht’s?“ ruft er einen der ihm entgegen kommenden Tickets-Vertheiler an.
„Curios genug!“ erwidert dieser, sich in den Haaren kratzend, „genug Leute da, aber Keins rührt sich. Es können noch keine zwanzig Stimmen gefallen sein. Am Stimmkasten stehen einige von den großen Meistern und controliren Jeden, der nicht offen sein Ticket zeigt; das scheint die Arbeiter kopfscheu zu machen!“
Bitter drängt sich rasch zwischen den Gruppen hindurch, nach allen Seiten hin freundlich nickend und herabhängende Hände drückend. „Vorwärts, Kinder, woran liegt’s? Je eher wir fertig sind, desto eher kommen wir zum Biere. Flott, immer flott!“
Da schiebt sich plötzlich ein muskulöser Arm fest unter den seinigen, und „Flott, immer flott, Jungens!“ wird eine Stimme neben ihm laut. „Hier ist Capitain Bitter, der gern eine Hand in unserm Gelde hätte, aber: Hurrah für die Reform! und wer kein Feigling ist, der thut’s mir nach!“
Bitter sieht plötzlich eine Bewegung im die Masse kommen; einen Augenblick öffnet sich ihm die Aussicht nach dem Stimmkasten, wo er einzelne von den erwähnten großen Meistern zu erkennen glaubt; aber im gleichen Momente fegt auch eine Menschenwoge dort jedes bekannte Gesicht hinweg: „Hurrah für die Reform!“ klingt es lachend und schreiend; wie durch einen Zauber sieht er das feindliche Ticket in allen Händen um sich her und ist froh dem Gewühle zu entkommen, das ihn zu erdrücken droht. Jim ist abhanden gekommen, und mit einem grimmig gemurmelten: „Lumpenpack! bis Mittag wird’s hier anders pfeifen!“ macht sich der Schatzmeister-Candidat auf seinen weitern Weg.
Er gelangt in einen feinern Stadttheil und nach einer Viertelstunde sieht er einen neuen Stimmplatz vor sich. Hier geht’s wunderbar ruhig und ordentlich zu. Glatt rasirte Gesichter und stehende Vatermörder bezeichnen die Haute volée der Geschäftswelt, überall scheint das „reguläre Ticket“ zu regieren, aber auch wo sich die „Reform“ blicken läßt, wird nirgends eine Demonstration laut. Bitter fühlt sich hier in ruhigem Fahrwasser, und sein Aeußeres erhält wieder Selbstvertrauen, bis er eines Gesichts aus dem „Hauptquarter“ ansichtig wird und darauf lossteuert. „Wie steht’s anderwärts?“ fragt er eifrig. „Die irische Ward bleibt sicher wie immer,“ ist die Antwort, „wenn’s auch noch vor Mittag blutige Köpfe geben wird. Die Reformer werden nicht zum Stimmkasten gelassen, scheinen sich aber nicht geduldig fügen zu wollen. Indessen müssen die deutsche und die beiden Arbeiterwards vor allen übrigen den Ausschlag geben, und dort soll Vieles faul sein!“
„Werden bald bessere Luft hineinbringen!“ nickt Bitter energisch. „He, Jim –!“ ruft er, als er den Genannten durch die Menschen streichen sieht, „einen Wagen genommen und hinaus nach der „Sonne“. In einer Stunde müssen die Eisenbahnarbeiter in der deutschen Ward sein – ohne Fehl, ich erwarte sie dort!“ setzt er leise hinzu. Mit einem Blicke des Verständnisses fliegt der Adjutant davon, und Bitter wandert in die Straßen hinein, um irgend eine Hinterthür zu suchen, durch welche sich, trotz des Verbotes, zu einer geistigen Stärkung gelangen läßt. Möbelwagen mit einem Musikcorps an der Spitze und der großen Inschrift: „Hurrah für das reguläre Ticket!“ rasseln über seinen Weg; sie sind dazu bestimmt, aus den entfernten Stadttheilen die säumigen Stimmgeber, die Kranken und Lahmen zum Wahlkasten zu bringen, und der Capitain winkt mit seinem Stocke den Führern einen ermunternden Gruß zu; in einer Stärke von halben Compagnien werden Trupps von jungen Fremdgeborenen nach dem Courthause geführt, um zu amerikanischen Bürgern gemacht zu werden und dann nach dem ihnen eingehändigten Wahlzettel zu stimmen, die alte Partei bezahlt heute für Jeden, der sie unterstützt, das Bürgergeld; an den Ecken stehen discutirende Menschenhaufen, und Bitter erkennt in den Sprechern wohlbekannte Gesichter; überall sieht er eine rastlose Thätigkeit sich entfalten, und mit gehobenerem Herzen schlüpft er endlich in eine enge Seitengasse, um hinter dem Glase die nächste Stunde für seine eigene weitere Thätigkeit abzuwarten.
Als er endlich, einen Feldzugsplan in seinem Kopfe umherwälzend, die Richtung nach der deutschen Ward einschlägt, kommt ihm im raschen Einspänner Simmers entgegen. „Halloh, Capt’n!“n ruft dieser, ihn bemerkend, „wir bleiben Freunde, so oder so!“
„Geh zur Hölle!“ brummt der Angerufene und wendet das Gesicht ab, rascher seinem Ziele zuschreitend. Schon als er dem letztern naht, bemerkt er zahlreiche Gestalten unter der Menge, die ihm zeigen, daß seine Bundesmacht angekommen. Vorsichtig wendet er sich durch den Menschenknäuel und läßt plötzlich ein energisches: „Hurrah für das reguläre Ticket!“ ertönen. Wie die zum Gliederfeuer angeschlagenen Gewehre, die nur des Commando’s geharrt, wiederholen neben und um ihn brüllende Stimmen den gleichen Ruf; bis zum fernen Ende der Menschenmasse klingt er wieder, und zugleich kommt unter diese eine wilde, wogende Bewegung. Von allen Seiten drängen sich rauhe, kräftige Gestalten dem Stimmkasten zu, der bald durch sie von der übrigen Menge völlig abgeschlossen zu sein scheint. Da aber wird vorn eine klingende Stimme laut: „Wer sind die neuen Wähler? Ich mag keinen Verdacht aussprechen, aber ich verlange, daß Jeder, den wir nicht kennen, durch Eid seine Rechtmäßigkeit darthue!“ – „Bravo!“ – und „Hurrah für die Reform – fort mit den importirten Stimmen!“ tönt es von hinten; Bitter, welcher seinen Verbündeten sich nachgedrängt, sieht zwei junge Deutsche neben dem Wahlplatze sich dem Andränge der Eisenbahnarbeiter entgegenstellen, sieht die Ersteren durch zehn plumpe, sich hebende Fäuste weggestoßen, aber zugleich auch die Linie seiner Hülfsmacht von hinten durchbrochen und die Bedrohten von muskulösen Gestalten umgeben. Da fällt ein Faustschlag, und in der nächsten Secunde verbirgt ein wirrer, kämpfender Menschenknäuel den Stimmplatz. „Drauf! Nieder mit den Betrügern!“ klingt es von der Rückseite der Masse, und Bitter fühlt sich in ein wildes Durcheinander hineingerissen, ein Schlag klatscht in sein Gesicht, der ihm halb die Besinnung raubt; Geschrei, Flüche und Anfeuerungen zum Kampfe tönen von allen Seiten in seine Ohren; ohne zu wissen wie, sieht er sich endlich aus der Menschenmenge erlöst, sinkt aber, seiner Sinne nicht mehr mächtig, auf den Stufen eines Hauses nieder.
Wie im Traume nur fühlt er sich endlich fortgeführt; er weiß, daß er in ein bekanntes Trinklocal geleitet wird, daß sich helfende Hände um ihn bemühen und er begierig die ihm gereifte Stärkung einschlürft, aber eine unbesiegliche Müdigkeit läßt ihn bald Alles in dem ihn überkommenden Schlafe vergessen.
