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Die Gartenlaube (1861)/Heft 9

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[129]

Das Leben einer Frau.

Von R. Godin
(Schluß.)


Emiliens sehnsüchtiges Verlangen war nun, das Haus ihrer Eltern zu verlassen und sich einen Aufenthaltsort zu wählen, wo Niemand ihre Verhältnisse kannte. Trotz der schonenden Vorsicht, womit Werner diese Angelegenheit handhabte, waren doch Gerüchte ins Publicum gedrungen, die der Wahrheit ziemlich nahe kamen. Der Neugierde und den Urtheilen der Menge in ihrer Heimath ausgesetzt zu bleiben, schien Emilien allzu peinlich, sie sandte daher ihre Gedanken nach einer Zuflucht aus, wo sie wenigstens ungestört traurig sein dürfte.

Ihre Wahl fiel auf eine Dame, mit der sie während der ersten Jahre ihres Aufenthaltes in Wien in häufiger Verbindung gestanden hatte, und die seit etwa zwei Jahren durch den Tod ihrer beiden Kinder veranlaßt worden war, einen Landsitz in der Nähe von Prag zu beziehen, wohin liebe Erinnerungen sie riefen. An diese würdige Frau schrieb Emilie, machte sie mit allen ihren Verhältnissen bekannt und fragte, ob sie für einige Zeit bei ihr eine Heimath finden könnte.

Die Hoffnung, die sie auf die Zuneigung und vereinzelte Stellung dieser Freundin gebaut hatte, erwies sich als begründet; in kurzer Zeit langte ein Brief an, der Frau von Handel als Vorläufer diente, die, von ihrem Zartgefühl geleitet, selbst kam, die junge Frau abzuholen.

Auf’s Neue verließ nun Emilie ihr Vaterhaus – ach, um wie viel unglücklicher als das erste Mal! Das milde Wesen ihrer Begleiterin trug indessen viel zu ihrer Beruhigung bei und richtete vor allem ihre Selbstachtung wieder auf. Frau von Handel war eine jener seltenen Frauen, die bei voller Tadellosigkeit des eigenen Lebens doch ein mildes Urtheil über die Schwächen Anderer besitzen. In ihren Augen sühnten die Schmerzen, von denen sie Emilie niedergedrückt sah, Alles, was ihr streng rechtlicher Sinn im Benehmen der jungen Frau nicht billigen konnte. Selbst vom Schicksal schwer geprüft, war sie tief empfänglich für die Leiden Anderer, und ermessend, daß man dem armen Menschenherzen nicht zu viel aufbürden dürfe, veranlaßte sie selbst, daß während der Dauer der Reise Welly unter ihrem Schutz mit Emilie zusammen traf. Dagegen forderte sie auch, daß diese Zusammenkunft sich nicht wiederholen dürfe, bis Welly eine Stellung errungen habe, die es ihm möglich mache, sich mit der Geliebten zu verbinden.

Mit Ungestüm widersetzte sich der junge Mann dieser Forderung. Emilie bat ihn aber so flehentlich, ihren Ruf zu schonen, Alles, was sie um ihn gelitten hatte, stand in so tiefen Zügen auf dem reizenden Gesichte, daß er es nicht vermochte, ihren Wünschen zu widerstehen. Feurig nannte er diese Entbehrung einen neuen Sporn, Alles zu thun, um die Zukunft zu sichern, und mit Zuversicht suchte er ihre Thränen mit der Betheuerung zu stillen, daß er ihr bald ein ihrer würdiges Loos bereiten würde.

Nach dem letzten Schmerz einer jedenfalls jahrelangen Trennung von dem Geliebten verließ Emilie alle Kraft so ganz und gar, daß Frau von Handel oft mit Bangigkeit die todtenähnliche Ruhe beobachtete, die an die Stelle der früheren unaufhörlichen Aufregung getreten war. Voll Rücksicht hatte sie der jungen Frau für die erste Zeit des Aufenthaltes in ihrem Hause eine völlige Einsamkeit vorbereitet, und suchte sie nur nach und nach wieder für äußere Eindrücke und Interessen empfänglich zu macken. Die heftigen Gemüthsbewegungen der jüngsten Zeit hatten aber unverwüstliche Spuren in Emiliens ganzem Wesen zurückgelassen. Noch nach Verlauf von Monaten wich sie mit krankhafter Scheu vor jeder Berührung mit der Außenwelt zurück. Ihre erschütternden Erinnerungen hatten ganz Besitz von ihren Gedanken genommen und gewannen eine um so größere Macht, als sie dieselben schweigend in sich begrub und verlernt hatte, sich auszuweinen.

Inzwischen hatte Eduard von Welly mit kräftiger Hand begonnen, die Richtung seiner Zukunft festzustellen. Sein erster Schritt bestand darin, seinen Abschied zu nehmen, denn von jeher war seine Stellung bei der Armee nicht nach seinen Wünschen gewesen. Der zweite Sohn einer vornehmen Familie, deren bedeutende Besitzthümer als Fideicommiß auf seinem älteren Bruder hafteten, war er darauf angewiesen, sich dem Staatsdienste zu widmen. Seine erste Wahl war die cameralistische Laufbahn; er hatte seine Studien mit Auszeichnung vollendet, und eine Anstellung nach seinen Wünschen war ihm bereits zugesagt, als er sich in einer Abendgesellschaft bei einem seiner eifrigsten Protektoren zu einem Gespräch politischen Inhalts hinreißen ließ und in so schonungsloser Weise die jetzigen Zustände beurtheilte, daß der ganze Einfluß seiner hochgestellten Beschützer aufgeboten werden mußte, um ihn ernsten Unannehmlichkeiten zu entziehen. Die nächste, nicht abzuwendende Folge war der Verlust des ihm zugedachten Postens, und seine ganze Carriere schien durch seine Unvorsichtigkeit vernichtet. Ohne Vermögen und Aussichten entschloß er sich ein Officierspatent anzunehmen, was ihm aus besonderer Rücksicht für seine Familie geboten ward.

Als seine jetzige Lage es ihm wünschenswerth machte, von den früher erworbenen Kenntnissen und Talenten Gebrauch zu machen, hatte eben eine gewaltige politische Krisis die Hindernisse, die ihm bisher entgegen standen, aus dem Wege geräumt. Ein Wechsel des Ministeriums hatte Statt gefunden, talentvolle Männer, [130] die seiner Richtung angehörten, fanden die günstigste Aufnahme, und Welly, dessen geistige Bedeutsamkeit ihm manche Freunde erworben hatte, fehlte es nicht an Männern, die seine Fähigkeiten zu schätzen wußten.

Nach einigen Monaten gelang es ihm, in der neueingeschlagenen Carriere festen Fuß zu fassen, und sobald er Gelegenheit fand, seine Thätigkeit und seinen eisernen Fleiß geltend zu machen, war es nicht mehr schwer für ihn, vorwärts zu kommen, um so mehr, als er einen alten Namen trug. Er wurde nach einiger Zeit zu dem Posten eines Staatssecretairs ernannt.

Während der zwei Jahre, die ihn zu dieser Stufe führten, war seine Correspondenz mit Emilie ohne Unterbrechung fortgesetzt worden. Obgleich die Stellung, die er jetzt einnahm, ihm bei einiger Einschränkung eine Heirath möglich gemacht haben würde, lag doch noch eine Last auf ihm, die nach Emiliens eigenem Wunsche erst abgewälzt sein sollte, ehe sie sich verbanden. Er hatte während seiner Dienstjahre als Officier[WS 1] nicht unbedeutende Schulden gemacht, was bei seiner Art zu leben fast unvermeidlich gewesen, nun aber eine lästige Fessel für ihn war.

Wiederholt hatte er in dieser Zeit Emiliens Einwilligung zu einem Zusammentreffen mit ihr gefordert, erst mit leidenschaftlicher Bitte, später, als die Weigerung wiederholt ward, mit Vorwürfen, Zweifeln und Unmuth. Emilie würde auch nicht die Kraft gehabt haben, seinem Drängen zu widerstehen, wäre nicht die Festigkeit der Frau von Handel fast zur Strenge in diesem Punkte geworden. Die Dankbarkeit, mit der Emilie der trefflichen Frau ergeben war, die Rücksichten, deren sie sich ihr gegenüber schuldig fühlte, hielten sie davon zurück, etwas gegen ihren Rath zu thun. Je mehr die Aussichten zu einer Verbindung der Liebenden stiegen, desto ernster bat Frau von Handel die junge Frau, ihren Ruf für den Namen zu schonen, den sie bald zu führen hoffte, und erklärte mit Festigkeit, daß in ihrem Hause und mit ihrer Zustimmung eine ähnliche Zusammenkunft niemals Statt finden sollte.

Emilie fügte sich, aber die bittern Worte ihres Geliebten vernichteten den Rest ihres Lebensmuthes. Sie wurde immer stiller und trüber, ein leises, aber beständiges Kränkeln wirkte auch drückend auf ihre Stimmung, und zuletzt wagte sie kaum mehr, an das Leben und die Menschen irgend einen Anspruch zu nehmen. Ihre Briefe nahmen das Gepräge dieser Seelenstimmung an; zwar ließ sie keine Klage laut werden, aber der warme lebendige Hauch der Leidenschaft, der sonst aus ihren Worten sprach, hatte einer krankhaften Schwärmerei Platz gemacht, die Welly um so unbehaglicher berührte, als er gerade jetzt das Leben reicher und kräftiger umfaßte als je. Ihr Bild fing an, vor den neuen, bedeutenden Interessen, die ihn beschäftigten, langsam zurückzuweichen.

Der Ehrgeiz, der bereits in seiner frühsten Jugend einen großen Platz in seinem Geiste eingenommen hatte und nur durch die Macht der Umstände zurückgedrängt worden war, erwachte unter seinen jetzigen Verhältnissen mit doppelter Stärke. Die gegenwärtige Lage der Dinge berechtigte Männer von Talent und Willenskraft zu den kühnsten Ansprüchen; Welly ergriff mit allem Feuer seines energischen Naturells die liberalen Tendenzen der Gegenwart. Seine kühne Phantasie, seine tüchtige Beurtheilungskraft fanden ein reiches Feld der Thätigkeit in den Forderungen, die eine Zeit voll bedeutender allgemeiner Interessen stets an den Einzelnen stellt.

In dieser Periode überströmender Lebensfülle trat er auch wieder in die gesellige Welt ein, was er in der ersten Zeit aus Rücksicht für Herrn von Werner ganz vermieden hatte. Derselbe hatte aber Wien nach Regulirung seiner Angelegenheiien für immer verlassen, die Gerüchte, die Welly’s Namen mit der Scheidung der Frau von Werner in Verbindung gebracht hatten, waren nach und nach verstummt, da man den jungen Mann Wien jahrelang nicht verlassen sah, und so folgte er den wiederhollen Aufforderungen, die ihn in die geselligen Kreise zurückzogen, nicht ungern. Er ward überall mit erhöhter Auszeichnung aufgenommen und von den exklusivsten Kreisen gesucht.

Vor Allem war ihm das Haus des Ministers von Wangenheim angenehm, und er machte häufig Gebrauch von der Freiheit, es zu besuchen, da es sich durch einen fein gewählten Cirkel und eine höchst liebenswürdige, wenn auch schon matronenhafte Hausfrau auszeichnete. Als er einst wieder einen Abend dort zubrachte, fesselte gleich beim Eintritt eine neue Erscheinung seine Aufmerksamkeit, deren Schönheit ihn frappirte, und der er durch den Minister alsbald vorgestellt ward.

Clara war die einzige Tochter des Hauses, eben von einer großen Reise zurückgekehrt, die sie nach ihrem Austritt aus der Pension mit einer Verwandten unternommen hatte. Sie war eine herrliche Blondine, groß, voll und im reinsten Ebenmaß gebaut, ihr frisches, aber ausgezeichnetes Gesicht fesselte durch eine ungewöhnlich schöne Stirn, einen spöttischen Mund und so taubenhaft sanfte Augen, daß ihr Blick diesen übermüthigen Lippen niemals Recht gab. Während Welly sich mit ihr unterhielt, entdeckte er einen ihren Jahren vorangeeilten Geist von so pikantem Gepräge, daß er voll Interesse ihren Worten folgte und sich den ganzen Abend über dabei ertappte, die Art und Weise zu beobachten, wie sie ihre kleinen Gnaden austheilte oder entzog.

Von den meistens über eine Form gegossenen Erscheinungen der übrigen Damenwelt ziemlich gelangweilt, überließ sich Welly von nun an dem Reiz, den dies lebhafte, geistvolle Mädchen über ihn ausübte. Ohne sein Herz dabei betheiligt zu fühlen, suchte er sie überall auf, zeichnete sie aus und überhäufte sie mit den tausend kleinen, namenlosen Aufmerksamkeiten, die in den Augen der Welt so viel bedeuten. Je länger dieser Verkehr dauerte, je mehr Clara’s Gunst von vielen Seiten gesucht wurde, desto empfänglicher wurde seine Eitelkeit für die offenkundige Auszeichnung, womit sie ihn aufnahm. Eine gewisse Aufregung fing an sich seiner zu bemächtigen.

Unmerklich gewann das Interesse, das ihm das junge Mädchen einflößte, eine so bedeutende Herrschaft über ferne Gedanken, daß er sich dieselbe eingestehen mußte. Zwar wies er die Vorwürfe, die sein Herz ihm machte, mit Unmuth von sich, aber wenn ein neuer Brief von Emilie ankam, der trotz dem zarten Geist, der ihn dictirte, doch durch seine Mattheit einen unvortheilhaften Contrast mit dem frischen, lebensvollen Wesen Clara’s bildete – wenn er bei jedem leisen Versuch, sich aus den Fesseln zurückzuziehen, die er sich selbst so leichtsinnig übergeworfen hatte, Clara’s reizendes Gesicht erbleichen, ihren Uebermuth in die unterwürfigste Weichheit übergehen sah, so fehlte ihm der feste Wille, sich aus der Bestrickung dieser Verhältnisse loszureißen. Er wies alle störenden Gedanken ab und überließ sich blind dem Zauber der angenehmen Gegenwart.

Ein ganz unerwartetes Ereigniß rüttelte ihn aus seinem Selbstvergessen auf. Er erhielt die Nachricht, daß sein älterer Bruder durch einen Sturz vom Pferde plötzlich um’s Leben gekommen war, ein Unglücksfall, der ihn, da derselbe kinderlos starb, plötzlich in eine glänzende Lage versetzte.

Hier war, zu seiner Ehre sei es gesagt, sein erster Gedanke Emilie. Die Möglichkeit, dem Schwanken und der Unsicherheit seines Verhältnisses zu ihr sogleich ein Ende machen zu können, rief ihr liebliches Bild lebhaft vor seine Seele und weckte eine lebendige Sehnsucht, sie endlich wiederzusehen und besitzen zu dürfen.

Sobald seine erste Aufregung sich beruhigt hatte, eilte er zum Minister, um ihm die Veränderung seiner Aussichten mitzutheilen und sich Urlaub zu erbitten, da seine Anwesenheit am Orte des Todesfalles augenblicklich nothwendig war. Als er ausgesprochen hatte, faßte Herr von Wangenheim seine Hand und sagte mit Wärme: „Nehmen Sie meinen herzlichen Glückwunsch, lieber Welly. Dürfte ich ihm doch die Hoffnung zugesellen, daß Ihre jetzigen Verhältnisse Sie nicht veranlassen möchten, Ihre Talente dem Staate zu entziehen. Kehren Sie bald wieder zu uns zurück,“ fügte er mit einem bedeutungsvollen Blicke zu; „ich hoffe mit Bestimmtheit, daß wir Sie bald wiedersehen werden, und wünsche Ihnen mit doppeltem Vergnügen eine frohe Zukunft, denn Ihre Wünsche sind vielleicht auch die meinigen.“

Bei dieser directen Anspielung auf Absichten, die ihm in diesem Augenblicke so fern lagen, verlor Welly die Fassung, da er sich sagen mußte, daß sein Benehmen gerechte Ursache zu derselben gegeben habe. Mit ziemlicher Unsicherheit verabschiedete er sich bald darauf von den Damen; Clara’s trauriges Gesicht verwirrte ihn und weckte die Sympathie, die ihn zu ihr zog, aufs Neue mächtig genug, um den Enthusiasmus der vorigen Stunde bedeutend niederzudrücken.

Bei der Ankunft auf seinem neuen Erbe empfing ihn eine Masse von Geschäften und verwickelten Angelegenheiten, die ihn auf lange Zeit in Anspruch nahmen. Von hier aus schrieb er an Emilie, theilte ihr seinen Glückswechsel mit und bereitete sie auf seine baldige Ankunft vor, wozu die jetzige Lage der Dinge ihn berechtigte. Während er schrieb, zauberte seine Phantasie ihm ihre reizende Schönheit so lebhaft vor das innere Auge, daß er die alte Gluth wiederfand und mit feurigen Worten vom nahen Wiedersehen [131] zu ihr sprach. Jeder neuere Eindruck erblaßte vor der lebhaften Erinnerung, die in seiner jetzigen Einsamkeit ihr Bild mit den lieblichsten Farben malte. Ihre frische, mädchenhafte Heiterkeit, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt hatte, ihre bei aller Zartheit so große Willenskraft, ihr Geist, ihre Unterhaltungsgabe, ihr reiches Gemüth – alles dieses wachte in tausend kleinen Zügen in seinem Andenken auf, und als endlich der rasche Wagen ihn zu ihr trug, klopfte sein Herz mit dem alten Feuer hoch auf.

