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Die Gartenlaube (1861)/Heft 52

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[817]

Ein Beamtenleben.

Von Dr. J. D. H. Temme.
(Schluß.)


„Ich wollte Euch gute Nacht wünschen Kinder,“ sagte die Directorin. „Ich bin nicht wohl und wünschte hier zu bleiben.“

„Mutter, Du hast etwas Anderes,“ sagte der Gymnasiast.

„Du nanntest es das schwerste Unglück, Du wolltest es uns mitheilen,“ fügte die Tochter hinzu.

„Nicht heute, meine lieben Kinder. Ich bin in der That unwohl, der Kopf schmerzt mich. Morgen sollt Ihr Alles erfahren.“

Der Kopf mochte sie wohl brennend genug schmerzen. Die Kinder ehrten ihren Wunsch. „Gute Nacht, Mutter,“ bot Emilie, wie jeden Abend, ihr die Lippen dar, die heute nicht so frisch, wie sonst waren.

„Gute Nacht, meine liebe Emilie. Ich sehe, Du hast ein starkes Herz.“

„Der Vater hat mich aufgerichtet.“

„Und Dein klarer Geist wird Dich noch mehr aufrichten. Nur das Herz, das betrogen hat, muß zu Grunde gehen. Das betrogene erhebt sich zuletzt doch wieder.“

Sie küßte herzlich die blasse Tochter. Sie konnte fest, mit der ganzen Kraft, die sie sich errungen hatte, Abschied von ihr nehmen. Der Sohn nahete sich; der blühende, reich begabte, so viel versprechende Jüngling war der Stolz der Mutter. Er reichte ihr die Hand.

„Gute Nacht, liebe Mutter!“ Das war auch sonst sein Nachtgruß. Sollte er es heute bleiben? Konnte sie von dem Liebling ihres Herzens scheiden, ohne ihn an ihr Herz zu drücken, ohne ihre Lippen auf die seinigen zu pressen? Sie hob die Arme auf – sie zog sie zurück. Sie hatte auch dazu die Kraft.

„Gute Nacht, Oskar!“ Sie drückte seine Hand, die er ihr dargereicht hatte.

Die Kinder verließen sie, und erschöpft fiel sie auf ihren Stuhl. Sie sah nach dem Bette des kleinen Bruno, ob er schlafe. Der Knabe war eingeschlafen. Sie ließ jetzt erst ihren schmerzlichsten Thränen den ungestörten Lauf. Warum hatte die unglückliche Frau diese Kraft, von der sie jetzt so hoch und fest getragen wurde, nicht früher gehabt? Fragt, warum erst das Unglück die Kraft des Menschen reifen muß; das Unglück, wenn es zu spät ist. – Aber kann der Mensch zu seiner Kraft zu spät gelangen? –

Die gebrochene und doch so starke Frau hatte lange über ihr Unglück weinen müssen. Sie erhob sich und trat zu einem Kleiderschrank, der in dem Zimmer stand, und ordnete Kleider darin. Einen Shawl, einen Hut nahm sie heraus. Sie that Alles mit Ruhe und Festigkeit und verschloß den Schrank wieder. Sie legte den Shawl um ihre Schultern, setzte sich den Hut auf und kehrte an den Tisch zurück, an dem sie geschrieben hatte. Die beiden Briefe lagen noch da. Sie legte sie zusammen auf die Mitte des Tisches, daß sie Jedem, der an den Tisch trat, sofort auffallen mußten.

Dann stand sie auf einmal entschlußlos. Der entscheidende Augenblick war da. Sie wollte gehen; sie wollte sich trennen, von Allem, auch von den Kindern. Sie wollte sie verlassen, ohne sie noch einmal zu sehen. Sie lagen um sie her in ihren Bettchen und schlummerten keine drei Schritte von ihr. Sie brauchte ihre Augen nur aufzuheben und nach den Betten zu lenken, so sah sie die geliebten Wesen, die sie nicht mehr sehen, die sie nie wiedersehen wollte. Konnte sie sich von ihnen trennen, ohne sie noch einmal zu sehen? Sie senkte die Augen, sie erhob den Fuß und schritt zu der Thür. Sie konnte doch nicht.

Das Mutterherz weinte plötzlich laut auf. Sie flog von der Thür zurück und lag an dem Bette des jüngsten Kindes. Sie warf sich auf die Kniee vor das Bettchen, die Arme um das schöne Kind geschlungen, die Lippen auf das blühende Gesichtchen gepreßt.

„Mein liebes Mütterchen,“ sagte das Kind, das im Schlafe die heißen Küsse der Mutter fühlte.

Sie flog zu dem Knaben im Alkoven und warf sich auch über ihn. Er erwachte ganz.

„Nicht wahr, meine liebe Mutter, Du verläßt uns nicht?“

„Nie, nie, Ihr Engel meines Lebens!“

Die Kranke war wach geworden. „Mutter, ich bin durstig,“ bat sie mit ihrer schweren, trockenen Zunge.

Die Mutter mußte ihr jede Nacht den erfrischenden Trunk reichen. Sie war schon an dem Tische, auf dem die Wasserflasche mit dem Glase für das Kind stand. Sie füllte das Glas und ließ das Kind trinken.

„Danke Dir, trauteste Mutter.“

Sie stellte das Glas zurück. Konnte sie fort – fort von dem Liebsten auf der Welt? Und doch mußte sie. Sie fiel betend auf die Kniee.

„Herr, hoher Herr des Himmels, zeige Du mir den Weg! Den Weg der Buße, der schwersten Buße für mich, des Glückes für die Anderen.“

Die Thür des Zimmers öffnete sich. Ihr Gatte trat in das Zimmer. Sein Gesicht war noch bleich, wie am Tage, aber es war finsterer. Er sah sie auf ihren Knieen liegen, die Hände zum Gebet gefaltet. Er sah sie angekleidet zum Ausgehen. Die Miene

[818] seines Gesichts veränderte sich nicht. Er sah die beiden Briefe auf dem Tische. Er trat nicht näher hin, um die Aufschriften zu lesen.

Die unglückliche Frau hatte sich erhoben. Sie ging zu dem Bette des Knaben; er allein von den Kindern konnte noch wach sein. Sie überzeugte sich, daß er wieder eingeschlafen war. Sie nahete sich dem Gatten.

„Du hast meine Bitte erfüllt, Adalbert?“

„Ja.“

„Du hast also den Präsidenten noch nicht wieder gesprochen?“

„Ich war noch nicht wieder bei ihm.“

„Und Du hast Deinen Entschluß gefaßt?“

„Ja, Mathilde.“

„Welcher ist es?“

„Kannst Du fragen?“

„Sprich Dich aus, Adalbert. Der Präsident hatte Dir gesagt, Du müßtest Deinen Abschied nehmen, wenn Du ihm nicht den rechten Schuldigen bringen könntest. War es nicht so?“

„So war es.“

„Und Du?“

„Mein Abschiedsgesuch liegt fertig. Ich habe es nicht abgesandt, weil ich Dir jenes Versprechen gegeben hatte.“

„Du wirst es nicht absenden, Adalbert.“

Er zuckte zusammen. Sein bleiches Gesicht röthete sich. Er mußte sie fragend ansehen und sah in ein fest entschlossenes Antlitz.

„Du wirst das Gesuch nicht absenden, Adalbert. Hier liegt ein anderes Schreiben an den Präsidenten; auch eins an Dich.“

„Mathilde, Du wolltest mich verlassen?“

„Ich wollte es, ehe Du zurückkämst. Ich wollte Dir und mir eine schwere Stunde ersparen. Denn fort muß ich.“

Sein Gesicht röthete sich wieder.Durch seine Augen fuhr ein heller Blitz. Er nahm ihre Hand.

„Du wirst bleiben, Mathilde, Du darfst mich nicht verlassen, nicht unsere Kinder.“ Er sprach es bittend, aber ruhig. Er hielt ihre Hand dabei, aber er drückte sie ihr nicht.

Sie erwiderte ihm klar: „Adalbert, ich habe meinen Schritt reiflich überlegt, und mich dann erst zu ihm entschlossen. Ohne mich steht Dir eine glänzende Laufbahn bevor. Du trittst gleich unmittelbar in eine der wenigen höchsten Richterstellen des Staates; Du erreichst das Ziel, nach dem Du so lange und so mühsam gestrebt hast, und begründest das Glück unserer Kinder. Mit mir hast Du das Alles auf einmal verloren. Ehrlos trittst Du in ein dunkles Dasein. Du mußt Deinen Namen verbergen, damit die Leutee nicht mit Fingern auf Dich zeigen: da geht der Mann, der an seinem eigenen Gerichte gestohlen hat. Du wirst nicht wissen, wie Du Dich und Deine Kinder ernähren sollst; durch Abschreiben wirst Du Dir ein kümmerliches Brod verdienen müssen, oder als verfolgter, geächteter Winkelconsulent. Und das Alles müßte ich mit ansehen, ohne es ändern zu können, ich, die alleinige Ursache, ich allein die Verbrecherin. Könnte ich das? Könnte ich Dich beschimpft, in niedrigen Diensten Dich gequält, mit den armen Kindern Dich darben sehen? Nein, Adalbert, laß mich gehen, so weit meine Füße mich tragen können, um Deinetwillen, um unserer Kinder willen, um meinetwillen. Ich allein bin die Schuldige, ich allein muß auf mich nehmen und tragen, was ich verdient habe, nicht Ihr Unschuldigen. Ihr dürft nichts mehr mit mir gemein haben. Du darfst nicht ferner mit der Diebin leben, und die Diebin darf Euch nicht wiedersehen. Ich habe auch das überlegt. Könnte eine Diebin in Deinen Gesellschaften die Hausfrau machen, den Ehrenplatz einnehmen? Ja, würde, wenn Du mich bei Dir behieltest, die Welt nicht von Dir glauben und sagen müssen: Er war doch der Dieb, und die Frau hat es auf sich nehmen müssen, damit er Präsident werden konnte? – Soll ich Dir noch mehr sagen, Adalbert, um Dich zu überzeugen, daß wir uns trennen müssen, daß ich Dich nie wieder sehen darf? Ich habe Dir das Alles auch in diesem Briefe geschrieben. Denn ich wollte und ich muß noch heute Nacht von hier fort. Gewähre es mir, als eine Wohlthat. Sollte ich noch einmal morgen Dich und die Kinder wiedersehen, ich hielte es nicht aus, das Herz würde mir brechen. Und so laß mich ziehen, mit Deiner Verzeihung, mit meinem Dank für alle Deine Liebe, mit meiner Liebe, die mein Herz ewig und unwandelbar für Euch Alle bewahren wird. Lebe wohl, Adalbert. Noch Eins. Wie haben noch fünfzehn Thaler baares Geld im Hause; ich habe davon zehn Thaler für meine Reise genommen und reiche damit aus. Morgen erhebst Du Deinen Gehalt.“

Sie hatte ihre Hand nicht aus der seinigen gewunden und sah ihn noch einmal an. Dann schritt sie zu der Thür. Zu den Kindern konnte sie den Blick nicht zurückwerfen. Er stand unbeweglich, vernichtet. Er war ohne einen festen Entschluß hergekommen. Er hatte sein Abschiedsgesuch fertig geschrieben; aber er hatte es nicht abgegeben und trug es noch bei sich in der Tasche. Er hatte seiner Gattin erklärt, daß sie ihn nicht verlassen dürfe, er hatte sie gebeten zu bleiben; aber er hatte ihre Hand so kalt gehalten, und als er den festen Entschluß in ihren Augen gelesen, hatte ein heller, leuchtender Blitz seine Augen durchzogen.

Wollen wir einen Stein auf ihn werfen? Auf den Mann der Ehre und des Ehrgeizes, der die Wahl hatte, die Ehre zu bewahren und das Ziel des Ehrgeizes zu fassen, oder für immer sich in den Abgrund eines elenden, schmachvollen Dunkels zu werfen? Was seine Frau ihm eben gesagt, er hatte es sich selbst den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend sagen und hundert- und hundertmal wiederholen müssen. Sie hatte ihm das Bild der Zukunft nur in lebendigeren Farben vorgehalten. Er stand vernichtet. Aber nicht das Bild, das ihm so lebendig vorgehalten war, vernichtete ihn. Die Größe der Frau war es, die wahre, edle Seelengröße der Frau, die ihm jenes Bild so hatte vorzeichnen können, um ihn zur Annahme des größten und schwersten Opfers zu bewegen, das eine Frau bringen kann. Er hatte schwanken können, er war der Mann der Ehre, des Stolzes; aber eben indem er dies war, konnte er nicht klein, nicht unedel sein, und die wahre, edle Größe der Frau mußte auch die wahre Ehre, den echten Stolz des Mannes in ihm wecken. Er stürzte ihr nach und ergriff ihre beiden Hände. Er hielt sie zurück, fest.

„Mathilde, Du darfst nicht gehen.“

Sie zuckte doch heftig auf. Sie hatte das wohl nicht erwartet und hatte es nicht erwarten können. Die Röthe in seinem Gesichte, das Aufleuchten seiner Augen, sie waren ihr vorhin nicht entgangen, zu ihrer Beruhigung nicht; sie machten ihr den Kampf, die Erfüllung ihrer Pflicht leichter. Aber ihre Pflicht mußte sie auch jetzt erfüllen. Sie erkannte es klar, und sie sprach es ihm klar aus. Er hatte seine Arme um sie geschlungen.

„Mathilde, mein Weib, mein Engel, ich kann Dich nimmer verlassen. Ohne Dich bin ich ganz verloren, mit Dir ist mir das dunkelste Leben eine Seligkeit. Ich lasse Dich nicht, ich kann Dich nicht lassen.“

Sie sah ihn ruhig an. „Adalbert, willst Du mir aufrichtig eine einzige Frage beantworten?“

„Nenne sie.“

„Du kamst mit schwankendem Entschlusse hierher. Ist es so?“

„Ja, Mathilde, es ist so. Ich bekenne es und bereue es, ich werde es ewig bereuen. Nein, ich bereue es nicht. Es hebt Deine Schuld gegen mich auf, es macht mich zu dem Schuldigeren. Wie edel stehst Du gegen mich da! Nur Du hast mir zu verzeihen. Dein Bleiben ist meine Verzeihung.“

Sie schüttelte den Kopf. „Dich hat ein Moment der Aufregung ergriffen. Sie verblendet Dich. Dein klares, ruhiges Nachdenken hatte Dir einen andern Weg gezeigt.“

„Ich war verblendet, Mathilde, ich sehe jetzt klar. Ich war verblendet von eitlem Ehrgeize, von schnödem Hochmuthe. Deine Liebe, Dein edles Herz lassen es mich klar erkennen. Könnte ich unedel, könnte ich gemein sein, wo Du so edel, so erhaben bist? Vernichte mich nicht ganz, ich beschwöre Dich.“

Sie schüttelte schmerzlicher das schwere Haupt.

„Laß mich gehen, Adalbert, damit nicht lange, schwere, zu späte Reue über uns beide kommt. Verschaffe Dir Deinen klaren Blick wieder. Wirst Du, niedrig und verachtet, gemeine Arbeiten verrichten und dabei darben und die Deinigen darben sehen können, ohne zu klagen und zu murren? Und meinst Du, wenn ich nur eine einzige Klage von Dir und nur einen Ton des Unmuths, nur einen trüben Blick Deiner Augen gewahren müßte, meinst Du, ich, die Quelle Deines Unmuths, ich allein Dein Unglück, Deine Schuld, ich könnte es ertragen, ich müsse nicht vergehen?“

„Und meinst Du, Mathilde,“ sprach dagegen der Gatte, „wenn ich an Dich, die Verstoßene, die Verlassene denke, ich könne eine einzige frohe Stunde meines Lebens haben, ich müsse in dem Stolze und dem Glanze meiner Siellung nicht vergehen vor Scham [819] über die Gemeinheit, womit ich das erkauft hätte? Meinst Du, ich könne meine Kinder ansehen? Und wenn Du Dir sagen mußt, daß das Alles nicht möglich sei, dann wirst Du mir auch, dem Gatten, der so lange an Deiner Seite gearbeitet, der so lange an seiner Seite Dein treues Arbeiten und Mühen gesehen hat, dann wirst Du mir auch die Kraft und die Liebe zu Dir zutrauen, daß ein ferneres treues Zusammenwirken mit Dir für uns und unsere Kinder nur mein Glück und meine Freude ausmachen wird. Nie, nie wirst Du eine Klage, ein Murren von mir hören.“

Es lag eine hohe, eine erschütternde Wahrheit in seinen Worten. Er sprach sie mit der tiefsten, festesten Ueberzeugung aus. Die arme Frau konnte sich nicht dem Einen, nicht dem Andern verschließen. Das Herz war ihr wieder so unendlich schwer geworden. Sie hatte gemeint, jeden Kampf hinter sich zu haben. Sie mußte wieder so entsetzlich kämpfen.

„Kannst Du mich noch verlassen wollen, Mathilde?“ fragte der Gatte.

Sie konnte nicht antworten. Sie fühlte nur, daß sie fort müsse, daß sie ihrer Schuld, ihrer Pflicht sich beugen, das schwerste Opfer bringen müsse. Sie fühlte aber auch schwerer und schwerer dieses furchtbare Opfer, sie wollte, sie mußte sich losreißen. Sie sah ihn bittend, flehend an, er möge sie lassen.

„Ich beschwöre Dich, Mathilde,“ flehte er.