Als er erwacht, ist es Abend, und bald stehen alle erlebten Vorfälle wieder klar vor ihm. Ein einzelnes bekanntes Gesicht ist über den Tisch, unweit des Divans, auf welchem er liegt, gebogen. „Wie steht’s mit der Wahl?“ fragt er.
„Schlecht,“ erwidert der Dasitzende, ohne aufzublicken, „wir brauchen nicht einmal die Stimmzählung abzuwarten. Die deutsche Ward, welche die importirten Eisenbahnarbeiter mit blutigen Köpfen heimgeschickt, hat unserer Sache noch den letzten Gnadenstoß gegeben.“
Der Daliegende erhebt sich langsam, nimmt Hut und Stock und entfernt sich wortlos, den Weg nach seiner Wohnung suchend. An der nächsten Ecke aber bleibt er stehen und blickt wie unschlüssig nach den verschiedenen Richtungen. „Es wäre vielleicht am besten, ich ginge gleich in den Fluß!“ murmelt er; dann aber, wie in einem zweiten Gedanken, schüttelt er den Kopf und sagt: „Hätte ich doch ein Bein gebrochen, als ich das erste Mal für ein Amt lief!“
[11] Langsam, den Kopf gesenkt, wandert er nach Hause und zieht die Glocke. Ein bleiches, schönes Mädchengesicht mit dunklem Haar und tiefen, großen Augen blickt ihm beim Oeffnen entgegen. „Wie steht’s, Vater?“ fragt sie, in seltsamer Spannung zu ihm aufsehend. Er wendet sich halb nach ihr, als wolle er antworten, schüttelt aber dann den Kopf und geht schweigend in sein Zimmer.
Am andern Mittag liegt Capitain Bitter noch in seinem Bett. Er hat sich früh nur die Zeitung bringen lassen, die Wahlberichte durchgesehen und dann sich wieder herumgedreht, jeden Zuspruch von sich weisend. Er fühlt, daß er am liebsten gar nicht mehr aufstehen möchte – eine Frau, sechs Kinder, einen Berg von Wahlschulden und keine Aussicht, einen Cent zu verdienen, das ist seine nächste Zukunft.
Da bringt seine Frau einen Brief und legt ihn auf sein Bett. „Vater, Du müßtest dies lesen,“ sagt sie, ihn ängstlich betrachtend.
„Von wem ist es?“ fragt er barsch, ohne aufzublicken.
„Von Mr. Simmers!“
„Er soll zur Hölle gehen!“
„Aber Du müßtest es schon Deinethalber lesen, läßt er Dir sagen!“
Zweimal bewegt er den Kopf, wie zum Aufblicken, und legt ihn wieder zurück. Endlich schiebt er die Nachtmütze von der Stirn, reißt das Couvert auf und liest:
„Sir! Ich bin überzeugt, daß Sie die verbreitete Schmähschrift gegen mich nicht verfaßt haben, und um Weiteres kümmere ich mich vorläufig nicht. Die Stimme des Volks hat zwischen uns entschieden, aber den Vater einer Tochter, welche mit Recht als der Stolz unserer deutschen Bevölkerung gilt, werde ich nicht fallen lassen und ich biete Ihnen von Herzen den Posten des mir nöthigen Stellvertreters mit 1000 Dollars Fixum an, wenn Ihr Haß gegen mich es erlaubt, Ihr Interesse mit dem meinigen zu vereinen. Lassen Sie mich ein Wort wissen, ob ich Sie heute Abend besuchen darf.“
Es währt eine lange Weile, ehe Bitter den Blick von den Zeilen hebt, während seltsam in seinem Gesichte die Farbe kommt und geht.
„Der Teufel mag sich weigern, wenn es an den Hals geht!“ Damit zieht er wieder die Decke über den Kopf, seiner Frau den Brief und die Antwort überlassend.
Zwei Tage darauf ist die Partei der Reform in neuer Aufregung, daß der gewählte Schatzmeister seinen geschlagenen Rivalen, den Mann der Corruptions-Partei, zu seinem Stellvertreter ernannt, während doch schon so Viele, die sich zu Jenes persönlichen Freunden gerechnet, auf Uebertragung des Postens gehofft; Simmers aber begegnet allen Vorwürfen mit der Entgegnung, daß er für den Mann verantwortlich sei, und erst als acht Tage später die neue Mähr die Stadt durchläuft, daß Simmers die Tochter des Capitain Bitter heirathe, löst sich das bisherige Räthsel. Bitter aber erklärt seinen Freunden, daß er nur, um sich an die Arbeit zu gewöhnen, die Stellung angenommen habe, im Uebrigen indessen sich nie wieder um ein politisches Amt bekümmern werde.
Aus der Fremde.
Es dürfte unsern Lesern allgemein bekannt sein, daß es in unseren Tagen noch Völker giebt, welche das Fleisch erschlagener Feinde oder Gefangener verzehren, ja dies sogar unter großen Festlichkeiten und mit roh pomphaften Ceremonien thun. Diese schauerliche Sitte bestand namentlich auf den Fidschi-Inseln in der Südsee bis in die neueste Zeit. Jetzt ist sie auch dort abgeschafft und zwar dadurch, daß England jene ansehnliche Gruppe herrlicher Inseln, welche die Natur mit allen Schätzen freigebig ausgestattet, in Besitz genommen hat. Die Umstände, welche England veranlaßten, jene Inseln der bereits so großen Anzahl seiner Besitzungen in Oceanien hinzuzufügen, verdienen vor Allem erzählt zu werden.
Großbritannien hielt seit mehreren Jahren einen Consul in jenem Archipel, wo sich seit längerer Zeit schon Methodisten-Missionäre niedergelassen hatten, um die wilden Bewohner für das Christenthum zu gewinnen, und es nannte einen der mächtigsten Häuptlinge, Takombo mit Namen, Tui, d. h. König. Dies schmeichelte dem Stolze und Ehrgeize desselben, wurde aber bald genug sein Verderben. Amerikaner hatten durch einige Fidschi-Insulaner Verluste erlitten, und ihre Regierung verlangte von dem Häuptlinge, der sich König nannte, Entschädigung. Dieser versicherte nun zwar der Wahrheit gemäß, daß seine Macht bei weitem nicht die ganze Inselgruppe umfasse; die Amerikaner aber ließen dies nicht gelten, lockten den Häuptling auf eines ihrer Schiffe, und hier blieb ihm keine andere Wahl, als entweder die Schuld anzuerkennen oder – gehangen zu werden. Selbstverständlich zog er das Erstere vor, aber die Summe, die er zahlen sollte, belief sich auf beinahe 100,000 Thaler, die er unmöglich aufbringen konnte. In dieser peinlichen Verlegenheit nahm er den Rath seines Freundes, des englischen Consuls, in Anspruch, der ihm denn vorschlug, sich mit allen seinen Inseln unter den Schutz Englands zu stellen, wenn dieses die Schuld für ihn tilge, auch sich erbot, die Sache zu vermitteln. Der Consul reiste 1859 nach England und nahm wohlweislich Proben von Baumwolle mit, die man auf der größten Insel der Gruppe gebaut. Diese Proben fand man vortrefflich, trotzdem ging die Regierung nicht sofort auf den Antrag ein, weil sie meinte, der eine Häuptling habe nicht das Recht, die ganze Inselgruppe abzutreten, und weil sie überdies die neue Colonie vorher genauer kennen zu lernen wünschte. Der Consul kehrte demnach nach den Fidschi-Inseln zurück, um mit einem zweiten mächtigen Häuptling, Kuruduadua, zu verhandeln. Ihn begleitete der Oberst Smyth und unser Landsmann, der Botaniker Berthold Seemann, und in Folge des günstigen Berichts dieser Beiden hat England im Laufe des Jahres 1861 die ihm von den Häuptlingen abgetretenen sämmtlichen Fidschi- oder Viti-Inseln förmlich übernommen.