Eben so glühend erregt, aber weniger freudig sah Emilie seiner Ankunft entgegen. Als sie seinen letzten Brief erhalten hatte, als ihre mütterliche Freundin mit Freudenthränen ihre Stirn küßte und ihr Glück und Segen wünschte, da hatte sie einen Moment so vollständiger Seligkeit, daß sie Alles vergaß, was sie jemals gelitten hatte. Solche Augenblicke einer erhabenen Freude geben einen Begriff und einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit. Das völlig befriedigte Herz fühlt, daß es einen Zustand geben muß, wo diese Regungen, die nur selten und bei manchen Menschen nie zum Durchbruch kommen, einst einen weitern Spielraum, eine gesicherte Dauer finden müssen, daß der Geist, der so übermenschlichen Aufschwungs fähig ist, im Menschenleben viele seiner besten Kräfte nicht zur Entwicklung kommen sieht. Kurz, wie immer, war auch bei Emilien dieser überwältigende Freudesturm; plötzlich fiel ein Gedanke schwer und eisig dazwischen – er wird kommen, flüsterte ihr Herz, aber wird er mich auch noch lieben? Ein erlöschender Blick in den Spiegel zeigte ihr ein verblühtes Antlitz, vor dem sie erschrak, wie vor einem Gespenst, und die begeisterte Freude, die ihr für einen Augenblick alle Schönheit zurückgegeben hatte, starb vor diesem Gedanken.

Endlich kam die Stunde, die mit so großem Herzklopfen, so mächtiger Gemüthsbewegung erwartet wurde. Da jetzt Emiliens Verbindung mit Welly nahe bevorstand, hatte Frau von Handel sie ermächtigt, ihrem Verlobten ein Zimmer in ihrem Hause anzubieten, da sie auf dem Lande wohnte, wo ein täglicher Besuch von Prag aus mit mehr Aufsehen verknüpft war, als wenn er einfach bei der gastfreundlichen alten Dame abstieg.

Als der leichte Wagen durch das Thor rollte, fühlte Emilie sich einer Ohnmacht nahe. Zitternd, mit gefalteten Händen und klopfendem Herzen, erwartete sie des Geliebten Eintreten, endlich, endlich öffnete sich die Thür, Welly stürzte herein und sank zu Emiliens Füßen. Bebend, außer sich ruhte sie in seinen Armen und drückte ihr Gesicht gegen seine Brust. Welly war gleich ihr in mächtiger Bewegung, aber als der erste Sturm ihrer Gefühle vorüber war, als sie zuerst einander Auge in Auge gegenüber standen, fuhr er zurück, er sah sie wieder und wieder an, er erblaßte und verstummte, endlich faßte er sie mit einer Bewegung der Angst in die Arme und rief: „Um Gotteswillen, meine Emilie, bist Du so krank gewesen?“

„Nein,“ erwiderte sie, indem sie schrecklich bleich wurde, „ich habe mich nur gegrämt.“

„Armer Engel,“ sagte er matt, „das war um meinetwillen, aber ich will Dir vergelten.“ Auf’s Neue überschüttete er sie mit zärtlichen Worten, mir Verheißungen einer seligen Zukunft; Emilie hörte ihm mit einer Seligkeit zu, die sie festzuhalten strebte, wie ein Armer einen süßen Traum. Es war ihre letzte glückliche Stunde.

Als sich Welly nach diesem ersten Wiedersehen allein fand, als der aufregende Einfluß der alten Erinnerungen vorüber war, fühlte er eine solche Mattigkeit, eine solche Entzauberung, daß er die Augen vor seinen eigenen Gedanken schloß, denn sie schienen ihm ein Abgrund. Was war aus diesen Reizen geworden, die ihn einst so mächtig gefesselt hatten? Kaum vermochte er aus den verblühten, zergrämten Zügen Emiliens jene bezaubernde Frau wieder herauszufinden, die er vor wenig Jahren verlassen hatte.

Mit allen Kräften suchte er diesen Eindruck los zu werden. Er richtete seine Gedanken auf ihre schrankenlose Ergebenheit für ihn, auf ihren liebenswürdigen Geist, ihr zartes, reiches Gemüth, er suchte sich zu bereden, daß das Zusammensein mit der einst so heiß Geliebten das erloschene Gefühl wieder anfachen würde, denn er war ein Mann von Ehre, und sie hatte seinetwegen ihre ganze Existenz hingegeben. Aber ach! die verlorene Illusion kam nicht wieder, und statt auf’s Neue zu erwachen, sanken seine Sympathien für Emilie mit jedem Tage mehr.

Nicht allein ihr Aeußeres fand er verändert, auch ihr ganzes Sein und Wesen. Die vollständige Isolirung, die ihr reizbares Zartgefühl ihr seit ihrer Scheidung zum Bedürfniß machte, hatte mit ihrer trüben Stimmung zusammengewirkt, um sie ganz in sich selbst versinken zu lassen. Ihre angeborene Heiterkeit war unter den tiefen Leiden, die sie getragen hatte, und unter anhaltender Kränklichkeit so ganz vernichtet worden, daß selbst Glück und Hoffnung sie nicht auf’s Neue zu beleben vermochten. Schon vor Eduard’s Eintreffen war die Furcht, seine Liebe zu verlieren, ein heimischer Gedanke bei ihr geworden, und darum vermochte sein Versuch, sie über sein Gefühl zu täuschen, nicht, sie vor den furchtbarsten Zweifeln zu schützen, als diese gefürchtete Wirklichkeit da war. Dieser nagende Zweifel machte die unglückliche Frau äußerst befangen und unsicher in Welly’s Gegenwart; sie wagte kaum ihrer Liebe Worte zu geben, obgleich sie dieselbe leidenschaftlicher empfand als je.

Mit jedem Tage fühlte der junge Mann sich unglücklicher. Er sprach von Hochzeit, von Freude und Zukunft, schon war der Zeitpunkt ihrer Verbindung festgesetzt, aber eine tiefe Bitterkeit, sogar ein aufkeimender Groll gegen die arme Emilie füllten sein Herz an. Obgleich seine Worte sie hätten befriedigen können, fühlte sie doch, wie es stand. Wenn zwischen zwei Menschen, die sich so nahe stehen, eine innere Scheidewand aufwächst, so ist das etwas Fürchterliches. Die Veränderung tritt erst so leise auf, daß sie kein Recht zu Vorwürfen oder Klagen giebt – es ist etwas, das man nicht sieht, aber fühlt, das sich, sobald man darüber sprechen will, in eigene, kränkliche Laune aufzulösen scheint. Aber das Herz läßt sich nicht bereden, ruhig zu sein, sein leiser Ruf tönt ruhelos herauf, und manchmal bricht ein scharfer Schrei hervor, der sich den Glauben erzwingt. Das eigene tiefe Herz weiß, wenn es elend sein muß, und in Emilien rief es immer lauter: Du wirst nicht mehr geliebt! Ihre Angst stieg zu einem so hohen Grade, daß sie sich zuletzt unfähig fühlte, diese Qual zu tragen. Sie faßte den Entschluß, sich um jeden Preis Klarheit über Welly’s Gefühle zu verschaffen.

Matten Schrittes, aber fest entschlossen betrat sie eines Tages Eduard’s Zimmer, um ihm zu sagen, daß sie an keine Zukunft mehr glaube, um ihm zu sagen, er sei frei. Er war nicht da. Zum Tode erschöpft, stützte Emilie sich auf seinen Schreibtisch, um ihn zu erwarten, da fiel ihr Auge zufällig auf einen angefangenen Brief und traf ihren eigenen Namen. Eine brennende Neugierde bemächtigte sich ihrer. Mit bebender Hand nahm sie das Blatt auf und las folgende Worte:

„Mein lieber Freund!

Wenn ich Dir noch nicht von hier aus geschrieben habe, wie ich doch versprach, so geschah es, weil ich in einer jener Stimmungen bin, über die zu sprechen fast noch mehr Muth gehört, als sie zu ertragen. Du weißt, mit welchen schönen Hoffnungen ich diese Reise antrat – wie wirst Du es aufnehmen, wenn ich Dir sage, daß sie alle zerstört sind! Ich habe Emilie wieder gefunden, aber wie! Verwelkt, abgestumpft, körperlich und geistig verändert bis zur Unkenntlichkeit. Und an diese Ruine muß ich mein frisches Leben knüpfen! Kaum ertrage ich den Gedanken an die Zukunft. Was könnte sie mir bieten, wäre ich frei! jetzt ist sie nur eine grausame Fessel für mich. Wenn die Ehre mich nicht bände, wenn ich noch zurück könnte – aber nein, nein, es ist unmöglich.“ – – – – – –

Als die unglückliche Frau bis hierher gelesen hatte, brach sie in krampfhaftes Lachen aus und stürzte, das Blatt in der Hand, aus dem Zimmer, aus dem Hause. Ihre Gedanken verwirrten sich, es war ihr als würde sie verfolgt, sie lief weiter, immer weiter, bis endlich Kraft und Besinnung sie völlig verließen, und ihre fühllose Gestalt am Wege niedersank.

Etwa eine Stunde später fuhr ein Reisewagen diese Straße entlang. Der Anblick einer elegant gekleideten Dame ohne Hut und Shawl, allein und ohnmächtig, in geringer Entfernung von Prag, mußte den Inhabern desselben auffallen. Sie hielten an, nahmen die junge Frau in ihren Wagen auf und brachten sie nach Prag in ein Gasthaus. Die Sorgfalt, die dort auf sie verwendet ward, brachte die Unglückliche bald wieder zu sich – kein wohlthätiger Schleier bedeckte ihr Elend mehr, mit voller Macht kehrte die Erinnerung wieder. So sehr auch Bewußtsein und Kraft sie verlassen hatten, als der furchtbare Stoß von geliebter Hand sie traf, eben so mächtig wuchs ihre Energie jetzt aus den Ruinen ihrer zerstörten Liebe empor. Mit klarer Willenskraft überdachte sie die Schritte, die sie jetzt thun wollte. Ihr empörtes Gefühl ertrug den [132] Gedanken nicht, je wieder auf irgend eine Weise mit Welly in Berührung zu kommen.

Sie sandte nach dem Prager Banquier, an den Werner die Gelder angewiesen hatte, die sie regelmäßig bezog, und ließ sich von ihm die Summe auszahlen, deren sie zu ihrem Vorhaben bedurfte. Dann schrieb sie mit fester Hand einige Zeilen an Frau von Handel, der sie das Vorgefallene andeutete. Sie sprach ihr den wärmsten Dank für alle empfangene Güte aus, verschwieg aber selbst ihr, wohin sie gehen würde. Nachdem sie diesen Brief dem Banquier mit der Bitte übergeben hatte, ihn durch einen Boten an die Adresse zu befördern, ließ sie sich einen Wagen bringen und verließ Prag noch an demselben Nachmittag.

Während der ersten Stunden ihrer Abwesenheit aus Frau von Handel’s Hause ward sie dort nicht vermißt, da sie die Gewohnheit hatte, die Morgenstunden in ihrem Zimmer zuzubringen. Welly vermißte allerdings, sobald er von einem kurzen Gang in den Garten zurückkam, sogleich seinen angefangenen Brief und konnte ein höchst unbehagliches Gefühl nicht entfernen. Als zur Mittagszeit Emilie umsonst in Haus und Garten gesucht ward, als Stunden vergingen, ohne sie zum Vorschein zu bringen, und die Unruhe der Frau von Handel zu immer lebhafterer Sorge stieg, weckte dieser Umstand eine namenlose Angst in seiner Seele. Endlich gestand er in seiner heftigen Aufregung der Frau von Handel, was vorgefallen war, und sie, die Emiliens Reizbarkeit, ihre stets erhöhte Gemüthsstimmung kannte, theilte seine Besorgnisse im höchsten Grade. Ohne selbst zu wissen wozu, stieg Welly endlich zu Pferde, um die Umgegend zu durchstreifen, als ein Bote Emiliens Brief überbrachte, der allen Zweifeln eine trostlose Lösung gab.

Er begann Emilie zu suchen, nach allen Seiten, nach allen Richtungen. Er verfolgte die Spur, die sich ihm von Prag aus bot, mit peinlicher Spannung, aber bald verlor er jeden Anknüpfungspunkt; es schien, als habe die junge Frau mit scharfsinniger Besonnenheit die Mittel gefunden, jede Spur zu verwirren.

Nach wochenlangen vergeblichen Nachforschungen kehrte Welly endlich entmuthigt und freudlos auf seine Güter zurück.


Etwa zwei Jahr später fuhr ein eleganter Wagen mit zwei herrlichen Rappen bespannt in Eger ein und hielt vor dem besten Gasthofe an. Ein junger Mann von vornehmer Haltung sprang aus dem Reisewagen und hob eine junge Dame von glänzender Schönheit heraus. In der Art, wie sie sich auf seinen Arm stützte und wie ihre hübschen, scheuen Blicke die seinigen suchten, erkannte man die schüchterne Liebe einer kaum zur Frau gewordenen Braut. Er selbst war mit zärtlicher Sorgfalt um sie bemüht, doch trug sein abgespanntes Gesicht nicht den Wiederschein eines so vollständigen Glückes als das ihrige.

Als er mit ihr die Treppe hinaufstieg, um die ihnen bestimmten Zimmer aufzusuchen, kam ihnen ein alter Herr entgegen, der mit gebeugtem Haupte und, wie es schien, von schweren Gedanken erfüllt, nicht von der Erde aufsah. Bei seinem Anblick erbleichte und schwankte der junge Mann, in diesem Augenblick sah der Aeltere auf und fuhr mit einem lauten Ausruf zurück. Als er sich von der ersten Bewegung erholt hatte, nahmen seine Züge einen furchtbaren Ausdruck an; er ergriff den Arm des jungen Ankömmlings und sprach mit eisigem Ernst: „Kommen Sie mit mir, Herr von Welly!“ Als jener betroffen zurückwich, rief der Greis mit schrecklicher Stimme: „Elender, Du mußt!“

Von einer furchtbaren Angst erdrückt, fast willenlos folgte Eduard Welly seinem Führer, der ihn über die Straße in das gegenüber liegende Haus zog. Ohne ein Wort zu sprechen, führte er ihn dort die Treppe hinauf, indem seine Hand stets mit eisernem Griff den Arm des jungen Mannes festhielt, und öffnete die Thür eines kleinen Zimmers. Von unheimlicher Ahnung betroffen hatte Welly die Hand seiner jungen Frau losgelassen, die stumm und bestürzt den Beiden folgte.

Der alte Mann zog Welly in den Hintergrund des Zimmers, und indem er von dem dort befindlichen Bett den Vorhang zurückwarf, rief er mit dem Ausdruck des höchsten Schmerzes: „Da sieh Dein Werk!“ und sank vor dem Lager nieder.

Noch einmal stand Welly vor Emilien. Zu Asche erbleicht, mit wankenden Knieen stand er da, und sein Blick wurzelte auf dem abgezehrten Antlitz der Geschiedenen. Friede und Verklärung leuchteten von dem ruhigen Gesicht, ein Lächeln voll Milde umschwebte die erblaßten Lippen, und die bleichen, feinen Hände lagen gefaltet auf ihrer Brust.

Nach einer tödtlich langen Pause erhob sich Werner und sprach mit unnatürlicher Ruhe: „Vor zwei Jahren ließ der Zufall mich mein Weib hier finden – es war wenige Monate nachdem Sie ihr den Todesstoß gegeben hatten. Gott sei Dank, sie gab zu, daß ich bei ihr blieb. Zwei Jahre lang sah ich dies holde Geschöpf vor meinen Augen langsam dem Tode zuwelken, ein Opfer des nagenden Grams. Während dieser Zeit habe ich jeden Tag in meinem Herzen gelobt, an Ihnen, der sie zu Grunde gerichtet hat, eine heilige Rache zu nehmen – ich wartete nur, bis sie meiner nicht mehr bedurfte. Aber fürchten Sie nichts,“ fuhr er mit bitterm Ton fort, „Sie sind sicher. Der Mann, den Sie beleidigt, dem Sie nicht nur sein Alles geraubt, sondern es nachher wie ein werthloses, abgenütztes Spielzeug bei Seite gestoßen haben, dessen Haar Ihre Schuld bleicht, dessen Glück durch Sie in Jammer verwandelt ward – er wird Ihnen nichts anhaben, denn ich habe es dieser Verklärten in ihrer Sterbestunde gelobt. Ihnen zu vergeben vermag ich nicht, aber ich überlasse Sie ihrem eigenen Gewissen und der Hand Gottes, die Sie auch heut diesen Weg geführt hat! Gehen Sie, verlassen Sie diese Stätte, die Ihre Gegenwart entheiligt, und vergessen Sie, was Sie hier gesehen – wenn Sie es können!“

Mit diesen Worten begrub der alte Mann sein blasses Gesicht in den Kissen des Sterbelagers.

Wie von Furien verfolgt floh Welly aus dem Hause, ohne auch nur die todtenbleiche Clara zu bemerken, die ihm halb bewußtlos folgte.

Welly ist ein berühmter Staatsmann geworden und steht an der Spitze einer glänzenden reichbegabten Familie, aber niemals wieder hat man ihn lächeln sehen.


Bogumil Goltz.

An geistvollen Schriften mangelt es unserm lieben Deutschland heutigen Tages wahrhaftig nicht. Aber doch fehlt ihnen etwas – wohlverstanden, ich rede hier nur vom Durchschnitt und verwahre mich ausdrücklich gegen jede anderweitige böswillige Deutung – etwas fehlt ihnen, eine Kleinigkeit, von der freilich hie und da Leute behaupten, in ihr gerade liege der Werth einer Schrift, und ohne sie sei eine solche gar wenig nütze, – sie entbehren oft aller Kraft und Tiefe. Aus allerlei Fetzen und Flicken zusammengequält, ohne Trieb und Keimfähigkeit, ohne Art und Wesen, verstaubt und verlegen, schmecken sie gar zu sehr nach Schulwitz und Schulstaub, und gar zu wenig nach der Quelle. Mephisto hat wiederum Recht, mein lieber Faust, „Dir steckt der Doctor noch im Leibe!“

Da mag wohl Manchen von Zeit zu Zeit die Sehnsucht angewandelt haben nach einem rechten frischen Frühlingsregen, der all den alten dürren Staub von seiner Seele fortspüle; Mancher ging vielleicht mit sich zu Rathe und kam zu dem Schluß, jene Art von Schriften sei zwar sehr bequem und außerordentlich anständig, aber er wolle schon gern ein Paar harte, scharfe Kanten, eine Paar wilde, überwuchernde Schößlinge mit in den Kauf nehmen, wenn ihm nur etwas geboten werde, was ihn aufrichte und erhalte, ihn erfrische und erquickte nach der Mühsal und Mattigkeit, Hast und Schwüle der lieben täglichen Arbeit.