„Ich kann nicht, Adalbert.“

„So gehe!“ sagte er. „Aber reiche mir noch einmal Deine Hand und laß uns noch einmal gemeinsam an die Betten der Kinder treten, zum letzten Male. Du führest mich ja jeden Abend hin, ehe ich in mein Zimmer ging. Komm, nimm Abschied von ihnen, für immer.“

Er hatte ihre Hand wieder ergriffen. Er führte sie zu den Betten der Kinder. Schon an dem ersten sank sie nieder. Sie sah die hellen, blonden Locken, das im Schlafe lächelnde Engelsgesicht der kleinen Hanna.

„Ich kann nicht!“ rief sie. Sie rief es wieder. Aber sie rief es anders. Es war der Aufschrei des Mutterherzens, das brechen muß. „Ich kann nicht, ich kann nicht!“

Der Gatte verstand den Aufschrei. Er hob sie vom Boden, an sein Herz.

„Du bleibst bei uns Allen, Mathilde.“

„Ich bleibe bei Euch Allen.“




Am anderen Morgen ging der Director Heilsberg zu dem Präsidenten. Aus seinem Gesichte leuchtete ein edler, freudiger Stolz.

„Sie haben sich entschieden. Ich darf Ihnen zum Präsidenten Glück wünschen!“ rief ihm der Präsident entgegen. Der aristokratische Bureaukrat hatte aus dem stolzen Gesichte nichts Anderes herauslesen können.

„Herr Präsident, ich komme, um meinen Abschied zu bitten.“

„Aber Sie sind ein Mann von Ehre. Sie können kein Dieb sein.“

„Eben darum muß ich um meine Entlassung bitten.“

Der Präsident konnte, wir haben es schon gesehen, mehr als bloßer Aristokrat und Bureaukrat sein. Er reichte dem Director die Hand.

„Sie sind in Wahrheit ein Ehrenmann, und ich bedaure in diesem Augenblicke, um meines Sohnes willen, daß Sie nicht auch ein Edelmann sind. Aber Sie haben Recht, Richter können Sie nicht mehr bleiben. Es wird sich etwas Anderes für Sie finden.“

Vierzehn Tage später erhielt der Director Heilsberg aus dem Justizministerium seinen erbetenen Abschied und zugleich „auf seinen Antrag“ die Ernennung zum Rechtsanwalt in einer entfernten Provinz des Staates, aber dort in einer größeren Stadt, in der ein reicher Verkehr herrschte und ein tüchtiger Advocat sich in wenigen Jahren ein bedeutendes Vermögen erwerben konnte. Er hatte nicht daran gedacht, auf eine solche Ernennung anzutragen; wie hätte er es wagen können? Aber er wußte, wer für ihn den Antrag gestellt hatte. Er nahm dankbar die Stelle an.




Die Geschichte, die ich hier erzählt habe, trug sich schon in den zwanziger Jahren zu. In den vierziger Jahren lernte ich den Rechtsanwalt Heilsberg und seine Gattin und Kinder kennen. Clementine, die arme Kranke, war in ihrem funfzehnten Jahre gestorben, wie die Aerzte vorhergesagt hatten. Die Anderen lebten sämmtlich noch. Der Director hatte sich ein Vermögen erworben; sie waren Alle glücklich und zufrieden. Auch Emilie. Sie war verheirathet. Ihr Gatte war ein braver, liebenswürdiger Mann und einer der tüchtigsten Aerzte der Stadt. Das junge Herz kann in seiner ersten Liebe sich zuweilen verirren; es geht nicht gleich darüber zu Grunde; aber es findet in der zweiten dann desto sicherer das wahre Glück der Liebe.


Auf Regen folgt Sonnenschein.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.
(Schluß.)

Die Liebe, welche Brand für Anna empfand, wuchs durch das stete Beisammensein, durch die vielfachen Beziehungen zu einander mit jedem Tage mehr und mehr. Die gemeinsamen Opfer und die trefflichen Eigenschaften und Gefühle, welche die jungen Leute bei ihren menschenfreundlichen Leistungen vor einander entfalteten, waren nur zu sehr geeignet, die innige Neigung zu vermehren. Konnte es wohl eine zartere und geistigere Berührung für Liebende geben, als das Mitleid für Andere, ein edleres Band als gemeinschaftliches Wohlthun? Gegenseitig mußten sich Beide bei Ausübung ihrer Pflicht in einem verklärten Licht erscheinen und ihre Liebe unter der Form der Bewunderung und des Enthusiasmus fast unbemerkt sich ihres Herzens bemächtigen. Die armen Kinder wurden die Gluth ihres Herzens weit später gewahr, als ihre aufmerksame Umgebung. Der fanatische Pfarrer schien zuerst Verdacht geschöpft mit seinen Patron mit der Gefahr bekannt gemacht zu haben. Herr von Prodschintzky verstand in solchen Dingen keinen Scherz, um so weniger, da Brand Protestant war. Mit gewohnter Rücksichtslosigkeit stellte er diesen zur Rede mit führte somit eine Erklärung herbei, welche mit einem heftigen Auftritte und mit einem vollständigen Bruche endete. Herr von Prodschintzky legte bei dieser Gelegenheit einen Schwur ab, nun und nimmermehr in die Heirath seiner Tochter mit einem Ketzer einzuwilligen.

Mein College verließ das Schloß, ohne die liebenswürdige Anna noch einmal gesehen zu haben. Ich suchte ihn, so gut dies anging, zu trösten, obgleich ich von der Nutzlosigkeit meiner Worte vollkommen überzeugt war, denn wo hätte je ein Liebender auf Gründe und Zureden gehört? – Wie ich später erfuhr, hatte Brand noch einen Versuch gemacht, sich Anna zu nähern, und ihr heimlich einen Brief geschrieben. Das edle Mädchen gab eine Antwort, die ihrer würdig war; sie lehnte jede Correspondenz und Zusammenkunft hinter dem Rücken ihres Vaters entschieden ab, ohne jedoch ihrem Geliebten die Hoffnung gänzlich zu benehmen. Dagegen verwies sie ihn auf die Zukunft und gelobte nach wie vor unverbrüchliche Treue. Ich gab meinem Collegen den gewiß verständigen Rath, das Dorf zu verlassen und seinen Wohnsitz in irgend einem benachbarten Orte oder in der Stadt selbst zu nehmen, doch davon wollte er nichts wissen. Wenn er auch die Geliebte nicht sehen konnte, so wollte er doch wenigstens in ihrer Nähe bleiben.

Unterdeß schritt die Epidemie noch immer fort, ohne ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Aus den Hütten der Armuth stieg der Typhus in die Häuser der Reichen, in die Schlösser der Vornehmen und verbreitete daselbst ein gleiches, wo nicht größeres Einsetzen. Weder der Wohlstand und Ueberfluß, noch die sorgfältigste Pflege des Körpers schützten vor der furchtbaren Krankheit, welche sich immer weiter ausbreitete und alle Schichten der Gesellschaft bedrohte. So wurde eines Tages auch Herr von Prodschintzky plötzlich ergriffen und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sogleich sein Bewußtsein verlor. In ihrer Angst schickte die erschrockene Tochter nach dem Doctor Brand, den sie seit jener Zeit sorgfältig vermieden hatte. Er kam, und die Liebenden sahen sich zum ersten Male an dem Krankenbette des Vaters wieder.

[820] „Retten Sie, helfen Sie!“ rief Anna schon von Weitem dem Geliebten entgegen.

Er untersuchte den Kranken und fand den Zustand so bedenklich, daß er die Nacht an dem Lager des Patienten zu bleiben beschloß. Umsonst forderte er Anna auf, sich zur Ruhe zu begeben und sich zu schonen; sie weigerte sich, seinen wohlgemeinten Rathschlägen Folge zu leisten. Beide wachten bis zum frühen Morgen nur in Gesellschaft einer Magd, welche der deutschen Sprache nicht kundig war. Angesichts der drohenden Gefahr verstummten ihre Lippen. Anna hatte keinen andern Gedanken, als die Rettung des Vaters, und Brand dachte zu edel von sich und der Geliebten, um ihr früheres Verhältniß nur mir einem Worte zu erwähnen oder darauf anzuspielen. Bald verbreitere sich die Nachricht von der Erkrankung des Gutsbesitzers, und auch der Pfarrer eilte herbei. In seiner Begleitung erschien ein barmherziger Bruder, welcher mit der diesen Orten auszeichnenden Bereitwilligkeit sich der Krankenpflege unterzog. Der Pfarrer hatte wahrscheinlich dabei die Absicht, die Liebenden durch den Mönch überwachen zu lassen, da er vorzugsweise seinen Patron gegen die Eingehung einer gemischten Ehe zwischen dem Doctor und seiner Tochter aufgestachelt hatte. Da die Krankheit mit jedem Tage eine gefährlichere Wendung nahm, so ließ mich Brand ersuchen, mit ihm gemeinschaftlich die Behandlung des Patienten zu übernehmen. Ich kam sogleich nach Empfang seiner Aufforderung auf das Schloß, wo ich den Besitzer desselben so gut wie aufgegeben fand. Jede Hülfe schien hier umsonst, und alle Symptome deuteten auf ein nahes, tödtliches Ende. Ich verschwieg meinem Collegen diese Ansicht nicht und suchte die weinende Tochter durch meine Trostgründe zu beruhigen. Trotz seiner Rohheit liebte Anna ihren Vater mit der größten nur aufopferndsten Zärtlichkeit. Wider meine Erwartung und Voraussage überlebte der Kranke jedoch diese Nacht, und obgleich sein Zustand noch immer keine Hoffnung gab, so war doch wenigstens so viel gewonnen, daß wir noch einige energische Mittel anwenden konnten, welche Brand vorgeschlagen hatte. Es gelang ihm auch, wie ich mich überzeugte, den erlöschenden Lebensfunken wieder anzufachen und von Tag zu Tag den drohenden Ausgang abzuhalten. Nur der sorgsamsten Pflege und der hingebendsten Aufopferung, diesem Wettstreit zwischen der liebevollen Tochter und dem gewissenhaften Arzte, konnte ein solches Wunder gelingen. Beide lösten sich gegenseitig in der Beobachtung und Bewachung des Patienten ab, wobei der barmherzige Bruder sie wesentlich unterstützte. Dieser schien keineswegs so intolerant wie der Pfarrer, da der Mönch in seinem wohlthätigen Berufe schon mehr Duldung und Nachsicht gegen Andersgläubige gelernt haben mochte. Dabei besaß er ein feines und freundliches Wesen, dem eine stille Melancholie einen eigenen Reiz verlieh. Von Woche zu Woche zog sich so die Krankheit hin, ohne sich zu entscheiden oder an eigentlicher Gefahr abzunehmen. Während dieser langen Zeit ermüdeten weder Anna noch mein College in ihrer Aufmerksamkeit und Hingebung für Herrn von Prodschintzky. Beide wetteiferten mit einander in zärtlicher Pflege und gegenseitiger Aufopferung. Endlich war die längst gehoffte und zugleich gefürchtete Krisis eingetreten. In dem stürmischen Kampfe der Natur mit der Krankheit siegte die Kraft der Ersteren. Allmählich kehrte die Besinnung des Patienten wieder zurück, und sein erster Blick fiel auf die gute Tochter.

Die allerdings nur langsam fortschreitende Genesung wurde von einer Reihe seltsamer Erscheinungen begleitet. Herr von Prodschinsky hatte, wie ich dies nicht selten in jener Typhus Epidemie beobachtete, das Gedächtniß für die jüngste Vergangenheit gänzlich verloren. Er erinnerte sich nicht mehr des letzten Auftrittes mit Brand und erkannte kaum den Verstoßenen. Außerdem bemerkten wir an ihm eine seinem früheren Charakter fremde Weichheit und Zärtlichkeit. Wie die meisten Genesenen überließ er sich mit einer gewissen Gefühlsschwelgerei den Eindrücken seines Herzens, und die Liebe, welche ihn von allen Seiten umgab, schmolz die starren Ecken seiner Natur und verlieh ihm eine ungekannte Milde. Seine Dankbarkeit für die Tochter und für seinen Arzt, dessen Verdienste ihm von allen Seiten angepriesen wurden, kannte keine Grenzen. Er streichelte die Wangen Anna’s und küßte sie, so oft sie seinem Lager nahte, um ihm die noch nöthige Medicin oder eine stärkende Brühe zu reichen. Dieselbe Freundlichkeit zeigte er Brand gegenüber, dessen Hand er so lange in der seinigen festhielt, bis der Doctor sich entfernte, um seinen Berufsgeschäften nachzugehen. Von dem früheren Zwist war natürlich keine Rede, und zwischen den drei Betheiligten herrschte die vollkommenste Harmonie, als wenn eben nichts vorgefallen wäre.

Dieser glückliche Zustand konnte jedoch nicht so fort dauern, dafür hatte der Pfarrer schon gesorgt. Obgleich wegen der noch zurückgebliebenen Schwäche des Reconvalescenten jeder fremde Besuch ärztlich verboten war, so wußte er sich doch in der doppelten Eigenschaft als Hausfreund und Seelsorger Eingang zu verschaffen. Nach und nach frischte er durch seine Gespräche die vergangenen Scenen in dem Gedächtnisse des Gutsbesitzers wieder auf, indem er an das Verhältniß seiner Tochter zu dem protestantischen Arzt erinnerte und wieder so viel Unkraut als möglich unter den Weizen säete. Er ließ Herrn von Prodschintzky in nachdenklicher Stimmung zurück, ohne ihn jedoch zu einem entscheidenden Schritt bestimmt zu haben, was doch die ursprüngliche Absicht des Pfarrers war. In der Seele des Gutsbesitzers fand jetzt ein langer Kampf zwischen seiner religiösen Bedenklichkeit und der Dankbarkeit statt, welche er seinem Arzt und Lebensretter zu schulden glaubte. So oft derselbe kam, wollte er mit ihm ernsthaft reden, ihn in angemessener Weise belohnen und dann für immer verabschieden; aber es fehlte ihm der Muth, diesen Entschluß auszuführen, wie fest er sich auch das vorgenommen hatte. Zur rechten Zeit fielen ihm wieder Brand’s Hingebung und all die Opfer ein, welche dieser ihm gebracht hatte; er dachte an die durchwachten Nächte, an die Mühe, die der Arzt sich mit ihm gegeben. Ein Gefühl von Scham hielt ihn zurück, auf die ihm von dem Pfarrer vorgeschlagene Weise zu verfahren. Auch mit seiner Tochter vermochte er nicht zu reden, da all dieselben Bedenken bei ihrem Anblick in ihm aufstiegen und er lieber Alles gethan hätte, als auf diese Weise ihre zärtliche Liebe zu vergelten.

So verging die Zeit, ohne eine Endscheidung zu bringen. Der Frühling war gekommen, und mit den schönen Tagen begann die Epidemie zu verschwinden; die Zahl der Kranken wurde immer geringer, und die fremden Aerzte, welche nur für die Dauer der Typhus-Periode eine Anstellung von Seiten der Regierung erhalten hatten, kehrten nach und nach wieder in ihre Heimath zurück. Auch Brand rüstete sich zur Abreise, wenn auch mit schwerem Herzen. So viel Mühe sich auch Anna gab, ihren Schmerz über den Abschied zu verbergen, so wenig gelang es ihr, ihren Vater zu täuschen. Herr von Prodschintzky bemerkte nur zu bald die Blässe ihrer Wangen, die Abnahme ihrer Heiterkeit, all die Zeichen, durch welche sich die innige Liebe wider ihren Willen selbst verräth. Noch war der Typhus nicht gänzlich geschwunden, und der Gedanke, daß eine derartige Gemüthsbewegung seiner Tochter die Krankheit leicht hervorrufen könnte, lastete schwer auf dem Herzen des Gutsbesitzers. Bei dem nächsten Besuche, den ich auf dem Schlosse abstattete, nahm er mich bei Seite, um meine Ansicht und meinen Rath zu hören. Bald machte er mich zum Vertrauten seiner Sorgen und Bedenklichkeiten.

„So steht es,“ schloß er die Unterhaltung. „Meine Anna liebt den jungen Mann, und ich hätte nichts dagegen, wenn er nicht ein Protestant wäre. Verzeihen Sie meine Rede, aber ich bin immer gutes Katholik gewesen und möchte auch als solches sterben. Sagen Sie mir aufrichtig, ob mein Tochter Typhus bekommen und caput gehen kann, wenn es sich grämt.“

„Ich kann Ihnen,“ entgegnen ich, „darüber keine bestimmte Auskunft geben, obgleich eine große Gemüthsbewegung allerdings während der Dauer einer Epidemie sehr leicht schaden und die Krankheit zu einer schnellen Entwicklung bringen kann.“

Während ich so sprach, standen dem Gutsbesitzer die Thränen in den Augen; denn er liebte seine Tochter mit der ganzen Heftigkeit einer rohen, aber auch kräftigen Natur.