Leider bestand bisher auf diesen schönen Inseln noch immer die schreckliche Sitte, Menschenfleisch zu essen, in voller Kraft trotz der Bemühungen der Missionäre, sie abzuschaffen. In allen Dörfern gab es besondere Oefen zum Braten der Opfer, und um zu wissen, wie viele verzehrt worden, hatte man die Gewohnheit, für jeden Gegessenen einen Schnitt in die Rinde eines bestimmten Baumes zu machen oder einen Stein an eine Stelle zu legen. Seemann zählte an einer einzigen vierhundert solcher Denksteine. An andern Orten pflegte man die Knochen der Geschlachteten an den Aesten der Bäume aufzuhängen und sich an den schauerlichen Tönen zu erfreuen, welche diese Gebeine gaben, wenn der Wind sie aneinander schlug. Merkwürdig ist dabei, daß die Frauen nie Menschenfleisch aßen und daß man dasselbe mit besondern Gabeln zum Munde führte, während man alle anderen Speisen mit den Fingern anfaßte. Jene Gabeln werden mit besonderer Sorgsamkeit aufbewahrt und vererben sich von Generation zu Generation.
So lange man diese Insulaner kennt (seit 1643), waren sie wegen ihrer Feindseligkeit und Grausamkeit gegen die Fremden gefürchtet, die an ihren Küsten erschienen, denn einen Jeden, den sie überwältigen konnten, pflegten sie zu tödten und zu verzehren. Ein derartiges Beispiel kennt man noch aus dem Jahre 1849. Ein Boot zerschellte an den Korallenriffen einer der Inseln, und die vierzehn Mann in dem Fahrzeuge wurden sofort als gute Beute ergriffen. Es geschah dies an einem Punkte der Küste, an welchem sich eine Missionärstation befand. Die Missionäre selbst waren nicht daheim, nur die Frauen derselben. Zwei der Schiffbrüchigen erschlug man so nahe bei dem Hause, daß ihr Angstschrei gehört werden konnte. Die Frauen eilten hinaus, und sobald sie die blutige Metzelei gesehen hatten, begaben sie sich zu dem Häuptling und baten um die Rettung der Unglücklichen. Zwar ließ er sich bewegen, die Bitte zu bewilligen, aber ehe dies geschah, waren zehn der Verunglückten bereits erschlagen.
Vor einem gleichen Schicksal rettete sich ein englischer Jude, Danford mit Namen, den seine abenteuerlichen Schicksale nach dem Fidschi-Archipel brachten, wo er noch lebt. Er hatte das Glück, zu dem Häuptlinge Kuruduadua zu gelangen, dessen hohe Gunst er sich [12] namentlich dadurch erwarb, daß er ihm von den europäischen Fürsten erzählte. Durch sein Erzählertalent gewann er sich sogar allmählich die Zuneigung des Volkes, das eine sehr lebhafte Phantasie besitzt und eine merkwürdige Vorliebe für Märchen und allerlei Wundergeschichten hat, deren sie selbst eine große Menge erfunden haben. Der Jude hatte nun in seiner Jugend „Tausend und eine Nacht“ gelesen und Einiges davon gemerkt. Großes Glück machte er namentlich mit der Erzählung von „Aladdin’s Wunderlampe“ und der Geschichte der „vierzig Diebe“. Der Häuptling ließ ihm ein Haus bauen, gab ihm Felder und Weiber und machte ihn zu einem seiner geheimen und vertrauten Räthe.
Die Frauen von Fidschi sind von mittlerer Größe und vortrefflich gewachsen, wenn auch nicht so graciös und so schön wie die von Taïti. Als junge Mädchen gehen sie ganz nackt; später legen sie einen schmalen Gürtel von Cocosnußfasern um die Hüften. Unter den Bewohnern der Inseln, die sich noch nicht zum Christenthume haben bekehren lassen, herrscht die Vielweiberei, und manche Häuptlinge haben eine sehr große Anzahl Frauen. Nur die Armen begnügen sich mit einer. Ihr Loos scheint indeß kein sehr drückendes zu sein, da sie sehr heiter sind und viel lachen. Freilich bestand noch 1856 an manchen Orten die Sitte, alle Frauen am Grabe des Mannes zu tödten.
Als die oben erwähnten englischen Commissarien bei dem zweiten Häuptlinge ankamen, mit dem sie unterhandeln sollten, bei dem bereits genannten Kuruduadua, wurden sie zu einem großen Nationalfeste eingeladen, das eben gefeiert werden sollte. Der älteste Sohn des Häuptlings war mannbar geworden und er sollte, dem Herkommen gemäß, zum ersten Male mit der Maro, dem schmalen Schurz um die Lenden, bekleidet werden. Zu dieser Ceremonie gehörten sonst grauenhafte Einzelnheiten. Man erschlug namentlich eine große Anzahl Schuldiger und Gefangener, die für diese Gelegenheit aufgespart worden waren, schichtete alle diese Leichen auf einen Haufen und legte oben darauf einen lebenden Sclaven. Der Jüngling, der unter die Zahl der Männer aufgenommen werden sollte, trennte sich dann von seinen Jugendgenossen, stieg auf diesen Leichenhaufen hinauf, stellte sich oben auf die Brust des noch lebenden Sclaven und schwang da eine Keule, während die Priester den Schutz der Götter für ihn anriefen und beteten, sie möchten ihn aus allen seinen Kämpfen siegreich hervorgehen lassen. Alles dies geschah unter dem Jubel der zahlreich Versammelten. Dann stiegen Brüder des Vaters zu dem Jünglinge hinauf, denn ihnen lag es ob, den Neffen mit dem Gürtel zu bekleiden, der aus schneeweißem Stoffe von etwa 6–8 Zoll Breite, aber vielleicht 200 Ellen Länge bestand.
Einer solchen Feierlichkeit sollten der englische Consul, Smythe und Seemann beiwohnen. Fünfhundert Unglückliche, die man zu dieser Metzelei bestimmt hatte, erwarteten mit Entsetzen ihr Schicksal, als die Europäer erschienen und den Häuptling ersuchten, ihnen das Amt zu übertragen, den Jüngling zu bekleiden. Kuruduadua schwankte, wie es schien, und zog sich dann zurück, um sich mit seinem Volke zu berathen. Als dies geschehen war, bewilligte er das Ansuchen, und nun traten die Engländer zu dem „Prinzen“, der völlig nackt, die Keule in der Hand, unter den Genossen stand, und umwickelten ihn mit dreißig Ellen weißen Kattuns, während die Priester und das Volk für ihn zu den Göttern beteten. Dann redete der Consul den jungen Mann an und forderte ihn auf, seinen Ruhm hinfort auf dem Wege der Civilisation zu suchen und ein Vorbild für sein Volk zu werden.
Damit und mit Nationalgesängen endigte die Scene, die, wie sich von selbst versteht, zwischen den Engländern und dem alten Häuptlinge im Voraus verabredet worden war und insofern von großer Wichtigkeit ist, als sie das Ende einer der blutigsten und grausamsten Gewohnheiten bezeichnet und fünfhundert Menschen das Leben erhielt. Das Volk nahm sie ziemlich gut auf, ja wurde dadurch gerührt. Der alte Kuruduadua selbst vergoß Thränen, als er erzählte, wie viel Blut geflossen sei, als man ihm den männlichen Gürtel umgelegt.