Darum, als vor vierzehn Jahren „das Buch der Kindheit“ erschien, ward es von allen Seiten, von Hoch und Niedrig, mit freudigem Zuruf begrüßt und aufgenommen; die erste Auflage war im Umsehn vergriffen[WS 2], eine zweite nothwendig geworden; Bogomil Goltz hatte sich mit einem Schlage vieler Menschen Anerkennung und Liebe, und mehr noch, einen ehrenvollen Platz in der heutigen Literatur erworben.

So damals. Seit jener Zeit nun hat Goltz unermüdlich fortgefahren, dem Publicum die Früchte eines reichbewegten Lebens, langjähriger ernster Studien und Erfahrungen vorzulegen. Von Jahr zu Jahr fast ist eines seiner längst vorbereiteten Werke herausgekommen; so 1847 „deutsche Entartung“, 1850 „des

[133]

Bogumil Goltz.

Menschen Dasein in seinen weltewigen Zügen und Zeichen“, 1851 „ein Jugendleben, westpreußisches Idyll“, „Kleinstädter in Egypten“, „der Mensch und die Leute“, „Typen der Gesellschaft“. Der Kreis seiner Leser aber hat sich nicht verringert; vielmehr ist er in stetiger Zunahme begriffen. Sein Wort ist mehr und mehr eingedrungen, hat, einmal festgewurzelt, immer weiter getrieben und gefaßt.

So mögen denn auch diese Zeilen dazu beitragen, Bogumil Goltz weiter hinaus Anerkennung und Würdigung zu verschaffen. Sie sind ebensowohl von herzlicher Dankbarkeit und Verehrung, als von inniger, fester Ueberzeugung geschrieben worden.

Wer denn nun schon mit seinen Schriften vertraut ist, dem werden diese Blätter eine willkommene Beigabe sein zur Kenntniß von des Verfassers Leben und Persönlichkeit. Du aber, lieber Leser und werthe Leserin, die Du von ihm noch nicht gelesen, vielleicht nicht einmal seinen Namen gehört haben solltest, wenn Du diese Zeilen durchflogen hast, versuch’s einmal, nimm eines der oben genannten Bücher zur Hand und lies darin. Freilich ganz leicht läßt sich das nicht verwinden; es will durchdacht und verstanden sein. Aber kräftige Speise gute Speise, und so gar schwer ist’s denn doch auch nicht. Goltz ist kein Philosoph von Fach, wiewohl er gern philosophirt; er versteigt sich nicht in die unerreichbaren Räume leerer Abstraction und Allgemeinheit; was er sagt, fußt auf täglicher und stündlicher Erfahrung, die Wahrheit seiner Worte kann man jeden Augenblick fühlen und erfahren. Auch giebt er kein System irgend welcher Philosophie, keine Schale, in welche die Welt hineingebracht werden soll und doch nicht hineinpaßt, er giebt mehr und weniger sein Herzblut, das All und Eine seines Sinnens und Dichtens. Und wie waltet darin ein Mark und Kern, wie webt und schafft dort eine Kraft und Tiefe, wie weht eine Luft, ein Duft von Poesie! – und doch wiederum ist Alles getränkt mit durchaus gereifter, mit offenem Auge geschauter Erfahrung. Das ist es eben, was packt, was ergreift und befriedigt.

Denn Goltz ist gegenüber der heutigen Unnatur und Unfreiheit, Hast und Zerfahrenheit der Vertreter einer einigen, ganzen, frischen und freudigen Lebensanschauung, des wahren mit Welt und Wirklichkeit bestehenden Idealismus. Mit gewaltigem Feuer und überwältigender Wucht redet er zu uns; seine Rede ist wie Offenbarung eines alten Propheten. Er mahnt uns an unsern ewigen, sittlichen Beruf. Er erinnert an das verlorene Paradies der Kindheit, an unsere Schuld, an die Angst und Noth unseres Lebens und Treibens, aber auch an dessen sittlichen Werth und männliche Würde. Aus seinen Worten klingt der echte Schmerz und der gerechte, eifernde Zorn eines tiefsinnigen Gemüthes, und wiederum die Ruhe und der Friede eines gereiften, mit sich und der Welt ausgesöhnten Mannes. Schonungslos deckt er die Gebrechen und [134] Kleinlichkeiten, Lügen und Erbärmlichkeiten unserer und aller Zeit auf, entschleiert die endlos scheinenden Gegensätze von Natur und Geist, Freiheit und Nothwendigkeit, Leben und Tod; dann aber erweist er wiederum ihre tägliche, endliche Versöhnung und Ineinsbildung in Natur und Leben zu einer seelenvollen Weltordnung und Harmonie. Er deutet uns Schritt vor Schritt in unserer Entartung und Verordnung unsern übernatürlichen Geist und übernatürlichen Ursprung, und erhebt uns so zu einem freudigen Thun und Schaffen aus dem Ganzen und Vollen hinaus.

Mir war, Dank des Autors Freundlichkeit, gestattet, behufs einer kurzen Lebensbeschreibung Einsicht zu nehmen von einigen seiner Originalaufsätze. Ich werde mich daher auf das Nothwendigste beschränken, und so weit möglich ihn selbst redend einführen, um damit zugleich eine Probe seiner körnigen Denk- und Schreibweise zu geben.

„Ich kam,“ sagt Goltz, „1801 den 20. März in Warschau zur Welt, woselbst mein Vater (zur preußischen Zeit) den Posten eines Stadtgerichtsdirectors bekleidete, und drei Meilen von der Stadt das schöne Landgut Milanowk besaß. In meinem siebenten Lebensjahre wurde ich einer meinen Eltern befreundeten Familie übergeben, die nach Königsberg in Preußen verzog. Dort besuchte ich das Kneiphöfische Gymnasium unter dem originellen Director Lehmann zwei Jahre lang, kam dann in die Obhut eines unverheiratheten Landpfarrers in dem freiherrlichen Dorfe Klein-Tromnau bei Marienwerder, wo ich die glücklichsten Tage meiner Kindheit genoß, und durch den freien Verkehr mit Bauersleuten, die ihren guten Pfarrer verehrten, unverlöschliche Eindrücke vom Landleben, von einem friedlichen Menschendasein wie von den Naturscenen unseres preußischen Vaterlandes erhielt. –

Der Pfarrer war ein Mann von einer unbeschreiblichen und unergründlichen Gemüthsunschuld; still in sich vergnügt vom frühen Morgen bis in die Nacht; mit verhaltenem Jubel darüber, daß er auf dieser schönen Gotteswelt sein durfte; ein unverwüstlicher Freund der Thiere und Menschen, fleißig, frugal, gewissenhaft und schweigsam, wie die verhexten Prinzessinnen im Märchen, die auf Erlösung warten; ohne Begriff vom Gelde oder von irgend welchen Leidenschaften und Lastern; ganz erschrocken, desorientirt und voller Scham über jeweilige Nichtswürdigkeiten seiner Nebenmenschen, die ihm zu Ohren kamen; so verschämt an Leib und Seele wie ein Kind, und so glückselig beim Spaziergehen, daß er uns Pensionairen an einem hohen Rohrstocke voraushopste, was wir ihm harmlos nachmachten, glückselig, wie der Mann Gottes selbst. Es war eine Paradieseszeit, eine Lebensempfindung, die ich bis zu diesem Tage nicht ergründen kann, deren Poesie ich nicht mit Worten anrühren kann, und die mich bis in die reifen Mannesjahre hinein zu einem Träumer und Grübler gemacht hat. – Aber diesem Dorfidyll verdanke ich auch meinen frühen Ekel vor jeder Prosa und säcularisirenden Methode, vor jeder materialistischen Lebensanschauung und gewinnsüchtigen Weltgeschäftigkeit.

Meinem kindlichen Idealismus arbeitete weiterhin die elterliche Erziehung nachdrücklich entgegen. Der Vater war ein Urbild von Weltverstand, Biederkeit und Lebenshumor; Herz und Mutterwitz hielten sich in ihm, wie in meiner Mutter, die Wage. Arbeit, Naturgenuß und Verkehr mit Hausfreunden bildeten die mir sichtbare Genugthuung unserer Familie. – Vater und Mutter bewährten sich als ausgeprägte Charaktermenschen; der Vater war ein Verehrer der Bibel und des Buches Hiob; ein Mann mit einer spaßigen Herzlichkeit und prononcirten Wahrheitsliebe, delicat und voller Mitleidenschaft für jeden bedrängten Ehrenmann, aber derb und kurz angebunden mit aufdringlichen Narren und zweideutigen Subjecten, sie mochten Excellenzen oder Damen sein. Die Mutter steht mir als eine Frau vor Augen mit einem offenen Enthusiasmus für Freundinnen und für das Landleben, welches sie im mehrjährigen Besitze unseres Landgutes Milanowk bei Warschau kennen gelernt hatte.

Unter solchen Eindrücken dachte ich an nichts Anderes, als daran, wie ich einmal ein Landwirth werden konnte. Mein Vater übergab mich also, nachdem ich bis zu meinem siebenzehnten Lebensjahre die Gymnasien zu Marienwerder und Königsberg besucht hatte, einem befreundeten Amtmann in Polen, ehemaligem preußischen Officier. Ein inneres Bedürfniß jedoch nach wissenschaftlicher Ausbildung und die Ambition, mehr als ein professionirter Wirthschafter oder Pächter zu werden, trieb mich zu Studien an. Ich bezog 1821 nach gut bestandener Prüfung die Breslauer Universität, ließ mich zur theologischen Fakultät einschreiben, – hörte aber nur Humaniora bei Wachler, Braniß, dem Philologen Schneider, dazu bei Steffens Anthropologie etc.

Im Jahre 1823 wurde ich auf den Antrag meines hochbetagten Vaters von dem Gerichte mündig gesprochen, und erkaufte dann das Rittergut Lissewo an der russisch-polnischen Grenze, vier Meilen von Thorn; – heirathete ein Fräulein von Blumberg, die Tochter eines Gutsbesitzers und Husaren-Officiers; – hatte viel Unglück als Landwirth mit Mißwachs und Viehsterben; – mein Betriebscapital war dem Areal des Gutes und seinen durch frühere Pächter devastirten Verhältnissen nicht angemessen; ich quittirte also die Gutsbesitzerschaft, übernahm Pachtungen in Polen und Preußen, die ich mit Vortheil wieder abfand; – machte kleinere und größere Reisen in Polen, Deutschland, Frankreich, England, Italien und Aegypten, zuletzt in der Provence und Algerien, – und widmete mich den Studien, von denen meine literarischen Arbeiten Zeugniß geben.“

Es mag den Leser mit Grund befremden, wie in diesem biographischen Abriß sie letzten Jahre, voll von reichen Ereignissen und dem ruhigen Thun gewidmet, so flüchtig angedeutet werden. Doch ist dies überhaupt eine Eigenthümlichkeit unseres Autors, daß er im mündlichen Verkehr vorzugsweise seiner reiferen Jahre gedenkt, während er als Schriftsteller sich mit besonderer Vorliebe in den Paradiesestraum der Kindheit versenkt, bis er in seinen neuesten Büchern den Kreis über die breite Menschenwelt hinausgedehnt hat.

Seine Erlebnisse als Gutsbesitzer, als Pächter in Polen, als Reisender, haben viel Abenteuerliches; doch sind auch andern Leuten wunderliche Dinge genug vorgekommen, ohne daß sie daran sonderlich viel profitirten. Es ist das Charakteristische an Goltz, daß er sich in jede Situation gewissenhaft vertiefte. Er füllte seinen Geschäftskreis jedesmal vollständig aus, er suchte und fand darin, was nur irgend vorhanden war. Damals philosophirte er nicht, er handelte und wußte nicht nur jeder Schwierigkeit speciell zu begegnen, sondern auch sehr prosaische Affairen und Verhältnisse auszubeuten.

Daß seine Bemühungen nicht zu einem glänzenden Resultate führten, lag nicht daran, daß er ein unpraktischer Träumer gewesen wäre. Nicht nur Unglücksfälle, mangelndes Betriebscapital und die Entwerthung der Producte standen ihm entgegen, sondern noch mancherlei andere Verhältnisse, und es ist damals so manchem, der in ganz trivialem Sinne praktisch genannt wurde, noch übler ergangen. Goltz gab in allen Ehren seine fruchtlosen Bemühungen auf und rettete noch genug hinüber, um in Einsamkeit fortan seine Bücher auszuarbeiten, die er so fast am treffendsten „eine Metaphysik und Aesthetik des Werktagslebens“ nannte, – und die seine Recensenten bald mit Lichtenberg, Fischart und Abraham a Santa Clara, und dann wieder mit Hippel, Hamann und Jean Paul verglichen haben, aber das X der Gleichung ist damit nicht dechiffrirt.

In Gollub, einem kleinen preußischen Städtchen unweit Thorn an der polnischen Grenze, begannen mit dem Jahre 1830 jene geregelten Vorarbeiten, die unsers Autors Fruchtbarkeit seit 1847 erklären. Wie Goltz heute mitunter über sein Stillleben in jenem Grenzstädchen empfindet, zeigen die nachstehenden Zeilen.

„Als ich noch in dem kleinen Neste particularisirte, dachte ich nicht an Erwerb und Ruhm; denn das Leben, die Poesie des Scheins bespeisete mich von innen heraus. Ich wußte an schönen Frühlings- und Herbsttagen nicht wohin mit meiner Lebenslust. Ich war schon ein Dreißiger, als ich manchmal auf dem Markte des Städtchens hätte Rad schlagen[WS 3] mögen, – so war es da namentlich am Sonntag Vormittag, wenn die Masse der polnischen Landleute aus der Kirche kamen und in bunten Gruppen mit einander conversirten.“ –

– – „Seitdem ich in die Welt getreten bin, ist alle Freude und Unschuld dahin! – Sonst machte ich Landreisen zu meinen Bekannten, um ihnen lustige und ernsthafte Geschichten zu erzählen, und fand mich geehrt, wenn es gelang. – Heute sitzt mir ein Groll im Herzen, seit ich hinter die Coulissen geschaut habe. – Mit dem lichten Schein und leichten Sinn ist’s vorbei.“

Aus solchen Worten redet die tiefsinnige Melancholie eines echten Humoristen, von Wenigen erfaßt und begriffen, wie denn überhaupt Bogumil Goltz die schlimme Mission zu Theil geworden ist, in der Literatur wie im Privatleben einen Charakter zur Geltung [135] zu bringen, den man heut zu Tage selten versteht, weil man die Zweitheiligkeit einer unbändigen Natur und eines geschulten Geistes in „unsern theezahmen, glaceehöflichen und glanzledernen Tagen“ nicht mehr auszukämpfen braucht. – So wetterleuchtet nur der Humor, diese wunderbar kräftige und hohe Lebensfühlung, die, wie sie das All umspannt, mit gleicher Theilnahme sich hinabbeugt zur Einfalt und Armuth, zu Schmerz und Unglück, zu dem Kleinen, Geringen, zu den Armen am Geiste, und sie sorgend in ihr Herz schließt; in welcher sich Gemüth und Verstand, Gott und Welt, Schmerz und Freude, Groll und Liebe zu einer herzigen, zeugungskräftigen Ehe vermählt und verbindet.

Ein Bild, selbst wenn es so ganz ähnlich ist, wie das vorstehende, vermag doch nur einen geringen Theil der Wirklichkeit anschaulich zu machen, ihm fehlt Leben und Beweglichkeit, das geistvolle Mienenspiel, der vollkommene allseitige Ausdruck des Innern. Soviel aber, glaube ich, wird selbst daraus schon ersichtlich sein, daß unsers Autors Persönlichkeit eine ungewöhnliche, vielsagende ist. In diese Züge hat die Seele ihre Gewalt mit bedeutsamen leserlichen Zeichen eingegraben. Die hohe, nachdenklich gewölbte Stirn, das tiefliegende, durchbohrende, fast grollende Auge, der bittere verhaltene Spott, welcher um die Lippen zuckt, – kurz ein Charakterkopf, wie man ihn selten findet. – Aber Goltz sieht auch wieder ganz anders aus; es liegt eine natürliche Gutmüthigkeit in seinem Gesicht, die sich auch dann nicht verliert, wenn er mit Zorn und Eifer die Gespenster peitscht, welche in der Welt umherspuken, – und wieder anders, wenn sie seine Erlebnisse in Scene setzt, von seinen Reisen erzählt, wenn er eine von den Geschichten hört, in welchen Schicksalslaune oder Volksreiz das Feld behaupten.

Bogumil Goltz ist in seinem Umgange wahrhaft liebenswürdig, ein kerniger, herziger, prächtiger Mensch; ohn’ Erbarmen, derb und schonungslos gegen jede falsche Idealität, jede zweideutige, affectirte Gefühlswärme, gegen alles süßliche, weinerliche, raffinirt-trübselige Sentiment, aber theilnehmend mit wahrem, unverstelltem Schmerz und unverschuldetem Schicksal. Er nennt die Dinge bei ihrem rechten Namen und kümmert sich wenig darum, ob er damit bei nervösen, überdelicaten Damen Anstoß erregt. Aller Hohlheit und Convenienz, aller leeren Formalität, Halbheit und Charakterlosigkeit ist er von Herzen gram, verfolgt und verhöhnt sie, wo er kann; dagegen interessirt ihn jede kernhafte, ganze, ungewöhnliche und absonderliche Natur. Deshalb verkehrt er gern mit sogenannten einfachen, schlichten Leuten, Arbeitern, Leuten aus dem Volke, alten Frauen. Als Erzähler ist er unübertrefflich und überall ein erbetener Gast; da sprühen die Funken seines Geistes, da jagt ein Einfall den andern, und die Zuhörer sitzen stumm und aufmerksam dabei, und können nicht genug hören.