„Zum Teufel!“ rief er in komischer Rührung nach einem harten Kampfe aus. „Da wird mir nichts übrig bleiben, als nachzugeben. Aber Sie Doctor sind an all dem Unglück schuld, denn Sie haben mir den jungen Mann in’s Haus geführt.“

„Sie vergessen,“ mahnte ich, „daß Sie seinen Bemühungen das Leben zu verdanken haben. Ohne seine unermüdliche Thätigkeit wären Sie schon längst begraben.“

„Ist sich wahr,“ sagte Herr von Prodschintzky, „aber was wird der Pfarrer sagen?“

Ich suchte, so gut dies anging, seine religiösen Scrupel, welche von Neuem, in ihm erwacht waren, zu beseitigen, indem ich ihn auf die Pflicht der Dankbarkeit und auf den Glauben verwies, der alle guten Menschen zu einer großen, unsichtbaren Kirche der

[821]

Die Albrechtsburg in Meißen.

[822] Gegenwart vereint. Er hörte meine Worte mit weit mehr Geduld an, als ich von ihm erwartete, sie schienen einen günstigen Eindruck auf ihn zu machen, denn am Schlusse ergriff er meine Hand und drückte sie. Dennoch möchte ich diese günstige Wirkung weniger meiner Beredsamkeit, als der Veränderung zuschreiben, welche die vor Kurzem erst überstandene Krankheit in ihm zurückgelassen hatte. Auch kam noch ein anderer Umstand hinzu, nämlich die politische Umwälzung des Jahres 1848, deren gewaltige Erschütterungen bis zu diesem fernen Winkel der Monarchie gedrungen waren. Es lag eine revolutionäre Strömung in der Luft, deren Einfluß sich Niemand und selbst Herr von Prodschintzky nicht zu entziehen vermochte. Sein aristokratischer Stolz hatte einen empfindlichen Stoß erhalten, und wenigstens für den Augenblick war er zu einer Nachgiebigkeit gestimmt, die er unter anderen Verhältnissen wohl kaum gezeigt hätte. Vierzehn Tage später zeigte mir mein College seine Verlobung mit der Geliebten seines Herzens an. Ich beeilte mich, ihm persönlich meinen Glückwunsch abzustatten und zugleich ihn seines Amtes als Arzt der Typhuskranken von Seiten der Regierung zu entbinden. Zum letzten Male wanderten wir mitsammen durch das heimgesuchte Dorf.

Es war an einem herrlichen Maimorgen, der mit seinem sonnigen Lichte selbst diese elenden Hütten vergoldete. Ein neues Leben schien nicht nur in der Natur, sondern auch unter den armen, schwer geprüften Bewohnern erwacht zu sein. Jener Bauer, dessen Wohnung, damals eine Höhle des Jammers, wir zuerst betreten hatten, begegnete uns vor seiner Thür. Er war eben im Begriff, auf das Feld hinaus zu fahren, um die ihm von der Regierung geschenkten Saatkartoffeln zu stecken. Mit freudestrahlendem Gesichte eilte er auf uns zu, um uns nochmals für unsere Bemühungen zu danken.

„O! jetzt ist Alles wieder gut,“ sagte er auf unser Befragen. „Die Noth hat ein Ende, und die Krankheit ist geschwunden. Meine älteste Tochter hat einen Dienst auf dem Schlosse gefunden, und das gnädige Fräulein hat ihr versprochen, wenn sie sich gut aufführt, sie mit in die Stadt zu nehmen. Es fehlt uns nichts, wir haben Getreide und Kartoffeln. Die Saaten stehen schön, und wenn Gott will, so wird es eine gute Ernte geben. Wir sind viel besser als vor der Krankheit daran, denn der Herr Landrath sieht jetzt darauf, daß wir nicht verhungern oder sonst Noth leiden.“

Es fehlte nicht viel, so hätte der arme Bauer fast dem Typhus ein begeistertes Loblied gesungen, weil die erwachte Aufmerksamkeit der Regierung und die Wohlthätigkeit der veerschiedenen Vereine seinen Zustand wesentlich verbessert hatten. Als er endlich mit tausend Segenswünschen sich entfernte, konnte ich meine Gedanken nicht länger unterdrücken.

„An dieser Stelle,“ sagte ich zu meinem Freunde, „haben Sie an der Güte der Vorsehung gezweifelt und gegen ihre Weisheit gemurrt. Müssen Sie nicht jetzt eingestehen, daß Sie geirrt und daß ich Recht behalten habe? Sehen Sie den armen Bauer, der uns soeben verlassen hat, denken Sie an Ihr eigenes Glück, und Sie werden mir gewiß beistimmen, daß selbst in den schwersten Leiden sich die göttliche Weisheit und Güte offenbart. Die schreckliche Krankheit, welche das arme Land heimgesucht, hat für das Ganze, wie für den Einzelnen, neben vieler Trauer auch Heil und Segen gebracht. Wie in der Natur folgt auch im Leben auf den harten Winter der schöne Frühling, dem wir jetzt in jeder Beziehung entgegen gehen.“

Während ich so sprach, stieg eine Lerche aus der dunkeln Furche, vor der wir standen, jubelnd zum Himmel empor. Die dürren Aeste der Bäume hatten sich mit frischen Blättern und weißen Blüthen bekleidet, und das junge Grün der Saaten lachte im goldenen Sonnenschein. In der Ferne erblickten wir ein liebliches Mädchen, das uns entgegenkam. Es war die holde Anna am Arme ihres Vaters, die mit bräutlicher Ungeduld uns aufsuchte. Bei meinem unerwarteten Anblick erröthete sie vor süßer Scham. Mein Freund nahm ihre Hand, die er zärtlich an seine Lippen drückte, wobei sein Auge von Glück und Freude leuchtete; ich aber dachte im Stillen an das alte Sprüchwort: auf Regen folgt Sonnenschein.

Max Ring.



Meißen

(Mit Abbildung.)

Ehe die Elbe in das weite norddeutsche Flachland hinaustritt, durcheilt sie, die Tochter des Riesengebirgs, noch einmal eine mit vielen landschaftlichen Reizen geschmückte Gegend. In einer nicht fernen Zeit, die dem Lieblichen vor dem Pittoresken den Vorzug gab, nannte man dieses Gebiet das sächsische Paradies. An der Elbe hin erstreckt es sich von Dresden bis zum Schloß Hirschstein nahe bei Riesa, und Meißen ist etwa sein Mittelpunkt. In großen Zügen angelegt ist diese Gegend nicht, wohl aber bietet sie den anmuthigsten Wechsel von Rebhügeln, deren jeder sein weißes Winzerhäuschen oder sein anspruchsvolleres Lusthaus trägt, sonnigen Felsenhöhen, frisch belaubten Bergen, reichen Fluren und schluchtähnlich eingeschnittenen Thälern. Mit einem Wort, sie ist heiter, und es ist wohl glaublich, daß Karl V., als er sie nach der Mühlberger Schlacht vom Erkerfenster des Meißener Bischofsthurmes überblickte, den Ausspruch gethan habe, er werde lebhaft an Italien erinnert.

Schöne Ruinen erheben sich hier über den Elbufern nicht. In den langen Kämpfen, die vom zehnten Jahrhundert an zwischen den Sorben und den deutschen Rittern stattfanden, waren halbe Maßregeln nicht in Gebrauch. Eroberte man eine Burg, so zerstörte man sie bis auf den Grund. Die Sorben bewohnten das rechte Ufer, die Deutschen das linke. Die Goldkuppe ist die letzte Erinnerung an die slavische Zeit. Wenige von denen, welche sie besteigen, um unter dem Schatten ihrer ehrwürdigen Linde der weiten Aussicht zu genießen, werden sich bewußt sein, in welch’ naher Verwandtschaft dieser künstliche runde Berg, einst ein Heiligthum der Slaven, mit jenen merkwürdigen Mohillen oder Kurganen steht, die von den ukrainischen bis zu den innerasiatischen Steppen verfolgt werden können. In den Ortsnamen hat sich das Slavische besser erhalten, Okrilla, Zscheila, Korbitz, Jesseritz, Pröda, Jahna, lauter Dörfer der Meißener Umgegend, verrathen am Klange, wer sie getauft hat. Auch ein Gewerbe nennt sich noch mit slavischem Namen: die Schiffszieher heißen Bomätschen. Sie sind eine Staffage der Elbufer, die am besten aus einer gewissen Entfernung betrachtet wird. Zu zwanzig und dreißig an ein langes Seil gespannt, um Takt schreitend und alle zugleich den Stock aufsetzend, der sie bei ihrer schweren, von einem nicht unmelodischen Gesange begleiteten Arbeit unterstützt, werden sie Jedem gefallen, der ihnen auf dem Leinpfade nicht in den Wurf kommt. Sie hassen jeden Spaziergänger, und vor Crinolinen hat Niemand weniger Respect, als sie.

Auf dem linken Elbufer haben fünf deutsche Burgen, Hirschstein, das Meißener Schloß, Siebeneichen, Scharfenberg und Gauernitz den Angriffen der Feinde und den langsameren Einwirkungen der Zeit Trotz geboten. Alle gewähren malerische Ansichten, das Innere ist bloß beim Meißener Schloß bedeutend. Meister Arnold von Westphalen, der auch das Torgauer Schloß errichtete, hat es in den Jahren 1471–1483 erbaut. Die Zeit der ausgehenden Gothik, in welche der Bau dieser Albrechtsburg fällt, verräth sich darin, daß die sternförmigen Bogen der Fenster nach unten gesenkt sind. In allen übrigen Formen zeigt sich der reinste gothische Styl in seiner ganzen Pracht und Mannigfaltigkeit. Fünf der sechs hohen Stockwerke steigen in Wölbungen übereinander auf und setzen der äußern Luft keine eigentlichen Wände entgegen, sondern massige Pfeiler, zwischen denen Fenster von ungewöhnlicher Breite eingeschlossen sind. Von diesen Außenpfeilern und von den Mittelpfeilern der Zimmer gehen Bogenspannungen aus, durch deren geistreiche Combinirung die verschiedensten Sterne, Kreuze, Netze und Fächer entstehen. In allen Theilen des großartigen Baues sind die prächtigsten Beispiele von Steinornamentik wie spielend ausgestreut. Alle Deckenwölbungen, die der schmalsten Gänge und der kleinsten Cabinete nicht ausgeschlossen, alle inneren Gliederungen der Thür - und Fenstergewände sind von unvergleichlicher Schönheit. Ein Meisterwerk ist der Haupttreppenthurm mit seiner

[823] um eine hohe Spirale laufenden Wendeltreppe und mit seinen offenen Spitzbogenhallen. An diesem Thurme hat die beabsichtigte Restauration des Schlosses ihren Anfang genommen. Sind die Arbeiten vollendet, so wird die Meißener Albrechtsburg eben so viel Besucher anziehen, wie die alte Burg des deutschen Ordens an der Nogat.

Neben dem Schlosse steht das zweite architektonische Prachtstück Meißens, der Dom. Er ist ebenso alt und vielleicht noch älter, als der gothische Styl. Obgleich es nämlich feststeht, daß der gegenwärtige Bau im Ganzen aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts herrührt, ist es zweifelhaft, ob nicht am Unterbau des hohen Chors Reste einer älteren Kirche des zehnten Jahrhunderts enthalten sind. Einst war der Dom das Ziel zahlreicher Wallfahrten, die den Gebeinen des in seinem Schiff begrabenen heiligen Benno galten. Damals wurde an sechsundfunfzig Altären Tag und Nacht ununterbrochen Messe gelesen, wozu zweihundert Capitularen, Meßpriester, Bicarien und Capellane kaum ausreichten. Die Mauerflächen waren von Wandmalereien bedeckt, und das Licht der Altarkerzen funkelte auf silbernen und goldenen, mit Juwelen beseelen Gefäßen. Der Mensch und die Natur haben diesem alten Glanze übel mitgespielt. Im Innern hat zuerst die Reformation, dann der Krieg reinen Tisch gemacht; am Aeußern haben Stürme und Blitze ihre Riesenkraft versucht, leider mit Erfolg, denn die beiden westlichen Thürme sind einmal vom Sturm, ein anderes Mal vom Blitz zerstört und nach der zweiten Katastrophe nicht wieder hergestellt worden. Zum Glück ist die Architektur der Kirche selbst unverletzt geblieben, und ihre Herrlichkeit reiht diesen Dom den schönsten Denkmälern der altdeutschen Kunst an.

Der Dom, die Albrechtsburg und der ehemalige bischöfliche Palast verleihen dem Meißner Schloßberge seinen imposanten Charakter. Im Verhältniß zu diesen stolzen Gebäudemassen ist der Berg fast zu klein und erscheint viel niedriger, als er ist. Von der Schönheit der Stadt wird man keinen hohen Begriff bekommen, wenn man Lessing’s Vergleich kennt: „ein Gericht voll Krebse in einer grünen Schüssel.“ Am wenigsten vortheilhaft zeigt sich Meißen von der Flußseite. Die besseren Gebäude hat man dem Ufer nicht anvertrauen mögen, denn die Elbe hat ihre bösen Tage, an denen sie ihre hochangeschwollenen Wogen über die Dämme des Leinpfades hinüberwirft und mit centerschweren Eisschollen an die Häuser pocht.

Im Thale der hier mündenden Triebisch, zieht sich Meißen eine Strecke aufwärts. Der landschaftliche Reiz dieses Thals concentrirt sich am Buschbade, das seit Jahren kein Bad mehr ist, aber durch die von Dr. Herz geleitete Heilanstalt für Blödsinnige, die dorthin verlegt wurde, der leidenden Menschheit viel wichtigere Dienste leistet, als früher. Das moderne Fabrikwesen findet seine Repräsentanten näher an der Stadt, wo eine große Eisengießerei, eine Fabrik von Zündern und eine Gasanstalt, die weit besseres Gas liefert als die Leipziger, nahe bei einander liegen. Auch das neue Gebäude der aus der Albrechtsburg verwiesenen Porcellanfabrik wird in diesem Industriewinkelchen des Triebischthales erbaut. Ihr Porcellan machen die Meißener geltend, wenn sie wegen ihres Weines verhöhnt werden. In der That ist der gute Ruf des Porcellans ein eben so wohlverdienter, wie der schlechte der Meißner Traube ein unverdienter. Das älteste Porcellan Europa’s, ist es hinsichtlich der Masse noch heute das schönste. Die Geschichte seines Erfinders Böttger ist allgemein bekannt; von Kändler, der die Fabrik zur höchsten Blüthe gebracht hat, wissen Wenige. Von 1732 an hat dieser geniale Bildhauer unzählige Gruppen, Figuren mit verzierte Geschirre, die getreuesten Abbilder der Roccocozeit, gearbeitet. Die Meißener Fabrik besitzt Kändler’sche Modelle zu Hunderten, und sie sind ihr größter Schatz. Die nach ihnen gefertigten Geschirre sind ihre gangbarsten Artikel, doch ist auch nicht zu verkennen, daß die Existenz der Fabrik in Frage kommt, wenn die Vorliebe der Vornehmen für das Rococco einmal aufhört. Maler und Former haben sich ganz in diesen Styl hineingelebt.

Trotz seiner Merkwürdigkeiten wurde Meißen bis auf die neueste Zeit wenig besucht. So lohnend eine Elbfahrt von Riesa nach Dresden ist, wurden die eleganten Dampfschiffe der sächsischen Gesellschaft schwach benutzt. Seit der Vollendung der neuen Zweigbahn der Leipzig-Dresdner Hauptbahn hat sich der volle Strom der Reisenden auch nach Meißen gewendet. Diese wenigen Zeilen tragen vielleicht dazu bei, auf einen lange vernachlässigten schönen Punkt im Herzen Deutschlands aufmerksam zu machen.

Fr. Steger.




Diätetik des Gehirns und des Schlafes.

Die Kenntniß der richtigen Behandlung des Gehirns, und zwar ebenso während seines Arbeitens beim Wachen, wie während seines Ausruhens im Schlafe, bringt dem Menschen in körperlicher und geistiger Beziehung Heil. Denn sein Gehirn ist es ja, welches den Menschen über das Thier erhebt und welches nicht bloß alle geistige Thätigkeit, also das Denken, Fühlen und Wollen vermittelt, sondern auch mit Hülfe der Empfindungen und willkürlichen Bewegungen bedeutenden Einfluß auf den Ernährungsproceß innerhalb unseres Körpers ausüben kann.

Die Grundgesetze der Hirndiätetik ergeben sich aus folgenden Thatsachen: das Arbeiten des Gehirns ist stets mit Verlust von Hirnmasse verbunden; – nur durch Wiederersatz des Verlorengegangenen kann das Gehirn zu frischer Arbeit restaurirt werden; – dieser Wiederersatz (Neubildung) kann nur während des Ruhens des Gehirns, also im Schlafe, gehörig vor sich gehen; – zu seiner Neubildung bedarf das Gehirn solch Material aus der Nahrung und Luft, aus welchem seine Masse aufgebaut ist; – dieses Material muß in und durch das Gehirn mittels eines regelmäßigen Blutlaufs geleitet werden; – die beim Arbeiten des Gehirns abgenutzte Hirnmasse muß, um das Gehirn von seinen Schlacken zu befreien, vom Blutstrome aus der Schädelhöhle hinweggeführt werden; – Ueberanstrengungen (zu starke oder zu lang anhaltende Reizungen) des Gehirns ziehen entweder einen bleibenden oder doch einen nur langsam und nach längerer Zeit erst schwindenden Lähmungszustand nach sich; – unausgesetztes und langwährendes Faulenzen des Gehirns setzt die Ernährung mit Thatkraft desselben allmählich bis zur Unfähigkeit zum Arbeiten herab; – Kopfverletzungen, sowie die längere Einwirkung heftiger Hitze und Kälte auf den Kopf, können sehr leicht dem Gehirne Schaden zufügen.