Zur Berathung über die Abtretung der Inseln an Großbritannien waren die mächtigsten Häuptlinge und reichsten Grundbesitzer zusammengekommen, und zwar bei hellem Tag auf einem freien Platze im Schatten von Palmen und Orangen. Bei Beginn der Berathung setzten sich Alle, die Frauen und Kinder aber zogen sich ehrerbietig zurück. Ein gar seltsames Schauspiel gewährte diese Versammlung nackter Männer, deren Gesicht alle Schattirungen von Schwarz bis Rothgelb zeigte und in den mannigfaltigsten Mustern tätowirt war, wie der ganze Körper, den nur der schmale Lendenschurz bedeckte, während die Arme und den Hals Schnüre von Muscheln, Schwein- und Menschenzähnen schmückten, das Haar aber in der wunderlichsten, wohl auch zierlichsten Weise aufgebaut war. Kuruduadua saß etwas erhöht neben seinen Brüdern und Räthen, unter denen sich Danford, jener Jude, befand. Einen besonderen Platz erhielten die Fremden, die erzählen, daß diese „Wilden“ sehr tüchtige Redner sind und niemals unparlamentarisch sich benehmen. Jeder sprach nur, wenn ihm das Wort gegeben war, dann aber mit Ruhe, laut, schmucklos, zur Sache und mit entsprechenden Gesten, während alle Anderen ruhig zuhörten und nur in Pausen ihren Beifall zu erkennen gaben.
Die feierliche Versammlung endigte mit einem Festmahle, und die Frauen wurden zur Rückkehr eingeladen. Da erschien zunächst eine Reihe von einhundert und sechszig Jungfrauen, deren ganze Bekleidung in einem schmalen bunten Gürtel, gelb, weiß oder roth, bestand. Jede trug ein Körbchen mit gebratenen Taros. Ehe sie vor die versammelten Männer kamen, stellten sie sich in Gruppen zusammen, je nach den Farben ihrer Gürtel. So übergaben sie die Körbchen jungen Männern, welche Alles auf einen Haufen schütteten. In der Ordnung, wie sie gekommen, entfernten sich die Mädchen wieder, die jungen Männer aber holten sieben gebratene Schweine herbei, die sie auf die Taros legten. Dann ging es an die Vertheilung dieser Speisen, und das Festmahl begann. Es war das erste, bei dem kein Menschenfleisch genossen wurde, das hinfort überhaupt, wie man versprochen hat, nicht mehr gegessen werden soll. Ob man das Versprechen halten wird, steht dahin, indeß dürfte die Rückkehr zu dieser Rohheit schwer sein, da die Missionäre, geschützt durch die Regierung Großbritanniens, sie nicht dulden und auch die Insulaner allmählich zu der Ueberzeugung kommen, daß die schrecklichen Hautkrankheiten, die unter ihnen wüthen, hauptsächlich von dem Genusse des Menschenfleisches herrühren.
Die Zahl der Bewohner des Fidschi-Archipels schätzt man auf 150,000, und alle Reisende, die ihn besuchten, rühmen die herrlichen Wälder und das Klima der Inseln, da die Hitze durch die Berge, die sie schmücken, und durch die Seeluft gemildert wird. Sonst waren sie außerordentlich reich an Sandelholz, das ein sehr gewinnreicher Handelsartikel hätte werden können, aber die kostbaren Wälder sind durch Schiffe aus China und Australien arg geplündert und so verwüstet worden, daß sie auf lange Zeit für erschöpft gelten. Der Boden ist überall üppig fruchtbar und meist auch bereits gut bebaut. Er trägt namentlich Cocos- und Sagopalmen. Daß Baumwolle mit Vortheil gebaut werden kann, haben wir bereits angeführt, und England wird sicher nicht verfehlen, seine neue Colonie nach allen Seiten hin auszubeuten.
Reisen und Reisende in der Schweiz.
Die Luft ist rein und von milder Wärme, in einer Höhe von 7000 Fuß beginnen die Blumen und Gräser aus der dünnen Erdkrume zu sprießen, weiterhin, wo sich Felsen von 9000 Fuß Höhe und darüber trotzig aus einem wildverworrenen Schrattenselde erheben, schmelzen an der Abdachung nach dem Gletscher hin die letzten Schneeflecken und bilden allerlei kleine Rinnsale, die in wilder Eile, aber lautlos zu Thale stürzen. Dort, wo die Arvenwaldung beginnt und eine grüne Schlucht sich öffnet, steht eine Sennhütte, aber weder der Senn, noch sein Vieh sind sichtbar, und nur der blaue kerzengerade aufsteigende Rauch verkündet, daß der Bewohner
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schon in seinem Sommerhause weilt. Es herrscht Todtenstille, und mit schauerlichen Gesichtern sehen die weißen Riesen der Umgebung auf den einsamen Grat nieder; die einzige Gesellschaft lebender Wesen besteht in drei Bergdohlen, die zwischen Felsgeröll nach Futter suchen, und dabei nach einander zum Scherz mit den Schnäbeln hacken. Der Stand der Sonne zeigt die Mittagstunde an, aber von dem gastlichen Geist dieser dem Gaum und Magen so holden Tageszeit ist keine Spur vorhanden; hier hat die Civilisation noch nicht das Reich der Natur verkümmert. Aber was ist das? Dort in der mit Alpenrosen halb bedeckten Felsfurche kriecht ein lebendes vier- oder zweifüßiges Wesen bergan, es trägt einen mit dem Gemsbart geschmückten grauen Spitzhut, eine einst blaue, verblichene Blouse und grüne Gamaschen, es hilft sich mit einem Alpenstock mühselig weiter, jetzt hat es die Felsplatte erreicht, wischt den Schweiß von der Stirn, ein anderes Wesen mit Gepäck auf dem Rücken folgt ihm, rollt einen Plaid auf und wickelt ihn rasch um die Schultern des männlichen Säugethiers mit den grünen Gamaschen.
Der erste Reisende der Saison mit seinem Führer ist auf der Höhe eingetroffen, ein Exemplar jener merkwürdigen Gattung von Geschöpfen, welche der treffliche Friedrich von Tschudi in seinem beliebten Werke „das Thierleben der Alpenwelt“ entweder vergessen oder aus Zartgefühl absichtlich ausgelassen hat. Sobald die Schneefelder dem warmen Strahl der Sonne weichen und die Höhen gangbar werden, erscheint zuerst die in ganz Europa verbreitete, aber in der weiten Fläche zerstreut lebende Species des Schweizerreisenden, der sogenannte „gemeine Meilen- oder Stundenfresser“, auf den Alpen. Den Winter und das Frühjahr hindurch lebt er in den Städten von Actenarbeit, Rechtshändeln, Vorlesungen, Bücherschreiben und Gymnasialunterricht, wird seines bissigen Wesens wegen gefürchtet, ist von magerer Leibesbeschaffenheit, [14] hat tiefliegende Augen mit einem gelblichen Hofe und liebt das Kurella’sche Brustpulver oder auch gebackene Pflaumen, die er selbst nüchtern in den Morgenstunden, jedoch ohne die Steine, verzehrt. Gleich jenen Geschöpfen, die den Moschus, Bisam und Bezoars liefern, zeichnet er sich durch eine „Hämorrhoiden“ genannte Eigenthümlichkeit aus, die ihn, nachdem er schon Monate lang dadurch lebhaft beunruhigt worden, endlich in den längsten Tagen des Jahres aus den Mauern der Städte auf die Berge treibt.