Von seinen Schriften eines Weiteren zu reden, ist hier nicht der Ort; sie haben hinreichend Beurtheilung erfahren und bestanden, und wer ihren Geist und Inhalt erkennen will, thut am besten, sich an die Quelle zu begeben.

Goltz lebt seit einer Reihe von Jahren in Thorn, geliebt und geehrt von seinen Mitbürgern, und der angestrengte Fleiß und die unermüdliche jugendliche Schöpferkraft lassen noch viel von ihm erwarten. Ueber seine Widersacher können ihn die herzlichen Zuschriften vieler von unsern literarischen Notabilitäten und ein gebildetes Lesepublicum in allen deutschen Landen wohl trösten.

Man hat sich bisher viel zu viel mit seiner Form beschäftigt, ohne zu bedenken, daß dieselbe nur von innen heraus verstanden werden kann. Goltz strebt, überfluthet von geistreichen Einfällen, danach, in der concentrirtesten Fassung zu sagen, was er nach allen Seiten hin tief durchdacht und verarbeitet hat. Der überwuchernde Reichthum seiner Rede ist bei ihm nichts Gemachtes, Gesuchtes, wie bei Andern, die sich Seiten lang auf einem ihrer matten Laune in den Weg gekommenen barocken Einfalle selbstgefällig wiegen können; er ist die natürliche Form einer innern gewaltigen Volltönigkeit und Vielseitigkeit. Der ungewöhnliche Geist schafft sich die ungewöhnliche Form und darf wohl verlangen, daß man sich die Mühe gebe, eines aus dem andern einzusehn. Das große Publicum zählt freilich Mosaikarbeiten, wie sie Bogumil Goltz liefert, zu den Curiositäten. Es will in der Literatur vor allen Dingen seine Tagestendenzen und Leidenschaften wiederfinden, – und für diese Forderung ist er keineswegs der gesuchte Mann. – Wer aber ein Herz hat für all die tiefen Leiden und Freuden der Menschenseele, wem es ein Bedürfniß ist, sich zu erhalten vor Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit, der lese Bogumil Goltz. Und er wird ihn sicher lieb gewinnen! –




Der Sclavenstaat Süd-Carolina.


Die Erde ist klein und eng geworden, seitdem ihr Dampf und Elektricität als Last- und Briefträger dienen. Und was man Kosmopolitismus nennt oder unter diesem Namen vorläufig noch verhöhnt, ist insofern längst Wahrheit und Thatsache geworden, als die fernsten Gegenden und Völker in engerer Verbindung mit einander stehen, als vor hundert Jahren Provinzen ein- und desselben Staates. Welche Wasser- und Ländermassen dehnen sich z. B. zwischen Charleston und Manchester und Elberfeld? Zwischen Süd-Carolina und Norddeutschland? Und doch wird die ärmste Frau in Hinterpommern für die Sünden des kleinsten südlichen Sclavenstaates der nordamerikanischen Republiken bezahlen müssen, wenn dem ausgebrochenen Fanatismus der Sclavenhalter nicht ein rascher entscheidender Sieg der Vernunft und Menschlichkeit ein Ende machen kann.

Die nordamerikanischen Freistaaten sind in Gefahr zu zerfallen[1], sich in zwei bitterfeindliche Gruppen zu zerspalten, stehen auf dem Punkte des tödtlichsten, blutigsten Bürgerkrieges. Süd-Carolina, der kleinste von den Sclavenstaaten, hat angefangen und sich thatsächlich von der Union getrennt. Andere sind ihm bereits mehr oder weniger weit gefolgt. Alles, weil die republikanische Partei in den 33 Republiken eine Majorität bei der Präsidentenwahl erhielt und ihren sclavenfeindlichen Candidaten Lincoln, den ehemaligen Holzhacker des Urwaldes, zum Präsidenten der vereinigten Republiken erwählte. Gegen diese ganz gesetzliche Wahl empörten sich die Sclavenstaaten. Revolution und Bürgerkrieg sind thatsächlich ausgebrochen. Viele hoffen noch auf rasche Beseitigung, ehe die Wuth um sich greift. Noch beschränkt sie sich auf ein sehr kleines Gebiet, aber das böse Blut, worin sie lauert und läuft, pulsirt über Hunderttausende von Geviertmeilen. Was soll daraus werden? Allerdings haben wir im kleinen Europa den Kopf schon voll genug, aber dessenungeachtet müssen wir den amerikanischen Angelegenheiten noch ein Plätzchen zu verschaffen wissen: es sind auch die unsrigen, ganz prosaisch und praktisch genommen.

Zunächst fürchtet England den tödtlichsten Schlag mitten auf den Kopf seiner Haupt-Industrie, wenn die Südstaaten Amerika’s mit den nördlichen in einen Revolutions- oder Bürgerkrieg gerathen. England hat über 1,200,000,000 Thaler in der Baumwollen-Industrie stecken, deren Verwerthung in gerader Linie von den Baumwolle liefernden südlichen Sclavenstaaten abhängt, ebenso das Leben von mehr als 4 Millionen Arbeitern, da England 80 Procent seiner Rohbaumwolle durch Spedition der nördlichen von den Südstaaten der amerikanischen Republiken bezieht. Bürgerkrieg, Revolution, wohl gar Sclavenaufstand in den letzteren heißt Brodlosigkeit für 4 Millionen Engländer und Tod von mehr als 1000 Millionen Thalern, heißt nicht nur rasche Vertheuerung aller baumwollenen Hemden, Strümpfe und Taschentücher, aller baumwollen-leinenen, baumwollen-wollenen und baumwollen-seidenen Schnittwaaren, sondern auch Mangel an Waaren und Werthen, womit jetzt deutsche Industrieartikel im Handel bezahlt werden, heißt also auch Theuerung, schlechtes Geschäft, Brodlosigkeit in Deutschland, das ohnehin schon mit dem übrigen Europa, an den Sünden seiner letzten 12 Jahre büßend, gehörig an schlechten Industrie- und Handelszuständen und an allseitigen Kriegsaussichten leidet.

Und da sollen wir noch die schauderhaften Aussichten Amerika’s zu unserm Unglück hinzufügen?

So schlimm ist’s hoffentlich nicht. Wollen wir auch nicht in feiger Strauß- und Philisterweise unsere Köpfe gegen die Gefahren verstecken, da es immer edler, außerdem vortheilhafter ist, ihnen [136] scharf und standhaft in’s Auge zu sehen, so haben wir doch auch gute Gründe, zu hoffen, daß weder in der alten Welt bei uns, noch in der neuen Welt drüben Bestialität und brutale Gewalt sich sehr und lange breit machen dürfen. Die mächtigsten, die gewaltigsten Bedürfnisse, Wünsche und Nothwendigkeiten aller von Arbeit und Cultur lebenden Menschen sind hundertmal mächtiger dagegen, als alle bis an die Zähne bewaffneten Legionen, Kanonen und Cannibalen dafür schwärmen und wüthen könnten. Süd-Carolina selbst, der tollste Wütherich für Sclaverei, ist ein Beispiel dafür. Dieser Staat ist einer der kleinsten und zählt nicht mehr als 700,000 Einwohner, kaum den vierten Theil Londons, noch nicht das Doppelte von Berlin. Das Merkwürdigste dabei ist, daß die bei Weitem größere Hälfte dieser Bewohner aus schwarzen Sclaven besteht, welche die weiße und freie Bevölkerung um mehr als 100,000 übertreffen. Daneben sind etwa 10,000 freie Schwarze und Farbige nicht zu übersehen. Auch die Sclavenhalter und die freien Weißen ohne Sclaven zeichnen sich vor ihren Collegen in andern Staaten aus; sie sind gebildeter, menschlicher gegen ihre Sclaven, als der rohe Kentuckier und die braungelben Pflanzer von Alabama, Mobile und allen anderen Südstaaten – menschlicher gegen ihre Sclaven, weil diese hier entschiedener blos für Nutzthiere gelten, als anderswo, weil die Lehre, daß diese Lastthiere als Menschen gelten müßten, nirgends so wüthend gehaßt und verfolgt werden, als in Süd-Carolina, weil die Negrophobie, die Furcht vor den Negern als Menschen, freien Menschen, nirgends größer, blässer, zitternder ist, als hier. Sie sind menschlich gegen Sclaven, wie auch der Bauer seine Kuh oft besser behandelt, als seinen Knaben. Aber wehe dem Abolitionisten, dem Prediger der Sclavenfreiheit! Für ihn ist sofort ein Bett von Pech und Federn fertig. Zum zweiten Male ertappt – wird er verbrannt oder gehangen.

Süd-Carolina hat zwei gerühmte Universitäten, Columbia und Charleston, aber kein Professor, kein Student, kein Lehrer, kein Buchhändler darf mit einem Buche ertappt werden, worin das Wort Neger-Befreiung und dergl. vorkommt. Die Censur über Bücher und Zeitungen ist strenger, als sie jemals in Rußland oder Neapel war. Freiwillige Censoren und Bluthunde mit dem feinsten Geruch durchsuchen erst jedes Buch, ehe es innerhalb der Grenzen zugelassen wird. Jedes Buch mit einem Titel der Negersclaverei wird zurückgewiesen oder verbrannt. Keine Zeitung darf je den leisesten Tadel der scheußlichsten Grausamkeiten gegen Neger aussprechen. Von den Kanzeln donnert es fürchterliche Bannflüche gegen die Abolitionisten und träufelt es biblischen Segen auf die von Gott geordnete Sclaverei. Theater, Kirchen, Schulen, Universitäten, Buchhändler, Zeitungs-Redacteurs, öffentliche Vergnügungen und Gesellschaften stehen unter den Argusaugen freiwilliger Vigilanz-Committees, patriotischer Polizei-Spione. Jeder Weiße ist außerdem bewaffnet, stets in Furcht vor den gräßlichen Rachescenen von St. Domingo. – Diese maßlose, begründete, allgemeine Furcht wird sich auch bei Annäherung eines etwaigen nordischen Freiheitsheeres, vielleicht schon in den ersten Augenblicken ernstlichen Bruches geltend machen, da der Norden, die Abolitionisten im Falle wirklichen Kriegs sofort in den Schwarzen der Sclavenstaaten die furchtbarsten Hülfstruppen satanisch mobil machen könnten. Dieser Umstand allein wird den Bruch, den Krieg just in den Südstaaten unmöglich machen, wenn sie nach ihrem ersten Fanatismus nur im Geringsten zur Besinnung kommen. Freilich kann diese leicht zu spät kommen in diesen südlichen siedenden Kesseln der Leidenschaft. –

Die Zahl sämmtlicher Sclaven in allen vereinigten Staaten ist seit 1850 von 3,200,000 auf mehr als 4,000,000 gestiegen. Sie gehören 350,000 Herren, von denen aber die meisten weniger als 10 haben, so daß sich die Zahl der großen Sclavenhalter noch nicht auf 100,000 erhebt. Daraus ersieht man leicht, daß die Menge der armen, freien Weißen, die wenige, vielleicht einen, öfter gar keinen Sclaven als Dienstboten halten können, ungemein groß ist und sich bei stets gestiegenem Preise der „schwarzen Waare“ immer vermehren muß. Diese Weißen sind durchweg sehr arm, sehr verachtet von den großen Grund- und Sclavenbesitzern und spielen als Handwerker, Gastwirthe, Prediger, Doctoren, Gelehrte und Gebildete im Allgemeinen eine wahrhaft jämmerliche Rolle, da sich Viele – in Abhängigkeit von den Sclavenhaltern – freiwillig zu Sclaven und Liebedienern derselben machen. So sind sie natürlich auch grimmige Feinde des Evangeliums von der Freiheit der Neger, die sie eben so gut zu den Thieren rechnen, wie dies die Besitzer thun. Aber im Falle eines wirklichen Bürger- und Sclavenkrieges werden sie nur so lange auf Seiten der Macht stehen, als diese Macht besitzt. Ein Sieg der Freiheits-Partei, der kaum ohne Sclavenerhebung denkbar ist, liefert sie moralisch und materiell in die Hände des Siegers.

Hunderttausend Sclavenhalter! Verzehnfachen wir auch Jeden im Kampfe, so haben sie doch noch immer vier Millionen Schwarze in ihren eigenen Besitzungen, mitten in ihren Höfen und Häusern gegen sich. – Und dazu ein Feind von außen? Man kann sich kaum erklären, wie unter solchen Verhältnissen und Aussichten die trotzigste Revolution der Trennung, der Lossagung von dem mächtigen, vereinigten Staatenbunde in dem kleinsten Sclavenstaate entstehen und sich zum fanatischen Trotze ausbilden konnte. Es sieht wie absichtlicher Sturz in das Verderben aus. Nur maßlose Furcht, blindes Entsetzen konnte sie so weit treiben und stürzen.

Süd-Carolina liefert nicht nur die beste Baumwolle, sondern mehr noch den besten Reis. Für letzteren muß der heiße Boden noch künstlich feucht gehalten werden, so daß in diesen miasmatischen Dünsten eben nur Schwarze unter der Peitsche arbeiten können. Diese reichen trotz großer Menge nicht mehr hin, so daß sie immer theurer werden und entlaufene Sclaven mit besonderer Wuth und Schärfe verfolgt, die gefesselten bewacht werden. Flüchtlinge suchen sich gern in einem fremden Schiffe der Häfen von Charleston oder Beaufort zu verbergen, wenn sie nicht durch geheime weiße Freunde auf der „unterirdischen Eisenbahn“ befördert werden können. „Unterirdische Eisenbahn“ nennt man ein an den meisten Sclavenstaatengrenzen ziemlich gut eingerichtetes System der „Abolitionisten-Gesellschaft,“ entsprungene Sklaven nach Canada zu schmuggeln. Die Gesellschaft hat ihre Agenten in allen größeren Städten und Plätzen des Südens in ziemlich zusammenhängenden Stationen. Der Sclave wird in der Nacht, oft als Waare, Baumwollen-Ballen oder Tonne Reis von einer zur anderen befördert, bis man ihn über der Grenze auf freiem Boden abliefern kann. Hier haben sich aus solchen Geretteten schon mehrere Dörfer freier Schwarzer gebildet, besonders am Erie-See, wo sie durch Fleiß und Ordnung gedeihen, obwohl sie hier im Winter ärger von der Kälte leiden, als vorher von der Hitze.

Es ist natürlich sehr gefährlich, Beamter der „unterirdischen Eisenbahn“ zu sein. In den Sclavenstaaten selbst trifft den Ertappten die Lynch-Justiz oft, ehe das grausame Gesetz einschreiten kann. Er wird todt geschlagen, gehängt, verbrannt oder sonst cannibalisch todt gemartert. Dies gilt besonders von Süd-Carolina, wo die Sclaven unentbehrlicher, theurer und nothwendiger sind, als irgendw. Süd-Carolina ist zugleich eine Sclavenzüchterei, wo die Fortpflanzung der Schwarzen begünstigt und die Erziehung des jungen Nachwuchses zu guten Arbeitsstieren gepflegt wird. Virginien, Tennessee und Kentucky treiben dieselbe Zucht, aber nur, um das junge „Vieh“ an die Pflanzer der reichen, ungesunden Mississippistaaten, wo die Schwarzen immer schnell „verbraucht“ werden, zu verkaufen. Süd-Carolina behält nicht nur seine Zöglinge, sondern muß auch noch immer hinzukaufen, so daß hier die Forderung, Sclaven direct von Afrika einzuführen, am Unverschämtesten gemacht und zum Theil auch befriedigt wird. Ein reicher Herr von Süd-Carolina brachte unlängst eine eigene Yacht voll Neger von der Goldküste Afrika’s und verkaufte sie im Durchschnitt à 500 Dollars per Stück. Auch sind die „freien“ Farbigen stets in Gefahr, wieder unter den Hammer gebracht und verkauft zu werden. Diese Freien haben es vielfach schlimmer, als die leibeigenen Brüder. Eine große Menge Beschäftigungen und Industrien, alles Lehren und Lernen, alle geistigen Arbeiten sind ihnen verboten. Jeder, der einem freien Farbigen nur das A B C beibringt, wird mit Gefängniß, Auspeitschung und Ausweisung bestraft. Jedes Schiff, welcher Nation es auch gehöre, das einen freien Farbigen in Süd-Carolina an’s Land läßt, muß warten, bis es wieder in See geht, ehe es ihn wieder bekömmt. Während der Zeit mußte er im Gefängniß sitzen. Die meisten Schiffe, dort landend, haben schwarze Matrosen, farbige Stewards und Köche, so daß die Capitaine und Mannschaften, die etwa den Koch unbewußter Weiße an’s Land schlüpfen ließen, nicht selten Monate lang ohne den Koch kochen müssen. Die Süd-Caroliner gebrauchen diese Nummer Sicher gegen freie Seeleute, damit sich die Zahl der freien Farbigen in [137] ihrem Lande nicht etwa um einen oder den anderen durchgegangenen Matrosen vermehre.

Das sind südcarolinische und mehr oder weniger sclavenstaatliche Zustände überhaupt.