Was nun zuvörderst das sogen. psychische Thätigsein des Gehirns, besonders das Denken, betrifft, so ist der Grad der Erregbarkeit und der Arbeitskraft diesen Organs bei verschiedenen Menschen, in Folge der verschiedenen Erziehung und Ernährung der Gehirnmasse, so verschieden, daß für Alle gültige Gesetze gar nicht aufgestellt werden können. Nur ganz im Allgemeinen ist zu rathen, daß Wer bei und nach geistigen Arbeiten sich entweder widernatürlich aufgeregt oder abgespannt fühlt, dabei an Schlaflosigkeit, Zittern, Schwindel, Kopfschmerz, Eingenommenheit des Kopfes, überhaupt an sogenannter Nervosität (mit großer Empfindlichkeit für Temperatureindrücke, häufigem Wechsel von Kälte- und Hitzeempfindung, unangenehmen Gefühlen der verschiedensten Art und an den verschiedensten Stellen, leichter Erschöpfung des Körpers und Geistes, leichtem Wechsel der Gemüthsstimmung) leidet, daß Der gehörige Pausen in seinen Arbeiten eintreten lassen muß, damit sich in diesen das etwas abgenutzte und ermattete Gehirn gehörig restauriren könne. Natürlich müssen sich diese Pausen in ihrer Dauer und Häufigkeit nach dem Grade der geistigen Anstrengung und der Hirnaffection richten. Wie viele Menschen, und zwar noch in dem kräftigsten Lebensalter, sind nicht durch häufige Verstöße gegen das Gesetz: „das Gehirn verlangt für seine Arbeit entsprechende Ruhe“ in ihrem Verstandes- und Gemüthsleben auf lange Zeit oder für immer ruinirt worden! Vorzugsweise bei Blutarmen muß das geistige Arbeiten des Gehirns gehörig eingeschränkt werden. Am wichtigsten ist aber eine richtige Behandlung des Gehirns im Kindesalter, wo sehr oft durch unpassende geistige Anstrengungen und verkehrte Einflüsse auf die Empfindungs- und Willensthätigkeit des Gehirns der Keim zu späteren Hirnleiden gelegt wird.

[824] Durch Gemüthsbewegungen und Leidenschaften wird das Gehirn ebenfalls oft so angegriffen, daß es die mannigfachsten Störungen in seiner Arbeit zu erdulden hat, zumal wenn sich starke Gemüthserregungen mit geistigen Anstrengungen verbinden. Darum strebe man, soviel es nur immer geht (und der feste Wille vermag hier viel), nach einer ruhigen und heiteren Gemüthsstimmung und halte sich fern von Leidenschaftlichkeit, von Aerger, Kummer, Schreck. Jedenfalls muß dies vorzugsweise derjenige beachten, dessen Gehirn sich schon durch zu leichtes Erregtwerden als angegriffen kennzeichnet. Man glaube aber ja nicht etwa, daß der häufige Besuch von größeren Gesellschaften, Concerten und Theater etc., daß interessante Lecture und strapaziöse Reisen eine ruhige, dem Gehirn wohlthätige Gemüthsstimmung erzeugen können, in der Regel wird dadurch nur eine vorübergehende, nachträglich das Gehirn sehr ermattende Aufregung veranlaßt. Ueberhaupt ist ein stürmisches, ungeregeltes und unstetes Leben dem Wohlsein des Gehirns sehr gefährlich.

Häufige und heftige Reizungen des Gehirns materieller Art müssen, zumal von Solchen, deren Gehirn schon auf andere Weise stärker angeregt wird oder gar schon reizbarer ist, als es sein sollte, ängstlich vermieden werden. Am meisten gesündigt wird hierbei durch die Kälte, welche unglückseliger Weise von den Meisten für ein Nervenstärkungsmittel gehalten wird, während sie doch eines der heftigsten Reizmittel für Nerven und Gehirn ist. Die durch Kälte (kalte Begießungen, Waschungen, Bäder) erzeugte Erregung hält man leider für Kräftigung und schreibt die der Erregung folgende Ermattung lieber jeder andern Ursache, als gerade der Kälte, zu. Man achte nur einmal darauf, was aus den meisten Kaltwasserfanatikern endlich wird, die sich einige Jahre mit ihrer ausgezeichneten Lebenskraft, welche sie angeblich Kaltwassercuren verdanken, brüsteten. Abgesehen von dem vorzeitigen Ergrauen und überhaupt Altern, ist ihre Hirn- und Rückenmarksthätigkeit in dieser oder jener Hinsicht gestört, und bei Vielen sieht’s im Kopfe nicht recht richtig aus. – Nach der Kälte wirken auch starke spirituöse Getränke auf das Gehirn widernatürlich erregend ein und rufen, wenn sie in größeren Mengen oder öfter in Gebrauch gezogen werden, reizbare Hirnschwäche und endlich sogar Lähmung der geistigen Thätigkeit hervor. – Starker Thee und Kaffee, ebenfalls für das Gehirn ziemlich erregende Getränke, dürfen von Allen, deren Hirnhätigkeit nicht ganz in Ruhe und Ordnung vor sich geht, durchaus nicht genossen werden. Der Kaffee ist von allen Erregungsmitteln noch das unschädlichste und den Spiriuosen weit vorzuziehen.

Sinnes- und sinnliche Erregungen, wenn sie stärkeren Grades sind und häufig vorkommen, wirken stets auf das Gehirnleben verderblich ein, und dieser ihrer Wirkung muß deshalb immer durch hinreichende Pausen zwischen jenen Erregungen entgegen getreten werden. Vorzüglich leicht ist ein schon reizbareres Gehirn durch stärkere Eindrücke auf die höheren Sinne, das Auge und Ohr, sowie auch durch Alles, was heftigere Schmerzen verursacht, in einen peinlichen Zustand zu versetzen. Darum müssen sich zumal nervöse Damen von Musik, Lichterglanz und dergleichen fern halten. Excesse in geschlechtlicher Hinsicht sind sehr oft die Ursachen schwerer Hirnleiden; ebenso können auch Krankheiten in dieser Sphäre die Schuld an Gemüths- und Geistesstörungen tragen.

Soll nun die bei der Hirnarbeit abgenutzte Hirnmasse wieder in der richtigen Menge und Beschaffenheit ersetzt werden, so muß ein gutes, nahrhaftes und gehörig sauerstoffhaltiges Blut ordentlich in das Gehirn hineinströmen und, nachdem es der Hirnmasse die nöthigen Materien zum Neubaue abgegeben hat, bei seinem Abfließen die alten abgebrauchten Hirnschlacken mit sich fortnehmen. Es ist sonach auf Dreierlei zu achten: auf einen flotten Blutlauf durch das Gehirn, auf die richtige Zufuhr solcher Stoffe in’s Blut, aus denen die Hirnmasse aufgebaut ist, und auf die Aufnahme einer hinreichenden Menge von Sauerstoff innerhalb der Lungen aus der atmosphärischen Luft in den Blutstrom.

Der Blutlauf durch das Gehirn ist am besten durch langsames, tiefes Einathmen und kräftiges Ausathmen zu unterstützen. Jedoch muß dieses Athmen, welches natürlich nicht gewaltsam zu geschehen braucht, den Tag über öfters exercirt und erst ordentlich gelernt werden. Von großem Vorheile ist es, wenn das empfohlene Ein- und Ausathmen im Freien (besonders in sonniger, sauerstoffreicher Waldluft) neben mäßiger Körperbewegung vorgenommen wird. Damit ferner auch das Blut den nöthigen Flüssigkeitsgrad habe und in flottem Strome hinfließen könne, ist der Genuß einer hinreichenden Menge von Wasser (oder von wässrigen Getränken) nicht zu unterlassen. Daß der Rückfluß des Blutes vom Gehirn nicht auf mechanische Weise, durch enge Hals- und Brustbekleidung erschwert werden darf, versteht sich wohl von selbst.

Die Nahrungsmittel, welche unserm Gehirn passende Stoffe zur Verjüngung darbieten können, müssen vor allen Dingen, eiweißreich sein und phorphorhaltiges Fett besitzen. Unter allen steht eine butterreiche Milch oben an, nach ihr sind Eier, Fleisch mit Fett und Hülsenfrüchte (Erbsen und Linsen) zu empfehlen. Natürlich müssen alle diese Nahrungsmittel auch so zubereitet und genossen (tüchtig gekaut) werden, daß sie mit Hülfe der Verdauung in der zweckmäßigen Form in das Blut gelangen können. Und demnach hängt die richtige Ernährung der Hirnmasse nicht blos von passenden Nahrungsmitteln, sondern auch von der ordentlichen Verdauung derselben ab. – Eine große Menge von Hirnleiden rühren nur von Blutarmuth oder von falscher Beschaffenheit des Blutes her.

Sauerstoff (Lebensluft) scheint das Gehirn zu seinem Thätigsein in ziemlicher Menge zu bedürfen, und deshalb wirkt auch ein sauerstoffärmeres Blut sofort auf die Arbeitskraft des Gehirns schwächend ein. Darum ist denn auch das kräftige Athmen in freier reiner (besonders sonniger Wald-) Luft so belebend und stärkend für die Hirnkraft, während eine mit schlechten Gasarten verunreinigte Luft, die dem Blute seinen Sauerstoff verdrängt, das Gehirn mehr oder weniger belästigt und sogar unthätig machen kann. Von großem Werthe für die Ernährung der Hirnmasse ist die Reinigung des Blutes in der Leber, denn geschieht diese unvollständig, so bleibt im Blute eine Menge von Blutkörperchenschlacken zurück, durch die der Eintritt des Sauerstoffs in’s Blut erschwert und gehindert wird. Bei Unterleibsbeschwerden (Gartenl. 1854, Nr. 18), wo in Folge der Störung des Pfonaderblutlaufs eben die Leber nicht ordentlich arbeiten kann, finden sich deshalb immer auch Störungen in der Gemüthsthätigkeit des Gehirns, die sogar in Geisteskrankheiten ausarten können.

Der Schlaf, als der Ruhezustand des Gehirns, in welchem dieses zu neuem Thätigsein verjüngt wird, verlangt, wie aus dem Gesagten hervorgeht, die allergrößte Beachtung. Nur ganz im Allgemeinen läßt sich angeben, daß der erwachsene gesunde Mensch täglich etwa 7–8 Stunden, aber eines ruhigen Schlafes bedarf; daß dagegen Blutarme, Schwächliche und Personen mir reizbarem (Hirn-) Nervensysteme länger zu schlafen wohlthun. Der Schlaf in der Nacht hat nur insofern Vortheile vor dem am Tage, als jener weniger durch störende Einflüsse von außen beunruhigt und durch Träume unterbrochen wird. Denn Alles, was das Gehirn zu beruhigen im Stande ist, trägt auch dazu bei, Schlaf zu erzeugen, während das, was das Gehirn in Erregung erhält, den Schlaf verhindert. Wärme, das beste Beruhigungsmittel für erregte Nerven, wirkt deshalb auch schlafbringend. Dagegen muß Alles, was den Blutlauf (besonders die Herzthätigkeit) und den Verdauunggsproceß, überhaupt die vegetative Thätigkeit im Körper, sowie die Sinnesorgane erregen könnte, vor der Schlafenszeit vermieden werden, da hierdurch der Schlaf nicht blos unruhig gemacht, sondern sogar abgehalten wird. Am sichersten tritt ein ruhiger und bis zur völligen Wiederherstellung der Hirnkraft ununterbrochen fortdauernder Schlaf ein, wenn am Tage vorher die geistige und körperliche Thätigkeit das volle Maß der natürlichen Anstrengung erreichte und in den Abendstunden bis zur völligen Abspannung der Kräfte verringert wurde. Zu große Anstrengung während des Tages hat ebensowohl als völlige Unhätigkeit einen unruhigen von lästigen Träumen unterbrochenen Schlaf zur Folge, sowie auch der Eintritt des letztern erschwert mit verzögert wird, wenn in den spätern Abendstunden die geistigen und körperlichen Kräfte in zu große Anspannung versetzt wurden.

Die ganze Diätetik des Schlafes ist beim gesunden Menschen in der richtigen Bestimmung des Maßes der freien Thätigkeit enthalten, und diese lernt er dadurch kennen, daß er darauf achtet, ob sich eine tiefe Ermattung am Abend einstellt, welche eine wirkliche Sehnsucht nach Ruhe erzeugt. Wer eine solche Ermüdung nicht empfindet, sondern ohne Selbstüberwindung noch Stunden lang hätte wachen können, der hat das volle Arbeitsmaß am Tage nicht erreicht und thut wohl daran, am nächsten Tage fleißiger zu sein. – Alle anderen Regeln, welche man für die Beförderung des Schlafes aufzustellen pflegt, sind nur von untergeordneter Bedeutung. Allerdings [825] muß zugegeben werden, daß mäßige Bettwärme, in welcher der ruhende Körper weder der Erhitzung, noch der weit schädlichern Erkältung ausgesetzt ist, ein angenehmes Dunkel, nicht aber absolute Finsterniß, ein hinreichend geräumiges und luftiges Zimmer, welches von den Ausdünstungen nicht so leicht verunreinigt werden kann, zu einem gedeihlichen Schlafe wesentlich beitragen, und daß zu weiche und zu warme Betten und völlige Finsterniß des Zimmers zur übermäßigen Verlängerung des Schlafes sehr leicht Veranlassung geben.

Bock.




Kleine amerikanische Sittenbilder.

1. Auch ein Spiritualist.

Es war zu der Zeit, als die Geisterklopferei in New-York ihre glänzendsten Blüthen trieb, als Mrs. Hatch, das berühmte Medium, mit ihren 17 Jahren, ihren durchsichtigen Zügen und blonden Locken selbst Männern der Wissenschaft den Kopf verdrehte, da hatte mich nach Dunkelwerden ein ausbrechendes Gewitter in eines der Trinklocale der Westseite getrieben. Um mich her saßen völlig unbekannte Gesichter, welche die gleiche Ursache hier zusammengewürfelt zu haben schien, und nur hier und da fiel eine Bemerkung über den immer fortströmenden Regen.

„Schlimmes Wetter für die große Versammlung der Spiritualisten,“ wurde endlich die Stimme eines jungen Mannes laut, der behaglich seinen kalten Grog schlürfte, „hätten übrigens durch ihre Geister erfahren können, wie es kommen würde!“

Einzelnes kurzes Lachen antwortete der Bemerkung und schien einen ältlichen Herrn mit kräftigen, markirten Zügen, welcher unmuthig den Blick nach der Straße gewandt hielt, zu reizen. „Man sollte seinen Witz nicht an Dingen auslassen, die man nicht kennt, junger Mann!“ sagte er, ernst den Kopf nach dem Erstern wendend.

„Ich halte nun aber den ganzen Humbug keiner größern Beachtung werth,“ erwiderte Jener, nachlässig seinem Glase zusprechend, „und ich denke, Sir, daß ich eben so gut meine Meinung haben darf, als Sie vielleicht die entgegengesetzte!“

Aus den Augen des alten Herrn schoß ein zorniger Strahl; in der nächsten Secunde aber zuckte nur noch ein verächtliches Lächeln um seine Lippen. „Das ist unsere heutige Jugend,“ versetzte er, „stets mit dem Munde voran, ohne nur das Geringste von einer Sache zu kennen!“

„Well, Sir,“ fuhr der Jüngere auf, „was soll ich von Ihrem Hokuspokus kennen lernen? Was mir Ihre Medien vorsprechen oder zu hören geben, und was der erste beste Taschenspieler vielleicht noch besser zu Stande brächte? Ich will Ihnen sagen, daß ich nicht eher an irgend eine dieser Faseleien glaube, ehe nicht meinen Augen an irgend einem mir beliebigen Orte einer dieser so bereitwilligen Geister vorgeführt wird, so daß ich ihn fühlen und mich mit ihm unterhalten kann.“

„Und was berechtigt Sie, wo von Geistern die Rede ist, derartige Forderungen aufzustellen?“ erwiderte der Andere, den Kopf hebend und mit einem seltsam durchdringenden Blicke den Zweifler ansehend.

„Ich fordere es ja nicht!“ erwiderte Jener mit einem sarkastischen Lächeln, „ich sage mir mir, daß, wenn Geister so materieller Natur sind, daß sie durch Klopfen, Bewegen von Gegenständen und dergleichen ihre Anwesenheit kund thun können, sie wohl auch im Stande sein müssen, sich unserm feinsten Sinne, dem Auge, bemerkbar zu machen.“

„Und Sie glauben wirklich soviel Muth zu haben, um einem Ihrer verstorbenen Lieben Auge in Auge entgegenzutreten?“ fragte der Aeltere mit einem so scharfen, eigenthümlichen Tone in der Stimme, daß es mich bei der Vorstellung von der Verwirklichung des Ausgesprochenen eiskalt überlief. Unter der übrigen Gesellschaft hatte das sich entwickelnde Gespräch, welches eine damals brennende Tagesfrage berührte, eine fast athemlose Aufmerksamkeit hervorgerufen, und selbst der Verkäufer hinter dem Schenktische stand mit gespitzten Ohren herübergebogen.