Hier findet man ihn im Juli, August und September auf allen für Fußgänger besonders schwierigen Straßen und Punkten, meistens in Begleitung eines Führers oder Knaben, niemals aber zu Pferde. Den Namen „Stundenfresser“ hat er wegen seiner Manie erhalten, die längsten Tagereisen ohne sonderliche Rast zurückzulegen und das Vergnügen seiner Reise nach den möglichst in einem Athem durchrannten Strecken abzuschätzen. An seinen Füßen trägt er außer den Gamaschen dicke, mit ungeheueren Nägeln beschlagene Schuhe, welche, von Seinesgleichen im gebirgigen Norden Deutschlands angewandt, den Harz oder Thüringen als Berglandschaft vollständig ruiniren würden. Seine Tracht verziert er gern mit Haaren und Federn von Alpenthieren; er liebt vor Allem die Hörnchen der Gemsen und die Spielhahnfeder. Wegen Milz- und Leberbeschwerden strebt er nach einer von seinen städtischen Gewohnheiten ganz abweichenden Lebensweise und schließt sich gern den Sennen an, bei denen er sich Tage lang von Milchkost nährt. In den Hotels entwickelt er einen ungeheueren Appetit, auch wohl mäklerische Unarten, die er von Hause mitgebracht, aber unterwegs durch philosophische Reflexion unterdrückt hat. Er glaubt noch an den Original-Gemsbraten und ißt während der Schonzeit den ältesten Ziegenbock des Dorfes als ein im Hochgebirge geschossenes Zicklein. Er führt regelmäßig in der Reisetasche ein Notizbuch, in welchem er Abends die Ereignisse jedes Tages aufzeichnet, um im Winter daraus kleine Artikel für das Localblatt seiner Heimath oder Vorlesungen für Damen anzufertigen. Wie gesagt, trifft man ihn überall, vom Genfer- bis zum Bodensee, von Basel bis Pontresina in der Nähe des Bernina, im Chamouni, wie im Lauterbrunnenthal, nur nicht in Pensionen und Ortschaften, die sich für einen längeren und ruhigen Aufenthalt eignen.
Eine seltenere und feine Spielart dieses Reisenden ist das in England und vorzüglich in London lebende „Mitglied des Alpenclubs“. Man begegnet ihm in Savoyen, im Engadin, am häufigsten aber in Zermatt, am Ende des Vispachthales. Er unterscheidet sich von dem gemeinen Fußreisenden, wie der Gold- und Silberfasan von seinem böhmischen Vetter, dessen Braten wir ohne wissenschaftliche Gemüthsbewegung verzehren. Das Mitglied des Alpenclubs gelangt zu dieser Würde erst nach Ersteigung gewisser Höhen über der Meeresfläche und nach Zurücklegung ausgezeichnet schwieriger Wege. Kenntnisse in der Physik, Mathematik, Geologie und Chemie dürfen ihm nicht fremd sein, da es zur Anstellung von Beobachtungen für den Club verpflichtet ist und zu den gelehrten, an Tabellen arbeitenden, für Akademieen schreibenden und sammelnden Touristen gehört. Der Alpenclubbist ist stets ein gesunder, stattlicher Bursche von mehr Manieren, als seine ungelehrlen Landsleute, da er die Hülfe der Eingeborenen dringend braucht und die Erfahrungen der Reisenden anderer Nationen gern für seine Zwecke ausbeutet. Die Tracht dieser Herren ist anscheinend nach einer Theorie des Clubs geordnet und mit englischer Praxis allen Schwierigkeiten der Bergreisen angepaßt. Leichtere, aber doch unverwüstliche Bergschuhe, Kniehosen, lederne oder wollene Strümpfe, ein elegantes rothes oder blaues Hemde aus Vigognewolle, ein Hut, unter dem ein zartes, leinenes Tuch den Hals vor dem Sonnenbrande schützt, handliche Bestecke und Becher, Schreib- und Zeichenmaterialien, Alles auf den engsten Raum zusammengepackt, vollenden die Ausrüstung. Das Mitglied des Alpenclubs hat längst sein Testament gemacht und fügt vor der Abreise auf den Continent ein Codicill hinzu, einen Beitrag für milde Anstalten betreffend. Da sein Beruf ihn wesentlich auf Gletscherfahrten, Durchwaten von Schneefeldern, Ueberkletterung von Felsspalten auf Leitern, Ersteigung der äußersten Bergspitzen mittelst in das Eis gehauener Stufen anweist, regt sich in ihm eine löbliche Neigung zu religiösen Uebungen. An den wichtigsten Anfangspunkten der Bergfahrten des Clubs halten sich daher, z. B. zu Zermatt, junge Geistliche auf, welche den sonntägigen Gottesdienst feiern, beim Diner den Vorsitz führen, durch ihre fromme Gegenwart jeden sittigen Engländer, auch wohl solchen deutschen Heiden, wie den Verfasser dieser Naturbeschreibung, veranlassen, nach der Landessitte Messer und Gabel stets über Kreuz zu legen, und den Clubbisten den nöthigen geistlichen Beistand leisten, sobald sie Rippen, Arme und Beine zerbrochen oder anderweitige lebensgefährliche Unfälle erlitten haben.
Die heroische Species der Alpenclubbisten sucht mit sichtlicher Leidenschaft jungfräuliche Gipfel zu ersteigen, oder auf ältere Berge von einer neuen Seite zu klimmen, errichtet auf allen Spitzen weit sichtbare Malzeichen und versteckt in Spalten gern Thermometer mit jener den Physikern bekannten Vorrichtung, den tiefsten Kältegrad des Winters für die Beobachtung des nächsten Clubbisten zu fixiren. Die Schweizerführer haben eine geheime Scheu vor dieser stattlichen Race, weil die Angehörigen derselben ihr Leben ebenso leichtsinnig in die Schanze schlagen, wie ihr Geld, und es für eine Auszeichnung halten, ihren Namen auf dem Leichensteine irgend eines entlegenen Alpenkirchhofes zu lesen.
Ganz das Gegentheil des Alpenclubbisten ist die häufig vorkommende Bastardart des falschen Clubbisten, dessen Beobachtung die Zoologie erst den neuesten Naturforschern verdankt. Der falsche Gletscherfahrer wird von der Oberflächlichkeit zwar vermöge seiner gutnachgemachten Außenseite leicht mit dem Original verwechselt. Dem Scharfblick macht sich indessen die kokette Ausstaffirung seiner Effecten verdächtig, aber auch der Neuling erkennt ihn sehr bald am „Pferde“ oder „Maulthier“ als nachgemacht. Der echte Alpenclubbist reitet nie und wird deshalb von allen seinen weniger rüstigen Landsleuten mit größter Hochachtung behandelt. Die bezeichnete Bastardspielart renommirt ferner bei Tisch mit ihren Exkursionen, trägt Compasse und Thermometer, chirurgische Bestecke und Arzneibüchsen tendenziös zur Schau, verhält sich aber der Unbill des Wetters gegenüber überaus weichlich. In Randa, am Fuße des berüchtigten Gletschers, der im Jahre 1819 herabstürzte, wurde ich eine Stunde lang durch einen jungen, prachtvollen Clubbisten arg getäuscht. Es stürmte draußen rasend, und der Jüngling erzählte während dessen mit Wonne von seiner Besteigung des Monterosa; als aber das Schweizermädel im Kamin ein Feuer aus Lärchenholz anzündete und der prachtvolle Clubbist sich zuerst vor mehreren Damen herandrängte, um seinen hintern Menschen zu wärmen, war er in meinen Augen sofort entlarvt und nie Mitglied des tapfern Clubs gewesen.