Sind das Zustände! Freie Republiken mit Bildung, mit Universitäten, und tyrannischer und unter größerer Angst, als etwa ein Bourbon in den letzten Tagen seiner Herrlichkeit von Gottes Gnaden. Können sie sich halten, wohl gar siegen gegen den Norden? Nach menschlicher, mathematischer Voraussicht nicht. Man darf deßhalb hoffen, daß sie aus ihrer revolutionären Trennungswuth in ihre Furcht vor den Folgen zurückkriechen und auch ferner noch Baumwolle bauen werden. Oder wird sich doch die unvermeidliche Krisis schon ausbilden und erledigen? Wenn man den Muth hat, über die unmittelbaren Schrecken und Handelskrisen, über die Millionen von englischen Baumwollenspindeln, Webstühlen und Webern hinwegzublicken und nach dem Ergebnisse zu urtheilen, wird man dies wünschen und willkommen heißen. Was wird die Folge sein? Freie, mehr leistende Arbeiter, wo jetzt Sclaven gepeitscht werden, wenn auch nicht just auf denselben Stellen. Baumwolle kann leicht durch Indien, Jamaica etc. geliefert oder auch, wie früher, durch schöne Leinwand, durch Sammt und Seide – ersetzt werden.

Die Baumwollen-Industrie in allen ihren Zweigen und so recht bis in die Zollvereinsstaaten hinein ist ein Fluch der Menschheit geworden. Ihr Untergang oder Rücktritt unter die Bedingungen freier Arbeit wäre ein Segen für uns Alle, die Auferstehung und goldene Blüthe viel edlerer Bodenbenutzung, viel schöneren Kunstfleißes mit Händen und Maschinen. – –




Erinnerungen aus dem Schleswig-Holsteinschen Kriege.

Von A. Baudissin.
Nr. 1.
Ein Soldaten-Diner.

Das dritte Schleswig-Holsteinsche Jägercorps lag nach der Schlacht bei Idstedt längere Zeit am Bissensee im Bivouac und erfreute sich nach den großen Verlusten, die es bei Idstedt erlitten hatte, einer besonders angenehmen Ruhe in der sandigen, magern und elenden Gegend des Bissensee’s.

Im Norden liegt das Dorf Breckendorf, welches von unsern lieben Freunden, den Dänen, täglich heimgesucht wurde, so daß zuletzt kein Halm Stroh, kein Huhn und kein Pfund Butter in dem großen Dorfe zu finden war. Wir beschlossen, diesem Wohlleben der Dänen ein Ende zu machen, und schickten jeden Morgen vor Tagesanbruch eine Compagnie Jäger nach dem so schwer geprüften Dorfe und hatten mehrmals das Glück, einer dänischen Fouragir-Colonne ein Gericht blauer Bohnen auf den Pelz zu brennen. Dies reizte nun wieder den Major des dänischen Bataillons, der uns zunächst commandirte, und es entspannen sich allmählich Tag für Tag kleine Gefechte in und um Breckendorf, die indessen zu nichts führten und den Vorrath der Lebensmittel auch nicht vergrößerten. Wir waren allmählich an diese Scharmützel so gewöhnt, daß es uns ging wie dem Wassermüller, der aus dem Schlafe erwacht, wenn seine Mühle steht. Wenn wir des Morgens aus unserm Strohlager erwachten, Mäuse und Hamster vertrieben und Kaffee tranken, so fehlte uns etwas, wenn wir es in Breckendorf nicht knallen hörten, und es wurden Bemerkungen laut, wie: „Es ist zu langweilig! Nicht einmal schießen hört man heute! Sollte der Major nicht ’mal Lust spüren, auszurücken? Was ist denn in Breckendorf los? es fällt ja kein Schuß! Es ist zum Verzweifeln!“

Wir mochten ungefähr sechs Wochen lang so zwischen Vergnügen und Langeweile, Gefechten und Nichtsthun verlebt haben, als wir auf den Einfall kamen, unserm Major ein „dîner fin“ zu geben. Mit fabelhafter Energie wurde das Project betrieben, und der Hauptmann von B., der von allen Officieren die schönste Hütte besaß, übernahm es, den Tisch zu besorgen. Von Morgens früh bis spät in die Nacht wurden fuderweise Epheukränze gewunden, Moos und Eichenlaub wurde herbeigeschafft, künstliche Sessel wurden bereitet, und als Krone des Luxus wurde aus Breckendorf eine Fensterscheibe herbeigeholt, die, künstlich in Moos und Epheu eingefaßt, über dem Platze thronte, wo unser Major sitzen sollte. Es war in der That ein niedliches Zelt! Alles war so geschickt und hübsch eingerichtet, daß wir anfingen, von uns selbst eine hohe Meinung zu bekommen und das Naturleben der rohen Völker in Amerika als etwas Idyllisches zu betrachten.

Wir schickten unsere Fouriere nach Rendsburg und ließen Cigarren, Wein, Punschessenz, Kaffee, Zucker, Austern und Citronen herbeibringen. Da diese Sachen leider nur für baar Geld zu haben waren, wir aber – wie alle Soldaten – kein Baargeld führten, so mußte uns der Zahlmeister Vorschüsse machen, was er aber erst dann that, als wir ihn feierlichst zu unserm „dîner fin“ eingeladen hatten. Ein Lieutenant M. aus Westphalen hatte ein Auge auf die Tochter eines reichen Pächters in der Nachbarschaft geworfen und bestand darauf, daß die ganze Pächterfamilie eingeladen werde, damit ihm endlich Gelegenheit geboten würde, das Siegel seines Herzens zu lösen und der schönen Marie unter vier Augen zu gestehen, daß er nicht abgeneigt sei, sich bei den Fleischtöpfen ihres Herrn Vaters häuslich niederzulassen. Der Vorschlag wäre durchgefallen, wenn nicht ein Jeder von uns ein Lottchen, Hannchen, Minchen oder Trinchen gekannt hätte, und es wurde somit endlich beschlossen, daß Jeder seine Herzenskönigin nebst Familie einladen dürfe, vorausgesetzt, daß die Eingeladenen Eß- und Trinkwaaren mitbringen würden.

„Tractiren wollen wir nicht,“ sagte ein alter Oberlieutenant, der längst sein Trinchen heimgeführt hatte und dem die jugendlichen Gefühle seiner Cameraden etwas antiquirt erschienen, „tractiren wollen wir nicht; wenn die guten Leute aber etwas Gutes mitbringen, so mögen sie willkommen sein. Ich verderbe kein Fest, nur gegen das Tractiren habe ich einen Widerwillen, den ich mit in’s Grab nehmen werde.“

Nachdem also die Sache soweit in Ordnung war, wurden Briefe geschrieben an Meier, Schulze, Müller, Schmidt und Hansen, und in den höflichsten Ausdrücken wurde das Ersuchen gestellt, daß „die verehrten Herren mit ihren werthen Damen“ uns die Ehre ihrer Gegenwart schenken und am 12. August, Mittags zwölf Uhr ein Soldatenfrühstück im Lager am Bissensee einnehmen möchten. Da nun die Minchen und Trinchen, Lottchen und Hannchen ihrerseits einen August, Wilhelm, Theodor und Fritz hatten, und da ein gutmüthiger Pächter seiner pausbäckigen, heirathsfähigen Tochter nicht gut eine Bitte abschlagen kann, so erhielten wir auf unsre höflichen Einladungen höfliche Zusagen. – Die Aufregung unter den jungen Officieren war groß.

„Wenn Hannchen morgen kommt, so sprich Du recht viel mit ihrem Vater,“ bat M.

„Führe Lottchens Vater hier im Lager herum, wenn Du siehst, daß ich mit meinem Taschentuche winke,“ bat Lieutenant K.

„Du könntest mir wohl den Gefallen thun, Minchens Vater etwas anzusäuseln,“ flehte der junge Lieutenant W.

Trinchen’s Vater hat noch keine Kanonen gesehen, zeige sie ihm doch morgen, ich thue Dir auch einen Gefallen,“ wisperte Lieutenant B., indem er mir krampfhaft den Arm drückte. – Ich machte die ganze Nacht vor dem dîner fin kein Auge zu. Meine Cameraden erzählten mir um die Wette ihre Liebesaffairen von A bis Z; M. kratzte sogar auf der Guitarre, diesem Seufzerkasten aller Verliebten, und sang mit seiner krähenden Stimme hinaus in die Sternennacht: „Steh’ ich in stiller Mitternacht so einsam auf der stillen Wacht.“ Der alte Oberlieutenant schüttelte ärgerlich den Kopf und meinte: „Alles will ich mir gefallen lassen, nur das Klimpern auf dem Winselholz nicht.“

„Und das Tractiren nicht,“ rief M.

„Und das Tractiren nicht,“ fügte er hinzu. „Ihr kriegt die Mädchen doch nicht, das ist noch das einzige Glück bei der ganzen Geschichte, darum habt Erbarmen und macht mich mit Eurem Verliebtthun nicht melancholisch; es ist ja doch nichts, als reiner Larifari!“

So verging unter Liebesseufzern, Flohstichen, Mäuse- und Hamsterbesuchen die Nacht, und in niegesehener Glorie hob sich die [138] Sonne am 12. August aus ihrem Nachtlager, um das Festzelt am Bissensee zu betrachten und mit ihren Strahlen zu vergolden. Die Officiere verwendeten unendliche Zeit zum Anziehen; die reinen Hemden wurden aus den Koffern im Bagagewagen herbeigeholt und der muffliche Geruch derselben wurde mit Eau de Cologne, so weit thunlich, vertilgt. Haaröl war leider wenig vorhanden, daher wurde trotz der eifrigen Protestation des alten Oberlieutenants eine Flasche Salatöl geopfert, und wir erglänzten Alle in nie gesehener Pracht. Besonders M. war wie ein Oelgötze so blank. Er wiegte sich in den Hüften, spielte sinnend mit einer Lorgnette, zupfte Tausendschön und Gänseblümchen zwischen den Fingern und verschmähte es, eine Cigarre zu rauchen, weil Marie den Geruch nicht leiden mochte.

Die Delicatessen wurden ausgepackt. Ein furchtbar schöner Anblick! Der Oberlieutenant stand mit den Händen in der Hosentasche am Tische und las mit Heißhunger die Vignetten der verschiedenen Flaschen, Schachteln, Krüge und Gläser. „Ananas! B., Sie sind ein Gott! Ananas! himmlische Gerechtigkeit, ist es Wahrheit oder Dichtung? träume ich, oder bin ich bei Sinnen? Ananas und Austern! Sie haben doch genug Austern? Sonst schicken wir lieber nochmals nach Rendsburg. Ich will meine Uhr versetzen, wenn es nöthig; wir wollen uns heute nicht lumpen lassen; nein, hole mich der Teufel, B., nur nicht lumpen lassen!“

„Komme doch, komme doch, komm, Du Schöne!“ flötete M.

„Herrrrjeses,“ schrie der alte Oberlieutenant, „Mensch, Freund und Kupferstecher, wie können Sie bei diesem Anblick da solch dummes Zeug herbrüllen!“

„Dein ist mein Herz,“ entgegnete M., indem er seinen Arm um den Leib seines Freundes schlang, „Sie sollen meine Portion Caviar haben, aber dann lassen Sie mich auch singen.“

„Caviar? Caviar?“ rief der Alte, indem er M.’s Hand preßte. „Goldjungen, die Ihr seid, mein Lieblingsessen! Caviar? Hört, Kinder, laßt mich ihn einmal versuchen, ob er auch gut ist. Was? Blos eine Messerspitze voll! Soll ich, B.? Ja?“

„Gott bewahre!“ rief B., „das wäre ja gegen die Kleiderordnung. Auch nicht daran riechen dürfen Sie. Geduld!“

„Es ist recht so,“ stöhnte der Alte, „na, wie spät ist es denn schon?“

„Elf Uhr,“ entgegnete M., „in der nächsten Stunden Schooße liegt das Schicksal einer Welt. Hurrah, da kommt schon ein Wagen.“ – Und so war es. Ein Wagen voll junger Mädchen erschien am Rande des Waldes, zwei, drei, vier Wagen folgten hinterdrein. Welch’ ein Anblick, so ein holsteinischer Wagen, von zwei dicken, fetten Dithmarser Pferden gezogen, den alten Kutscher in seinen Sonntagskleidern auf dem Kutschersitze, die Meerschaumpfeife mit der Perlenschnur unter der rothen Weste hervorguckend.

In langsamem Trabe nahte sich die Karawane, und als sie endlich anhielt – ja, wer beschriebe diese Scene ? Die alten Herren quetschten mit ihren Händedrücken unsre Finger, die Mama’s blickten uns mit ihren blauen Augen so unverwüstlich gutmüthig an, die Töchter waren so bodenlos verschämt und lächelten so riesig naiv, daß man aus Mitleid mit den armen Dingern hätte vergehen mögen. Der Ach’s und der O’s über diesen „reizenden Platz“ war kein Ende, das „Wetter war so schön“, „so hätten sie sich’s doch nicht gedacht“ und „so gemüthlich, wie wir uns eingerichtet hätten“, waren die Thema’s, über welche in der nächsten Stunde geplaudert ward.

Indessen trugen die Kutscher aus den Wagen unendliche Quantitäten von Lebensmitteln und stapelten sie in der Nähe des Zeltes auf. Der alte Lieutenant kam mit Thränen in den Augen zu mir, zog mich einige Schritte abwärts und sagte: „O Hauptmann – sie haben Gurkensalat und kalten Entenbraten mitgebracht.“

„Sonst nichts?“ fragte ich.

„Sonst nichts? Ist das nichts? Rothe Grütze, Kuchen, Torten, Gänse-, Enten-, Hühner-, Reh- und Hasenbraten, Fische gebraten, gesotten und in Gelée, Eistorten, Chocolade, gekochte Krebse, geräucherten Aal, Heringssalat einen Eimer voll! O! es sind Mordkerle, diese Pächter, es ist der schönste Tag meines Lebens! Na, ich sage Ihnen, ich will aber heute einen Zungenschlag entwickeln, der soll gut sein.“

Dabei liebkoste er seinen Schmeerbauch und blickte in die Zukunft, wie Einer, dem es nie fehlschlagen kann.

Der Major war indessen erschienen und hatte mit seiner liebenswürdiger Höflichkeit die Gäste willkommen geheißen. Die Pächter beeilten sich, dem allgemein bekannten und geachteten Commandeur ihre Hochachtung zu beweisen, und die jungen Officiere hatten einen Augenblick Gelegenheit gehabt, mit den jungen Damen Blicke und Händedrücke zu wechseln.

Als B. die Gruppen richtig vertheilt sah, meldete er, daß der Tisch gedeckt sei, und der Major führte eine dicke, fettstrahlende Pächtersfrau an den Platz, wo die Fensterscheibe paradirte. Ich nahm M.’s künftige Schwiegermutter und wußte mich so mit ihr zu placiren, daß ihr Ehegatte den verliebten Lieutenant und sein ebenso verliebtes Mariechen nicht zu Gesicht bekommen konnte.

Ein dankbarer Blick von M. war mein Lohn. Der alte Lieutenant hatte sich nicht mit einer Tischdame „behaftet“, er saß am obern Ende, von wo aus er den ganzen Tisch mustern konnte. Ich habe ihn nie so selig lächeln sehen.

Suppe hatten wir keine, es ging daher gleich über Braten und Compote her. Die Schlacht sollte mit Hühnern anfangen und mit Austern aufhören; die Hühner lagen in Petersilie in den Schüsseln und hielten ihre Herzen und Lebern zwischen den Beinen; sie dufteten so schön, ach so schön, daß ich noch nicht begreifen kann, wie der Unhold von einem Adjutanten in gestrecktem Galopp an das Zelt reiten und laut ausrufen konnte: „Der Major des dritten Jägercorps!“

Der Major erhob sich, empfing eine schriftliche Ordre. Einen Augenblick tiefe Stille. Dann tönte des Majors laute Stimme:

„An die Gewehre!“

Und an unsre Gäste sich wendend, sagte er: „Die Dänen rücken an, sie haben die Mühle bei Stenten genommen, wir müssen vorgehen. Auf Wiedersehen!“

Binnen fünf Minuten erschollen die Commando’s: „Ueber das Gewehr! In Sectionen vom rechten Flügel abmarschirt! Ohne Tritt, Marsch!“

Wir zogen rasch vorwärts, denn es begegneten uns schon Wagen mit Verwundeten. Adjutanten und Ordonnanzen ermahnten unaufhörlich zum raschen Marschiren, und als wir die Höhe von Stenten erreichten, da sahen wir das zweite Jägercorps langsam einer Uebermacht der Dänen weichen.

„Rechts das Gewehr! Trab, Trab, Jungens!“ rief der Major. „Haltet gut Ordnung, Kinder, Trab, Trab!“

Wie ein Gewitter stürzte sich das dritte Jägercorps in’s Gefecht, die Dänen zogen sich zurück und hielten die Mühle bei Stenten besetzt, von wo sie mit 4 Geschützen und gegen 1000 Mann auf die Schleswig-Holsteiner feuerten. Die Mühle lag auf einem schmalen Damm, mitten in einem kleinen See und war durch die Feigheit eines Hauptmanns vom zweiten Jägercorps an die Dänen verloren gegangen. Der Major von E. klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Nehmen Sie die Mühle schnell, ehe das zweite Jägercorps sich sammelt.“

Ich hatte bei meiner Compagnie einen schwedischen Officier, Premierlieutenant L., den verwegensten Mann, den ich je gesehen habe. Er riß sein Käppi vom Kopfe, als er den Befehl zum Angriff hörte und rief laut: „Gud forbanda de Danska.“ Ich nahm ihn, einen östreichischen Officier, Lieutenant, und alle Freiwilligen an die Spitze der Compagnie und ließ im Paradeschritt vorrücken. Plänkeln und Schwärmen konnten uns nichts helfen; nur ein geschlossener Angriff konnte uns in Besitz der Mühle setzen. Meine braven Jäger sangen während des Vorgehens: „Der Hauptmann, er lebe!“ – und schritten mit geschultertem Gewehr auf den Damm zu. Eine furchtbare Salve empfing uns.

„Zum Angriff das Gewehr!“ rief ich meinen Leuten zu.

„Schießt erst, wenn wir in der Mühle sind. Trab!“

In diesem Augenblick ritt ein Stabsofficier an mich heran und fragte: „Haben Sie viel verloren?“

Ich kannte den Officier nicht, erwiderte daher kurz: „Ich glaube es nicht, habe mich übrigens nicht umgesehen.“

Da rief plötzlich ein Freiwilliger aus Frankfurt, Namens D.: „Das ist Heinrich v. Gagern!