„Muth?“ lächelte der Andere in seiner frühern Weise. „Muth genug! Mir fehlt aber das Nöthigste zu dergleichen Dingen – der Glaube, Sir!“

„Gut, Sir!“ erwiderte der Alte, sich mit finster zusammengezogenen Brauen und einem wahrhaft gebieterischen Ernste erhebend, „Sie sollen glauben lernen, und um jedem Verdachte einer Charlatanerie von vorn herein zu begegnen, lege ich hier hundert Dollars ein, die ich verlieren will, wenn ich Ihnen nicht, sobald Sie es nur verlangen, den Geist irgend eines Ihrer abgeschiedenen Freunde vorführe, ohne Rücksicht darauf, wie lange er todt sein mag, worauf Sie, nachdem Sie ihn erkannt, ihm erlauben werden, seine Kippen gegen die Ihrigen zu drücken!“ Er hatte, während er dies langsam und jedes Wort betonend sprach, seine Geldtasche gezogen und eine Hundertdollars-Note auf den Tisch gelegt. „Machen Sie jetzt Ihren Gegen-Einsatz, Sir!“ fuhr er in voller Bestimmtheit fort, „und ich will Ihr Geld nicht eher beanspruchen, als bis Sie sich selbst für völlig überzeugt und überwunden erklären!“

Der junge Mann warf nur einen halben Blick auf die Banknote. „Nun ja,“ lachte er auf, „Sie konnten jedenfalls voraussetzen, daß ein junger Advocat nicht mit Hundertdollars-Noten in der Tasche Abends zum Trinken geht – ich wünschte wohl, Ihren Einsatz annehmen zu können, indessen werden wir unter diesen Umständen Ihrer interessanten Lection entsagen müssen!“

„Ich bin bereit gewesen, Sie zu überzeugen,“ erwiderte der Alte mit einem Zuge voll ausgeprägter Verachtung, „und so lassen Sie in Zukunft wenigstens den beleidigenden Witz aus Ihren Besprechungen.“ Er wollte wieder nach seiner Banknote greifen, als einer der Beisitzenden sich mit einem „Halt, Sir!“ erhob. „Ich bin bereit, einen Theil des Einsatzes für den jungen Gentleman auf mich zu nehmen, wenn von anderen Seiten –“ sagte er; er bedurfte aber der Vollendung des Satzes nicht. Als habe sich in seinen Worten nur ein Gedanke der übrigen Anwesenden ausgesprochen, war in der nächsten Minute der Betrag zusammmengebracht und dem jungen Manne übergeben. „Verwahren Sie selbst das Geld, bis Sie Ihrer Ueberzeugung sicher sind,“ rief der Aufforderer mit einem finstern Lächeln, als Jener ihm die Banknoten darbot; dann übergab er seine eigene Banknote mit den Worten: „Halten Sie dies in Besitz, bis ich es unter Zustimmung der übrigen Gentlemen wieder zurückfordere!“ dem Verkäufer und wandte sich an seinen Gegner zurück. „Ich bin bereit, Sir,“ sagte er mit einer Art starrem Ernste, „und erwarte nur Ihre Bestimmungen!“

Der Mann schien sich so jedes Vortheils zu begeben, und sein Wesen zeigte eine so eigemhümliche Hoheit und Sicherheit, daß wir Uebrigen in vollster Spannung die weiteren Ereignisse erwarteten. Den jungen Advocaten schien aber selbst jetzt noch der Geist des Unglaubens nicht verlassen zu haben. „Sie haben nicht vergessen, Sir,“ sagte er mit einem leichten Spott in den Mundwinkeln, „daß ich selbst zu entscheiden habe, ob ich überführt sein werde oder nicht?“ und als ihm ein langsames Kopfneigen des Andern geantwortet, erhob er sich rasch, als belustige ihn schon im Voraus das zu erwartende Fiasco. „Hier im offenen Locale läßt sich keinenfalls etwas vornehmen,“ wandte er sich nach dem Verkäufer, „haben Sie nicht nebenan ein anderes Zimmer?“

„Es sind hier noch zwei, die augenblicklich ohne Gäste sind!“ erwiderte der Befragte, eifrig eine Thür öffnend und in dem sich zeigenden Raume eine Gasflamme entzündend. Ein zweites kleineres Zimmer, das dem dort befindlichen Schreibpulte nach zu Comptoirzwecken benutzt zu werden schien, that sich daneben auf, und als wir dieses durchwandert, schien der junge Mann, nach einem aufmerksam prüfenden Blicke ringsum, zufrieden gestellt. Er verschloß die Thür nach dem vordern Locale und wandte sich dann mit einem sarkastischen: „Well, Sir, wir sind bereit!“ nach dem Alten. Dieser stellte bedächtig einen kleinen Tisch in die Mitte des hintern Zimmers, nahm Tintefaß und Feder vom Schreibepulte und legte Beides nebst einem aus seinem Notizbuche gerissenen Papierblatte darauf nieder.

„Ich werde mitten unter diesen Herren im andern Zimmer bleiben und fordere von Ihnen nichts als die Ehrlichkeit, welche zur Gewinnung einer jeden Ueberzeugung nothwendig ist,“ sagte er feierlich. „Haben Sie nun wirklich den Muth, hier im dunkeln Raume das Entgegentreten eines abgeschiedenen Geistes zu erwarten,

[826] so richten Sie Ihre Gedanken fest und unverrückt auf denjenigen Ihrer verstorbenen Lieben, welchen Sie zu sehen wünschen!“

Es lag eine solche Zweifellosigkeit über den Erfolg in den ruhigen Worten, und daneben war Alles, was den Gedanken an eine Täuschung hervorrufen konnte, so sehr vermieden, daß unter den Zuhörern die erhöhte Spannung sich in jedem Gesichte ausdrückte und selbst der junge Advocat die bisherige Haltung seines Gesichts änderte. „Ich habe den vollen Muth, Sir, Ihrem Hokuspokus auf den Grund zu gehen und dabei völlig ehrlich zu verfahren,“ sagte er, „indessen möchte ich Sie bitten, vorher zu überlegen, daß ich mich nicht ohne Weiteres zum Opfer irgend einer Lächerlichkeit machen lassen werde!“

„Sammeln Sie Ihren Geist zu unserm Vorhaben, junger Mann,“ erwiderte der Andere, als habe er die letzte halbe Drohung nicht gehört; „fest jeden Theil Ihrer Gedanken auf den zu Rufenden gerichtet, und je näher er Ihnen im Leben gestanden, je schneller wird er jetzt hören.“ Er löschte die Gasflamme in dem hintern Zimmer und schritt, uns Uebrigen voran, hinaus, die Thür so weit schließend, daß nur ein schmaler, offener Spalt eine Verbindung mir dem Zurückgebliebenen herstellte; minderte dann auch die Helle der Gasflamme in dem vordern Zimmer und ließ sich neben einem Stuhle auf beide Kniee nieder. Wir harrten in einem Schweigen, welches fast jeden Athemzug hörbar machte.

Der Knieende schien inbrünstig zu beten, seine Lippen murmelten leise Worte, die sich schneller und schneller folgten; einzelnes Zucken schien sich bald seines Körpers zu bemächtigen, bis er plötzlich aufschrie: „Ihre Gedanken schweifen ab – ich fühle die Nähe des Geistes, aber Sie halten ihn nicht fest! – Was sehen Sie?“ setzte er wie plötzlich beruhigt hinzu.

„Ich sehe,“ antwortete die Stimme des Advocaten, in der es fast wie Verwunderung klang, aus dem hintern Zimmer, „ich sehe ein bleiches weißes Licht wie in weiter Entfernung vor mir aufsteigen, doch hat es keine Form und ist nichts als eine unbestimmte Wolke.“

Die Hand meines Nachbars ergriff wie unwillkürlich die meine, und ich selbst war fast betäubt.

„Sie fangen an sich zu fürchten!“ rief der Alte unwillig, „halten Sie Ihre Gedanken fest aufrecht!“ aber: „Ich fürchte mich nie, Sir!“ klang des jungen Mannes Stimme zurück, und von Neuem, anscheinend noch inbrünstiger, begann der Alte sein Gebet. Wir athmeten kaum. Lauter und lauter klangen die unverständlich gemurmelten Worte, ein convulsivisches Zittern machte sich in allen Gliedern des Knieenden bemerkbar – da schien ihn wie vorher eine plötzliche Erleichterung zu überkommen. „Was sehen Sie?“ rief er wieder – „halten Sie fest! jeder Ihrer abweichenden Gedanken thut mir weh!“ In fast peinlicher Spannung lauschte ich der Antwort. Der Advocat erwiderte mit dem ruhigen Tone eines Mannes, welcher die Einzelnheiten eines naturwissenschaftlichen Phänomens mit großer Neugierde betrachtet: „Ich sehe den Dunst sich verlängern und eine bestimmte Form annehmen. Noch kann ich aber nichts daran erkennen, es ist noch so weit von mir wie früher!“

„Aber da kommt Ihre Furcht wieder!“ rief der Alte, wie in erhöhtem Unwillen; doch stolz und wacker gab der junge Advocat zurück: „Ich fürchte mich nicht, Sir!“

Ich vermochte es, einen Blick auf die übrige Gesellschaft zu werfen, die, that es die schwache Beleuchtung oder meine Einbildung, völlig geisterbleich erschien; bald aber wurde meine Aufmerksamkeit durch die Geberden des Knieenden gefesselt, welcher, wie von einem Krampfe ergriffen, aufschnellte und wieder zusammensank, die Arme von sich stieß und dann mit den Händen wie in körperlichem Schmerz in seine Brust krallte. „O, halten Sie fest!“ stöhnte er endlich, „was sehen Sie?“

„Die Erscheinung kommt näher – das Gesicht wird klar –“ tönte des Advocaten Stimme aus dem Zimmer, aber der Ton war nur zur Hälfte der feste von früher, „es ist John Butler,“ setzte er wie in gewaltsam unterdrücktem Stocken hinzu, „er nähert sich dem Tische, er schreibt – es ist seine Unterschrift –!“

„O standhaft, standhaft!“ rief der Alte, wie von einem wüthenden innerlichen Schmerze ergriffen, „die Furcht, überwältigt Sie – o!“ aber von innen klang es, ohne die erneute Frage abzuwarten, daß sich uns Anderen die Haare hätten sträuben mögen: „Es kommt näher – näher! es verfolgt mich – o! es öffnet seine Arme – es umfaßt mich – Hülfe, Hülfe – o Hülfe!“ Ein durchdringender Schrei und ein ersticktes Aechzen folgte, ohne daß bis jetzt Einer von uns, die wir wie an den Boden gebannt waren, hinzuzuspringen vermocht hätte.

„Seien Sie ruhig!“ sagte jetzt der Alte, sich wie todesmatt erhebend und mit seinem Taschentuche Stirn nur Haare abreibend, „es ist nur gekommen, wie es nicht anders konnte; aber stehen Sie dem jungen Zweifler bei, damit nicht mein Gesicht ihn in neue Erregung versetze!“ Er schloß die nach dem Bierlocale führende Thür auf mit entfernte sich. Wir aber waren jetzt rasch, der wirklichen Betäubung, in welche uns die Scene versetzt, entrissen und öffneten weit die Thür nach dem hintern Zimmer. Einer aus der Gesellschaft hatte ein daliegendes Zeitungsblatt zusammengedreht, angezündet und leuchtete in den dunkeln Raum hinein. Dort war nur das Aechzen des jungen Advocaten hörbar, nur schnell brannte die Gasflamme. Der junge Mann lag, Schaum vor dem Munde, am Boden; auf dem Tische aber erblickte ich das daliegende Papier mit den noch nassen Schriftzügen „John Butler“ versehen.

Als wir den Daliegenden aufrichteten, schien er plötzlich seine Besinnung wieder zu erhalten, griff nach seinem am Boden liegenden Hute und blickte wild um sich. „Wo ist der Mensch, der das Heiligste zu seiner Speculation benutzt?“ brach er plötzlich los, „fort? o, er entrinnt meinen Händen nicht!“ und ehe noch Einer von uns zu einem Entschlusse gelangen konnte, war er davon gestürmt. Keiner von uns glaubte wohl anders, als Beide im vordern Locale im Handgemenge zu finden, und wir beeilten uns, dies zu erreichen. Der alte Herr aber hatte nach des Verkäufers Angabe sogleich das Haus verlassen, und ihm war wie toll der junge Mann, ohne nur erst sich von der Abwesenheit des Andern zu überzeugen, gefolgt.

Wir sahen uns etwas verdutzt an und machten uns bereit, die Rückkehr des Einen oder Andern zu erwarten, als der Verkäufer, die deponirte Hundertdollarsnote gegen das Licht haltend, in eigenthümlichem Tone sagte: „Ich glaube kaum, daß Einer der beiden Gentlemen sich wieder blicken lassen wird – es scheint mir sogar, als sei soeben ein ganz neues Spitzbubenstück durchgeführt worden!“ und auf unsere verwunderten Fragen reichte er uns lächelnd die Banknote und sagte nur: „Counterfeit[1]

Noch selten ist wohl einem betrogenen Menschen ein schnelleres Licht aufgegangen, als durch dies eine Wort Denjenigen von uns, welche die Gegeneinlage zusammengeschossen! –

Am nächsten Sonntag fand ich zu meiner Verwunderung das Thatsächliche des oben Erzählten als einen spanischen Gaunerstreich mit veränderten Einzelnheiten und aufgeputzten Persönlichkeiten, bombastischen Beschwörungsformeln und dergleichen, in einem der englischen New Yorker Sonntagsblätter. Ich wandte mich nach der Redaction und fand, was ich gesucht, einen der Zeugen des Vorgangs. Auf meine Frage nach den Gründen der seltsamen, völligen Umgestaltung desselben erhielt ich die mit einem Achselzucken begleitete Antwort, daß die vielen Tausende von Spiritualisten in New-York eine Art religiöser Gemeinschaft ausmachten und daß eine wahrheitsgemäße Erzählung leicht als eine Verhöhnung der ganzen Glaubensrichtung aufgenommen werden könnte – „und nur aus jeder Art von Glaubenssachen die Finger gelassen, wenn man bestehen will!“ schloß er.

O. R.
  1. Falsches, nachgemachtes Papiergeld



Das Begräbniß einer Armen in einem spanischen Dorfe.

Von Dr. A. E. Brehm.

An vielen Orten Spaniens herrschen sehr eigenthümliche Gebräuche beim Begräbniß der Verstorbenen. Ich meine damit nicht die Art und Weise des Leichengepränges – denn dieses geschieht nach den Gebräuchen der katholischen Kirche – sondern vielmehr die Art und Weise der Beerdigung selbst. Nur die Armen werden in wirklichen Gräbern bestattet, die Wohlhabenden setzt man

[827] in Erbbegräbnissen oder in eigenthümlichen Nischen bei. Die Mauern der größeren Kirchhöfe nämlich sind die Grabstätten. Sie sind reichlich vier Ellen dick und bestehen der Hauptsache nach aus kleinen Tonnengewölben von drei bis drei und einer halben Elle Tiefe, einer Elle Breite und einer Elle Höhe, welche zu drei bis vier übereinander stehen und an der Außenseite durch eine Rückwand verschlossen sind. Diese Nischen werden auf eine Reihe von Jahren unter verschiedenen Bedingungen zur Bewahrung der Leichen gemiethet und nach der Einbringung eines Sarges auch vorn verschlossen, gewöhnlich mit einer Marmortafel, auf welcher der Name des Verstorbenen, der innen im Sarge ruht, eingegraben ist. Die kirchliche Behörde, bezüglich irgend eine Begräbnißgesellschaft, gewährt unter Umstanden Versicherung der in solchen Nischen Bestatteten, ihres Schmuckes etc. Es ist dies wirklich nöthig, denn nicht selten werden die Leichen geplündert oder noch viel scheußlicher geschändet.

In Madrid machte vor wenig Jahren ein Rechtsstreit großes Aufsehen: die Hinterbliebenen führten Klage gegen die Begräbnißgesellschaft, weil einer ihrer vor Jahren geschiedenen Angehörigen im Sarge beraubt und dabei an seinen Gliedern gräulich verstümmelt worden war. Und in der „Discussion“ vom 8. Mai 1857 las ich wörtlich Folgendes:

„In der Nacht des 26. April wurde in Jaen (Andalusien) der Leichnam eines Mädchens von 15–16 Jahren, welchen man am Nachmittage vorher begraben hatte, auf das Grauenvollste geschändet. Die barbarischen Verbrecher brachen die Steinplatte auf, welche die Nischen vorn verschließt, legten den Leichnam inmitten des Kirchhofs auf die Erde, den Kopf auf Steine, und begingen eine Handlung, würdig der Cannibalen, so abscheulich gräßlich und dem Heiligsten hohnsprechend, daß auch der gemeinste Mund sich scheuen muß, sie zu nennen.“ – – –

So muß uns also die Versicherung der Todten leider nicht nur gerechtfertigt, sondern vollkommen nöthig erscheinen. –

Nach Ablauf der bestimmten Frist werden die so bestatteten Leichen, falls ihre Ruhestätte nicht von Neuem gemiethet werden sollte, in gewöhnlicher geweihter Erde begraben.

In dieser Weise bringt man die Todten wohlhabender Familien zur Ruhe, nicht so Diejenigen, welche schon zu Lebzeiten die Last der Armuth tragen mußten. Sie werden einfach verscharrt und zwar – daß ihnen die Erde leicht sei! – nur mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt. In Madrid wirft man sie, nach einstimmigen Versicherungen mehrerer dort wohnenden Deutschen und Spanier – aus eigner Anschauung kann ich nicht sprechen – in ein großes allgemeines Grab, wie man solche auf Schlachtfeldern gräbt, und deckt sie leicht mit etwas Erde und Kalk zu; in vielen Dörfern werden die Armen zwar in wirklichen Gräbern, aber in abscheulicher Weise beerdigt. Ein solches Begräbniß habe ich selbst mit angesehen.