Zu den interessantesten Spielarten der Schweizer Fußreisenden gehört die Species der Inseparables. Sie leitet ihren Namen von der Eigenthümlichkeit des Männchens her, das Weibchen stets mitzunehmen, mit ihm aus einer Schnapsflasche zu trinken, schlimmsten Falles auf demselben Heu zwischen Führern und Pferdeknechten zu schlafen, mit großer Ausdauer die schwierigsten Kämme zu überschreiten und jeder Witterung Trotz zu bieten. Das Weibchen ist nur ganz in der Nähe vom Männchen durch seinen bis hoch über die Kniee aufgeschürzten Rock zu unterscheiden; hinsichtlich der Größe der Hände und Füße, der Derbheit des Knochensystems, der braunen Gesichtsfarbe und der groben Stimme sind beide Geschlechter einander bis zum Verwechseln ähnlich. Am leichtesten erkennt man den Hahn an dem Ranzen, den er über die Schultern gehängt trägt. Die Inseparables durchziehen alljährlich die Schweiz und sind in den meisten Hotels bekannt und angesehen. Sie gehören zu ihren Stammgästen, und ein unerfahrener Fußreisender erspart viel Geld, macht gute Erfahrungen und reist mit Sicherheit, wenn er stets hundert Schritte hinter einem solchen behäbigen Paare drein geht und in Kost, Logis und Reiseeintheilung unbedingt seinem Beispiele folgt. Kann er das Vertrauen der Inseparables erwerben, so ist es für ihn noch vortheilhafter. Auch dem Fußreisenden, der sein Junges, gewöhnlich einen deutschen Gymnasiasten oder englischen Kostschüler, mit sich führt, darf der Unerfahrene unbedingt vertrauen, insofern er nicht von verwöhnterer Complexion ist, denn fußreisende Väter und Onkel in Begleitung ihrer Kleinen sparen in pädagogischer Tendenz gern Geld, nehmen keinen Anstoß, in Ställen, hart über den Ferkeln und unter den Ziegen zu schlafen, leben nicht selten Tage lang von einer Morgenportion Kaffee, nebst Käse und hartem Brod in den späteren Nachmittagsstunden, und gehören zu den hartmäuligsten Trabern der Felspfade.
Den Sonntagsfußgänger fängt der Naturforscher leicht in Wäggis am Rigi, in Thun, Zürich und Interlaken. Er klagt in den meisten Fällen über eine Blase am Fuß, entzündete Augen und hartnäckige Verstopfung. An ihm zehrt eine krankhafte Schwermuth, die auf einen mit eingebrannten Berg- und Paßnamen versehenen [15] Alpenstock gerichtet ist, ohne daß er ihn sich jedoch anders, als durch Kauf von einem die Schweiz verlassenden und des schwer transportabeln Geräthes überdrüssigen Touristen verschaffen kann. Mit einem großen Aufwand von Redensarten bringt er sich endlich auf den Rigi oder die Wengernalp, ersteht dort mit beträchtlichen Kosten einige Holzschnitzwaaren zum Andenken für die Seinigen und beschließt seine Reise durch die Erwerbung einer bunten Reliefkarte der Alpen in Zürich. Im Winter erkennt man ihn in der flachen Heimath leicht an seinen selbstzufriedenen Erzählungen von gemachten Bekanntschaften berühmter Bergsteiger und Führer. Im Haslithale lebt ihm ein vertrauter Freund, der zweimal in eine Gletscherspalte gefallen und glücklich herausgeholt worden!
Zuweilen wird der Sonntagsfußgänger von einer fieberhaften Verlegenheit überfallen, die, namentlich in der Schweiz selber, unerfahrene Personen in große Verlegenheiten stürzen kann; man thut daher wohl, den Angaben keines Sonntagsfußgängers unbedingt zu trauen, oder gar seinen persönlichen Anschluß zu dulden. In letzter Instanz ist er immer auch Sonntagsesser, Trinker und Schläfer. Er verursacht regelmäßig mehr Unbequemlichkeiten, als Vergnügen durch seine Gesellschaft. Aber er kann vermöge seiner zeitweiligen Begeisterung und Ekstase zu den angenehmen Genossen bei Tisch gehören. Der kantigste Champagner von Neuschateller Fabrik wird in den Hotels für den enthusiastischen Sonntagsfußgänger aufgespart, und die zur Cither jodelnde Schweizerin verdankt seiner Emphase stets ihre reichlichste Gabe. Kann er irgendwo, wenn auch nur für Stunden, „Nationaltracht“ anlegen, so thut er es nicht mehr als gern, selbst wenn er sich dadurch von Seiten eifersüchtiger Eingeborenen des Landes Unannehmlichkeiten zuzieht. Mißlingen ihm durch schlechtes Wetter Bergpartien, so ergiebt er sich gewöhnlich dem Molkentrunk oder dem Fischfang, obgleich selbst die Forellen ihn zu kennen und zu verachten scheinen. Die meisten schlechten Verse und Verwünschungen des Gebirges in den Fremdenbüchern der Hotels, aber auch die wärmsten Empfehlungen in den Albums der Führer rühren von dieser weitverbreiteten Gattung der Reisenden her. Jüngere Exemplare werden nicht selten von Leidenschaften für Mädchen in der kleidsamen Tracht des Berner Oberlandes verzehrt und zeichnen ihre Portraits mit Bleistift.
In dunklen Schluchten, an steilen Felswänden, wo mannigfaltige Gesteine klar zu Tage liegen, auf Matten, die sich durch seltene Alpenpflanzen auszeichnen, an eigenthümlicheren, entweder rasch vorrückenden oder zurückweichenden Gletschern, trifft man die freundliche Spielart des deutschen Professors. Seiner geringen, oft hart mitgenommenen Tracht nach gleicht er einem ärmeren Landmann; da er als gefühlvoller Mensch seinen Bart nur dem Messer eines städtischen Figaro’s anvertraut, starrt aus den Wangen des Professors ein wildes, meistens schon angegrautes Grummet, die Bergschuhe sind vielfach geflickt, die leinenen Kleidungsstücke nicht übermäßig reinlich, Alles deutet auf Strapatzen und rastlosen Fleiß in der Erforschung schwer zugänglicher natürlicher Gegenstände. Der sparsame, Monate lang die Alpen durchwandernde Professor bedient sich keines Führers, sondern nur eines Knaben, der für eine Kleinigkeit seine Reisetasche von Dorf zu Dorf trägt. Regnet oder schneit der Professor ein, so beginnt er gleich am Kaffeetisch, mitten unter den schwatzenden Touristen, an seinem Tagebuch zu arbeiten, oder mikroskopische Untersuchungen von Pflanzentheilen oder aufgespießten Insecten anzustellen. Immer führt er etwas häßliches Mehrfüßiges in Spiritus bei sich, das er unumwunden zwischen das Kaffeegeschirr und die Milchtöpfe stellt, ohne an den Ekel und das Grauen der Laien zu denken. Der Wechsel von Einsamkeit und Umgang mit den verschiedenartigsten Menschen haben ihn zum Humoristen gemacht; Heil dem gebildeten Reisenden, den er in seiner Nähe duldet, oder dem er gar gestattet, sich ihm für längere Zeit anzuschließen! Er kennt die Schweiz aus- und inwendig. Es giebt kaum einen Ort in den Alpen, an dem er nicht schon einmal gewesen wäre. Wißbegierige Menschen können in jeder Hinsicht von ihm lernen, vorausgesetzt daß sie seine Marschrouten aushalten, denn unter gewissen Umständen ist der deutsche Professor nichts weiter, als ein „gemeiner Stundenfresser“ der gefährlichsten Art. In mancher Hinsicht ähnelt ihm der reisende Künstler (Landschaftsmaler), doch sucht dieser statt düsterer, verkommener Punkte, wo das zerbröckelte Material des Erdballs deutlicher zum Vorschein kommt, gewöhnlich nur die liebenswürdigen Seiten der Natur auf. Er wird nicht selten in Gegenden angetroffen, wo sich sonst nur die Gemsen und Murmelthiere wohl zu fühlen pflegen. Diese beiden Species von Reisenden sind in den Hotels wenig angesehen, da sie nicht viel verzehren und fast niemals mit dem Reisetrain von Führern, Kutschern und Trägern in Verbindung stehen. Der Künstler ist schon vermöge seiner Beschäftigung gewöhnlich ungesellig und nur Abends in Sennhütten genießbarer. Er jodelt und versteht das Alphorn zu blasen.