Ein Hurrah, wie es wohl selten ertönt haben mag, begrüßte den edlen Mann, der in schleswig-holsteinischer Uniform sich an die Spitze der Sturmcolonne setzte. Wie wir an die Mühle kamen, das weiß ich nicht. Wir stürzten jubelnd vorwärts, und als wir die Mühle erreichten, da sprangen die Dänen aus Fenstern und Thüren zu Hunderten heran.

[139] „Feuer! Feuer!“ riefen die Officiere. Ein Schrei, der auf unsre Salve folgte, bewies, daß wir getroffen hatten. Die Dänen flohen wild vor uns über die Haide, wir hinterher. Die Jäger warfen Käppi’s, Gewehre und Hirschfänger, Alles, was sie im Laufe hindern konnte, von sich und verfolgten die fliehenden Dänen, von denen sie manchen mit den Händen ergriffen. Ich habe nie eine größere Aufregung unter Menschen gesehen, als an dem Tage herrschte, von welchem ich hier erzähle. Ein preußischer Militär sagt in seiner Abhandlung über den schleswig-holsteinischen Krieg, daß W. seine Truppen nicht zu beurtheilen verstand, weil er an jenem Tage nicht Schleswig erstürmte. Er verglich den Angriff der Jäger mit dem der französischen Garde bei Waterloo. Ich glaube, daß unsere Truppen bei Stenten einen fünffach überlegenen Feind vor sich hatten; sie warfen sich mit solcher Wuth und ohne einen Schuß zu thun, auf die Dänen, daß diese beim ersten Angriff zurückprallten und erst dann wieder zum Stehen kamen, als unsere Nachtmütze von einem General „Hahn in Ruh“ blasen ließ.

Es war ungefähr sechs Uhr Abends, als das dritte Jägercorps wieder versammelt war. Die Leute standen lachend und schwitzend bei den Gewehren, die Officiere sprachen mit dem Major, der freudestrahlend seine „Kinder“ lobte und den General tadelte, weil er uns nicht vorwärts marschiren lassen wollte.

„Wenn wir nur bald abmarschirten,“ sagte der alte Lieutenant, „damit wir doch Abendessen vorfänden. Mir soll’s heute Abend nach der verfluchten Laufpartie doppelt schmecken! Herrgott von Mannheim! habe ich einen Hunger.“

M. hatte einen Streifschuß am Arm erhalten und freute sich auf Mariechens Pflege; T. war durch den Arm geschossen, grinste aber vor Vergnügen, weil er den „Forbanda de Danska“ durch und durchgerannt hatte; sonst war keiner von uns verwundet, und auch von unsern Leuten waren sehr wenig leicht verwundet. Wir konnten uns aber über den Ausgang des Gefechtes doch nicht recht freuen, denn erstens war es nutzlos gewesen, wie alle unsere Kämpfe, und zweitens das Dîner fin! – Was war aus den Pächtern, den Mama’s, den Minchen und Trinchen geworden? Wie befand sich der Caviar? Wo waren Hühner- und Entenpasteten? Wo war Wein und Ananas? Hielten die reizenden Pausbäckchen Wache bei unsern Schätzen, oder war ihnen Uebles widerfahren? Lauter Fragen, die wir Alle stellten und die Niemand beantworten konnte.

Endlich gegen 7 Uhr erhielten wir Befehl, wieder in unser Bivouac zu marschiren. Hungrig und durstig, wie wir waren, legten wir den Weg nach Bissensee schnell zurück, immer ängstlich nach vorn lugend, ob wir nicht einen Blick auf unser Heiligthum werfen könnten; aber es ward dunkel, bevor wir unsere „Heimath“ erreichten, und als wir sie erreichten, was fanden wir da?

Die Bauern von Breckendorf, des langen Fastens müde, hatten sich an den Bissensee begeben und nach kurzem Proceß mit den Pächtern und deren „verehrten Familien“ eine heillose Razzia angestellt, so daß auch nichts, sage gar nichts von unsern schönen, wunderschönen Delicatessen nachgeblieben war. Ja, wenn nur Brod, oder Erbsen, oder Bohnen dagewesen wären; aber nichts, partout nichts war zurückgelassen, als der Epheukranz; sogar die Fensterscheibe war von ihrem egoistischen Besitzer wieder abgeholt worden. Was sollten wir anfangen? Etwas muß der Mensch essen, wenn er hungrig ist, das lehrt die Erfahrung. Wir zogen daher auf Raub aus, melkten die Kühe auf einem nahegelegenen Gute, stahlen Kartoffeln und schossen einen Schafbock, den wir nachher nicht essen konnten, weil er zu polizeiwidrige Düfte gen Himmel sandte.

„Singen Sie doch,“ spöttelte der alte Oberlieutenant. „Singen Sie doch, Herr M.“ – „Ja,“ antwortete dieser, „tractiren Sie doch! wie hat die Messerspitze voll Caviar geschmeckt? He?“




Eine mecklenburgische Colonie in Nordamerika.

Welches Land, welche Nation hätte nicht ein Scherflein dazu beigetragen, diese eine große Nation der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu bilden, in welcher alle Völker zu einem großen freien Brudervolke zerschmelzen! Leider vergessen diese verschiedenen Nationen sehr bald ihre Herkunft. Sie werden Yankee’s im vollsten Sinne des Wortes, alle Gewohnheiten, alle Sitten des alten Vaterlandes abstreifend; sie vergessen die Sprache, welche sie als Kind gelernt, um die Sprache dieses anderen neuen Vaterlandes zu sprechen; kurz Alle acclimatisiren sich, façonniren sich mehr oder weniger rasch, sie werden United States Citizen, und sind um so stolzer im Bewußtsein ihrer Freiheit, als sie im früheren Vaterlande unterdrückt und geknechtet worden sind. Nur ein Volk, oder vielmehr nur eine Spielart eines Volkes bewahrt seine Gewohnheiten, seine Sitten, bewahrt sogar seine Sprache, und dieses ist der Mecklenburger.

Wohl kein Land nächst Kurhessen, dieser anderen unglücklichen Provinz unseres schönen Deutschlands, hat verhältnißmäßig ein größeres Contingent zur Bevölkerung der Vereinigten Staaten gestellt als gerade Mecklenburg.

Wir fragen: weßhalb? und die Antwort liegt wohl nicht gar fern: Mecklenburg ist hinter dem übrigen Deutschland weit zurückgeblieben. Ein Rittergutsbesitzer in Mecklenburg und ein Raubritter des Mittelalters könnten wohl noch so ziemlich gleichbedeutend sein. Man kann sich eine Vorstellung von der socialen Stellung des gemeinen Mannes, des Arbeiters machen, welcher den fruchtbaren Boden Mecklenburgs in dem Schweiße seines Angesichts bearbeitet, wenn man ihn in Amerika die Luft der Freiheit so mit vollen Zügen einathmen sieht, und sich auf seinem Gesichte dies Glück ausprägt, welches seine biedere deutsche Seele erfüllt, endlich diesem Zwange, diesem ewigen Darben trotz zwölfstündiger harter Arbeit entronnen zu sein. Denn hier lacht ihm, wenn auch nicht gleich ein vorgefabelter Wohlstand und Reichthum, so doch ein sorgenfreies Leben; er sieht die Möglichkeit vor sich, in einigen Jahren das zu erwerben, wozu daheim ein ganzes Menschenleben kaum genügt hätte. Schon besitzt er einige Morgen fruchtbares Land und seine Hütte, und wenn diese auch kaum genügt, um der zahlreichen Familie ein Obdach zugewähren, so ist sie doch sein Eigenthum. Mit Stolz blickt er heute auf sein Arbeitszeug, auf seinen Spaten, seine Axt, welche ihm und seiner Familie das tägliche Brod geben, während er sie früher nur mit Mißmuth und Verdruß ansah und jeden Morgen seufzend wieder in die Hand nahm, um freilich auch zu arbeiten, aber nicht für sich. Was nützte es ihm, den fruchtbaren Boden seines Vaterlandes zu bearbeiten? Ein karger Lohn, welcher kaum hinreichte, um den nothwendigsten leiblichen Bedürfnissen zu genügen, ward ihm; er verließ mit blutendem Herzen seine zerfallene Hütte, welche der schmutzige Geiz und Egoismus des Besitzers zu einer wahren Ruine umgestaltet hatte, verfolgt von dem Geschrei seiner hungernden Kinder, während der Herr mit einem kalten, theilnahmlosen Lächeln auf seine zerlumpte, von jahrelanger harter Arbeit gebückte Gestalt die blanken Thaler für die goldenen Saaten einstrich, ja ihm vielleicht in demselben Augenblicke mit einem derben Fluche auf das hungrige Gesindel die Bitte um einen Scheffel Kartoffeln abschlug, das einzige Nahrungsmittel des armen Arbeiters, auf dessen Tische ein Stück Fleisch schon seit Monaten nicht mehr erschienen.

So rafft er denn das letzte ihm Gebliebene zusammen, wirft einen letzten traurigen Blick auf die Hütte, wo seine Wiege gestanden, und wandert mit dem geringen Bündel auf den nächsten Hafen los.

Wir finden ihn, sowohl den früheren Besitzer eines kleinen Bauerhofes, als auch den gewöhnlichen Arbeitsmann, der nichts als sein dürftiges Mobiliar, die große wurmstichige Gardinenbettstelle und den rothbraunen Tellerschrank, höchstens eine Kuh und einige Schafe sein eigen nennen konnte, im fernen Westen Amerikas wieder.

Ganz der Alte an Sitten und Gewohnheiten. Der lange blaubaumwollene Rock, die kniehohen Stiefeln mit den dicken Sohlen und den gleich Eselsohren zu beiden Seiten herausstehenden Strippen, das blau und roth gestreifte Halstuch, – wir erkennen ihn auf den ersten Blick. Die kurze Pfeife mit dem großen Porzellankopfe, auf welchem in den grellsten Farben das gelungene Portrait irgend eines berühmten Feldherrn, ja sogar ein ganzes Schlachtstück prangt, fehlt ebenfalls nicht, und lustig dampft er seinen Kneller, nachdem er ihn noch nach echter altdeutscher Sitte [140] mit Hülfe von Stahl, Stein und Schwamm in Brand gesteckt, in die freie Luft hinein. Denn lustig ist er geworden, eine biedere deutsche Kernlustigkeit hat sich seiner bemächtigt, und nur der Gedanke, daß seine vielen Vettern, Basen und Tanten, ja vielleicht gar seine alten Eltern noch da drüben bei harter Arbeit hungern und darben müssen, zieht wie eine Wolke über seine Stirne, – doch selbst bei dieser Erinnerung erheitert sich sein Gesicht bald wieder, denn bald wird ja so viel verdient sein, daß er seinen liebsten Angehörigen die zur Ueberfahrt nöthige Summe wird schicken können. Die entfernteren Verwandten und Bekannten, besonders die ihm so sehr abgerathen über das Meer zu gehen, werden dann Augen machen und, wenn sich aus dem Verkaufe des ärmlichen Mobiliars nur irgendwie die Ueberfahrtskosten herausschlagen lassen, gewiß die Ersten sein, welche ihm folgen werden.

Mecklenburgische Colonie bei Milwaukee.

Seine Sprache, dies breite gewichtige Plattdeutsch mit seinen Kraftausdrücken, seinen Kernstücken, vertauscht er ebenfalls nur ungern und gewissermaßen nur gezwungen gegen die englische, was hauptsächlich schon deßhalb länger dauert, weil er sich stets zu seinen Landsleuten hingezogen fühlt, wie denn ein Mecklenburger stets die Gesellschaft eines Mecklenburgers sucht. So traf ich im Nordwesten der Vereinigten Staaten in der am Michigan-See gelegenen Stadt Milwaukee, der größten des Staates Wisconsin, eine solche Colonie, eine wahre Cabinetausgabe des deutschen Mecklenburg, von welcher ich eine Skizze beifüge.

Sie haben sich hauptsächlich an dem einen nördlichen Ende der Stadt angesiedelt. Es gehört dieser Theil, obgleich er sich mit seiner äußern Grenze über eine halbe deutsche Meile von der Stadt befindet, noch in das Gebiet derselben, wie wir es schon an den genau nach den vier Himmelsrichtungen hin angelegten Straßen sehen können; doch kann uns dies bei einer westamerikanischen Stadt nicht Wunder nehmen. Eine solche Stadt ist von ihren Gründern oft in den Dimensionen angelegt oder ausgesteckt, wie sie es dort nennen, daß ein London oder Paris auf ihrem Flächenraume fast verschwinden würde, obgleich vorauszusehen ist, daß viele derselben wegen der Unzweckmäßigkett ihrer Anlage oder auch wegen schlechter klimatischer Verhältnisse es nie über eine Einwohnerzahl von vielleicht tausend Seelen bringen werden.

Milwaukee macht freilich hierin eine Ausnahme. Seit kaum fünfzehn bis zwanzig Jahren von einem Franzosen, einem gewissen Juneau angelegt, welcher die Tochter eines Häuptlings der jetzt fast ganz ausgerotteten Menomonie-Indianer geheirathet, ist sie in kurzer Zeit, und besonders seit den letzten zehn Jahren zu einer großen Handelsstadt mit einer Einwohnerschaft von fast 60,000 Seelen angewachsen, und die in letzter Zeit eröffnete directe Verbindung des Obersees durch den Welland-Canal und den Lorenzstrom mit dem atlantischen Ocean wird ihr in der Folge noch eine größere Wichtigkeit verschaffen. Auch sie ist in ungeheuren Dimensionen ausgesteckt, und wird, was indessen wohl trotz des schleunigen Wachsthums dieser nordwestlichen Städte nicht so bald zu erwarten ist, nur eine Hälfte dieser durch die graden Straßen in regelmäßige Vierecke zertheilten Fläche bebaut, so würden einige Millionen Einwohner wohl kaum genügen, um die Häuser mit Bewohnern zu füllen.

Hier, wie gesagt, ist ein zweites, aber glückliches, freies Mecklenburg gegründet worden. Hier, zwischen den noch fest im Boden steckenden riesigen Stümpfen der Bäume, welche noch vor kaum zwanzig Jahren den Wigwam des rothen Sohnes der Wälder beschatteten, hat der arbeitsame Plattdeutsche oder Dutchman, wie ihn der Amerikaner nennt, einige Morgen Land gekauft, eine Lot, d. h. einen Bauplatz, und auf demselben seine Breterhütte erbaut. Sie gewähren einen eigenthümlichen Anblick, diese oft phantastisch, nach der Laune des Besitzers construirten Baulichkeiten. Viele sind freilich schon mehr einem Hause ähnlich, da ein Aufenthalt [141] von bereits einigen Jahren dem Erbauer erlaubt hat, mehr Ersparnisse auf dieselbe zu verwenden; andere dagegen haben aber durchaus nichts an sich, was darauf Hinweisen könnte, daß dies wirklich ein von Menschenhand geschaffenes und ihm zum Obdach bestimmtes Machwerk ist, besonders wenn dieselben, um möglichst wenig Breter zu verbrauchen, zu drei Vierteln in die Erde gesenkt sind.

Man braucht nur einige Schritte in diese Gegend gethan zu haben, um zu sehen und zu hören, daß man sich unter einer durchweg mecklenburgischen Bevölkerung befindet, man erkennt sofort den kräftigen untersetzten Bewohner des baltischen Strandes, ja man wird sogar, und dies kam mir besonders spaßhaft vor, von dem zottigen Dorfspitz, wie wir ihn in jedem Dorfe Mecklenburgs zu Dutzenden finden, angekläfft, so recht auf plattdeutsch angekläfft, denn selbst er, da er sich so mitten unter Landeskindern befindet, amerikanisirt sich nicht.

Die Bewohner dieser Colonie beschäftigen sich natürlich, schon der geringen Ausdehnung ihres Landbesitzes halber, nur in so fern mit dem Ackerbaue, als es die Bepflanzung desselben mit Kartoffeln und einigen Gartenfrüchten betrifft, ein Geschäft, was übrigens in der Regel der Frau und den jüngeren Familiengliedern obliegt. Der Mann hat nämlich herausgefunden, daß er seine Arbeitskräfte in der Nähe einer großen handeltreibenden Stadt viel besser verwerthen kann. Er wandert daher, wohlgemuth aus seiner Pfeife, dem sogenannten Nasenwärmer, wahre Dampfwolken eines echten amerikanischen Knasters ziehend, mit seinen Geräthschaften auf dem Rücken, früh des Morgens nach der Stadt. In einer der grundlosen Hintertaschen seines langen blauen Rockes wiegt sich das kräftige Stück Schwarzbrod nebst einem guten Bissen fetten amerikanischen Speckes, aus der andern guckt der Hals einer wohlgefüllten Schnapsflasche hervor, und ein lustiges plattdeutsches Lied, so einen Mecklenburger Schnaderhüpf’rl vor sich her trällernd, langt er auf dem Marktplatze an. –

Hier ist die Börse. Hier versammeln sich jeden Morgen mit Sonnenaufgang die arbeitslustigen Mecklenburger Landeskinder, und mit derben Scherzen und Erzählungen aus dem alten Vaterlande vertreiben sie sich die Zeit, bis ein Arbeitgeber sie wegholt. Der Städter weiß, wo er einen Arbeiter zu finden hat, er geht auf die Börse, und hat er auch nur so irgendwie das Ansehen, als suche er Jemand, so wird er sich gleich von einer Anzahl derselben umringt sehen, welche ihm in den breitesten vollsten Tönen ihrer Muttersprache ihre Dienste antragen, weßhalb es denn auch gewissermaßen gefährlich ist, in dieser Gegend stehen zu bleiben. Der Mecklenburger ist zu Allem brauchbar, jede Arbeit verrichtet er mit Geschick und praktischem Verstande; das weiß auch der Städter, und der Amerikaner selbst wird sich, wenn es im Haus und Hof etwas zu thun giebt, stets einen Dutchman holen. Im Sommer erscheint er mit Hacke, Spaten und Schaufel, und nie hat er lange auf Arbeit zu warten, im Winter dagegen, wo die Arbeiten auf dem Felde aufhören und er meistens nur auf das Holzspalten angewiesen ist, bilden die Axt und der Sägebock seine steten Begleiter, und dann kommt es wohl manchmal vor, daß er einen ganzen Tag nutzlos warten muß, höchstens nur einige kleine Commissionärdienste versieht, die ihm einige Cents einbringen. Doch dies schadet nichts, denkt er bei sich, zieht, um sich zu trösten, die Schnapsflasche, das gewaltige Stück Schwarzbrod und den Speckschnitten aus der Tasche, und bald ist er, besonders wenn dann auch die Pfeife in Brand gesteckt ist, wieder in der prächtigsten Laune; er scherzt dann mit seinem noch traurig dasitzenden Nachbar, indem er ihm scherzend einen Rippenstoß versetzt, der einen minder Starken auf die Seite geworfen hätte, und lugt scharf nach allen Seiten aus, um ja nicht einen Arbeitgeber zu verpassen.