Wir waren in dem ursprünglich maurischen Dorfe Beniajan der Bega oder Fruchtebene Murcias. Meine beiden damaligen Begleiter waren Aerzte und wurden von den Ortsbewohnern vielfach in Anspruch genommen. Gleichwohl war von einer Kranken, der schönsten und liebenswürdigsten Bewohnerin des Dorfes, ihre Hülfe nicht erbeten worden – weil die Arme es nicht gewagt hatte, ihren Vater mit leerer Hand zu den Aerzten zu senden. So blieb also die allgemein geliebte und geachtete kranke Weberin, ein Mädchen von kaum zwanzig Jahren, ohne allen ärztlichen Beistand ihre Krankheit nahm von Stunde zu Stunde an Heftigkeit zu, und am dritten Tage war sie eine Leiche. Als wir eines Nachmittags zur Jagd hinausgingen, begegnete uns ihr Leichenzug im Geleit des Geistlichen und weniger männlichen Angehörigen. Die Schönheit des feinen, regelmäßigen Frauengesichts in der offenen Sargbahre fiel uns auf: wir fragten unseren Begleiter nach der Todten und erhielten von ihm mit wenig Worten ihre Lebens- und Leidensgeschichte: sie war die Tochter rechtschaffener Eltern, brav, geachtet, geliebt – und arm! In dem letzten Worte lag die Erklärung für Alles, was wir noch sehen sollten.

Man zog zur Kirche, um die Leiche einzusegnen: schon nach ungefähr fünf Minuten war diese Feierlichkeit beendet. Sechs Männer, von denen ihrer Vier abwechselnd den Bahrsarg trugen, traten wieder aus der Kirche heraus und wandten sich dem Friedhofe zu. Einige Andere folgten. Mitleidige Hände hatten die schöne, einfach gekleidete Leiche reich mit Blumen geschmückt, und zwischen ihnen lag sie nun still und friedlich in der offenen Sargbahre, das lange braune Haar gelöst, die Hände gefaltet oder vielmehr zusammengebunden, damit der in ihnen ruhende Blumenstrauß fest gehalten werden möge. Wir schlossen uns dem Zuge an, und gingen mit zum „heiligen Felde“ hinaus.

Das Geläut oder Gebimmel der kleinsten Glocke des Kirchleins verstummte, als die Männer das Gotteshaus verließen, und sie eilten nunmehr, sich ihrer Bürde zu entledigen. Lachend und fluchend, d. h. die gewöhnlichen spanischen Kraft- und Schandworte ausstoßend, liefen die Träger im Trabe durch das Dorf und auf der staubigen Straße weiter, gefolgt von einer Rotte schreiender und lärmender Knaben. Sie trugen die Sargbahre an eisernen Handhaben dicht über der Erde, daß die aufgelösten Flechten im Sande nachschleiften. Das schöne Todtenantlitz bewegte sich dabei hin und her und kam nur dann zur Ruhe, wenn die ermüdeten Träger die ständerlose Bahre in den Sand stellten, um zu wechseln. Darauf aber warteten Dutzende von hungrigen Fliegen, namentlich weiblichen Schmeißfliegen, welche die Leiche für dasselbe ansahen, wie ihre Träger – nämlich für ein ekelhaftes Aas! Wenn die Träger sich ausgeruht hatten, begannen sie ihren Trab von Neuem, und das bleiche, stille Frauenhaupt begleitete wiederum jede Bewegung mit Schaukeln und Nicken; es konnte noch immer seine Ruhe nicht finden!

Endlich kam man auf dem Friedhofe an; die Träger setzten ihre Bürde rasch auf dem Grabhügel nieder und verließen die Leiche, um mit den anderen inzwischen Nachgekommenen die Grabschriften zu lesen, die hier und da an der Mauer angebracht waren, obgleich der Begräbnißplatz eher einem Schuttanger, als einem Friedhofe ähnlich sah. Denn auf den Gräbern blühten Disteln anstatt der Blumen; die Wege waren von Unkraut überwuchert, und nirgends sah man die Spur einer ordnenden Hand. Das noch offene Grab entsprach den alten; es war eben nur ein Loch ohne alle und jede Regelmäßigkeit und Sauberkeit, wie wir sie an unseren Gräbern zu sehen gewohnt sind.

Nach und nach fanden sich die Grableute wieder bei der Leiche ein. Man schickte sich an, sie zu beerdigen. Einer der Träger zog zuvörderst sein großes Gurtmesser, um das seidene Band zu zerschneiden, welches die Hände zusammenhielt; dann packten zwei Männer die Todte an den Armen, ein Dritter sie an den Füßen an, hoben sie aus der Sargbahre heraus und warfen sie in die Grube hinab, daß es dumpf aus ihr vom Fall des Leichnams wiederhalte. Blumen und Kopfkissen wurden nachgeschleudert. Als man begann, Erde hinabzuscharren, lüftete einer der Männer den Hut und sagte zu den Uebrigen: „Beten wir ein Ave Maria, daß dieses Weib in’s Paradies gelange!“ – und Alle plapperten den englischen Gruß ihm nach. Dann erhob der Erste seine Stimme wieder und sagte: „Beten wir ein Vaterunser, daß dieses Weib eingehe in das Reich Jesu!“ – und das Gebet des Herrn wurde dem Mariengruße gleich abgeleiert. Während dem arbeiteten die Träger nach Kräften; und Jene wiederholten abwechselnd beide Gebete, bis das Grab gefüllt war. Hierauf schloß der Vorbeter die ganze Nichtswürdigkeit mit den Worten: „Aqui estamos, aqui vamos!“ – „Hier stehen wir, und hierher gehen wir!“ – und Alle verließen das Grab und den Friedhof plaudernd und scherzend, – wie es freilich bei uns auch vorzukommen pflegt.

Gedankenvoll und betrübt, – doch nein, daß ich wahr sei! – innerlich empört über derartige Scheußlichkeit, Rohheit und Barbarei unter Christen, unter Europäern, gingen wir weiter; und ich gedachte bei mir der ernstwürdigen Weise, mit welcher die Vorfahren dieser Leute ihre Todten zur ewigen Ruhe brachten und deren Nachkommen sie noch heute in denjenigen Ländern bestatten, in denen der goldene Halbmond anstatt des Kreuzes von den Thürmen leuchtet, und mußte mich fragen: Sind denn die Menschen des schönen, südlich-reichen Landes Spanien unter dem Kreuz wirklich gebildeter, menschlicher geworden, als sie es unter dem Halbmond waren? Ich vermochte es nicht, diese Frage mit Ja zu beantworten; ich mußte mich daran erinnern, daß Christen, was Gemeinheit und Rohheit anlangt, die Mohammedaner so vielfach übertreffen; ich mußte vergleichen zwischen den Fukhera Kairos, welche mich, den Menschen, ansprachen mit den Worten: „Herr, um der Barmherzigkeit Gottes willen, gieb mir geringe Gabe zum Kauf eines Lailach für einen Armen, mit welchem ich den letzten Weg gehen und den ich nicht nackt einbetten will in die Erde –“ und zwischen denjenigen „christlichen“ Pfaffen, katholischen wie protestantischen, welche zu faul, zu geizig, zu unmenschlich sind, dem Armen, dessen Hinterbliebene es nicht zahlen können, noch einen Segensspruch in die Grube nachzurufen. [828]

Vor dem Weihnachtsbaum.

.

     Die Tanne hat im Wald gelacht,
Ihr träumte von der Weihnacht Kerzen.
Nun strahlet sie in ihrer Pracht
Am höchsten Fest der Kinderherzen!

5
     Das ist der deutschen Tanne Stolz:

Kein Baum in allen Erdenreichen,
Selbst nicht der Ceder heil’ges Holz,
Kann sich an Ehren ihr vergleichen.
     Sie weiht zum Tempel jedes Haus,

10
Wo eines Kindes Augen funkeln,

Und schmückt den Traum des Lebens aus
Vom ersten Schritte aus dem Dunkeln.

     Siehst Du die Hütte? Schier erdrückt
Der Schnee das Strohdach. Doch darunter

15
Ist jetzt der Armen Herz beglückt

Von ihres Glaubens schönstem Wunder.
     Die Hand erwarb mit schwerer Hast
Für’s Tannenbäumlein die paar Lichte,
Nun ist vergessen Harm und Last

20
Im Glanz der kleinen Angesichte.

     Wie ehr’ ich Dich, Du armer Mann!
Dir lacht das Herz. Und wie bescheiden
Dein Baum auch strahlt: die Hütte kann
Heut nimmer der Palast beneiden.

25
     Auch dort im hohen Schloß voll Pracht

Ward heut der Wächterruf vernommen,
Die Kinderaugen sind erwacht,
Das Christkindlein ist ja gekommen.
     Wie prangt am Baum von Gaben schwer

30
An jedem Aestlein jede Spanne! –

Die Herzen lachen drum nicht mehr,
Als vor des armen Mannes Tanne.
     Lauscht nicht ein Aermrer noch am Thor?
O laßt ihn nicht im Dunkel beben,

35
Hebt ihn zu eurer Luft empor,

Und doppelt wird sie euch erheben.

     Was sie im Haupt erwägen mag,
Die junge Mutter vor dem Baume?
Ob der Erfüllung Wonnetag

40
Hervorbricht jetzt aus langem Traume?

     Heil ihr, daß ihren höchsten Ruhm
Sie heute in der Pflicht empfinde,
Zu wahren als ein Heiligthum
Ein deutsches Herz im deutschen Kinde.

45
     Denn wie kein deutsches Auge läßt

Vom Tannenbaum mit seinen Kerzen,
So bleibt der deutschen Weihnacht Fest
Das heiligste der deutschen Herzen.

Friedrich Hofmann.


Ein Stück preußischer Schande und preußischer Ehre.

Nr. 2.
Die Ehre.

Drei Jahre später.

Fast ganz Deutschland seufzte unter dem Drucke des französischen Joches. Am schwersten litten die unglücklichen Unterthanen des neugebildeten Königreichs Westphalen, dessen schamloser Tyrann – Jerôme Bonaparte – ebenso sehr gehaßt wie verachtet wurde. Immer mächtiger wuchs der Groll gegen ihn und gegen die ganze französische Herrschaft an. Jeder Deutsche ballte im Stillen die Faust. Das Joch war unerträglich geworden, hier und dort wurde daran gerüttelt, um es abzuschütteln, das Verlangen nach Freiheit trat immer drängender hervor. Durch das ganze Volk hin wehte dies Verlangen, und einzelne Männer setzten Freiheit und Leben daran, um die Freiheit zu erringen, um das Volk aufzurütteln, die verhaßten Fremdlinge zum Lande hinaus zu jagen.

Jene Unternehmungen sind alle mißglückt, sie bleiben indeß trotzdem gleich ehrenvoll und gleich bedeutsam für die folgenden Jahre, wo der Tag der Freiheit endlich erschien. Mehrere von

[829] ihnen standen im Zusammenhange, einige traten einzeln als Zeichen der Zeitstimmung hervor.

Außer einzelnen anderen Unternehmungen hatte Eugen v. Hirschfeld, ein preußischer Husaren-Lieutenant, mit mehreren preußischen Offizieren den kühnen Entschluß gefaßt, der König Jerome selbst in seiner Hauptstadt Cassel auszuheben und dann das Land zu befreien. Im Februar 1809 sollte der Plan ausgeführt werden; Graf Chassot verhinderte es, indem er dem allzu kühnen Hirschfeld zu jener Zeit Stadtarrest in Berlin gab, weil er den rechten Augenblick noch nicht gekommen glaubte. Diesem Plane schloß sich der Major von Dörenberg an, der in Hessen das Landvolk zu einem Handstreiche auf Cassel gewonnen hatte. Ehe dieser dazu kam, wirkte der preußische Hauptmann von Katte in der Altmark, gewann viele alte Officiere und Soldaten für sich, um Magdeburg, zu dessen Thor er schon die Schlüssel besaß, zu nehmen und von dort aus die Bewegung weiter zu pflanzen. Wie dieser Plan endigte, erzählen wir unten ausführlich. Auch Dörenberg’s Handstreich auf Cassel am 21. April mißlang. Sieben Tage später zog Ferdinand v. Schill mit seinem Regimente aus Berlin aus, zu einem gleichen Unternehmen, zur Erhebung des Volkes in Westphalen. Sein Unternehmen schien anfangs vom Glück begünstigt zu sein, tragisch endete es, wie er selbst, am 31. Mai zu Stralsund.

Sein Unglück konnte Männer von edlem, entschlossenem Charakter nicht entmuthigen – es galt der Freiheit des ganzen deutschen Vaterlandes. Zwei preußische Officiere, v. Wersebe und v. Hake, hatten eine Volkserhebung von der Weser bis zum Harze vorbereitet. Anfang Juli gingen sie mit Geld, Gewehren und Munition die Weser hinauf. England hielt noch Geld und Waffen bereit. Am 8. Juli sollte von Emden und Hannover bis auf den Harz Alles gleichzeitig in Flammen stehen. In Hannover, Braunschweig und Hildesheim war Alles bereit – da schickte Graf Münster, der in all die Unternehmungen eingeweiht war, den Gegenbefehl, und das Unternehmen unterblieb.

Gleichzeitig war der Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Oels, der bei Nachod in Böhmen ein kleines Heer gesammelt hatte, um damit nach Westphalen zu ziehen und den Aufstand des Volkes zu unterstützen, aufgebrochen. Bekanntlich mußte er sich tapfer kämpfend durchschlagen, bis es ihm gelang, sich mit seiner muthigen schwarzen Schaar nach England einzuschiffen.

Es ist nicht zu leugnen, daß all diese Unternehmungen daran scheiterten, daß sie zu ungenügend vorbereitet und vereinzelt auftraten. Aber sie zeigten, welche Stimmung herrschte, und diese Stimmung war in der That damals eine allgemeine, es war ein fast fieberhaftes Sehnen nach Freiheit. Unter dem Schutze der höchsten Personen, der Königin Louise, des Grafen Münster, Tauentzien’s, von Grabow’s, Blücher’s, Gneisenau’s u. s. w. hatte sich der sogenannte Tugendbund gebildet. In Preußen war ein gegen das Franzosenthum gerichteter Verein entstanden, dessen Comité in Berlin war. Graf Chassot stand an der Spitze desselben. England, dem viel daran gelegen war, in dem nordwestlichen Deutschland einen Aufstand hervorzurufen oder das Land zum wenigsten in fortwährender Aufregung zu erhalten, stand mir dem Comité in Verbindung und unterstützte es durch Geld. Graf Münster’s treuer Freund, Eduard Nicolas, weilte in England und war der fortwährende Vermittler. Unter dem Schutze jener Personen war auch das von Katte gegen Magdeburg gerichtete Unternehmen entstanden und herangereift, und sie blieben bis zum letzten Augenblicke damit in Verbindung.

Karl Friedrich von Katte, Hauptmann a. D., aus dem Hause Zellchow, nach welchem das ganze gegen Magdeburg gerichtete Unternehmen später genannt wurde, war früher Lieutenant in dem lange Zeit in der Altmark stationirten Regimente Tschammer gewesen. Er war nicht der erste Urheber des Unternehmens. Der Plan war von dem Comité in Berlin, namentlich von Tauentzien, Gneisenau und Blücher ausgegangen. Schon im Herbste 1808 hatte der Lieutenant von Lobenthal von demselben Regimente Tschammer Katte in den Plan eingeweiht, und dieser hatte ihn mit glühender Begeisterung erfaßt. Er wohnte in Stendal (beim Zinngießer Bilang in dem Eckhause der Breiten Straße nach dem Alten Dorfe zu, wo jetzt der Kaufmann Köppen wohnt), war in der Altmark und namentlich mit vielen der alten Soldaten genau bekannt.

Die Bauern in der Altmark sollten nämlich nach dem Plane des Comité’s zu einer Erhebung vorbereitet werden. Durch einen Handstreich wollte man sich der Festung Magdeburg bemächtigen, wo der im Ganzen wenig entschlossene Divisionsgeneral Michaud Gouverneur war und des spanischen Krieges wegen nur eine geringe Besatzung lag, welche zum größten Theile aus früheren preußischen Soldaten bestand. Auf die Festung gestützt, wollte man dann den Aufstand weiter nach dem Harz, nach Hessen und Westphalen verpflanzen, wo mehrere frühere preußische Officiere und eine Anzahl geheimer Agenten thätig waren, von dortigen Patrioten unterstützt, das Volk zu einer Erhebung vorzubereiten und dieselbe zu organisiren. Es betheiligten sich vorzugsweise folgende preußische Officiere, die von Anfang an in den Plan eingeweiht waren, an dem Unternehmen: die beiden Lieutenants Eugen und Moritz von Hirschfeld, beide früher in dem preußischen Husarenregiment von Köhler, der Lieutenant von Tempski, der als Agent unter dem Namen Thilau umherreiste und außerordentlich thätig war, Katte’s Schwager, der Lieutenant Karl Adam von Gagern von dem Regimente Tschammer, der in Gardelegen wohnte (Beider Frauen waren geborene von Alvensleben aus Ziethau, eine Stunde von Gardelegen entfernt), und der Lieutenant von Lobenthal von demselben Regimente.