Erstrecken sich diese mannigfaltigen Species des Fußreisenden bis in die Region der Hochalpen, ja der Firnmeere und des ewigen Schnees hinauf, so beschränkt sich der reitende Tourist fast ganz auf Gegenden in der Höhe der Mittelalpen. Er liebt gute und reichliche Fütterung, namentlich warme Fleischspeisen und frisches Brod, ist zu verwöhnt, um auf Heu zu schlafen, will seinen Durst mit Wein löschen und vermeidet daher grundsätzlich die höheren Regionen, wo dem Menschen nur Milch, Käse und hartes Brod geboten werden können. Niemals trennt er sich von gewissen Bequemlichkeiten des bürgerlichen Lebens, er führt einen reichlichen Wäschevorrath mit sich, Seifen feiner Art, Pomaden und Parfüms, er verfügt stets über einen ausreichenden Cigarrenvorrath, eine kleine Reiseliteratur zur Ausfüllung von Regentagen, und disponirt der Sicherheit wegen über Anweisungen auf Banquiers in Genf und Basel. Befindet sich das Weib seiner Wahl mit ihm auf Reisen, so wird nicht selten ein drittes Roß oder Maulthier zum Tragen der Effecten gemiethet, das nicht selten unter einer Last von drei bis vier Koffern seufzt.
Im Rhonethale brachte ich einen halben Tag in Gesellschaft eines solchen (alten) Ehepaares zu. Der Gatte, ein Lord von schwerstem Kaliber, kleidete sich täglich dreimal um. Frühmorgens repräsentirte seine Toilette in den Stunden, wo gewöhnlich bergan geritten wurde, den „Frühling“: mitteldichter Rock, leichterer Plaid, halb Regen- halb Sonnenschirm[WS 3], schottische Mütze, braune Gamaschen, Cognac! Von elf Uhr an ging er in den „Sommer“ über: weiße Tracht, feiner Leinen, Sonnenschirm, hellgraue Gamaschen, Glacé- oder seidene Handschuhe, blaue Brille oder grüner Flor, moussirende Limonade aus Sion, Mittagschlaf auf dem Sopha des Gastzimmers! Um drei Uhr begann der Winter: langer Oberrock, dunkler Hut, bis an den Hals zugeknöpfte Weste, Stiefeln mit dicken Sohlen, dunkelgrüner Regenschirm, schwarze Cravatte, Bordeaux! Mylady folgte zwar nicht ihrem Gemahl in der Nachbildung der Jahreszeiten, allein sie war von Bewunderung seiner Person durchdrungen und betrachtete den merkwürdigen Gespons nach dem Uebergange aus einer Saison in die andere oft Viertelstunden lang durch ihr Augenglas. Nach Tisch hielt sie ihren Mittagsschlaf, gelehnt an die Schulter des „Winters“; das schien zur Tagesordnung des Paares zu gehören.
Der größere Theil der in Gruppen reitenden Touristen stammt überwiegend aus England und Amerika, doch rekrutirt er sich in den letzten Jahren auch stärker aus Frankreich und Deutschland. Er giebt den Ton in den Hotels an und entscheidet über die Rentabilität der Saison. Als ich einen Oberkellner mit weißer Cravatte nach dem Reisebesuch des letzten Jahres fragte, sagte er, wie Talleyrand das Kinn in die Cravatte ziehend: „Monsieur, die Saison ist verpfuscht!“ Das Hotel wurde seit acht Tagen nur von niederträchtig wohlfeilen Fußreisenden, pro Kopf und Tag zu acht bis zehn Franken gerechnet, besucht. Dabei muß das gastliche Helvetien zu Grunde gehen. England sitzt obenan beim Mittagstisch, in manchen Hotels hat es sogar eine eigene Specialtafelrunde, und der gemeine Tourist wird an den „Katzentisch“ verwiesen. Für die Cavallerie der Alpen werden die besten Cotelettes, die frischen Eier, die ruhigsten Zimmer, die trockensten Betten verwahrt. Die Insulaner werden zuerst, oft sogar allein aufmerksam bedient. Ihnen werden in kritischen Fällen stets die besten Pferde, die sichersten Kornaks zu Theil. Die Zahl der schweizer Gasthäuser ist seit einigen Jahren jedoch so angewachsen, daß diese Unbequemlichkeit für anspruchslosere, namentlich deutsche Reisende zu verschwinden beginnt, allein es giebt noch immer empfindliche Naturfreunde, die lieber in Tyrol Mangel und Entbehrungen ertragen, ehe sie sich in der comfortabeln Schweiz absichtlich hintenan setzen lassen. Nur die eingetretene große Concurrenz der Wirthe kann diesen couventionellen Uebelstand beseitigen, doch giebt es auch noch glückliche Districte, in denen der englische Reisende sich noch nicht übermäßig vermehrt hat, so die östliche Schweiz, vorzüglich das Oberinnthal.
Bis zur Bösartigkeit verwildern kann der reiche englische [16] Tourist, wenn er sich an einem schönen Punkte für längere Zeit ansiedelt und in Pension thut. In Vevey[WS 4] am Genfersee, in Interlaken, in Luzern und in Zürich artet er zuweilen förmlich in einen „Gorilla“ der touristischen Menschheit aus. Er geht, wie wir, zwar noch auf den Hinterfüßen, allein jeder minder von sich eingenommene Sterbliche wird wohlthun, seine Nähe zu meiden. Der aristokratische Gorilla hält sichtlich alle anderen Nationen, ja seine bescheideneren und gebildeten Landsleute, für „unrein“. Auf dem Dampfboote setzt er sich mit dem Rücken gegen das Proletariat gerichtet, selbst wenn er dadurch den Anblick der herrlichsten Gegend einbüßen sollte. In den Salons und Gärten der Pensionen legt er Beschlag auf die reizendsten Lauben und die elegantesten Fensternischen. Wenn man ihm und seinen Angehörigen nicht zu nahe kommt, verhält er sich ruhig, allein er flößt dem furchtsamen Deutschen meistens Furcht ein, auch wenn er von ihm keine Notiz nimmt. Er starrt von Vornehmheit, wie das Stachelschwein von seiner natürlichen Wehr. Auch das Hotel, in welchem er sich nur vorübergehend aufhält, sucht der Engländer in ein „Castell“ umzuschaffen und wenigstens mit „Armstrong-Blicken“ daraus zu feuern. Im Hotel Byron zu Villeneuve gerieth ich Abends halb neun Uhr in den Speisesalon. Ich hatte seit acht Stunden nichts genossen und setzte mich hungrig an den in der Mitte des großartigen Saales stehenden Tisch, die mir versprochenen Reste der Mittagstafel erwartend. Ringsum in den weiten, mit seidenen Gardinen verhüllten Fensternischen nahm bei hohen, strahlenden Astrallampen Altengland den Thee ein. Herren und Damen waren in großer Toilette, man trug sich almacksfähig, es wurde Morningpost gelesen, der alte Lord Mac Steaks lag träumerisch hinten übergebeugt im Lehnstuhl, sein jüngerer Gefährte, Lord Fitz Roastbeef, stocherte mit einem goldenem Kneif seine langen Zähne, Mylady knotete lebensmüde an einer Filetarbeit. Der unglückliche Kellner (Wehe ihm!) hatte mein Couvert in ihre Nachbarschaft gelegt; sie betrachteten mich wie einen mit dem Aussatz Behafteten. Mylady und ihre Tochter richteten ihre gläsernen Fischaugen magisch gehässig auf mich, und die Lachsforelle blieb mir im Halse stecken! Ich kann noch heute nicht begreifen, daß ich davongekommen bin, ohne versteinert worden zu sein.