Was am meisten zu bewundern ist, ist der Umstand, daß sich der Mecklenburger nie betrinkt. Er führt zwar stets seine Kümmelkarline, wie er sie im vertraulichen Umgang nennt, bei sich, jedoch trinkt er seinen Schnaps eben nur als Zugabe zu seinem einfachen Mahle von Schwarzbrod und Speck. Ein Irländer würde sich, wenn er so manchmal den ganzen Tag vergebens auf Arbeit warten müßte, wenigstens dreimal betrinken.

Im Winter arbeitet der Mecklenburger überhaupt nicht so anhaltend als im Sommer, er ruht aus; seine Frau und die weiblichen Glieder hingegen greifen zur Nadel, denn Arbeit giebt es vollauf. Man muß nun freilich nicht gleich glauben, die Arbeiterfrau besäume oder sticke Battisttaschentücher oder verfertige feine Leibwäsche, – nein, – die Nadel der biederen Mecklenburgerin versteigt sich selten über jene blauen Drillichstoffe hinaus, von denen im ganzen Nordwesten Amerika’s zu Kitteln, Beinkleidern und Hemden ein ungeheurer Verbrauch gemacht wird; sie verdient indessen täglich einen halben Dollar, also ungefähr zwanzig Silbergroschen, Was, wie mir einst ein Arbeiter sagte, vollkommen zum Unterhalt der Familie ausreiche, denn seinen Verdienst lege er auf die hohe Kante, um in einigen Jahren an Stelle der kleinen Breterhütte ein schönes Haus zu bauen.

So arbeitet er denn einige Jahre fort und häuft Sparpfennig auf Sparpfennig, und hat sich dann die Summe etwas abgerundet, so verkauft er in der Regel auch noch mit einigem Profit seine Lot und Haus, und bald sehen wir ihn weiter im Innern auf irgend einer kleinen Farm glücklich und zufrieden seinen Boden bestellen. – Es versteht sich von selbst, daß er stets eine Farm oder eine Fläche Land dort kauft, wo bereits Landsleute wohnen, denn – der Mecklenburger ist nun einmal für den Mecklenburger geschaffen.
St.


Aus den Zeiten der schweren Noth.

Nr. 1.
Rettung einer Abtheilung Lützower Jäger.
Von Cantor Leuschner in Eythra.

Die Schlacht bei Lützen war vorüber. Dem furchtbaren Kampfe der Tausende von erbitterten Gegnern, die den Krieg mit allen seinen Schrecken bis an die Schwelle auch meines Hauses getragen, folgte momentane Ruhe. Der Kaiser Napoleon, so hold ihm auch das Glück in diesen Tagen wieder gewesen, gab der unabweisbaren Nothwendigkeit nach und schloß einen Waffenstillstand ab, den man damals, wie schon so oft, als den Vorläufer baldigen Friedens ansehen zu können glaubte. So waren mindestens die nächsten Besorgnisse beschwichtigt, und obschon der Blick ringsum nur auf den Stätten der Verwüstung weilte, athmete doch Alles in unserem freundlichen Elsterthale wieder auf. Es war ein wunderliebliches Frühjahr. Die alte Mutter Erde, unbekümmert um der Menschen thörichtes Beginnen, trieb aus dem blutgetränkten Boden neues Leben und neue Blüthen wie sonst, und manches Herz, das in den letzten Tagen schwer gelitten, faßte frischen Muth.

Auch ich begann wieder meine gewohnten Ausflüge, und an einem solchen Tage, den 17. Juni 1813, war es, wo ich von meinem heimathlichen Dorfe Eythra aus nach dem nahgelegenen Zwenkau wanderte, in Begleitung des Gerichtsactuar Hennicke, nachmaligen Schöffers zu Rötha, eines nun schon längst entschlafenen Freundes. Unser Weg galt dem Besuch eines dritten gemeinsamen Freundes, des als Märchendichter einst weithin gekannten und bei der Kinderwelt heute noch unvergessenen Oberpfarrers Löhr. In seinem Hause habe ich so manche glückliche Stunde verlebt. So war es auch heute. Der Rückblick auf die kaum überstandene schwere Zeit mochte uns bei dem ersten Wiederbegegnen wohl ernster stimmen, als es sonst geschehen; aber die Hoffnung schwellte bald die Herzen. Ueberall in deutschen Landen blickte man ja doch damals schon besseren Tagen mit Vertrauen und Zuversicht entgegen. So verschwanden rasch einige Stunden, und in der heitersten Stimmung traten wir den Heimweg an.

Die Dämmerung war bereits eingebrochen. Die letzten Streiflichter der sinkenden Sonne warfen ihre rosigen Schimmer auf das dunkle Waldesgrün; dem geräuschvollen Leben des Tages war jene geheimnißreiche und ahnungsvolle Stille gefolgt, die uns in jungen Jahren so leicht poetisch anregt. Im glücklichen Vergessen schwerer Leiden und Drangsale gaben auch wir uns diesem Eindrucke hin, und insbesondere waren es Theodor Körner’s patriotische [142] Kriegsgesänge, die wir lebhaft besprachen und in deren feurigen, hinreißenden Klängen wir den entsprechendsten Ausdruck für unsere Gefühle fanden. Waren es doch dieselben Lieder voller Muth und Kraft, wodurch um jene Zeit so mancher deutsche Jüngling für den Kampf gegen den Unterdrücker deutscher Freiheit gewonnen und zu freudigem Muthe und kühner Entschlossenheit begeistert wurde.

Ach! wir hatten damals keine Ahnung davon, daß der edle, jugendliche Dichter in denselben Augenblicken, kaum eine Stunde von uns entfernt, in einer ohnweit des Dorfes Kitzen[2] gelegenen Buschstrecke schwer verwundet und hülflos darniederlag, rings von Feinden umgeben, dem Tode nahe.

Eine verspätete Heimkehr war um jene Zeit jedoch immer noch bedenklich, und besonders Waldwege bei einbrechender Nacht, der noch häufig maraudirenden Soldaten wegen, nicht allzu sicher. Wir beschleunigten deshalb unsere Schritte, um so bald als möglich nach dem Schlosse Eythra zu gelangen. Allein noch hatten wir nicht die Mitte des parkähnlichen Stockweges erreicht, als wir plötzlich Hufschläge vernahmen und zwar so wiederholt und so vielfach, daß wir über die Annäherung eines starken Detachements von Kavallerie nicht lange in Zweifel sein konnten. Was wir indeß, an derlei Erscheinungen gewöhnt, ziemlich furchtlos erwarteten, geschah nicht. Einige Augenblicke später erschienen nur einzelne Reiter, deren Uniform uns völlig unbekannt war und die in raschem Trabe an uns vorüberjagten. Noch blickten wir ihnen staunend nach, als plötzlich mehrere reiterlose Pferde aus dem Gebüsch hervorbrachen, einen Augenblick stutzten und dann, der Spur der Reiter instinctmäßig folgend, den Weg in gleicher Richtung dahin galoppirten. Es war eine Schecke darunter mit herabhängendem Mantelsacke, sowie ein schwerverwundeter, augenscheinlich durch den Hals geschossener Schimmel.

Befremdet blickten wir uns an. Auf meines Begleiters besorgte Frage, welche Bedeutung diese Erscheinung inmitten des Waffenstillstandes haben könne, wußte ich eben so wenig zu antworten, als er selbst; nur so viel erschien uns Beiden als gewiß, daß in der Nähe ein kriegerischer Zusammenstoß stattgefunden haben mußte.

Wir sollten indessen nicht lange darüber in Ungewißheit bleiben; denn nachdem noch einige, ebenfalls schwer verwundete Pferde an uns vorübergeeilt waren und wir uns so ziemlich in der Nähe der sogenannten langen Elsterbrücke befanden, stürmte mit einem Male ein ganzer Reitertrupp in ziemlich geschlossener Haltung uns entgegen. Es waren beiläufig 15 bis 17 Mann, in deren Gefolge sich noch vier ledige Pferde befanden.

Der Anführer rief, als er uns erblickte, den Säbel schwingend, uns sofort ein donnerndes „Halt“ zu, und drohend umzingelten uns seine Begleiter. Zwar erschrocken, aber doch ruhig und gefaßt, fragten wir freundlich, was zu Diensten stehe. Dadurch etwas milder gestimmt, senkte er die Waffe und sagte: „Meine Herren! Ich hoffe Freunde in Ihnen zu sehen, die uns in unserer großen Bedrängniß Ihren Rath, Ihre Hülfe nicht versagen werden. Wir gehören zu Lützow’s Freicorps, jener Schaar, von der Sie gewiß schon gehört und die unsern Feinden, den Franzosen, stets ein Dorn im Auge gewesen ist. Dennoch glaubten wir von dem allgemeinen Waffenstillstände nicht ausgeschlossen zu sein. Wir haben uns getäuscht. Sorglos, am wenigsten eines blutigen Straußes gewärtig, schlugen wir heute den Weg nach Leipzig ein, wurden jedoch bei Kitzen von einem an Stärke uns weit überlegenen französischen Detachement überfallen und trotz der tapfersten Gegenwehr zersprengt. Was nicht gefallen unter den Klingen unserer erbitterten Feinde, wird nach allen Seiten hin verfolgt. Uns selbst, die wir treulich zusammenhalten, droht vielleicht größere Gefahr, als wir ahnen, denn sicher sind uns die Feinde auf der Ferse. Daher retten Sie uns, sofern Sie es irgend vermögen.“

So sprach der Mann, während seine Gefährten ernst und schweigend auf uns herabschauten. Unser Entschluß wurde so schnell gefaßt, als es die Dringlichkeit des Augenblickes erforderte. Hier galt kein Zögern. Die geringste Säumniß konnte die Flüchtigen in die Hände des Feindes liefern, selbst der ernsten Erwägung der eignen Gefahr, des Unheils, das uns bei Begünstigung dieser Flucht leicht selbst treffen konnte, durfte keinen Augenblick Raum gegeben werden. Die Lage der Unglücklichen drängte zu raschem Handeln, um so mehr, als sich ein schwer Blessirter unter ihnen befand, der, durch einen Säbelhieb am Kopfe verwundet, der schleunigsten ärztlichen Hülfe bedurfte.

Während sich daher Freund H., von dem Anführer und einem Unterofficiere begleitet, nach dem herrschaftlichen Schlosse zu Eythra begab, um dort einen Wundarzt zu requiriren, forderte ich die Uebrigen auf, mir in aller Stille zu folgen, da ich eine nicht weit entlegene, vom Wald umsäumte Wiese vorläufig wenigstens als das sicherste Versteck für die Flüchtigen ansah.

Bald hatten wir das Asyl erreicht. Die Reiter saßen ab, aber groß war ihr Mißtrauen und ihre Furcht vor etwaigem Verrath, denn als ich mich nur einige Schritte weit entfernen wollte, um nach H.’s Rückkehr zu spähen, wurde ich fast mit Gewalt zurückgeführt und dringend bat man mich, die Bedrängten nicht zu verlassen.

Glücklicherweise erschien H. mit seinen Begleitern bald wieder, gefolgt von dem Eythraer Wundarzt, der mit der ihm eigenen, in den letzten Kriegsjahren schon oft erprobten Geschicklichkeit den Verwundeten verband. Die Gemüther beruhigten sich, der Rest von Mißtrauen entschwand mit der kaum nöthigen Bitte um Verschwiegenheit an den uns als Ehrenmann ausreichend bekannten Doctor.

Nach seiner Entfernung wurde ein Art von Kriegsrath gehalten und über weitere Maßnahmen berathen.

„Halten Sie den Platz für sicher? Sind wir vor jeder Verfolgung gedeckt?“ fragte mich der Führer.

„Nein.“

„Aber wohin nun? Fürchten Sie nicht, daß ein nochmaliger Wechsel unseres Asyls uns neuen Gefahren entgegenführen kann?“

Ich war der Gegend vollständig kundig, kannte namentlich jeden Schlupfwinkel und verdeckte Waldwege, in die der verfolgende Feind nimmermehr zu dringen vermochte.

„Folgen Sie mir,“ versetzte ich ruhig; „ich weiß ein völlig sicheres Versteck, und den Weg dorthin wird ein Franzmann schwerlich finden.“

Nach kurzer Berathung ward mein Vorschlag einstimmig angenommen, doch mußte ich ein Pferd besteigen und mich an die Spitze der Truppe begeben. Es war ein etwas mühsamer, oft sich windender Weg, auf dem der lange Reiterzug bald durch Wiesen und Lichtungen, bald durch Wald und Gestrüppe sich bewegte, bis wir endlich gegen neun Uhr auf einer kleinen Wiese am sogenannten Rüsterhölzchen anlangten. Sie war mir gleich im Anfange als der einzig geeignete Punkt für unsern Zweck eingefallen. Kein Fahrweg führt dorthin, selten überhaupt betrat eines Menschen Fuß die kleine Einöde, die auf der einen Seite durch den Wald und einen Mühlgraben geschützt, auf der andern durch den in den letzten Tagen beträchtlich angeschwollenen Elsterfluß gedeckt wurde.

Hier, im sichern Bivouac, athmete nun unsere kleine Gesellschaft freier, nachdem ein mich begleitender Unterofficier die nächsten Environs umritten und unser improvisirtes Lager für sicher erklärt hatte. Ein Wachtposten wurde aufgestellt, die ermüdeten Pferde abgezäumt und gekoppelt, denn die üppig grünende Wüste bot den trefflichsten Weideplatz, und Wasser für die am heißen Kampfe fast verdursteten Thiere lieferte der nahe Fluß in genügender Menge. Aber auch für die Reiter und deren nicht minder dringende Bedürfnisse trug Freund H., der mit dem Führer der Truppe zum zweiten Male nach Eythra sich begeben, schleunigst Sorge.

Schon gegen 11 Uhr rief unser Wachtposten an, erschrocken sprangen die Meisten auf, aber der Kommende war der Schloßnachtwächter, hochbepackt mit Speise und Trank.

„Einen schönen Gruß, und hier schicken sie den Herren Reitern einen Korb voll Lebensart.“ So lautete wörtlich die Botschaft der alten treuen Seele. Jubelnd wurde der Alte empfangen. Uns gingen jetzt die „Mittel“ über Alles, doch sandten die Herren schönen Dank und Gruß nach Eythra. Die „Lebensart“ war ihnen noch nicht abhanden gekommen, trotz dem wilden Kriegerleben. Nur abgekürzt wurden die Complimente etwas, denn einen Augenblick später lag die Schaar schon um den köstlichen Korb und entwickelte eine Thätigkeit, die meinem gleichfalls laut gewordenen Magen eben nicht die glänzendsten Aussichten übrig ließ. Jedoch die Befürchtung war grundlos. Die Sendung erwies sich als so umfänglich, [143] daß selbst für die Pferde zuletzt noch einige Brocken Brod übrig blieben.

Größere Ruhe trat nun ein. Die kleine Schaar lagerte sich im Kreise, und es kam zu interessanten Mittheilungen. Die Mehrzahl der meist noch jungen Helden gehörte angesehenen und wohlhabenden Familien an. Einige unter ihnen hatten erst ohnlängst die Universität Halle verlassen, um, den Schläger mit dem Schwerte vertauschend, jenem hohen Rufe „An mein Volk!“ zu folgen, der Tausende zu dem begeisterten muthigen Kampfe für die Rettung des Vaterlandes unter die Waffen sammelte. Es waren keine Krieger gemeinen Schlages, am wenigsten Söldlinge, schwerlich einer unter ihnen, der nicht von der ernsten und schweren Bedeutsamkeit seiner Aufgabe erfüllt gewesen wäre.

Manches kühne Wagstück war ihnen schon gelungen, und oft war der entscheidende Schlag von der Lützow’schen Schaar ausgegangen. Es war daher eben kein Wunder, daß der französische Kaiser dem Freicorps so wenig günstig war, daß er dasselbe von den Vortheilen der Waffenruhe ausschloß und es der allgemeinen Rache seiner erbitterten Soldateska preisgab. Der heutige fast „katzenartige“ Ueberfall bei Lützen zumal hatte die Lützower über die Bedenklichkeit ihrer Lage belehrt.