Katte, ein mittelgroßer Mann, untersetzt und zu Strapazen geeignet, war ein entschlossener Soldat, mit einem lustigen, aber zugleich wilden und oft heftigen Sinne. Seine schwarzbraunen Haare, ein starker Backenbart, ein paar graue, scharf fixirende Augen gaben ihm ein finsteres Aussehen. Schon längere Zeit inactiv, von Haß gegen die Franzosen erfüllt, begrüßte er das Unternehmen mit Freude. Wie seine Cameraden war er entschlossen, Blut und Leben an die Freiheit zu setzen. In der Altmark war er genau bekannt und schon gegen Ende des Jahres 1808 unablässig thätig, dort Verbindungen anzuknüpfen und vertraute, patriotisch gesinnte Männer zu gewinnen. Alle früheren Soldaten kamen ihm mit offenen Armen entgegen, und aus dem Bürger- und Bauernstande konnte er auf manchen kräftigen Arm rechnen.

Ebenso thätig war Tempski, der während der ganzen Zeit unterwegs war, um in jedem Orte Männer zu gewinnen, auf die man sich verlassen konnte und welche im Stillen weiter wirkten. In Stendal, Tangermünde, Gardelegen und in der Umgegend knüpfte er mit Verschiedenen Verbindungen an.

Am meisten nützte dem Unternehmen vielleicht Eugen v. Hirschfeld, dessen tollkühner Plan, den König Jerôme inmitten seiner Hauptstadt auszuheben und nach einem alten Schlosse am Harze zu führen, nicht zur Ausführung gekommen war. Ein kleiner, rüstiger, ewig beweglicher Mann von ungefähr dreißig Jahren, fiel er schon durch sein entschiedenes tollkühnes Aussehen auf, durch seinen trotzigen Blick und durch den weißen Ueberrock, den er immer trug. Trotzdem bewegte er sich in der kühnsten Weise inmitten von Polizeispionen und Gensd’armen, denen er längst verdächtig war, doch mit größter Gewandtheit stets zu entkommen wußte. Bald war er in Cassel, um mit Wilhelm v. Dörenberg sich zu besprechen, bald in Homburg in Hessen, um von Steins Schwester, der Aebtissin des dortigen Klosters Wallerstein, über die dortigen Verhältnisse unterrichtet zu werden, bald auf dem Harze, dort unter den Bergbewohnern das Feuer zu schüren, bald in Halle, um seine Verbindung mit dem Professor Steffens zum Nutzen des Unternehmens auszubeuten, bald wieder in Berlin, um mit Schill und den Mitgliedern des Comité’s und des geheimen Bundes zu berathen. Dann durchstreifte er die Altmark, um mit verwegenem Muthe sich nach Magdeburg zu begeben und dort unter den Bürgern und der Garnison Vertraute zu erwerben. Er liebte das Rastlose und Abenteuerliche, und selten zu Verkleidungen seine Zuflucht nehmend, trat er überall in seinem weißen Ueberrocke auf und war jedesmal verschwunden, wenn die Polizei ihn zu verhaften kam.

Er kannte die Stärke der westphälischen und französischen Truppen in der ganzen Gegend, wußte um ihre Märsche und Bewegungen und kannte die Eigenschaften ihrer Anführer. In Magdeburg wagte er sich sogar wiederholt in die Restauration und Delicatessenhandlung von Moses Decourt in der Münzstraße, wo die französischen Officiere viel verkehrten. Er knüpfte mit einigen von ihnen, selbst mit dem General-Commissair der Polizei, Moïsez, Bekanntschaft an und bewegte sich in ihrem Kreise auf das Ungenirteste.

Unterstützt wurde er in Magdeburg durch einen früheren Unterofficier beim Regiment von Knobelsdorf, welchem auch Katte früher angehört hatte, mit Namen Johann Wulff aus Lüderitz, [830] einen verwegenen, gewandten Mann. Sie hatten unter den preußischen Officieren, Soldaten und Bürgern, welche die Wachen mit bezogen, viele Bekannte gewonnen und sie in das Unternehmen eingeweiht. Ungefähr 1000 Mann von der frühern preußischen Besatzung, welche in Magdeburg geblieben waren, mehrere Officiere und eine Anzahl Bürger waren für das Unternehmen gewonnen und harrten des Tages, an welchem der Handstreich auf die Stadt ausgeführt werden sollte. Dazu hatte sich Hirschfeld einen genauen Plan der Festung, die Schlüssel zum Krökenhor, zur Thurmschanze und zu mehreren Ausfallthoren zu verschaffen gewußt. Alle Hoffnung zum Gelingen des Unternehmens war vorhanden, wenn nicht ein unglücklicher Zwischenfall eintrat.

In kaum gehoffter Weise war bis dahin Alles geglückt. Katte hatte gleichfalls viele Anhänger gewonnen, die fest an ihm hielten, denn er verstand es, sich bei Allen beliebt zu machen. Für Waffen war hinreichend gesorgt, auch Pferde waren in ziemlicher Anzahl vorhanden. Nur die Zeit der Ausführung war noch nicht bestimmt. Katte, der Ungeduld seiner Vertrauten und seinem eigenen Verlangen zu viel nachgebend, drängte auf baldige Ausführung, das Comité in Berlin, mit dem er in fortwährender Unterhandlung stand, war für Aufschub, weil die Vorkehrungen zum Volksaufstande im Harz und im Westphälischen noch nicht beendet waren. Da faßten Katte und Hirschfeld den übereilten und tollkühnen Entschluß, allein mit den Vertrauten das Werk zu beginnen. Vielleicht mischte sich der Ehrgeiz, die Ersten gewesen zu sein, welche das Zeichen zu Deutschlands Befreiung gegeben, auch noch hinein. War Magdeburg in ihren Händen, dann mußte auch Schill von Berlin aufbrechen und Dörenberg gegen Cassel vorrücken – dann war das Zeichen gegeben, und der lange zurückgehaltene Haß und Groll von Tausenden – ja von Hunderttausenden – mußte zur hellen Flamme auflodern. Daß der Handstreich mißlingen könne, daran dachte keiner von beiden.

Zugleich hatte Katte sich noch eine andere Unbesonnenheit zu Schulden kommen lassen. Er hatte den Rittmeister Baron v. Gayl, dessen Sohn, Ernst v. Gayl, westphälischer Kammerherr in Cassel war, der selbst am Hofe Jerôme’s eine sehr zweideutige Rolle gespielt hatte und für einen geheimen Sendling Jerôme’s galt, in das Unternehmen eingeweiht, und dieser hatte scheinbar das größte Interesse bewiesen. Mit Eugen v. Hirschfeld war er nach Magdeburg geeilt, um dort Alles vorzubereiten und zur rechten Zeit zu leiten. Dieser Baron von Gayl, ein feiger, heruntergekommener Denunciant, sollte zum Verräther des ganzen Unternehmens werden. Auf seinem Namen ruht eine Schmach und Schuld, die sich nicht ermessen läßt. Denn anders würde es gekommen sein, wäre der Handstreich aus Magdeburg gelungen. Tausende würden Vertrauen und Muth daraus geschöpft haben, und vielleicht wäre schon geschehen, was erst vier schwere, qualvolle Jahre später zur Vollendung kam, vielleicht wäre schon damals das große Befreiungswerk gelungen.

Ende März war herangerückt, und Anfang April wollte auch Wilhelm v. Dörenberg sein Unternehmen auf Cassel ausführen. Katte hatte alle Vorkehrungen zu seinem Handstreiche getroffen. Karl v. Gagern befand sich in Gardelegen, Moritz v. Hirschfeld und Tempski waren bei ihm, der verwegene Eugen v. Hirschfeld war schon in Magdeburg, um dort zur Hand zu sein, mit seinen Vertrauten, den früheren preußischen Bauconducteur Butze, der sehr eifrig an dem Unternehmen Theil genommen, hatte er nach Stendal gesandt, um dort Alles zu seiner Ankunft bereit zu halten. Nach Stendal sandte er auch eine Proklamation, welche Alle zur Theilnahme aufforderte. Diese Proklamation lief indeß schmachvoll ab. Ein in Stendal lebender Puppenspieler, Namens Drabant, war erwählt worden, die Aufforderung zum Zuzuge mit Begleitung seiner Trommel, deren Klang sonst nur bei den Ankündigungen seines Kasperltheaters durch die Straßen tönte, auszurufen. Dies machte die ganze Proklamation lächerlich. Ein Haufen Jungen folgte dem Ausrufer, einer possenhaften Figur, mit lautem Halloh und Gelächter, und der Volkswitz sagte: „der Puppenspieler Drabant habe v. Katte ausgetrommelt!“

Am 1. April hatte v. Katte ungefähr 250 Mann um sich versammelt. Es waren meist frühere Soldaten, dann Leute aus dem niederen und Bauernstande, die letzteren in ihrer gewöhnlichen Kleidung. Ein Theil war mit Gewehren bewaffnet, ein Theil nur mit dem Säbel, andere nur mit einer Pistole oder einer Pike. Fast die Hälfte war indeß beritten, und die Pferde waren schöne Thiere aus der Altmark. Ein muthiger, begeisterter Sinn belebte indeß die kleine Schaar, für welche Katte an jedem Orte einen neuen Zuzug erwartete, namentlich von Gardelegen, Tangermünde und Stendal.

Am 1. April brach Katte mit der Schaar auf, setzte in der Nacht auf den 2. April bei Werben über die Elbe und marschirte auf Stendal los. Hier harrte man jede Stunde auf seine Ankunft. Butze hatte Alles vorbereitet. Obgleich er am Abend des 2. April noch nicht in Stendal eingetroffen und nicht einmal Nachricht von ihm angelangt war, erwartete ihn doch eine Schaar treuer Bürger, welche die Nacht im Roder’schen Brauhause beim Bierkruge hinbrachten und sogar schon den alten Stadtmusikus Henning mit seinen Leuten bestellt hatten, um das Katte’sche Corps mit Musik zu empfangen und in die Stadt einzuführen.

Als die Morgendämmerung anbrach, stürzte Butze zu den Bürgern ins Brauhaus, um ihnen zu verkünden, daß Katte sich nahe. Mit Jubel brachen Alle auf, ihm entgegen. Durch das Viehthor, welches Katte, da es verschlossen war, schnell hatte sprengen lassen, ohne von den wenigen westphälischen Soldaten und Douaniers den geringsten Widerstand zu erfahren, zog er ein. Mit lautem Jubel wurde er empfangen, und das Musikcorps des Stadtmusicus voran, zog er durch die Straßen.

Dieser Empfang mochte Kattes Herz und Muth heben. An reichem Zuzug zweifelte er nicht, nur hinreichend Geld mangelte ihm. Durch Butze hatte er bereits erfahren, daß die Cassen in Stendal nicht leer seien, und ohne Zögern bemächte er sich der städtischen und der Accise-Casse. Er selbst rastete darauf im Rasthofe „Zum schwarzen Adler“, wo er auch frühstückte, während seine Leute von den Bürgern versorgt wurden, von denen mehrere sich ihm anschlossen. Nur kurze Zeit hielt er sich indeß in Stendal auf. Seinen Zweck, Verstärkung an Geld und Leuten, hatte er erreicht, und in Magdeburg erwartete ihn Hirschfeld mit den Vertrauten. Gegen Mittag schon sammelte er sein Corps zum Weitermarsche. Fast dreihundert Mann mochte es zählen. Voran ritt ein alter Husarentrompeter in abgetragener Husarenuniform auf einem Schimmel und gab das Signal mit der Trompete. Mancher lächelte zwar über diese kleine Schaar, die sich eine so große Aufgabe gestellt hatte, sie selbst war indeß von dem besten Muthe beseelt. Nach Wolmirstädt richtete Katte seinen Marsch, und als er in der Nähe des Tangermünder Thores den altmärkischen General-Superintendent Jané, den Oberpfarrer des Stendal’schen Domes, erblickte, ritt er an ihn heran und bat ihn, den Segen des Himmels auf seine kleine tapfere Schaar herabzuflehen. Die westphälischen Cassen aus Stendal mußte der Gastwirth Voßköhler nach Wolmirstädt fahren. Hier langte Katte um 9 Uhr Abends des 3. April an und bemächtigte sich sofort der Gelder der Postcasse, welche nach damaligen Angaben 1000 Friedrichsd’or betrugen.

Ungeduldig harrte er im Wirthhause zu Wolmirstädt auf eine Kunde Hirschfeld’s aus Magdeburg, da stürzte athemlos ein vertrauter Bote herein und meldete ihm, daß in Magdeburg Alles verloren sei; der Rittmeister von Gayl habe das Unternehmen verrathen – Hirschfeld, Wulff und Andere seien sofort verhaftet. Erschreckt fuhr Katte empor. Das Werk, welches er so mühsam vorbereitet hatte, sah er mit einem Male kurz vor dem Gelingen durch schmachvollen Verrath vernichtet. An eine Ausführung desselben war nicht mehr zu denken. Jetzt kam Alles darauf an, sich und die Seinigen zu retten, denn zugleich hatte er die Nachricht erhalten, daß westphälische Truppen gegen ihn ausgesandt seien. Es konnte nur die Flucht retten. Man hat Katte’s Flucht eine übereilte genannt, hat behauptet, daß er den Kopf verloren habe, selbst daß seine Schaar nur aus zusammengelaufenem Gesindel bestanden habe – Augenzeugen bestätigen dagegen unsere Angaben. Mit einer kleiner Schaar setzte Katte über die Elbe und bestand am 5. April bei Burg mit ihm nachsetzenden westphälischen Gensd’armen ein Gefecht. Glücklich daraus entkommen, floh er nach Böhmen zum Herzog von Braunschweig, der dort bei Nachod ein kleines Heer sammelte. Auch traf er hier Eugen von Hirschfeld, dem es, von Gayl’s Verrath frühzeitig unterrichtet, gelungen war, aus Magdeburg zu entfliehen. Damit endete ein Unternehmen, auf welches so hohe und große Hoffnungen gebaut waren.

Die französische Polizei strengte nun alle Kräfte an, um die Theilnehmer an dem Unternehmen zu verhaften, und ihre Rache traf meist Solche, die am wenigsten dazu beigetragen hatten. Schon am 8. April wurde folgender Steckbrief hinter v. Katte erlassen:

[831]

„Bei der am 3. April in Stendal geschehenen Beraubung der königl. Cassen hat sich als Anführer der im nachstelhenden Signalement bezeichnete Karl Friedrich von Katte ausgezeichnet. Da nun derselbe sich der Verhaftung durch die Flucht entzogen, so werden alle Civil- und Militärbehörden ersucht, denselben, wo er sich betreten läßt, arretiren zu lassen und dem Unterschriebenen davon, Behufs dessen Abholung, Nachricht zu geben.
Magdeburg, d. 8. April 1809
Der Präfect des Elbdepartements:
Schulenburg.
Signalement. Karl Friedrich von Katte, ehemals königl. preußischer Hauptmann, von mittlerer, untersetzter Statur, schwarz-braunen Haaren, starkem Backenbart und einer angehenden Platte, grauen Augen, spitzer Nase, gewöhnlichem Mund, rundem Kinn und munterer Gesichtsfarbe, trug bei seinem Abgange aus Stendal einen dunkelblauen mit Perongen besetzten Leibpelz, darunter eine dunkelblaue Uniform mit rothen Aufschlägen und Kragen, eine polnische Mütze mit goldener Quaste, eine lange blaue Ueberhose, woran Stiefeletten mit kleinen weißen Knöpfen, und einen mit Messing beschlagenen Husarensäbel. Er ritt einen schwarzen Engländer mit vier weißen Füßen und Blässe.“

Auch hinter Johann Wulff, der gefangen genommen und seinen Wächtern wieder entsprungen war, wurde ein Steckbrief erlassen. Schlimmer erging es dem armen Stadtmusikus von Stendal, Henning, der Katte mit Musik empfangen. Westphälische Gensd’armen nahmen ihn fest und führten ihn nach Magdeburg, wo er im Gefängniß starb. – Futsch, ein Dammsetzer, und Joseph Manns, der Sohn eines Maurers, Beide aus Stendal, hatten sich dem Katte’schen Corps angeschlossen und wurden in Wolmirstädt verhaftet. Der Erstere wurde nach Magdeburg geschleppt und dort erschossen; Manns führte man nach Stendal. Auf dem Wege dorthin, im Dorfe Burgstall, gaben einige ihm befreundete Soldaten ihm einen Wink, daß er entfliehen möge. Er verschmähte dies, weil er es für feige und unehrlich hielt. Eine Menge Stendaler begleiteten ihn, als er auf den Schützenwall hinausgeführt wurde, um dort erschossen zu werden. Auch seine Mutter war hinausgeeilt, westphälische Soldaten erfaßten die Weinende und schleppten sie in das Wachthaus des Viehthores. Entschlossen, muthig kniete Manns auf dem Schützenwall nieder. Er nahm seinen runden Hut ab – die Augen wurden ihm verbunden – zwölf Schüsse hallten wieder, und er war eine Leiche. Später haben treue Hände Akazien auf sein Grab gepflanzt und 1835 wurde ein eisernes Kreuz darauf gesetzt mit der Inschrift:


Joseph Manns aus Stendal.
Begeisterungsvoll dem alten Vaterlande treu,
Fiel er durch das Geschoß der fremden Tyrannei.
† den 14. April 1809.
Gewidmet von Vaterlandsfreunden, den 3. August 1835.“

Der Schneidermeister Höfer aus Gardelegen und der Fleischermeister Schüler aus Stendal, welche sich Katte angeschlossen, wurden Beide in Wolmirstädt verhaftet. Sie entflohen indeß und entkamen Beide glücklich. Auch der Tuchmacher Rieck aus Stendal wurde in Wolmirstädt gefangen und in Magdeburg erschossen. Er war früher ein stattlicher Regimentstambour beim Tschammerschen Regimente gewesen, als einer der Ersten hatte er sich deshalb seinem früheren Hauptmann angeschlossen und ihn nach Wolmirstädt begleitet. Als er in Magdeburg auf das Glacis geführt wurde, um dort erschossen zu werden, duldete er nicht, daß ihm die Augen verbunden wurden, trotzig und muthig sah er dem Tode entgegen. Mit dem Rufe: „Schießt zu, Hundsfötter!“ commandirte er selbst zum Schießen. Er sank nieder, aber noch nicht todt; noch einmal richtete er sich empor, und erst eine zweite Gewehrsalve machte seinem Leben ein Ende.