Jungengland hat sich seit der Macdonaldgeschichte außerordentlich gebessert. Schon kommt es vor, daß ein jüngerer Gentleman dem älteren Deutschen Salz und Pfeffer reicht, mit ihm ein Gespräch anknüpft und ihm unterwegs Hülfe leistet, oder ihm auch wohl einen frischen Trunk aus seinem Becher anbietet, aber das „jüngste England“ unter zwanzig Jahren läßt immer noch viel zu wünschen übrig. Diese Jungen, wenn sie sich mit Fischfang beschäftigen und stundenlang wie verdorrte Stämme mit der Angelruthe in der Hand dastehen, oder in ihren eleganten Kielböten flegelnd das Seeufer unsicher machen, gehören zu den großen Schattenseiten des Aufenthaltes in Pensionen. Durch die deutschen Reisenden wird die meiste Mannigfaltigkeit an diesen beliebten Ruhepunkten gebildet. Sie leben gern von anderen Nationen getrennt und finden sich sehr bald in gemüthlichen Gruppen zusammen, deren jede einem „Weisel“ zu folgen pflegt. Bald männlichen, bald weiblichen Geschlechts ordnet er stets die Vergnügungen an, handelt um Wagen und Pferde und thut sich durch eine bemerkenswerthe Suada, gemeinhin in mehreren Sprachen, hervor. Der „Weisel“ versteht sich auf Gesang und sorgt für Quartetts oder doch für Volkslieder. An die Spitze von Excursionen, die mit Laternen um Mitternacht aufbrechen und ein Maulthier mit Proviant und Mänteln mitnehmen, stellt er sich gar zu gern. Nicht selten besucht er jährlich dieselbe Pension, schafft ihr ein bestimmtes Publicum, einen guten Ruf und genießt deswegen im Hause fast göttliche Verehrung. Wenn er abreist, brennt der Wirth ein Feuerwerk im Garten ab, falls die Häuser im Orte nicht aus Holz gebaut sind, der dumme Junge der Pension, der die Schuhe und Kleider reinigt, löst sich in Thränen auf, und die Wirthin bäckt am letzten Abende einen riesigen Obstkuchen. Wir gerathen hier indessen zu tief in die Geheimnisse des schweizerischen „Stilllebens“ hinein, die wir vielleicht gelegentlich in einem anderen Genrebilde behandeln; überlassen wir den Reisenden ruhig seinem jetzigen Winterschlafe.
Blätter und Blüthen.
Ludwig Köhler. Die jüngste dichterische Schöpfung dieses rastlosen
Geistes im gebrochenen Körper: „Die Dithmarsen, historisches Volksdrama in fünf Aufzügen“ (Hildburghausen, Selbstverlag des Verfassers;
den Bühnen gegenüber Manuscript), ist eine so gelungene, daß
wir sie zur Veranlassung nehmen, unsern großen Leserkreis mit dem Dichter
selbst näher bekannt zu machen. Köhler ist ein Mann aus dem Volke,
aus der Armuth, die leider auch diesem Dichter nie ganz untreu ward.
Geboren 1819 zu Meiningen, rang er sich durch den Fleiß der stillen
Nächte vom Lohnschreiber zum Studenten empor. Er lag den schönen
Wissenschaften ob, erst in Jena, dann in Leipzig und zuletzt in München.
Als seine besten Werke werden anerkannt von seinen größeren Romanen sein
„Thomas Münzer“, ferner seine Novellensammlung „Primavera“
und seine „Freien Lieder“ (2. Auflage), die zu den besten Leistungen der
neuern Lyrik gehören.
Um sich, seiner zahlreichen Familie zu Liebe, eine feste Existenz zu begründen, zog er nach Hildburghausen, wo er, als einer der vorzüglichsten Schriftsteller des Bibliographischen Instituts, an der Redaction der großen Meyer’schen Conversationslexika betheiligt ist. Hier gingen auch seine ersten Dramen „Bürger und Edelmann“ und „König Mammon“ zuerst über die Bühne. Letzteres kam auch auf mehreren Hoftheatern, zu Coburg, Meiningen, Gotha, Braunschweig etc. zur Aufführung und fand entschiedenen Beifall. Mehr als bloßen „Beifall“ erwarten wir aber von der Wirkung seines jüngsten Dramas: „Die Dithmarsen“, das eine öffentliche Stimme an poetischem Werthe unbedenklich den „Makkabäern“ Otto Ludwig’s gleichstellt, vor denen es noch den Vorzug habe, einen Stoff von so hohem nationalem Interesse zu behandeln: den siegreichen Kampf eines freien deutschen Heldenvölkleins gehen die dänische Königsmacht.
Könnten wir den Leser in des Dichters Arbeitsstübchen führen, sie würden
vor ein ergreifendes Bild treten. Sieben in herrlicher Gesundheit
blühende Kinder gruppiren sich arbeitend oder spielend um einen Mann,
den jahrelanges Siechthum fast zum Greise gekrümmt hat und dessen
Augen allein von der Kraft des Geistes zeugen, die ihn zu rastlosem Schaffen
treibt, aber auch von der trüben Sorge, die sie um die Zukunft seiner
Lieben umdüstert. Unwillkürlich muß man zu dem Gedanken kommen, daß
die Schillerstiftung kaum einen Würdigeren für ihre thätige Theilnahme
finden könnte, als Ludwig Köhler. – Vor Allem wünschen wir
aber die Aufmerksamkeit der Bühnendirectionen auf Köhler’s Dithmarsen
hingelenkt zu haben; möge das Publicum selbst allenthalben nach
diesem Drama verlangen, damit dem vielgeprüften Dichter der wohlthuendere
Lohn werde, den er in vollem Maße verdient hat.
F. H.
Ein buchhändlerisches Flottengeschäftchen. Die Speculation des
Kramladens feiert die Feste, wie sie fallen, sie bietet, je nachdem, Schillercigarren
oder Garibaldibonbons feil. Das mag als ein unschuldiges Vergnügen
des Kleinhandels passiren; es schadet Niemandem, als höchstens
dem Käufer, der sich um des schönen Namens willen gewöhnliche Waare
um höheren Preis aufhängen läßt. – Wenn aber die Verlags-Buch- und
Kunsthandlung „Möser und Scherl in Berlin“ einem Product der
Romanschreiberei, das „Hermann, den ersten Befreier Deutschlands“, als
patriotischen Gegenstand einer „romantischen Geschichte“ benutzt, zur Ehre
und zur pecuniären Einträglichkeit eines Nationalwerkes dadurch verhelfen
will, daß sie verspricht, „bei einem Absatz von 32,000 Exemplaren 10,000
Thaler zur deutschen Flotte zu geben,“ – so müssen wir gegen eine solche
ungehörige Ausbeutung des Patriotismus der deutschen Nation unsere
Stimme so laut wie möglich erheben. Wir trauen unseren Lesern so viel
Rechenkunst und so viel Vaterlandsliebe zu, daß sie nicht 2 Thlr. 20 Gr.
für ein werthloses Buch bezahlen, um der deutschen Flotte 10 Gr. zuzuwenden!
Und wenn das beste Werk unsrer gesammten Literatur
in solcher Weise benutzt würde, so könnte all sein Werth das
unwürdige Spiel nicht entschuldigen, das dadurch mit dem heiligsten Gefühl
und dem edelsten Streben einer Nation getrieben wird. Vor dieser, wie
vor jeder ähnlichen frechen Speculation auf den deutschen Patriotismus
werden wir unsere Leser allezeit eindringlichst verwarnen.
Kleiner Briefkasten.
R. in Magdeburg. In Preußen ist von dieser Nummer ab die Wochen- und Monatsausgabe der Gartenlaube steuerfrei. Sie haben auf der
Post oder beim Buchhändler stets nur 15 Ngr. pro Quartal zu zahlen.
R. in Z. Wir haben den Nachdrucker Gutknecht in Bern schon früher als einen – bezeichnet und werden nächstens noch in ganz anderer Weise gegen diesen Herrn vorgehen. Wenn die Schweizer Gesetze uns nicht gegen literarischen Raub und Diebstahl schützen, so müssen wenigstens diejenigen vor ganz Deutschland gebrandmarkt werden, die sich nicht schämen, ihre Hand an fremdes Eigenthum zu legen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Phil. 1, 23.
- ↑ Unleserliche Stellen korrigiert nach MDZ München
- ↑ Vorlage: Sonnenschirn
- ↑ Vorlage: Vevay