Die Stimmung, welche in dsm kleinen Bivouac herrschte, konnte daher bei aller Gemüthlichkeit der Unterhaltung eine heitere Färbung nicht erlangen. Die Meisten sprachen ihren Haß gegen die Franzosen in den bittersten Worten aus, und wo eine minder gereizte Stimme sich erhob, geschah es andererseits nur in gerechter Klage über den großen Verlust, den ihnen auch der heutige Ueberfall wieder gekostet hatte. So mancher Brave war unter den feindlichen Kugeln gefallen, manches treuen Freundes wurde gedacht, der im Schlachtgewühl verschwunden war. Was sein Loos gewesen; ob dort unter der Zahl der Todten bereits seine letzte Stunde geschlagen, oder ob er, den erbittertsten Feind auf der Ferse, rathlos jetzt vielleicht umherirrte – wer konnte es wissen? Insbesondere wurde auch Theodor Körner’s wiederholt erwähnt. Einer seiner jüngsten Kampfgenossen hatte ihn noch in den letzten Stadien des Gefechtes in der größten Gefahr und bereits aus mehreren Wunden blutend gesehen; andere hatten seine Rettung, leider erfolglos, versucht und ihn erst in dem Augenblicke verlassen, wo die Flucht unvermeidlich war.

„Wohl ihm,“ sagte ein hoher junger Mann, über dessen gebräuntes Antlitz die bittere Erfahrung bereits den Ernst des Mannesalters gebreitet hatte – „wohl ihm, wenn er auf dem Bette der Ehre den schönsten Lohn für sein thatenreiches Leben gefunden, aber wehe ihm, wenn er lebend in die Hände des Feindes gefallen ist! Ich fürchte sehr, daß er dann nur dem schrecklichen Loose entgegen geht, das einst Schill’s tapfere Officiere zu Wesel betraf. Der Herzog von Padua liegt als Gouverneur in Leipzig. Wird Körner vor sein Tribunal gebracht, so ist keine Gnade für ihn zu erwarten.“ [3] Wir Alle blickten ernst und gedankenvoll nach dem Sprecher, in dessen Auge selbst eine Thräne glänzte, als er diese Worte sprach. Die Unterhaltung stockte mehr und mehr; bald vereinzelte sich die Schaar zu kleineren Gruppen, die die Ruhe suchten, und selbst der Rest, unter dem auch ich mich befand, setzte nur noch kurze Zeit die Unterredung fort. Dennoch war es ziemlich ein Uhr, als auch wir uns nach einer Lagerstätte umsahen.

Gleich den Meisten wählte ich einen Sattel zum Kopfkissen, aber mein leichtes Sommerhabit bot keinen Schutz gegen die ungewohnte nächtliche Kühle. Alles schlummerte bereits bis auf den armen Blessirten neben mir, der oft und laut über Schmerzen klagte; nur ich war noch munter. Die merkwürdigen Ereignisse des Tages traten noch einmal vor meine Seele, mit ihnen die große Gefahr, die ich mir keinen Augenblick verhehlt hatte, und in der wir jetzt noch schwebten, falls Zufall oder Verrath die Feinde nach unserem Versteck führen sollte. Wäre es ihnen in diesem Falle gelungen, uns zu umzingeln, so blieb uns nichts übrig als die Gefangenschaft mit allen ihren unheilschweren Folgen oder ein tollkühner Sprung in die Elster, die bei ihrer dortigen Tiefe dem des Schwimmens Unkundigen nur sehr spärliche Aussicht auf Rettung bot. In solcher Lage erschien denn unser Loos allerdings nicht beneidenswerth.

Aber die Nacht verstrich, wenn auch langsam, doch ungefährdet. Bald vergoldete das herrlichste Frühlicht die Wipfel der Bäume, flockenartig verschwammen die Nebel, und der junge Tag grüßte die seltsame Gruppe, die meist noch Schlummernde zählte.

Allmählich wurde es aber lauter und lebendiger in dem kleinen Lager. Die Reiter erhoben sich meistens Alle, die Pferde wurden zur Tränke geführt, während Andere die nächsten Umgebungen spähend umritten, um sich auch heute von der Sicherheit des Versteckes zu überzeugen. Nichts Verdächtiges wurde entdeckt, Ruhe herrschte rings umher.

Gegen 8 Uhr sandte H. ein reichliches Frühstück, dem wir lange sehnlichst entgegengesehen hatten. Es wurde sofort verzehrt, aber noch war man damit beschäftigt, als plötzlich der Wachtposten anrief und eine bedenkliche Erscheinung Alles in Alarm setzte. Am jenseitigen Ufer erschien nämlich ein Angesessener aus L., ein Roßhändler, der kaum unserer Pferde ansichtig wurde, als er, von dem Instinct seines Gewerbes geleitet und augenscheinlich mit der Oertlichkeit sehr bekannt, auch sofort eine tiefer liegende seichte Stelle des Flusses durchschritt und gleich darauf in unserer Mitte erschien. Es ist höchst wahrscheinlich, daß der Mann keine Ahnung von unserer Lage hatte. Aber das Leuten seines Gleichen so eigene dreiste Auftreten, die Zudringlichkeit, mit der er sich zum Ankauf der überzähligen Pferde wiederholt erbot, ließ ihn doch verdächtig erscheinen. Barsch wies ihn der Wachtmeister zurück, aber nur langsam und zögernd trat er den Rückweg an und verschwand erst nach langer Zeit mit seinen mageren Gäulen wieder, die einstweilen am jenseitigen Ufer gegrast hatten. Vergebens suchte ich meine Schutzbefohlenen zu beruhigen. Das Gefühl der Sicherheit war bei ihnen verschwunden; auf das Dringendste forderten sie mich zu weiteren Schritten für ihre Rettung auf.

Ich war in der ersten Ueberraschung gänzlich rathlos, obgleich ich in der Nacht schon über fernere Maßnahmen gesonnen hatte. Endlich beschloß ich nach Eythra zu gehen, um mich dort von der Sicherheit des Ortes zu überzeugen. Wiederholt bot man mir ein Pferd zu diesem Behufe an, aber ich zog es vor, den Weg zu Fuß zurück zu legen. Glücklicherweise begegnete mir schon nach zehn Minuten ein zuverlässiger Mann, der mir versicherte, daß Eythra von französischer Einquartierung völlig frei sei. Eilig kehrte ich zurück, und da die Reiter in der kurzen Zwischenzeit bereits die Pferde gesattelt und Alles zum Abmarsch vorbereitet hatten, so befanden wir uns kaum eine Viertelstunde später schon auf der offenen Straße, und in gestrecktem Galopp, mich, den jetzt gleichfalls berittenen Führer, an der Spitze, erreichte der Zug gegen 10 Uhr den Eythraer Schloßhof.

Der Actuar H. und seine Gefährten traten uns bestürzt entgegen; ein solches Wagstück hatte Niemand erwartet, aber es hatte einen anderen Ausweg nicht gegeben. Daß trotz der momentan völligen Sicherheit des Ortes die größte Gefahr im Verzuge lag, dessen waren wir aber Alle genügend überzeugt. Und darum wurde auch unverzüglich beschlossen, die Flüchtigen weiter zu befördern und zwar nach Halle, wo sich ihnen der nächste völlig ungefährdete Zufluchtsort darbot. Während der Rittergutspachter Renker eine ausreichende Anzahl von Civilkleidern herbeizuschaffen suchte, inzwischen auch Veranstaltung zu einem zweiten, möglichst substantiellen Frühstück getroffen hatte, suchte ich im Dorfe nach einem passenden Führer. Die Wahl wurde mir nicht schwer.

Im Dorfe lebte ein Schneider, der vormals als sächsischer Kavallerist manchen schlauen Streich ausgeführt hatte, überhaupt als ein entschlossener Mann bekannt war. Daß dieser die Gelegenheit nicht von der Hand weisen würde, den alten Ruf auf’s Neue zu bethätigen, erschien mir gewiß und ich hatte mich nicht getäuscht. Kaum hatte er mein Anerbieten vernommen, als er Zwirn und Nadel in die Hölle warf.

„Bravo, Herr Cantor!“ rief er und schlug in die dargebotene Hand. „Das ist eine Partie für mich. Eher lasse ich mich von den Franzosen in Stücken hauen, als daß ich die Lützower nicht nach Halle bringen sollte.“

Auf dem Schloßhofe war inzwischen die Metamorphose unserer kriegerischen Freunde bereits erfolgt, sämmtliche Pferde waren dem Pachter für einen sehr mäßigen Preis (6 Thaler pro Stück) überlassen worden, und nur Säbel und Pistolen verblieben den Braven, die Beiden [144] unter den langen, weiten Röcken[4] bargen, deren damaliger Schnitt einem solchen Vornehmen bekanntlich sehr günstig war. Mir selbst wurde als besonderes Zeichen von Erkenntlichkeit eine hübsche Falbe zu Theil, dieselbe, die mich an der Spitze des Zuges nach Eythra getragen hatte.

Unter den wärmsten, innigsten Danksagungen schieden sie von uns, viele mit Thränen im Auge. Auch wir konnten uns der Rührung nicht erwehren, die tapfern Männer, die wenige Minuten vorher in der schmucken Uniform, im vollen Geschmeide ihrer Waffen vor uns gestanden hatten, jetzt einfach und aller kriegerischen Zeichen ledig von uns ziehen zu sehen.

Mit der größten Sehnsucht sahen wir der Rückkehr des Führers entgegen, denn die Gefahr für die Flüchtigen war immer noch groß genug. Er kam schneller zurück, als wir vermuthet hatten. Schon nach zwei Tagen stand er triumphirend vor uns und berichtete, daß er die „schwarzen Gesellen“ schon am Tage der Abreise bis Großzschocher gebracht, von dort mit einbrechender Nacht den Weg durch die großmiltitzer Aue eingeschlagen und zuletzt durch Wald und Gebüsch Schkeuditz umgangen habe. Mit grauendem Morgen schon war er mit seinen Begleitern in Halle angelangt. Noch reichlich von ihnen beschenkt und schließlich mit einer Bescheinigung über die treue Ausführung seiner schwierigen Aufgabe versehen, in welcher auch unser noch einmal mit herzlichem Dank und Gruß gedacht wurde, hatte er in Ermangelung ausreichender Legitimation die Nacht abwarten müssen, um durch Umgehung aller mit Franzosen besetzten Ortschaften ungefährdet wieder in seine Heimath zu gelangen.

Das schöne Pferd, das ich als ein lebendes Andenken an jene denkwürdige Zeit gern noch länger behalten hätte, besaß ich nur wenige Stunden. Mangel an Futter und die Befürchtung, es bald wieder an feindliche Truppen ausliefern zu müssen, wie dies bei den häufigen Requisitionen fast täglich geschah, bestimmten mich, es gleichfalls dem Pachter Renker für sechs Thaler zu überlassen. Dem Manne war der kleine Vortheil um so mehr zu gönnen, da ihm kurze Zeit vorher von dem russischen Fürsten Platow zwölf der schönsten Ackerpferde mit Wagen und Geschirr entführt worden waren.

Nur ein Erinnerungszeichen an jene verhängnisvolle Nacht ist mir geblieben: ein prächtiger englischer Säbel, den mir einer der Reiter mit dem ausdrücklichen Bemerken schenkte, daß er die Waffe zu seiner Ausrüstung persönlich von Frau von Lützow in Breslau erhalten habe. Ich habe sie als ein theures Vermächtniß bis auf diese Stunde aufbewahrt. Friedlich hängt sie über meinem nächtlichen Lager. Ob sie je noch einmal dazu bestimmt, sich mit Menschenblut zu färben – wer mag es wissen? Aber sollte es geschehen, dann wünsche ich recht herzlich, daß sie in wackerer kräftiger Faust nur für die Ehre und Freiheit meines geliebten deutschen Vaterlandes streiten möge.

Alle die wackern Gehülfen, die sich einst an dem Rettungswerke so menschenfreundlich betheiligten, sie ruhen schon längst auf verschiedenen Kirchhöfen. Nur ich, der 77jährige Greis, habe sie überlebt als der noch einzige Zeuge jener Begebenheit. Ein halbes Jahrhundert beinahe liegt zwischen ihr und unsern Tagen, aber so oft ich der gefahrvollen Nacht gedenke, geschieht es in dem freudigen Gefühl, in meinem vielbewegten Leben auch einmal auf wenige Stunden helfendes Mitglied bei „Lützow’s wilder verwegener Jagd“ gewesen zu sein.

Wie viel von jenen muthigen Streitern, die sich der einst so hochberühmten und vielgenannten Lützowschen Freischaar angeschlossen hatten, noch am Leben sind, wo und in welchen Berufskreisen sie wirken, habe ich nie vollständig erfahren können. Nur zwei von den damals Geretteten habe ich noch einmal gesehen, den Herrn Oberrechnungsrath B. und den Herrn Hofrath B. in Berlin. Beide suchte ich während meiner Anwesenheit in Berlin auf, wurde freundlich aufgenommen und zu dem wenige Tage später fallenden Erinnerungsfeste – den 17. Juni – eingeladen. Leider aber mußte ich auf diese Ehre verzichten, da der abgelaufene Urlaub wie der drängende Beruf längere Abwesenheit von der Heimath nicht gestatten wollten. Vielleicht lies’t in der weitverbreiteten Gartenlaube hie und da einer der damaligen Kämpfer diese Zeilen und erinnert sich meiner und unsers gefahrvollen Zusammenseins. Mit dem herzlichen Wunsche, daß es mir vor meinem baldigen Hinscheiden noch einmal vergönnt sein möge, einigen jener braven Patrioten in freundlicher Erinnerung die treue Bruderhand drücken zu können, schließe ich diesen kleinen, wahrheitsgetreuen Bericht. Denen aber, die längst von uns geschieden, die auch den letzten Kampf schon überstanden, ihnen Allen möge die Erde leicht werden.

  1. Ueber die augenblickliche Krisis in Amerika und deren Ursachen werden wir in nächster Nummer einen aufklärenden Artikel bringen.
    D. Red.
  2. Durch den Ueberfall der Lützow’schen Schaar an jenem Tage historisch bekannt.
  3. Diese für den Fall der Gefangenschaft Körner’s leider nur zu begründete Befürchtung wurde glücklicherweise nicht zur Wahrheit. Er war nach muthiger Gegenwehr den Feinden entronnen und hatte, wie schon oben gedacht, in einem Wäldchen bei Kitzen Schutz gefunden. Dort fand ihn spät am Abend ein wackerer Landmann, der den schwer Blessirten noch während der Nacht nach Großzschochen zum Pastor Schlosser brachte, von wo aus er nach einigen Tagen, und zwar gleichfalls des Nachts, auf einem Kahn nach Leipzig geschafft wurde.
  4. Surtouts, wie sie in jener Zeit genannt wurden.

Blätter und Blüthen.

Helgoland, das jetzt wieder in allen Zeitungen als zukünftige englische Festung proclamirt wird, hatte einst ebensoviel Meilen im Umfang, als jetzt Viertelstunden. Als Warte für alle von und nach der Jahde, Weser, Elbe und Eider segelnden Schiffe war sie bis in die Zeiten Carl’s V. ein gefürchtetes Raubnest von Seeräubern gewesen, die als Wappen Rad und Galgen auf den Aermeln führten und deren letzter Hauptmann decretirte: „Ich, von meinetwegen, nicht von Gottes Gnaden, der lange Peter, Mörder der Holländer, Einfanger der Hamburger, Stürmer der Dänen, Zuchtruthe der Bremer“ – – Im siebzehnten Jahrhundert war dann die Insel an die Dänen überliefert worden und fiel 1807 an die Engländer, die in demselben Jahr Kopenhagen in Brand geschossen und die dänische Flotte in ihre Häfen geführt hatten. Schnell erkannten sie die Bedeutsamkeit dieses Felsens für den Kampf gegen Napoleon und sein Continentalsystem, womit er das verhaßte England vernichten wollte. Sie setzten ihre Blokadedecrete entgegen und von Helgoland aus blokirten sie die deutschen Ströme. Dazu wurde von ihnen hier ein gewaltiges Kriegsmagazin errichtet, und ein ungemein ausgedehnter Schleichhandel nahm von hier seinen Ausgangspunkt. Die größten Handelshäuser Englands, Hollands und Deutschlands hielten hier Comptoirs, und in „klein London“, wie man die Insel dazumal wohl nannte, liefen alltäglich 3 bis 400 Schiffe ein. Napoleon haßte deshalb wohl auch dies Eiland und strafte die Verbindung mit demselben auf das Härteste. Ein Hamburger Schiffer, der Jemand hingebracht hatte, wurde füsilirt, und Hamburg wurde eben solcher Verbindung wegen von ihm mit Drohungen überhäuft; „es solle wieder ein Fischerdorf werden, wie es einst gewesen, denn es sei nichts als eine englische Colonie auf dem Festlande.“ – Aber auch in einer andern Beziehung hatte dieses Felsennest damals hohe Bedeutung. Diplomaten und Generale aus allen unterdrückten Ländern hatten hier geheime Zusammenkünfte. So weilten hier vorübergehend viele von den zahlreichen Männern, die Napoleon einen rechten Hannibalshaß geschworen hatten, viele von denen, die als Ziel ihres Lebens und ihrer Kraft die Vernichtung Napoleons betrachteten. Der hannöversche General Wallmoden kam hierher, auch Gneisenau war auf dieser Klippe, und Münster’s, des hannöverisch- britischen Ministers, geheime Boten gaben und empfingen hier ihre Nachrichten. Auch gekrönte Häupter kamen, so der unglückliche König von Schweden, Gustav Adolph IV., und Carl X., dazumal noch Graf von Artois. Mit welchen Gefühlen aber mag Friedrich Wilhelm von Braunschweig nach dem glorreichen Zuge durch Deutschland mit seinem tapfern Corps das Eiland begrüßt und betreten, mit welchen Gefühlen die Flammen des Leuchtthurms angeschaut haben, die wie des deutschen Reiches heiliges Feuer um Erlösung, Freiheit und Rache emporzulodern schienen! – M. B. 


Schach.

280
280
Aufgabe Nr. I.

Die Forderung zu dieser von M. Lange componirten Schachaufgabe lautet dahin, daß Weiß, der am Zuge ist, das Matt in vier Zügen erzwingen soll.

Die Lösung wird nach Ablauf von vier Wochen unter Andeutung der Namen der Herren Einsender angegeben werden.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ofifcier
  2. Vorlage: ergriffen
  3. Vorlage: schagen