Die westphälischen Spione und Denuncianten feierten goldene Tage. Verschiedene Einwohner aus Stendal, Gardelegen und Wolmirstädt wurden verhaftet, meist insgeheim, und nach Cassel geschleppt. Dort schmachteten sie im Gefängnisse, auf das Schlimmste gefaßt. Man schien sie fast vergessen zu haben. Da hörten sie 1813 plötzlich lebhaftes Gewehrfeuer und Kanonendonner. Eine Kanonenkugel schlug durch das Dach ihres Gefängnisses. Bald darauf wurde ihr Kerker von den Preußen, welche in Cassel eingedrungen waren, geöffnet, und sie waren frei. Unter ihnen befand sich der Assessor Lindenberg und der Justiz-Commissar Zarnack, Beide aus Stendal.

Katte’s Unternehmen ist vielfach verkannt und entstellt worden; die meisten Menschen urtheilen ja nur nach dem Erfolge. Er mag in Verschiedenem gefehlt haben, er mag zu voreilig losgebrochen sein, selbst im letzten Augenblicke zu schnell die Hoffnung aufgegeben und sich von vornherein über die Theilnahme des Volkes getäuscht haben – sein Ziel war ein edles: Tod den verhaßten Unterdrückern, den ewigen Feinden Deutschlands, Freiheit für deutsches Land. Als ein Märtyrer, fast wie ein Heiliger steht er jenen Männern gegenüber, die drei Jahre zuvor ehrlos und pflichtvergessen, feige und fluchwürdig Deutschlands beste Festungen den Franzosen verrathen und übergeben, nur um der Freiheit ihres eigenen erbärmlichen Lebens willen.

Fr. Fr.



Blätter und Blüthen.


Zur Naturgeschichte des Hamsters. Als im verflossenen Sommer in den getreidereichen Gegenden des Herzogthums Nassau, wie in vielen anderen Theilen von Deutschland, nicht nur die Feldmäuse, sondern auch die Hamster sich ungewöhnlich vermehrt hatten und an den Feldfrüchten großen Schaden anrichteten, bezahlten die meisten Gemeindeverwaltungen für die eingelieferten Mäuse und Hamster eine bestimmte Summe, und die Knaben betrieben die niedere Jagd auf Mäuse mit lobenswerthem Eifer. Die bekannte Streitbarkeit der alten Hamster dagegen machte diese mehr zum Gegenstande der Verfolgung für Erwachsene, die außer dem Jagdvergnügen noch durch den höheren Preis angelockt wurden, den man für diese bissigen Unholde bezahlte.

Unter den Hamsterfängern in der Gegend von Wiesbaden zeichnete sich besonders der Hirt von Bierstadt durch seltenes Jagdglück aus, in Folge dessen er seine Mußestunden auf eine sehr lucrative Weise zu verwenden wußte. Geübt im Beobachten der Thiere und ihrer Eigenthümlichkeiten, hatte er wahrgenommen, daß der Hamster wie ein grämlicher Geizhals von seinen gesammelten Schätzen jedes Thier fern hält und, wenn zufällig eine Maus sich in seinen Bau verirrt, diese wüthend anfällt und auffrißt; denn der Hamster verschmäht keineswegs das Fleisch kleiner Thiere. Er hatte ferner wahrgenommen, daß in Folge dieser schlechten Nachbarschaft keine gewitzigte Maus es wagt, einen Hamsterbau zu betreten, so lange dessen Bewohner noch zu Haus ist. – Um nun nicht in den Fall zu kommen, verlassene Hamsterbaue aufzugraben und dadurch Zeit und Mühe zu vergeuden, fing der kluge Hirt, ehe er auf die Hamsterjagd ging, jedesmal zuerst eine alte Maus, band sie an einen Bindfaden und ließ sie in der Nähe eines Hamsterbaues laufen. Die Maus beeilte sich natürlich, sich dort zu verkriechen, kehrte aber eilends um, wenn sie den Hauseigenthümer witterte, wo dann der Hirt seine Nachgrabung begann und immer auf günstigen Erfolg rechnen konnte. Er soll einmal an einem Sonntage über hundert Hamster erlegt und gegen die ausgesetzte Prämie abgeliefert haben.

Die Hamstergräberei gab mir auch Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, welche außerordentliche Menge von Getreide oft ein alter Hamster als sorgsamer Hausvater für die Tage des Mangels aufspeichert; da aber die Art, wie er dabei zu verfahren pflegt, hinreichend bekannt ist, übergehe ich ihre Beschreibung und beschränke mich auf die Mittheilung einer weniger bekannten Methode, deren sich der Hamster in unseren Weingegenden bedient, um wahrscheinlich bei festlichen Gelegenheiten seine gewöhnliche Getreidekost durch einen besonderen Leckerbissen würzen zu können. Der Hamster liebt es nämlich sehr, zur Abwechselung Trauben zu fressen, was seiner Gesundheit nur zuträglich sein kann. Vielleicht ist dies der Grund, daß er in Rheinhessen seinen Bau gerne in der Nähe von Weinbergen anlegt. Dort holt er sich nun auch Trauben für den Winter, die er auf eine Weise behandelt, welche uns als Muster bei der Aufbewahrung aller Obstarten dienen kann. In seinen Backentaschen trägt er nur völlig gesunde Beeren nach Haus, die er so abgebissen hat, daß immer noch der halbe Stiel daran sitzt. – In seiner Vorrathskammer bedeckt er den Boden der Abtheilung, welche die Traubenbeeren aufzunehmen bestimmt ist, zuerst etwa ein halb Zoll hoch mit völlig trockener Spreu, und legt darauf die Beeren, die er ganz rein abzulecken scheint, damit durchaus kein Saft daran hänge, so neben einander, daß jede von der daneben liegenden durch einige Spreublättchen getrennt ist und keine die andere unmittelbar berühren kann. Nun folgt wieder eine dicke Lage von Spreu, dann wieder Trauben und sofort. Noch mitten im Winter findet man in solchen Hamsterbauen vollkommen frische Trauben, die vielleicht zur Feier des Osterfestes aufgespart wurden.

Wer hat den Hamster gelehrt, seine Trauben so äußerst zweckmäßig aufzubewahren? Ist das auch angeborener Naturtrieb, Instinct? Was wird aus diesem Instinct, wo es keine Trauben giebt? – Es gehört doch eine eigenthümliche Verstocktheit dazu, wenn man so beharrlich den Thieren die Fähigkeit absprechen will, Erfahrungen zu machen und durch Erfahrungen klüger zu werden. – Unstreitig haben die Thiere Vernunft und benutzen sie, ob der Mensch in seinem Dünkel diese Eigenschaft anerkenne oder nicht.

Dr. Gergens.

[832] An die Redaction der Gartenlaube. Um Ihnen zu beweisen, daß der Herzog von Coburg-Gotha bei dem Bürgerstande doch nicht so unbeliebt ist, wie eine neuliche Broschüre vielleicht vermuthen ließ, sende ich Ihnen anbei zwei Briefe, die ihrer Zeit zwischen einem Coburger Bürger und dessen Fürsten gewechselt wurden und, wie ich glaube, beiden Theilen zur Ehre gereichen. In jetziger Zeit sind sie sicherlich von Interesse.

Durchlauchtigster Herzog, gnädigster Herzog und Herr!

Am zweiten Osterfeiertage, den 9. d. M., ist die erfreuliche Nachricht von dem glorreichen Siege, welcher am 5. d. M. unter dem Commando Ew. Hoheit bei Eckernförde gegen die Dänen erfochten wurde, hier eingetroffen und hat die Herzen aller Coburger mit großer Freude erfüllt. Die Bewohner waren von Jubel so ergriffen, daß ein förmliches Wogen und Treiben derselben in Coburg stattfand.

Auch ich kann nicht verschweigen, daß in meinem Locale durch die Siegesnachricht große Freude war und manches Hoch auf Ew. Hoheit ausgebracht worden ist. Von diesem freudigen Gefühle beseelt, erkühne ich mich, Ew. Hoheit nach so heißem Gefechte und nach so glühendem Kugelregen auch einen kühlen Labetrunk von meinem selbst erbrauten Biere zu senden. Mit dem innigsten herzlichsten Wunsche, daß dieser Trunk Ew. Hoheit recht wohl behagen möge, ruft seinem Fürsten, dem Sieger, ein donnerndes Hoch zu

Coburg, im April 1849.
der
W. Schaffner.
(Antwort.)

Erst jetzt, wo Ihr patriotisches Geschenk in unseren Händen ist und von vielen Officieren aller möglichen Contingente mit größter Befriedigung genossen wird, sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank dafür, sowie für Ihre herzlichen Glückwünsche. Sie haben mir eine große Freude durch Ihre Aufmerksamkeit erzeigt.

Der Krieg neigt sich seinem Ende zu; bald hoffe ich in die Heimath zurückkehren zu können. Düstere Wolken umziehen noch unsere nächste Zukunft; ein jeder wahre Patriot muß durch Wort und That für das Gemeinwohl einstehen.

Möchten meine guten Coburger mir ihr Vertrauen erhalten und besonnener handeln und sprechen. Sicherlich wird es mir dann auch gelingen, unsern kleinen Nachen durch die stürmischen Wellen des bewegten politischen Meeren zu steuern.

Grüßen Sie mir alle guten Bürger, die es mit ihren Brüdern und ihrem Fürsten wohl meinen, und sein Sie, für Ihre Person, meiner Zuneigung gewiß.

Hottorf, den 4. Juni 1849.
Ihr Ernst K.



Madame Mara, die berühmte Sängerin, nahm, als sie 1802 London verlassen, um sich nach Petersburg und Moskau zu begeben, ihren Weg durch Deutschland und ließ sich in Weimar, auf hohes Verlangen, am Hofe hören. Den folgenden Morgen brachte ihr der Hoffourier Martini ein Präsent des Herzogs, wagte jedoch nicht anzuklopfen, da er einen heftigen Wortwechsel deutlich vernehmen konnte. Madama Mara hielt sich um zwei Groschen von der Wäscherin übertheuert und verweigerte, ganz in Harnisch gerathen, die Bezahlung. Nachdem der Sturm vorüber, entledigte sich Martini seines Auftrags; Madame Mara öffnete das Couvert, überzählte dessen Inhalt (angeblich 30 Ducaten) und gab ihn dem erstaunten Ueberbringer zurück mit den Worten: „Sagen Sie Ihrem Herzog, ich hätte mir ein Vergnügen daraus gemacht, Sr. Durchlaucht etwas vorzusingen.“ Gleich darauf reiste sie ab. In London hatte man ihr für höchstens zwei Arien, im Privatcirkel vorgetragen, 100 Pfund Sterling gegeben.



Die Zeitschrift „Aus der Natur“. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften (Verlag von Gebhardt und Reisland in Leipzig), die sich vorzugsweise die Aufgabe stellt, die wichtigsten Neuigkeiten auf allen Gebieten der Naturwissenschaften schnell zu verbreiten und die bedeutendsten Erscheinungen der Natur, so wie die auf Benutzung von Naturkräften beruhenden Erfindungen in allgemein faßlichen und durch eine gefällige Schreibart ausgezeichneten Artikeln zu erklären, und über welche wir in diesem Blatte schon einmal mit verdientem Lobe berichteten, hat auch in neuester Zeit wieder viele der anziehendsten und lehrreichsten Artikel gebracht, von welchen hervorzuheben sind: das Kochsalz, das Ozon, die Wolken, das Zink, die Palmen, das Leuchten des Meeres, die Kometen im Lichte unseres Jahrhunderts u. a. m. Die Abhandlungen sind mit Sachkenntniß verfaßt, und das Verständniß derselben wird durch die einfache, klare und ansprechende Darstellung, so wie, wo nöthig, durch gute Abbildungen wesentlich erleichtert. Wir können daher diese Zeitschrift, die dazu beiträgt, die bildende und veredelnde Kraft der Naturwissenschaften zur Geltung zu bringen, bestens empfehlen.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der neunte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (zehnten) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Nachdem wir den jetzigen Jahrgang mit einer Auflage von 100,000 Exemplaren begonnen – das erste Beispiel einer solchen Verbreitung – sind wir heute, nachdem sich der Absatz im Laufe des Jahres auf 105,000 erhoben, in den Stand gesetzt, den neuen Jahrgang mit einer Auflage von

120,000 Exemplaren

zu eröffnen. Es bedarf wohl nicht unserer wiederholten Versicherung, daß wir in dieser einzig dastehenden Sympathie der deutschen Lesewelt nur die bestimmte Aufforderung finden können, unsere bisherigen Bestrebungen und Tendenzen treu weiter zu verfolgen und so die gute Sache und den guten Geschmack auf jede Weise zu fördern.

Außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Carl Vogt, Schulze-Delitzsch, B. Auerbach, Beta, Max Ring, L. Storch, Fr. Oetker, Temme, G. Hammer, Mor. Hartmann, H. Schmid, Lev. Schücking, Otto Ruppius, Otto Müller, Ed. Hoefer etc. etc. kommen im nächsten Quartal zum Abdruck:

Eine Geschichte aus dem Engadin, von Fanny Lewald – Das Mißverständnis, von Levin Schücking – Der Junker von Hohensee, eine alte Geschichte, von Edm. Hoefer – Bill Hammer. Eine Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri, von Otto Ruppius – Eine Gletscher-Sage, von Aug. Diezmann – Im Schloß. Erzählung von Th. Storm (Verfasser des Immensees) – Ein Blick ins freie Italien. Tagebuchbriefe, von Adolf Stahr – Die deutschen Spielbanken – Ein Besuch bei Michelet, von S. Kolisch – Eine Nachtwache im Cholora-Lazareth – Aus einem Walzwerke, von Schmidt-Weißenfels – Brasilien und seine Colonien, von Fr. Gerstäcker – Carl Maria v. Weber, von Max Maria v. Weber (Sohn des Componisten). Mit Abbildung – Botanische Skizzen, von Kerner – Eine Besteigung des Monte Rosa. Mit Abbildung – Aus dem Privatleben eines Reformators. Mit Abbildung – Ein Nestor des Deutschthums, von L. Storch. Mit Abbildung – Eine Nacht beim Krebsleuchten, von Guido Hammer – Bilder aus der Schweizer Alpenwelt. Mit Illustrationen – Ein nordamerikanischer Wahltag, von Otto Ruppius – Die Geschwindigkeit des Gedankens, von A. Wundt – Schweizer Reise und Reisende, von Ernst Kossak – Im patriarchalischen Staat.

Außerdem folgende, bereits im vorigen Quartal avisirte, aber wegen Mangel an Raum nicht zum Abdruck gekommene Artikel:

Ein Ausflug in’s Teufels-Moor, von J. G. Kohl. Mit Abbildung – Hamburger Bilder, von E. Willkomm. Nr. 2. Mit Illustration – Der Bouteille-Pfropfen und die deutschen Korkschneider – Ein kostspielig Stück heiliges römisches Reich – J. G. Fichte, von Johannes Scherr - Erinnerungen aus dem schleswig-holsteinischen Kriege, von Graf A. Baudissin – Gottfried Kinkel, von H. Beta. Mit Portrait – Bilder aus dem Norden, von A. Brehm. Mit Illustrationen – Drei Tage mit Kaulbach – Vorlesungen über verleumdete Thiere, von Carl Vogt in Genf – Mit dem Dampfer von Callao nach Valparaiso, von Fr. Gerstäcker – Der elektromagnetische Telegraph (Fortsetzung). Mit Abbildungen.

Auch die

Deutschen Bilder – und – Scenen aus dem Leben deutscher Dichter, mit Illustrationen,

werden fortgesetzt – und schließlich können wir unsern Freunden noch die angenehme Mittheilung machen, daß es uns gelungen ist, den Herrn Dr. Diezmann zu veranlassen, seine bisher apart erschienene Zeitschrift:

Aus der Fremde.
Wochenschrift für Natur- und Menschenkunde der außereuropäischen Welt,

mit der Gartenlaube zu verschmelzen.

Leipzig, im December 1861.
Ernst Keil.



Zur Nachricht!

Der Weihnachts-Feiertaqe wegen erscheint Nr. 1 des neuen Jahrgangs erst den 3. Januar 1862.